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Schweizerisches Bundesblatt.

42. Jahrgang. IY.

Nr. 44.

25. Oktober 1890.

Jahresabonnement (portofrei in der ganzen Schweiz) : 4 Franken.

Einückungsgebühr per Zeile 15 Ep. -- Inserate sind franko an die Expedition einzusenden.

Druck und Expedition der Stämpfli'sehen Buchdruckerei in Bern.

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Bericht der

ständeräthlichen Kommissionsminderheit, betreffend die bewaffnete eidgenössische Intervention im Tessin und die politische Lage dieses Kantons.

(Vom 8. Oktober 1890.)

Herr Präsident!

Meine Herren!

Ich fahle mich verpflichtet, die hochwichtige Tessiner Frage weder vom Standpunkte der Parteipolitik, noch von demjenigen einer schwachherzigen Opportunitätspolitik, sondern vom einzig zuläßigen Standpunkte der Verfassung und des Rechtes zu behandeln.

Wir verdienen nur dann den Ehrennamen eines Rechtsstaates und einer freien Eidgenossenschaft, wenn das verfassungsgemäße Recht, wenn überhaupt die öffentliche Rechtsordnung in allen Gauen des Vaterlandes einen starken, unerbittlichen Schild und Hort am Bunde finden.

Bund und Kantone sind gleich alt und werden auch in Zukunft mit einander bestehen und vergehen. Schon die drei Länder haben nur durch ihren Bund zu selbstbewußten, lebenskräftigen Gemeinwesen sich herausgebildet, die Städterepubliken erweiterten ihr Territorium und befestigten ihr Staatsrecht nur innerhalb des Bundes, und ohne den Hund hätte in unsern Landen kein republikanisches Gemeinwesen, kein selbständiges Staatsgebilde sich erhalten. Ich denke hiebei nicht nur an die Uebermacht von Oesterreich, Savoyen, Burgund und Frankreich. Ich denke an das innere, ethische, Bundesblatt. 42. Jahrg. Bd. IV.

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psychologische Moment. Durch den eidgenössischen Gedanken befestigte sich für das politische Leben die Notwendigkeit von Treu* und Glauben. Alle alten Bünde aber legten bei der höchsten Achtung vor der Autonomie der eidgenössischen Stände vor Allem zwei hochwichtige Punkte in den Pflichtenkreis der Eidgenossenschaft, ich meine das einmüthige Auftreten gegenüber dem Auslande, die festgeschlossene und darum energisch und ruhmvoll geführte Vertheidigung des Vaterlandes, und sodann die nicht minder energische Aufrechthaltung der Ordnung und des Friedens in jedem Einzelglied der Eidgenossenschaft. Das ist das Doppelfundament der alten Bünde, auf d i e s e m Fundamente wurde das Schweizerhaus erbaut, und durch die Treue am beschworenen Manneswort, durch die Aufrechthaltung der Rechtsordnung, durch eidgenössische Hülfe gegen ungerechte Selbsthülfe hat sich in kämpf- und siegreichen wie in trüben Jahrhunderten das sonst sehr lockere Gebilde der alten Eidgenossenschaft erhalten. Wir Obwaldner haben es zweimal erfahren müssen, daß es nicht anging, volksthümliche Bewegungen gegen die legale Obrigkeit zu unterstützen, ich meine zur Zeit des Rinkenberger-Handels und des Peter Amstalden. Und wann mochten die alten Eidgenossen freiheitsstolzer sein, als nach der Schlacht von Sempach ? Und gerade der Sempacherbrief enthält die energievollsten Bestimmungen zum Schütze des Landfriedens.

Und nur einmal haben vermöge der spontanen Initiative des Volkes und nicht auf Geheiß des Klerus und der Obrigkeiten nach einem Landfrieden alle Glocken im Schweizerland geläutet. Dieser Landfriede war das Stanserverkommniß, und dasselbe enthält den Satz, daß die Eidgenossen widerspenstige Unterthanen einander gehorsam machen sollen. Dieser Satz scheint allerdings sehr autoritär zu lauten, und uns erseheint als nothwendiges Korrelat, daß auch die verfassungsgemäßen Rechte des Volkes garantirt werden. Aber es war nur die solenne Besiegelung des eidgenössischen Manneswortes, und Segesser, Dubs, Meier und viele Andere behaupten, daß nach dem tollen Leben, daß bei den schrecklichen Folgen der italienischen Lohnkriege und daß bei der verhängnißvollen Schwächung des eidgenössischen Solidaritätsgefühls zur Zeit der Glaubenskämpfe die Erneuerung und Festigung der alten Bünde durch das Stanserverkommniß die Eidgenossenschaft erhielt. Nach
dem Stanserverkommniß hat die Eidgenossenschaft dreißig Jahre lang die Stellung einer europäischen Großmacht eingenommen. Es ist der historische Beweis erstellt, daß die Bauern aus den Urkantonen mit schwerem Herzen für die Herren gegen Bauern in den Bauernkrieg gezogen sind. Sie thaten es aus Eid und Pflicht. Später kam es anders. Man proklamirte nicht nach dem Wortlaut der alten Bünde, sondern nach dem Texte der ephemeren französischen Konstitutionen

