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Schweizerisches Bundesblatt.

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Bericht

im Namen der ständeräthlichen Kommissionsmehrheit über die Wahlkreise für den Nationalrath.

(Vom 12. /13. Dezember 1889.)

I. Bei der Eintretensfrage.

Tit.

Bis zum Jahre 1848 war unsere Eidgenossenschaft kein einheitliches, eigentliches Staatswesen. Sie war nur ein Staatenbund, und ein solcher beruht nur auf einem Vertrage, nicht auf einer Verfassung. Dumm stehen auch alle Einzelstaaten mit Selbstständigkeit und Gleichberechtigung dem Staatenbunde gegenüber. Der Einzelstaat und nicht der betreffende Volkstheil des Gesammtstaates beschickt zu Berathung der gemeinsamen Angelegenheiten die Tagsatzung des Staatenbundes.

Im Jahre 1848 erhielten wir die Bundesverfassung, und dem entsprechend, in logisch korrekter Nachahmung der nordamerikanischen Unionsakte, einen Ständerath und einen Nationalrath. Man lebte damals in der Zeit des Repräsentativsystems. Seither ging man bis auf einen gewissen, bescheidenen Grad zu den demokratischen Formen über. Hiebei verließ man dann aber prinzipiell den Boden des Bundesstaates, indem man für die Gesetzgebung fakultativ das einfache Volksreferendum statt des Doppelreferendunis von Volk und Ständen einführte. Das hat denn auch zur Folge, daß eine knappe, auf beschränkte geographische Kreise konzentrirte Volksmehrheit dem entgegengesetzten Volkswillen von zwei Dritttheilen der eidgenössischen Stände die einschneidendsten Gesetze oktroyiren kann.

Bundesblatt. 42. Jahrg. Bd. I.

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Aeußerst wichtig war die Organisation der Volksvertretung.

Man wollte zuerst diese Kammer ,,schweizerischen Volksrath* nennen, es beliebte dann aber der gelehrtere, nur vorübergehend von den Türken nachgeahmte Name ,,Nationalrath".

Man war auch in der konstituirenden Tagsatzung entschieden Willens, den Nationalvath zur eigentlichen Volksrepräseotation zu schaffen, indem man den Zusammenhang von Volk und Repräsentanten schon dadurch thunlichst zu garantiren suchte, daß man die Wahlkreise an die Grenzen der Kantone bannte, und indem man auf 20,000 Seelen (beziehungsweise auf einen Bruchtheil von über 10,000 Seelen), also auf einen verhältnismäßig kleinen Volkskreis einen Repräsentanten schuf.

Für die ersten, im Spätherbst 1848 stattgefundenen Wahlen, bevor man eine eidgenössische Legislative hatte, m u ß t e man sich damit helfen, daß die kantonalen Behörden die Wahlkreise zu umschreiben hatten. Es wurde hiedurch deshalb ein schlimmes Präjudiz geschaffen, weil kaum ein Jahr nach den Wirren des Bruderkrieges, zumal bei den neugeschaffenen Regierungen in rnehrern Kantonen des ehemaligen Sonderbundes, die politischen Leidenschaften noch sehr lebendig waren. So hat dannzumal zum Beispiel im Kanton L u z e r n eine derart klassische Wahlkreiseintheilung Platz gegriffen, daß geographisch zusammenhangslose Kreise geschaffen wurden, und daß die Wähler, als sie zu sogenannten ,,Landsgemeinden" an Einem Orte sich besammeln mußten, sich einander in den viel Stunden langen Wegen kreuzten.

Es ist auch sehr interessant, daß in der Kommission der konstituirenden Tagsatzung d e r Gedanke zwanzig Stimmen auf sich vereinen konnte, daß nur Ein Wahlkreis für die ganze Schweiz geschaffen werden solle. Man wollte hiedurch offenbar aus dem schweizerischen ,,Volksrathe"1 die besiegte Minderheit verdrängen.