661 die Freiheit, und man proklamirte als logische Konsequenz der Freiheit das Recht der Revolution. Beide Parteien, die der Föderalisten wie die der Unitarier, haben hiervon einen ausgiebigen Gebrauch gemacht. In vier Jahren wurden auf dem Wege des Staatsstreichs und des Aufstandes drei Konstitutionen in das Grab gebettet. Mittlerweile verbluteten die nationale Selbständigkeit und der schweizerische Wohlstand unter der prokonsularischen Diktatur der französischen Befreier, wir haben Genf, das Wallis und Veltlin verloren, und im Zenith seiner staatsmännischen Größe hat sodann der korsische Protektor in Fontainebleau jedem Kanton seine Verfassung und der Schweiz die Mediation gegeben. Auf diese herrliche Stufe der nationalen Unabhängigkeit brachte uns das Recht zur Revolution. Im Dezember 1813 erfolgten sodann unter der Aegide der österreichischen Bajonnete die reaktionären Staatsstreiche der Patriziato; infolge der innern anarchischen Zersplitterung war lediglich dem Drängen der fremden Mächte eine allerdings ungenügende Rekonstruktion der Eidgenossenschaft zu danken, und -- die Emissäre des russischen Kaisers waren, leider meistens erfolglos, die Vertheidiger freisinniger Institutionen. Später hat die radikale Schweiz den Revolutionen in Tessin, Wallis, Waadt und Genf, und die konservative Schweiz der Volkserhebung in Zürich zugejubelt. Die Eidgenossenschaft zeigte sich macht- und willenlos gegenüber Freischaarenzügen zum Umstürze einer von der Volksmehrheit getragenen Regierung. Es war die Zeit des Siebnerkonkordates und des Sonderbundes, und diese Periode der Bundesanarchie fand ihren Abschluß im sechsten, so Gott will, letzten schweizerischen Bürgerkriege.

Danken wir es der eidgenössischen Konstituante vom Jahre 1848, daß sie unmittelbar nach dem Bürgerkriege nicht nur im Allgemeinen mit staatsmännischer Mäßigung und Weisheit vorgegangen ist, sondern daß sie Recht und Freiheit als die korrelaten Grundbegriffe jedes Volksstaates in großen, klaren Zügen garantirte. Art. 2 der Bundesakte bezeichnet als ihren zweiten großen Zweck die Handhabung der Ruhe und Ordnung im Innern. Es war dieß unendlich mehr als eine Phrase, nein, es ist dieß ein fundamentaler Kestaudtheil jenes Eides, den das Parlament und der Bundesrath im Namen des gesammten Volkes der Eidgenossen schwören. Darum kannte auch die
neuere Schweizergeschichte binnen 42 Jahren mit Ausnahme des Royalisten-Aufstandes in Neuenburg keine kantonale Revolution, und der sei. B l u m e r durfte bisher in seinem Staatsrecht sagen : ,,Es besteht gegenwärtig auf dem Gebiete des Staatswesens eine Rechtssicherheit, wie sie frühere Zeiten nicht gekannt haben."

Wenn die Kantone viel von ihrer Hoheit einbüßten, wenn sie zumal auch die Militärhoheit dem Bunde abzutreten hatten, so

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m u ß t e der Bund für sie der starke Hort des Rechtes und der Freiheit sein. Darum garantirte der Bund den Kantonen den Rest ihrer S o u v e r a n et ä t. Er gewährleistete ihnen aber auch die V e r f a s s u n g und mit den v e r f a s s u n g s g e m ä ß e n Rechten und Freiheiten des Volkes die R e c h t e und B e f u g n i s s e , welche das Volk den B e h ö r d e n übertragen hat. Der Gesandte von W a a d t wollte allerdings indirekt das Recht der Revolution gewährleisten. Aber die enorme Mehrheit der Verfassungskommission und der sehr liberalen Tagsatzung erachtete, daß hiermit die Anarchie besiegelt wäre. Die politischen und individuellen Rechte des Bürgers stehen unter dem weitestgehenden Schütze der eidgenössischen Rekursinstanzen; wir sind ein Rechtsstaat im eminenten Sinne dieses Wortes, darum bedarf es keiner Revolution mehr, darum ist jede Revolution ein Hochverrat!) gegenüber der verfassungsgemäß organisirten Majestät des Volkes. Wir kennen thatsächlich nur e i n Tessinervolk, jenes Volk, welches in den verfassungsgemäßen Komitien seine Souveränetät ausübt; darum ist es eine strafwürdige Usurpation, wenn die Herren Simen und Genossen im Namen des Tessinervolkes sprechen.

Welchen Respekt aber das nordamerikanische Volk vor seinen verfassungsgemäßen Organisationen hat, erleuchtet daraus, daß nach den heftigsten Wahlkämpfen jede Einrede sofort verstummt, wenn durch die Minderheit des Volkes und die Mehrheit der Elektoren eine Präsidentenwahl erfolgte. Aber nicht nur die verfassungsgemäßen Rechte des Bürgers sind geschützt, sondern jede Revisionsverfassung muß republikanisch sein, sie muß auf dem Boden der Rechtsgleichheit beruhen, und sie muß durch die Mehrheit der Stimmberechtigten jederzeit geändert werden können. Und diese Frage der Verfassungsrevision mußte unter allen Umständen in den nächsten Wochen dem Tessinervolke unterbreitet werden. Die Revolutionsmänner hatten also nicht den leisesten Grund zur Revolution. Sie wollten an der Stelle einer freien Abstimmung eine Abstimmung unter dem Hochdruck des Pronunziamento und des Vetterligewehrs. Revolutionäre Banden sollten die Wächter sein vor dem Heiligthum der Stimmurne.

Die Bundesverfassung besagt ausdrücklich : ,,Im Falle einer eidgenössischen Intervention sorgen die Bundesbehörden für Beachtung der Vorschriften von Art. 5,
also für Wiederherstellung der v e r f a s s u n g s g e m ä ß e n Ordnung. Es war und ist dies aber doppelte Pflicht des Bundesrathes, weil er die verfassungsgemäß verlangte Hülfeleistung den Regierungen von Luzern und Uri untersagte. Der erste, notwendigste und elementarste Zweck einer Bundesintervention ist der, daß alle staatsrechtlichen Konsequenzen

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der Revolution kassirt werden und daß die verfassungsgemäße Ordnung eine vollständige restitutio in integrum erhält. Das iiothwendigste Mittel aber hierzu ist die Wiederherstellung der vom Volke direkt und indirekt gewählten Landesbehörden: der Regierung und des Großen Rathes. Es kann sich ganz unmöglich um eine sogenannte ,,Rekonstruktion" dieser Behörden handeln, ihre Rechtskontinuität war in keinem Momente unterbrochen, sie waren nur gewaltsam verhindert an der Ausübung ihrer Funktionen. Nun darf aber ganz unmöglich an die Stelle dieser gewaltsamen Verhinderung durch die Revolution die gewaltsame Verhinderung durch das Kommissariat und durch die eidgenössischen Bajonnete treten.

Sonst übernimmt die Eidgenossenschaft auf kürzere oder längere Zeit die Erbschaft der Revolution , und es liegt hierin die größte Ermuthigung für künftige Revolutionen. So wenig durch eine civilrechtliche Handlung Eigentumsrechte geschaffen werden können, so wenig kann durch eine Revolution die Kontinuität im Staatsrecht unterbrochen werden. Das Recht . der ,,vollendeten Thatsachena ist im Rechtsstaat die Negation des Rechtes. Jeder Kompromiß mit der Gewalt schwächt eminent das Rechtsbewußtsein und kompromittirt die Autorität des Staates. De jure war der Staatsrath von Tessin stets im Amte, und es ist wahrhaftig nicht Sache des eidgenössischen Kommissariats, zur Genugthuung der Revolutionäre ihm auch nur einen Augenblick die Thüre zürn Regierungsgebäude in Bellinzona zu verschließen. Hängt denn schließlich Alles vom hoheitlichen Placet und von der gnädigen Zustimmung der Revolution ab? Wo steht es denn in der Bundesverfassung: ,,Die Kantone sind souverän, bis infolge eines Futsches an Stelle der Kantonalsouveränetät die Bundespräfektur tritt"1?

Was nützt den Kantonen die eidgenössische Gewährleistung ihrer Souveränetät, wenn sie der Bund im kritischen Momente auf unbestimmte Zeit kassiren kann? Art. 5 der Bundesakte ist dann rein gehaltlos, und es liegt dann in der Hand einiger verwegener Hitzköpfe, die Freiheit ihres engern Heimatlandes zu vernichten und ihren Kanton unter eine absolute Diktatur zu stellen. Wo beginnt und wo hört überhaupt die Kompetenzensphäre einer solchen Diktatur auf? Wenn sie nicht sofort da aufhört, wo die verfassungsgemäßen kantonalen Autoritäten wieder in ihre Rechte treten können, so hat sie
überhaupt k e i n e Grenzen, so kann sie die Kantonal Verfassung nicht nur sistiren, sondern auch abändern und vernichten, so haben wir statt freier Kantono nltrömische Prokonsulate, rechtlose Provinzen eines absolut regierten Einheitsstaates.

Dann ist aber auch die Volksmehrheit nur so lange Herr im Lande, bis es der Minderheit beliebt, statt an die Stimmurne an

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dea Dolch und an das Vetterligewehr zu appelliren und dadurch die Habeas-corpus-Akte der kantonalen Freiheit zu vernichten. Ich bin fürwahr kein Freund eines ausschließlichen, extremen Regiments, aber ich bin ein Freund der Rechtsordnung und der schweizerischen Landesehre, und darum verurtheile ich auf das Entschiedenste jene schändliche Revolution, welche, grundlos in ihren Zwecken und grundschlecht in ihren Mitteln, jeden ruhig denkenden Eidgenossen, Überhaupt jeden Freund der wahren Freiheit tief empören mußte. Es ist das schnurgerade Gegentheil jedes wahren Heroismus, wenn man durch gefälschte Telegramme, überhaupt durch Perfìdie und Lüge, sowie unter der Maske falscher Engländer, eine Verschwörung inaugurirt, wenn man dann das Hausrecht und das Eigenthurn verletzt, wenn man dann unter den größten Insulten Ehrenmänner ihrer Freiheit beraubt, wenn gedungene und vermöge ihres Leumundes und ihrer Rachelust vor keiner That zurückschreckende Individuen das Regierungsgebäude stürmen müssen, und wenn ein von allen Parteien hochgeachteter Mann in der Blüthe seiner Jahre wegen altschweizerischer Pflichterfüllung durch eine Mörderkugel fällt. Doch der Kulminationspunkt dieser glorreichen Revolution war noch nicht der Meuchelmord; ingeniöser noch war der Versuch, den Gemordeten als Selbstmörder zu verleumden. Und s o l c h e Leute nennen sich die Söhne Wilhelm Teils! Ja wohl, der Vater Teil würde ihnen in seinem edeln, unbefleckten Freiheitsstolze die gleiche Antwort geben, die er dem Erzfeinde verfassungsgemäßer Volksrechte, dem Landvogt Geßler, gab. Mit einer s o l c h e n Revolution läßt sich nicht paktiren, gegenüber s o l c h e n Vorgängen gibt es nur e i n e rechte Antwort, die Verfolgung der Schuldigen und die sofortige Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung. Glauben Sie ja nicht, daß ich zwischen einer energischen Revindikation der unveräußerlichen Volks- und Menschenrechte gegenüber dem Despotismus in jeder Form und zwischen einer feigen Verschwörung gegenüber einer verfassungsgemäßen republikanischen Regierung nicht sehr wohl zu unterscheiden weiß. Ich besitze gottlob so viel urschweizerische Tradition, daß die Worte Stauf'fachers im Rütli ein warmes und treues Echo in meinem Herzen finden : ,,Eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich
wird die Last, -- greift er Hinauf getrosten Muthes in den Himoiel Und holt herunter seine ew'geu Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.11