Jeder Eidgenosse hätte dann das Glück gehabt, neben Einem bekannten 119 unbekannte Namen auf ein Folioblatt zu schreiben; diese Mühe wäre ihm dann aber wahrscheinlich durch gedruckte Wahllisten erspart worden, und der schweizerische ,,Volksrath" wäre dannzumal ans den Köpfen der radikalen Zentralleitung so jugendfrisch und kriegerisch hervorgesprungen, wie aus dem Haupte Jupiters Minerva. In prägnanterer Weise kann man die undemokratische und unvolksthümliche Idee der großen Wahlkreise unmöglich in absurdum
treiben. Die.konstituirende Tagsatzung aber wollte, nach Berathung des Verfassungsentwurfes in den kantonalen Großen Räthen, im Gegensatze zu ihrer Kommission k l e i n e Wahlkreise. Das ist, wie schon erwähnt, der klare und deutliche Wille der Verfassung.

275 Im S t ä n d e r a t h e wurde sodann, unterm 11. Juni 1850, vom Waadtländer B r i a t t e der Antrag eingebracht, daß ein e i d g e n ö s s i s c h e s Wahlkreisgesetz geschaffen werden solle. Die Kantonsregierungen wurden zur Vernehm i assung aufgefordert, und wir erlauben uns, einige Antworten der Kantone zu notiren.

Z ü r i c h befürwortete verhältnismäßig k l e i n e Wahlkreise, indem Wähler und Kandidaten einander besser kennen.

Die sehr liberale Regierung von L u z e r n hat lebhaft für Einer-Wahlkreise sich verwendet.

In gleichem Sinne schrieb Namens der Regierung von 0 b w a l d e n eine dem Sprechenden sehr nahe verwandte Feder.

Die äußerst radikale Regierung von F r e i b u r g wollte E i n e r - Kreise. Ihre Beweisführung ging dahin, daß auf diese Weise die Minderheiten viel besser zur Vertretung kommen können.

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B a s e l - S t a d t verlangte grundsätzlich thunlichst beschränkte Kreise, im Interesse der Minderheitsvertretung.

B a s e l - L a n d verwendete sich einläßlich für Einer-Kreise.

Die kantonale Mehrheit sei ja so wie so im Ständerath vertreten, und es liege im höchsten Interesse des Landes und der Demokratie, wenn die verschiedenen lokalen Strömungen und die kantonalen Minderheiten im Nationalrath eine angemessene Vertretung finden.

S c h a f f h a u s e n sprach sich für möglichst beschränkte Kreise aus. Die nothwendige Fühlung zwischen Volk und Vertretern werde in großen Kreisen illusorisch.

G r a u b ü n d e n befürwortete E i n e r - Kreise.

A a r g a u, welches im Jahre 1848 E i n e n Wahlkreis aus dem ganzen Kanton geschaffen hatte, befürwortete lebhaft k l e i n e Kreise, indem sonst der wahre Volkswille nicht zum Ausdruck kommen könne.

Die Regierung von T h u r g a u schlug für ihren Kanton vier E i n e r - Kreise vor.

S o haben sich die kompetenten, eidgenössisch gesinnten Organe des Schweizervolkes zwei Jahre nach Annahme der Bundesverfassung ausgesprochen.

Der Bundesrath theilte die Kantone in verschiedene Klassen nach ihrer Größe ein und wollte höchstens Dreier-Kreise schaffen.

Von der nationalräthlichen Kommission wurde dagegen allerlei sehr kühne politische Geometrie getrieben, und Thatsache ist, daß

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hiedurch ein vorzüglicher Kenner der vaterländischen Geographie, ein liberaler Abgeordneter aus der Urschweiz, vermöge seines natürlichen Billigkeitsgefühls dem konservativen Lager zugewendet wurde.

Immerhin hielt die Bundesversammlung daran fest, daß höchstens Vierer-Kreise geschaffen werden sollen, und auch diese bildeten die Ausnahme, denn wir finden im damaligen Gesetze nicht weniger als 13 Zweier- und 13 Einer-Kreise.

Während im Jahre 1851 120 Nationalräthe zu wählen waren, stieg deren Anzahl durch die Volkszählung vorn Jahre 1860 auf 128 und durch diejenige von 1870 auf 135. Man huldigte bei beiden Gesetzesrevisionen im Allgemeinen dem Grundsatz, daß in der Regel nur in jenen Kantonen eine Neueintheilung zu schaffen sei, wo infolge der vermehrten Mitgliederzahl eine neue Umschreibung der Kreise vorgenommen werden müsse. Infolge dessen gelangte man allerdings schon im Jahre 1872 zu 5 Fünfer- und 7 Vierer-Kreisen. Einzelne Künsteleien konnte der Drang zur Parteiherrschaft sich auch dannzumal keineswegs versagen.