665 Diese ewigen Rechte, die durch keine Tyrannei vernichtet werden können , lehrt und besiegelt uns die Philosophie des positiven Christenthums. Ja wohl, über das usurpirte, niemals durch «ine Verjährung geheiligte Faustrecht der Demagogen und Despoten steht in meinen Augen unendlich hoch das unverjährbare, göttliche Recht der Menschen und der Völker; aber gerade weil mir dieses Recht der Freiheit das heiligste im Völkerleben ist, gerade darum darf es nie prof'anirt und in seinen Grundfesten erschüttert werden durch den frevelhaften Umsturz der verfassungsgemäßen Rechtsordnung in einem Freistaate. Der. edelste und genialste Apologete der Freiheit in deutscher Zunge stellte in klassisch prägnantester Weise Teil dem Parricida gegenüber. Ich will so gut wie Jemand eine wahrhaft freie und wahrhaft fortschrittliche, kulturelle Entwicklung in unserm Schweizerlaude ; aber weil ich das will und weil mir die Ehre des Schweizernameas vor Allem am Herzen liegt, darum verurtheile ich aufs Tiefste eine Revolution, welche in That und Wahrheit nicht den Namen einer Revolution verdient, weil sie zum vornherein jede Verteidigung verunmöglicht und weil sie mit der Rechtlosigkeit des Aufruhrs die Perfidie des Verrathes und die Strategie des Brigantenthums verbindet. Ich unterschätze in keiner Weise die verantwortungsvolle Schwierigkeit, welcher der eidgenössische Kommissär auf Schritt und Tritt begegnet ist, und ich anerkenne seinen redlichen Willen, daß er der Revolte ohne Blutvergießen ein Ende machen wollte; aber mir schien denn doch, daß ein Mann, der den klar und wiederholt ausgesprochenen Willen des Bundesrathes und die schweizerische Wehrkraft hinter sich hatte, etwas mehr Machtentwicklung und folgerichtig etwas weniger Furcht für das Leben der rechtlos Gefangenen bei deren sofortiger Freilassung Jiätte manifestiren dürfen, und mir scheint vor Allem und Jedem, daß man von den Häuptern des Aufstandes im Interesse der Waffen- und der Landesehre unmöglich das Ultimatum entgegennehmen durfte, man werde nur dann sich ruhig verhalten, wenn der Zweck der Revolution erfüllt sei, d. h. wenn die gestürzte Landesregierung nicht mehr in den Besitz ihrer verfassungsgemäßen Kompetenzen trete. Bundeskommissäre haben wahrhaft edlere, der nationalen Ehre entsprechendere Zielpunkte, als solche Kompromisse. Ich anerkenne es
dankbar gegenüber dem Bundesrathe, daß seine ursprünglichen Beschlüsse gau/o korrekt gewesen sind, und daß er zuerst rund und nett, ohne schwachherzige Restriktionen, dem Recht zum Recht verhelfen wollte. Ich anerkenne auch die großen Schwierigkeiten und die oriisto Verantwortlichkeit, welche durch diesen unpatriotischeu Gewaltakt an den Bundesrath herangetreten sind. Aber ich muß die Bemerkung mir erlauben, daß der Bundesrath keinen Rechtsgrund hatte, von seinen

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ursprünglichen Resolutionen auch nur um eines Fingers Breite abzuweichen. Er wußte ja zum Voraus, daß die Aufständischen gegen die Wiedereinsetzung der alten Regierung protestiren ; der Aufstand hatte ja nichts weniger ds einen platonischen Charakter; aber der Bundesrath hatte auf der ändern Seite den klaren Wortlaut der Bundesverfassung, er hatte für sich das öffentliche Rechtsbewußtsein, er hatte für sich den edeln und gerechten Ernst der schweizerischen Waffen, er hatte für sich die sehr energische und unabweisbare Forderung der Landesehre. Der Bundesrath anerkennt nun in seiner Deklaration wieder den Rechtsstandpunkt.