Die Volkszählung vom Jahre 1880 veranlaßte eine Vermehrung des Nutionalrathes um 10 Repräsentanten. Es gingen damals Petitionen aus dem B e r n e r - J u r a , aus F r e i b u r g , S o l o t h u r n , A a r g a u und T es si n für Ermöglichung der MinoritätenVertretung ein. T e s s i n hatte bisan eine möglichst natürliche Umschreibung: S o p r a - und S o t t o - C e n e r e . Man schuf äußerst künstliche Minoritätskreise in F r ei b ü r g und Tes si n, und man suchte auch gleichzeitig die liberalen Auspizien im U n t e r - W a l l i s durch eine sogenannte Arrondirung gegenüber .dem M i t t è l - W a l l i s erfolgreich zu vermehren. Dabei aber wurde die Emanzipation des katholischen J u r a sowie der konservativen Minderheiten S o l o t h u r n s und des Freianites kurzweg und kategorisch von der Hand gewiesen. Man erhöhte mit ändern Worten sehr wesentlich die Zahl der Fünfer-Kreise, man sorgte in katholisch-konservativen Kantonen sehr ängstlich für die Minderheitsvertretung, aber man dachte nicht daran, daß großen katholischen Minderheiten in protestantischen oder liberalen Kantonen auch eine Repräsentation gebühre. Aus Gründen primitivsten Schicklichkeitsgefühls wurde allerdings gleichzeitig im Nationalrath die Motion S p r e c h e r T h o m a - S o n d e r e g g e r erheblich
erklärt, daß der Bundesrath mit möglichster Beförderung eine Wahlkreiseintheilung vorlegen solle, welche auf logischen und prinzipiellen Grundlagen zu beruhen habe. Seither aber wurde nicht nur die Erledigung der Motion S p r e c h e r bis nach der nächsten Volkszählung verschoben, sondern anläßlich der Debatten über das verunglückte Abstimmungs-

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gesetz wurde auch das Propovtiooalsystem vom Nationalrathe mit annähernd' drei Viertheilen der Stimmen abgelehnt. Es kamen dann die kurzen, aber schönen Jahre fruchtbaren Zusammenwirkens unter den politischen Parteien. Die parlamentarische Minderheit half dannzumai, wie seither immer, redlich mit, in Stärkung der Bundesgewalt dem Nothruf der sozial bedrängten Klassen abzuhelfen.

Sie hat überhaupt ihre Mithülfe nie verweigert, wenn es sich um eine ehrenhafte Stellung gegenüber dem Ausland, um Opfer für die Vertheidigung des Vaterlandes oder um. eine energische, wahrhaft heilsame gemeinvaterländische That gehandelt hat. Infolge dessen kam auch mit Einmuth das Postulat für obligatorische Unfallversicherung zu Stande.

Aber weniger dieses Postulat als das einmüthige Gefühl aller billigdenkenden Eidgenossen, daß schreiende Ungleichheiten in unserer Wahlkreiseintheilung bestehen, hat dem bundesräthlichen Antrag gerufen, die Volks/.ählung zwei Jahre früher als zur Zeit der üblichen, normalen Dekade vorzunehmen. Dieser Antrag wurde durch eine sehr lesenswerthe Botschaft vom 5. April 1887 ein begleitet, und es wurde darin feierlich verurkundet, daß es dringend nothweniiig sei, unsere rein systemlose Wahlkreiseiniheilung eiuer gründlichen Remedur zu unterwerfen. Diese vorzeitige Volkszählung wurde denn auch, zum hauptsächlichen Zwecke einer gründlichen Revision des Wahlkreiseintheilungs-Gesetzes, von .beiden eidgenössischen Kammern mit Einmuth zum Beschluß erhoben.

Der Bundesrath brachte nun nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1888 mittels Botschaft vom 7. Juni 1889 einen im Allgemeinen vou gutem Willen beseelten Beschlussesantrag ein.

Dieser Antrag beruht im Ganzen auf dem Maximum von ViererKreisen, wobei er allerdings einen Fünfer-Kreis bei G e n f gestattet. Die nationalräthliche Kommissionsmehrheit stellte sich diesem Antrag gegenüber auf einen ^konservativen" 1 Boden, d. h.

sie wollte nur da etwas ändern, wo es ihr wegen Vermehrung der Repräsentanten als absolut nothwendig sich herausstellte, oder vielmehr nur da, wo die Aenderung unter allen Umständen nicht gegen das Interesse der herrschenden Partei verstößt. Sie machte nachträglich nur eine Ausnahme bei St. G a l l e n , indem dort mittlerweilen eine diesbezügliche Vereinbarung zwischen den zwei großen politischen Parteien die Situation verändert
hatte. Die nationalräthliche Kommissionsminderheit ging grundsätzlich weiter als der Bundesrath, sie verzichtete allerdings auf das Proportionalsystem und auf Einer-Kreise, aber sie stellte sich konsequent auf den Boden des Maximums von Dreier-Kreisen. Sie stund insoweit auf historischem Boden, als nicht nur der verewigte Dr. S e g e s s e r , son-

278 dem überhaupt viele gemäßigte schweizerische Staatsmänner uad Politiker schon ehedem dieses System vertreten hatten. Die Rechte und das Zentrum haben im Nationalrathe geschlossen und konsequent für dieses System gekämpft. Sie gingen dabei von der hauptsächlichen Argumentation aus, daß kleine Kreise allerdings vom Standpunkte einer möglichst naturgetreuen Volksvertretung und einer möglichst intensiven Fühlung zwischen Kandidat und Wählern vorzuziehen seien, daß aber in Einer-Kreisen eine Minoritätenvertretung zur Unmöglichkeit gehöre, und daß man nicht städtische und sonst konzentrische Mittelpunkte willkürlich auseinanderreißen dürfe, daß dagegen in zu großen Kreisen alle nothwendige Personalkenntniß aufhöre, daß in zu großen Kreisen an Stelle des freien, unverfälschten Volkswillens die Diktatur des Parteiklub trete, daß darum in zu großen Kreisen sehr oft nicht von wahrer Volks- und Minoritätenvertretung gesprochen werden könne, daß große Kreise zu geometrischen Künsteleien viel mehr Anlaß bieten, und daß man überhaupt ein gesundes, allseitig abgewogenes, billiges und gerechtes System in die Sache bringen müsse.

Die Minderheit betonte, daß sie herzlich gern bereit sei, den liberalen Minoritäten überall Vertretung zu gewähren, wenn nur Gegenrecht geübt werde. Aber bei der Eintretensf'rage und sodann bei der Einzeldiskussion wurde mit Ausnahme des Kantons A a r g a u im Interesse des herrschenden Systems die Systemslosigkeit wieder zum System erhoben, und auch bei dieser einzigen Ausnahme entschied weniger der gute Wille, als die Attraktionskraft freundschaftlicher Hospitalität.

\ Und welches Verfahren sollen w i r nun gegenüber d i e s e r Lage der Dinge im Ständerathe einschlagen ? Sie erinnern sich, Tit., daß ich letzten Sommer den Antrag stellte, die Gesetzesberathung derart zu beschleunigen, daß nach Verwerfung E i n e s Gesetzes durch die souveräne Volksinstanz ein zweites Gesetz rechtzeitig beschlossen werden könne. Mein Antrag wurde von sieben Rednern bekämpft und mit knapper Mehrheit abgelehnt. Jetzt stehen wir vor einer Zwangslage.

Wenn jetzt kein Gesetz zu Stande kommt, so haben wir einen inkonstitutionellen Zustand, d. h. wir haben keine gesetzliche Unterlage für die Volksvertretung. Man sagt, man wolle sich dann dadurch helfen, daß man mittels eines dringlich erklärten
Bundesboschlusses das plus der neuen Vertreter den betreffenden Wahlkreisen zuerkennen wolle. Das wäre aber in meinen Augen ein eigentlicher Staatsstreich. Art. 85, Ziff. l der Bundesverfassung verweist in klarster, vorbehaltloser Weise die ,, W a h l a r t der Bundesbehördenu auf den Weg der G e s e t z g e b u n g .