Wenn die Dispositive des nationalräthlichen Beschlusses mit dem wesentlichen Inhalte dieser Deklaration identisch wären, so könnte ich sehr wohl zu diesen Dispositiven stimmen. Wir konstituiren heute aber ein äußerst wichtiges und präjudizielles Stück schweizerischer Rechtsgeschichte, und darum kann ich aus grundsätzlichen Bedenken unmöglich der eidgenössischen Exekutive gegenüber der Kantonalsouveränetät eine diskretionäre Gewalt verleihen.

Ich sage also, -- vor Allem Recht und Ordnung! Will ich damit sagen, daß die eidgenössische Intervention nicht auch die innere, thunlichst dauerhafte Pazifikation des Landes in ihr Programm aufnehmen soll ? Von solch' rachesüchtigen Gedanken bin ich himmelweit entfernt. Unter der Ruhe in einem freien Lande verstehe ich etwas ganz Anderes, als die Ruhe von Warschau.

Respini hat es sofort selber anerkannt, daß das Kommissariat sehr wohl neben der Landesregierung Platz finde. Es war dies ja noch bei jedem eidgenössischen Kommissariat, auch letztes Jahr, der Fall.

Aber die Annahme eines Pazifikationsprogramms, welches schließlich einen kompromissorischen, quasi vertraglichen Charakter hat, darf unmöglich das Ultimatum für die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung sein. Nicht ia der Bundesdiktatur liegt die moralische Autorität des Bundes, um den wahren Frieden im Lande herzustellen. Der Bund hat hiefür gottlob noch ganz andere Mittel,,.und die beste Hülfe ist ihm hiebei die moralische Unterstützung aller ruhig denkenden, loyalen Eidgenossen. Aber gerade diese kennen keine wahre Ruhe und keinen wahren Frieden, als auf dem Boden der Freiheit und des Rechtes. Nach der Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung werden sofort alle
wahren Patrioten sich darin zusammenfinden, daß sie ihren politischen Freunden im Tessin zu reichen Opfern auf den Altar des Friedens dringendst rathen.

Es werden namentlich zwei Uebelstände im politischen Leben des Kantons Tessin gerügt, in deren Verurtheilung ich durchaus mit dem Berichterstatter der Mehrheit übereinstimme: die Wahl-

667 korruption und die Extravaganzen der Parteipresse. Man kann nicht genug es allen Ehrenmännern anempfehlen, daß sie diesen zwei unmoralischen Ausschreitungen energisch Halt gebieten. Die Wahlkorruption ist die Negation der politischen Moral, sie ist ein schleichend Gift im Herzen des republikanischen Staatsorganismus, sie kann von jedem ehrlichen Patrioten nicht scharf genug verurtheilt werden. Und die leidenschaftlichen Extravaganzen der Parteipresse schaden in allen Lagern bei einem politisch gebildeten Volke der eigenen Partei ; die gesunde öffentliche Meinung und die republikanische Bildung sind ihre strengen und gerechten Richter.

Der Sprechende ist für energische Vertheidigung der Grundsätze, aber er spricht sich mit aller Entschiedenheit dagegen aus, daß gegen die Grundprinzipien des Evangeliums der persönliche Haß und der Appell an die Leidenschaft der politischen Presse sich bemächtigt. Wir hoffen, daß der Edelsinn und die mannhafte Ruhe, die im schweizerischen Volkscharakter liegen, diese höchst betrübenden Ausschreitungen je länger je energischer verurtheilen. Aber solche Extravaganzen kommen leider nicht nur im Tessin vor; es gibt in der Schweiz keinen Ehrenmann von politischer Bedeutung, der darunter nicht schon sehr zu leiden hatte. Und welche Erziehung hat das brave Tessinervolk von der Eidgenossenschaft erhalten? Herr Bundesrath Welti hat dies in einer klassischen Rede mit höchst verdankenswerther Gründlichkeit und Energie betont. Und wie konnte an die schlimmsten Leidenschaften in schamloserer Weise appellirt werden, wie dies vor kurzer Zeit das Organ des Präsidenten der provisorischen Regierung that, indem es den Dolch als Befreiungsmittel des Tessinervolkes proklamirte.

Man befürwortet nun hauptsächlich zwei Mittel, um den Frieden herzustellen, und ich bin von der Notwendigkeit dieser Mittel entschieden Überzeugt; ich rathe meinen Freunden im Tessin auf das Entschiedenste, die Hand zum Frieden auf diesem Weg zu reichen.

Sie sind dies dem engern und dem weitern Vaterlande, sie sind dies ihrer eigenen Zukunft, ihrer Ehre sehuldi». Diese zwei Mittel sind bekanntlich die Proportionalität iu den Behörden und die Revision der Wahlkreiseintheilung. Aber hiefür bedarf es keines eidgenössischen Diktates, hiefür bedarf es nur des Hinweises auf das hehre Vorbild der Eüdgenossensehat't,
indem auf eidgenössischem Gebiete die Minoritäteuvertretung und eine gerechte Wahlkreiseintheilung sich stetsfort auf das Glänzendste bewährten.

Man spricht nun davon, daß dem tessinischen Riformino die Bundesgarantie entzogen werden solle. Die Bundesgarantie ist kein Dekret, das einseitig aufgehoben oder geändert werden kann. Sie ist die solenne, rechtsverbindliche Erklärung, daß der betreffende

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Bestandtheil einer Kantonsverfassung nichts der Bundesverfassung Widersprechendes enthalte, sie ist mit einem Wort die unwiderrufliche Gewährleistung des positiven kantonalen Staatsrechtes. Sie ist kein Gnadengeschenk des Bundes; laut Bundesverfassung muß sie ertheilt werden, und sie kann, so wenig als ein feierlich gegebenes Manneswort, wieder jemals zurückgenommen werden.

Die Suspension der Bundesgarantie, auch nur in einem Einzelfalle, wäre in thesi die absolute Vernichtung der Kantonalsouveränetät.

In diesem Falle würde dann gar keine Wahlkreiseintheilung bestehen, denn mit der Annahme des Riformino durch das Tessinervolk wurde die alte Wahlkreiseintheilung definitiv begraben, und ein aufgehobenes, also gar nicht mehr existirendes Gesetz kann unmöglich wieder in Kraft treten, indem ein neueres Gesetz nach zehn Jahren suspendirt wird. Es liegt aber absolut außer der Kompetenz der eidgenössischen Behörden, für den Kanton Tessin eine neue Wahlkreiseintheilung zu schaffen. Hiezu sind nur die verfassungsmäßigen kantonalen Organe kompetent. Mit dem gleichen Hechte könnte man dann überhaupt alle Kantons Verfassungen von Bern aus oktroiren. Wir hätten dann statt 25 selbständiger Gemeinwesen 25 Bundespräfekturen. Auf diese Weise wäre dann allerdings der Bund der Exekutor von Revolutionen. Nach meiner Ueberzeugung soll und muß der Große Rath, sobald wieder die verfassungsgemäße Ordnung hergestellt ist, auch bezüglich der Wahlkreiseintheilung die Hand zum Frieden bieten. Ich bin im Tessin so gut für eine gerechte Wahlkreiseintheilung, als in der Eidgenossenschaft, aber es gibt genug verfassungsgemäße Mittel, zu diesem Ziele zu gelangen. Ein jeder Schritt, der an den verfassungsgemäßen Grundlagen der kantonalen Freiheit rüttelt, wäre für den Frieden und für das öffentliche Rechtsbewußtsein von den allerschwersten Folgen. Wir hätten das Recht der Revolution in unser Staatsrecht aufgenommen. Wir hätten überhaupt kein Staatsrecht mehr.

Man spricht und schreibt nun sehr viel von einem ausschließlichen Parteiregimente im Tessin. Ich maße mir diesbezüglich kein kompetentes Urtheil an ; ich konstatire nur, daß ein Extrem dem ändern ruft, und daß ich ein grundsätzlicher Gegner jedes extremen, exklusiven Parteiregimentes bin. Ich konstatire nur, daß gegen das schändliche Pronunciamento des Jahres 1855 und gegen
die nicht minder verwerflichen Doppelbüreaux und Minderheitswahlen von 1859 die Eidgenossenschaft kein Recht und keine Intervention kannte. Und ich konstatire nur, daß es die Konservativen waren, welche in hartem Kampfe die geheime und gemeindeweise Abstimmung, kürzere Wahlperioden, die Verfassungsinitiative und das Gesetzesreferendum dem Tessiuervolk erkämpften. Ich konstatire nur, daß kein Konservativer von 1840--1875° in der radikalen

669 Regierung saß, daß Respini wiederholt seinen politischen Gegnern eine angemessene Vertretung im Staatsrathe anerboten hat und daß der thatkräftige Mann die Sympathien der ganzen Bundesversammlung hatte, als er all' seine Kraft für die Tessinkorrektion einsetzte. Ich bin nicht der Einzige, der in diesem Saale der patriotischen Wärme sich erinnert, die in Respini's feuriger, aber parlamentarisch taktfester Beredsamkeit ihr edles Echo fand.

Was nun unsern Antrag anbetrifft, so enthält derselbe durchaus kein Tadelsvotum gegen den Buodesrath. Derselbe handelte zweifellos in guten Treuen, und seine ursprünglichen Resolutionen waren ganz korrekt. Wir wollten also vollabsichtlich unsern Antrag in eine entgegenkommende' und milde Fassung bringen. Es handelt sich aber heute um einen staatsrechtlichen Präzedenzfall von der eminentesten Bedeutung. Es handelt sich darum, ob, ohne die äußerste Nothwendigkeit, auch nur auf kurze Zeitfrist die absolute Suspension der kantonalen Gewalten erfolgen darf. Und diese Frage muß ich um so entschiedener verneinen, weil nach meiner vollen Ueberzeugung der gleichzeitige Bestand und ein vom Bundesrathe geregeltes Zusammenwirken des eidgenössischen Kommissärs und der kantonalen Regierung viel korrekter ist. Das war der Fall bei allen eidgenössischen Kommissariaten, in Genf, in Zürich und Tessin. Ich will nun diesbezüglich keine retrospektive Kritik ausüben, ich will auch keineswegs verneinen, daß das Volksvotum mit mehr Ruhe vor sich gegangen ist, weil dasselbe unter der Amtswaltung des eidgenössischen Kommissärs erfolgte. Aber nachdem noch zur Stunde, da wir diesen Beschluß fassen, die tessinische Regierung suspendirt und der Große Rath an seinem Zusammentritt verhindert ist, m ü s s e n wir, wegen der enormen Wichtigkeit des Prinzips, die thunlichst baldige Reintegration der kantonalen Behörden in die Dispositive unseres Beschlusses niederlegen. Ich will an der Deklaration des Bundesrathes nicht deuteln und nicht mäkeln; gegentheils, ich betrachte sie sehr gern als bündige Zusage, daß eine d e m n ä c h s t i g e Wiederherstellung der tessiuischeu Kantonalsouveränetät zweifellos erfolgen soll, und ich halte es für äußerst werthvoll, daß diese Deklaration vom Nationalrathe mit Einmuth acceptirt wurde. Nachdem wir aber vor einer Frage von so fundamentaler Bedeutung stehen,
halte ich es wegen der Zukunft für viel korrekter, wenn die Frage auch im Dispositiv betont wird.