Selbst-

279 verständlich muß darunter ganz hauptsächlich Alles verstanden werden, was auf die nationalräthlichen Wahlkreise sich bezieht, denn die Wahlart der Ständeräthe ist Sache der Kantone. Der Wortlaut und Inhalt eines Gesetzes kann aber auch nur durch ein G e s e t z geändert werden, ein Gesetz kann laut Art. 89 der Verfassung n i e m a l s dringlich erklärt und dem Volksentscheid entzogen werden, die ganze Wahlkreiseintheilung ist vermöge ihres organischen, fundamentalen Charakters durch und durch von ges e t z g e b e r i s c h e r Tragweite, und das durch die Volkszählung ausgemittelte plus der Nationalräthe gehört keineswegs nur einem Wahlkreis, es gehört dem betreffenden Kanton. Die betreffenden Kantone sind aber an und für sich kein Wahlkreis, sie sind mehr als E i n Wahlkreis, die Wahlkreise sind g e s e t z l i c h zirkumskribirt und es ist g e s e t z l i c h geregelt, wie viel Abgeordnete jeder Kreis zu wählen hat. Das Parlament ist aber in k e i n e m Falle für sich allein Gesetzgeber, o b e r s t e r G e s e t z g e b e r ist für a l l e Fälle und a u s n a h m s l o s das S e h w e i z e r v o l k . Eine jede Aenderung des Gesetzes durch ein dem Volksentscheid entzogenes Dekret wäre eine absolut verfassungswidrige Usurpation, auf welche hoffentlich das Schweizervolk mittels einer demokra- tischen Bundesrevision die rechte Antwort geben würde.

Damit es nun nicht den Anschein habe, daß wir, die im Nationalrath majorisirte parlamentarische Partei, mehr als nothwendig die Situation erschweren, sondern damit wir die Verantwortlichkeit einer allfälligen Zwangslage auf die diesbezüglich einzig schuldbare nationalräthliche Mehrheit laden, verzichten wir, dem Frieden und dem Vaterland zulieb, auf das äußerst berechtigte Postulat einer systematischen und konsequenten Wahlkreiseintheilung. Wir legen aber gleichzeitig gegen die nicht von uns geschaffene Nothlage feierlich Rechtsverwahrung ein, und wir bezeichnen es als eine große Kalamität, daß diese elementare Unterlage unseres eidgenössischen Staatslebens nach vierzig Jahren nicht ·endlich normal geregelt werden kann.

Wir können es nicht anders denn als bittern Hohn bezeichnen, daß man die Volkszählung prämaturirt hat, daß man nun aber trotz dieser prämaturirten Volkszählung über die äußerst gerechter!

Wünsche respektabler schweizerischer
Volkstheile neuerdings zur Tagesordnung schreitet.

Es ist nun leider gegenstandslos, über die eminenten Vorzüge und über das vitale Bedürfniß einer systematischen Wahlkreiseintheilung sich auszulassen.

Wenn wir aber einerseits betonen, daß wir dem Frieden [ZUlieb und nicht ohne aufrichtigen patriotischen Schmerz eine Groß-

280 zahl äußerst gerechtfertigter Positionen fallen ließen, so betonen wir auf der ändern Seite, daß das Rechtsgefühl gebieterisch erheischt, die schlimmsten Härten abzustreifen, und schließlich wollen wir lieber die Anarchie und kein Gesetz, als ein schlechtes Gesetz und als den sarkastisch-trügerischen Schein von ßecht oder als die rohe Vergewaltigung in der geheiligten Form des Gesetzes auf weitere fünfzehn Jahre. Das Volk wird dann seinen Willen schon zu manifestiren wissen.

Was ist eigentlich das vielgerühmte Repräsentativsystem?

Es ist, theoretisch und ideal gesprochen, nichts Weiteres al» das nothwendige und naturgemäße SurrogEft der Regierung des Volkes durch das Volk. Der Abgeordnete ist nichts Anderes als der allerdings auf sein eigenes, individuelles Gewissen verpflichtete Mandatar des Volkswillens. Um diesem Gewissen keinen Zwang anzuthun, wollen wir nichts von dei' Plattform wissen. Aber kein Mandatar auf privatrechtlichem Gebiete hat eine so wichtige Delegation wie der Repräsentant des Volkes. Wie das Schwergewicht des o-esarnmten Staatslebens im Parlamente liegt, so steht und fällt die Volksfreiheit mit einer richtigen Repräsentation des Volkes.

Wir haben im eidgenössischen Staatsrechte ein Minimalmaß der Regierung des Volkes durch das Volk, die Präsumtion und das vollgerüttelte Maß aller Kompetenzen der Staatsgewalt liegt beim Parlamente. Unser schweizerisches Staatsleben hat seine althistorischen Wurzeln im Boden der Volksfreiheit, fast alle Kantone besitzen dermalen ausgedehnte demokratische Institutionen, jede Schmälerung der kantonalen Hoheitsrechte ist eine Bereicherung der Kompetenzen des nationalen Parlamentes, dieses Parlament absorbirt, abgesehen von der inhaltlichen, durch die Entwiekelung des sozialen Lebens bedingten Erweiterung der Staatshoheit, mehr und mehr alle Gebiete der staatlichen Souveränetät.

Das Referendum ist nur ein fakultatives, und wer es einmal zu ergreifen wagt, der macht der Majestätsbeleidigung sich schuldig, der wird als ^Obstruktionist" verschrieen. Uebrigens, wo ist die klare Grenzscheide zwischen Gesetz und Beschluß? Und jeder Beschluß kann dem Volksentscheid entzogen werden.

Gegenüber dem Ständerathe hat der Nationalrath eine ganz präponderirende Stellung. Vermöge des Uebergewichts der Stimmen wird beim Differenzenausgleich der gutmüthige
Ständerath zehnmal nachgeben und der selbstbewußte Nationalrath kaum einmal. Das Uebergewicht bei der Prioritätenvertheilung ist feehr wichtig, und bei allen grundsätzlichen Fragen vindizirt sich der Nationalrath die Priorität. Der Nationalrath ist zu mehr als drei Viertheilen

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Wahlkörper der Landesregierung und des obersten Gerichtshofes.

Vermöge des Geschäftsberichtes und des Interpellationsrechtes, vermöge der kurzen Wahlperioden und vermöge des möglichen Weiterzuges aller einschneidenden bundesräthlichen Entscheide ist unsere Landesbehörde viel abhängiger vom Nationalrath als ein europäisches Ministerium vom Parlamente oder als der Präsident der Vereinigten Staaten vom Kongreß. Die wichtigsten prinzipiellen Entscheide, zumal auf konfessionell-politischem Gebiete, hüllen sich nicht in Gesetzesform, sondern iu Rekursform ein, sie entziehen sich also zum Vornherein, trotz ihres präjudiziellen Charakters, dem Volksverdikte, und dann verkündet man immer in feierlichem Brustton, daß wir kein Finanzreferendum haben. Nicht theoretisch und nicht staatsrechtlich, wohl aber thatsächlich ist dergestalt der Nationalrttth der oberste Landessouverän.

Auf der Rednerbühne und in der Presse rühmt man immer zwei Kleinodien des Schweizerlandes : die Volksfreiheit, sowie die familiär verbundene, konfessionelle, politische und kulturelle Reichgestaltigkeit des Schweizervolkes. Und Thatsache ist, daß mitten zwischen den großen Nationalstaaten diese nationale Mannigfaltigkeit unseres Volkes und dessen Zufriedenheit die beste Garantie für die Zukunft des Vaterlandes sind. Thatsache ist aber auch, daß unser Schweizervolk und alle Theile desselben nur in d e m Maße zufrieden sind, als sie in ihrem naturgemäßen Elemente, d. h.

in der Luft der F r e i h e i t leben. Und Thatsache ist ferner, daß bei uns alle konfessionellen Anschauungen die Warte des Vaterlandes über die Zinne der Partei stellen.

Wir haben einen Art. 4 in der Bundesverfassung, und dieser spricht von G l e i c h b e r e c h t i g u n g . Diese Gleichberechtigung ist aber im politischen Leben nur insoweit, vorhanden, als im höchsten politischen Staatskörper alle prinzipiellen Anschauungen wie im Volke verhältnißtnäßig gleich vertreten sind. Darum ist das Wahlkreisgesetz nach der Verfassung und neben derselben das grundlegendste Statut der Eidgenossenschaft.