Durch die thatsächliche Annahme der Deklaration hat ja so wie so der Nationalrath dem zu elastischen Dispositiv des bundesrätblicheii Antrages eine sehr restriktive Interpretation gegeben ; darum ist es logisch richtiger, wenn man Ingreß und Dispositiv in redaktionellen Einklang bringt. Ich bin, wie gesagt, keineswegs der Meinung, daß die militärischen Schutzvorkehren des Bundesrathes und zumal

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auch seine Pazifikationsversuche mit der Wiedereinsetzung des Staatsrathes aufzuhören haben.

Darum wollen wir dem Bundesrath viel prägnanter als der Nationalrath für Aufrechthaltung der verfassungsgemäßen Ordnung und des öffentlichen Friedens, also für Förderung des Friedens, Vollmacht und Kredit ertheilen. Man kann also in keiner Weise sagen, daß wir den Parteigeist höher stellen als das Vaterland und daß wir uns nicht zu einer patriotisch einmüthigen Manifestation erschwingen können. 0 nein, wir wollen in dieser äußerst traurigen und ernsten Angelegenheit, an welcher wir keine Schuld tragen, nicht Parteipolitik treiben; o nein, Friede, Recht und Ehre des Vaterlandes liegen uns so warm und treu am Herzen, als jedem Eidgenossen. Aber es könnte und müßte uns vielmehr als Schwäche angerechnet werden, wenn wir angesichts des Volksvotums vom letzten Sonntag eine andere Stellung einnehmen würden, als unsere Gesinnungsgenossen im ändern Rathe. Ich unterschätze allerdings dieses Volksvotum in keiner Weise, und es spricht sehr beredt dafür, daß der Kanton Tessin der Pazifikation bedarf. Alle, die hiezu die Hand bieten, machen sich verdient um's Vaterland. Aber diese Pazißkation hat auf v e r f a s s u n g s g e m ä ß e m Boden zu erfolgen. Wir können der Konsequenzen wegen in unserm Beschlussesantrag das Prinzip der Kantonalsouveränetät und der Kontinuität der Rechtsordnung unmöglich opfern. Das Volksvotum vom letzten Sonntag wird nun den verfassungsgemäßen Behörden des Kantons Tessin sehr nahe legen, auf den Weg des Friedens einzutreten, und es liegt im Sinn und Geist, sowie im Wortlaut unseres Antrages, daß dem Bundesrathe für veifassungsgemäße Förderung dieser Pazifikation die Hände keineswegs gebunden sind, sondera daß er vielmehr mit aller nothwendigen Vollmacht hiefür ausgestattet wird. Man darf aber, bei ernster und ruhiger Erwägung der Situation, die Bedeutung des Volksvotums vom letzten Sonntag auch nicht überschätzen. Diesseits des St. Gotthard herrscht darüber keine Meinungsverschiedenheit, daß die Stimmrechtsverhältnisse des Kantons Tessin auf einer anormalen, schwankenden, der Interpretation der autonomen Gemeinderäthe zu sehr anheimgegebenen Unterlage ruhen. Es wäre auch heute verfrüht, zu untersuchen, inwieweit trotz aller Schutzvorkehren rechtswidrige Wahlbeeinflussung und unzulässige
Ausübung des Stirnmrechts vorgekommen ist. Bei allbekannten Präzedentien und bei der ungeheuren Kraftanstrengung der Parteien ist die Möglichkeit leider in keiner Weise ausgeschlossen. Aber Thatsache ist, daß im momentanen Erfolge der Revolte, sowie in der Suspension der Kantonalsouveränetät, rein psychologisch gesprochen, eine Entmuthigung der Regierungspartei und eine Ermuthigung der Opposition sich finden mußte. Dann

671 und vor Allem muß man die Frage, welche letzten Sonntag dem Tessinervolke vorlag, scharf ia's Auge fassen. Es handelte sich keineswegs in concreto um die Frage einer konservativen oder radikalen Regierung, sondern es handelte sich um die Wahl der Regierung und der Richter durch das Volk. Es handelte sich also um eine eminent demokratische, populäre Frage, und da möchte ich das Volk sehen, welches auf diese Frage, wenn sie ihm einmal unterbreitet wird, mit Nein antworten würde. Es muß, bei ruhiger Reflexion, uns vielmehr Wunder nehmen, daß trotz der 10,000 Unterschriften für die Verfassungsrevision die Hälfte des Volkes gegen diese eminent demokratischen Postulate sich ausgesprochen hat.

In a l l e n Nein, welche das Volk gegen die Erweiterung seiner Souveränetätsrechte abgegeben hat, lag unbedingt ein Vertrauensvotum für die bestehenden Behörden. Die Ja rekrutirten sich selbstverständlich ganz vorwiegend aus der Opposition, aber das Ja bot unvergleichlich mehr demokratische Attraktionskraft, und so ist bei dem verschwindend kleinen Ueberwiegen der Ja gegen die konservative Partei keineswegs ein Volksverdikt zu finden. Wann dachte man nach einem negativen Volksvotum über eine revidirte Verfassung oder über ein Gesetz an die nothwendige Abdikation der bestehenden Behörden, und welch' eminent größerer Sieg der Opposition war auf eidgenössischem Boden das Volksvotum in der Schulfrage, und welches Mitglied der Parlameotsmajorität dachte darum an den Rücktritt des Parlaments? Das Tessinervolk hat übrigens nach Durchberathung und nach Annahme der revidirten Verfassung Anlaß, sich bei der Wahl der Regierung über die Männer seines Vertrauens auszusprechen. Auch die Nationalrathswahlen werden in drei Wochen zeigen, auf welcher Seite in politischer Beziehung die Mehrheit des Tessinervolkes steht. Jetzt ist nicht der leiseste Rechtsgrund vorhanden, ein grundschiefes Präjudiz durch gewaltsame Unterbrechung der Rechtskoutinuität zu schaffen, und es liegt hiefür um so weniger ein praktisches Bedürfniß vor, weil auf verfassungsgemäßem Wege ein Kompromiß der Parteien für die Zusammensetzuug des dermaligcn Staatsrathes bei gutem Willen und nach autoritativem Rathschlag des Bundesrathes sehr wohl zu erzielen ist.

Wir nahmen auch im Schooße der Kommission mit wahrer Genugthuung von der Erklärung des Herrn
Buudespräsidenteu Akt, und wir danken für diese Erklärung, nicht nur weil sie von der Spitze der obersten Landesbehörde, sondern von persönlich sehr hochachtbarer Seite abgegeben wurde. Es ist also kein Mißtrauen gegen den Bundesrath, daß wir trotzdem einen Minderheitsantrag stellen; es ist dies für uns in einer hochwichtigen Präjudizialfrage lediglich Sache des Prinzips und der Konsequenz, wir wollen damit

672 nur betonen, daß gegen dieses grundlegende Axiom der Kantonalsouveränetät noch so energische Protestationen absolut nicht, iii's Gewicht fallen; wir m ü s s e n nicht gegenüber dem Bundesrathe, wohl aber gegenüber der Revolte diesen einzig reellen Standpunkt einnehmen, weil uns kein bestimmter Termin für die Reintegration der kantonalen Hoheitsrechte zugesichert ist, und unser Antrag wird schon dadurch gerechtfertigt, weil wir nur parlamentarisch und prinzipiell das betonen, was die Wortführer unserer obersten Exekutivbehörde ebenfalls in Aussicht stellten.

Herr Präsident ! meine Herren Ständeräthe ! Ich habe Sie lange hingehalten, ich bitte um Entschuldigung. Die konservative Schweiz befindet sich auf parlamentarischem Boden in der Minderheit, sie hat einzig ihre Macht im Recht; wenn darum die Grundsäulen des Rechtes wanken, ist es für sie Pflicht der Selbsterhaltung, daß sie diesen Hort der Schweizerfreiheit mit aller Entschiedenheit vertheidige. Wir, die Männer der parlamentarischen Minderheit, wir, die Vertreter der föderativen Schweiz, haben im Interesse der Volkswohlfahrt zur weitestgehenden Entwicklung des Bundes oft die Hand gereicht. Es ist nun für uns doppelt Ehrenpflicht, dafür zu sorgen, daß die Kantonalsouveränetät nicht in ihrem Fundament erschüttert werde. Wir stunden stets wie ein Mann zum Bundesrathe, wenn es um die energische und einträchtige Wahrung der vaterländischen Ehre sich gehandelt hat. Das ist's aber, was den guten Ruf des Schweizernamens bei den Völkern und Regierungen der gesammten Kulturwelt aufs Mächtigste gefördert hat, daß die neue Eidgenossenschaft die Völkerfreiheit auf dem Boden der verfassungsgemäßen Ordnung zu erhalten wußte und daß sie bei allem Reichthum und aller Energie der Parteigegensätze ein Land der Ruhe und des Friedens war. Von diesem Standpunkte vor Allem legen wir gegen die Vorgänge im Tessin feierlichste Rechtsverwahrung ein, von diesem Standpunkte vor Allem war und ist es unser tiefernstes Postulat, daß solche Vorgänge energisch verurtheilt und unterdrückt werden und daß die Freiheit und der Friede durch die Heilighaltung des eidgenössischen und kantonalen Grundgesetzes ihre höchste Sanktion erhalten.

Auf d i e s e m Boden werden wir unsern Freunden im Tessin zu weitgehenden Opfern für einen ehrenfesten, dauerhaften Frieden rathen. Auf diesem
Boden werden wir auch in Zukunft eine gut eidgenössische Politik befolgen.

B e r n , den 8. Oktober 1890.

N a m e n s der K o m m i s s i o n s m i n d e r h e i t : Th. Wirz, Berichterstatter.

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Bericht der ständeräthlichen Kommissionsminderheit, betreffend die bewaffnete eidgenössische Intervention im Tessin und die politische Lage dieses Kantons. (Vom 8.

Oktober 1890.)

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Bundesblatt

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1890

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44

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25.10.1890

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659-672

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