Mit Ausnahme der berüchtigten b a y e r i s c h e n Wahlkreise haben fast alle konstitutionellen Staaten eine systematische Grundlage für die Zusammensetzung ihrer Volkskammern. Das D e u t s c h e Reich hat E i n e r - Kreise, I t a l i e n , S p a n i e n , B e l g i e n ,
die N i e d e r l a n d e , sowie die s k a n d i n a v i s c h e n Reiche haben ihre provinzielle Eintheilung, E n g l a n d wählt in seinen althistorischen Städten, Flecken und Grafschaften, und U n g a r n wählt in seim.'u Komitaten, in F r a n k r e i c h wechselt man für die Parlamentswahlen nur zwischen dem Ei n e r-Wahlsystem und zwischen dem departementalen Listeuskrutinium, aus N o r d - A m e r i k a , dessen

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ganze Staatsorganisation auf möglichst einfachen, mathematischen Unterlagen ruht, hört man Jahr aus Jahr ein nichts von Wahlkreiskünsteleien.

Tn unserer Schweiz aber ist die Systèmslosigkeit System, und das einzige System bestund darin, daß man radikale Minderheiten zu emanzipiren, katholische Minderheiten aber niederzustimmen suchte. Man hat aus einer Statistik den glücklichen Fund enthoben, daß die Rechte bis an zwei Mitglieder im Nationalrath hinlänglich vertreten sei; die gleiche Statistik muß aber gleichzeitig konstatiren, daß die Lioke zehn Mitglieder zu viel besitze. Es ist dies gerade so viel, als sie zu einer absoluten Alleinherrschaft bedarf. Uebrigens beruht diese Statistik schon darum auf einer sehr prekären Unterlage, weil in Kreisen, wo die Opposition hoffnungslos ist, sie gar nicht oder nur mit sehr gelichteten Reihen in den Kampf geht. Ueberhaupt konstatirt sich die Stärke der Parteien nur in den verhältnißrnäßie wenigen Kreisen,t wo ein O o eigentlicher Kampf entbrennt. Ein richtiges Kriterium für die Stärke der zwei Hauptparteien war vielleicht die Abstimmung nicht über den Schulsekretär und nicht über das Betreibungsgesetz, wohl aber über den ,,Stabioartikel", und derselbe wurde, trotz der zustimmenden Haltung der gemäßigt liberalen Elemente, mit nahezu 45,000 Stimmen Mehrheit abgelehnt.

Ein doppelt bitteres Gefühl entsteht aber dadurch bei einem permanent majorisirten Volkatheil, weil er mit seiner Volkszahl im Parlamento die Reihen seiner intensivsten Gegner stärken muß.

Man komme uns ja nicht mit der Kompensation im Ständerathe! Der Ständerath ist (mit Ausnahme des Ständevotums bei V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g e n ) das einzige föderative Element in der staatsrechtlichen Organisation der Eidgenossenschaft. Nachdem der Schweizerbund und die schweizerische Volksfreiheit von den Kantonen ausgegangen sind, hat der in seiner staatsrechtlichen Bedeutung sonst geschwächte Nachfolger des fünfhundertundfünfzigjährigen Institutes der eidgenössischen Tage seine vollste historische Berechtigung. Ohne den Ständerath würden wir jede rationelle Unterlage zu dem vielfach sehr nothwendigen Zweikammersystem entbehren, und würden wir zu dem unvermittelten, vom Schweizervolke perhorreszirten Einheitsstaate übergehen. Der helvetische Einheitsstaat würde uns aber inmitten der nationalen
Großstaaten zu einem unfreien, kleinen Staate schaffen. Die Ständeräthe sind aber auch fast überall die naturgemäßen Repräsentanten der kantonalen Volksmehrheiten, und der Stäoderath ist in seiner dermaligen gemäßigten Majorität ein entschieden getreueres Spiegelbild des schweizerischen Volkswillens als 'der Nationalrath.

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Meine Herren Kollegen ! Entschuldigen Sie, daß ich etwas lang geworden bin. Nachdem die Kommissionsmehrheit bezüglich der Eintretensfrage keinen speziellen Antrag stellt, mußte ich wenigstens unsern grundsätzlichen Standpunkt in meinem Berichte präzisiren.

Es handelt sich in keiner Weise um eine Machtverschiebung im ändern Rathe, aber es handelt sich um einen Akt der Gereeht i g k e i t und um eine That des F r i e d e n s . ' E s handelt sich darum, ob wir endlich ein Volk g l e i c h b e r e c h t i g t e r Eidgenossen sein wollen.

Die politische Mehrheit der eidgenössischen Räthe kann sich selbst keinen bessern Dienst erweisen, und sie kann kein besseres Zeugniß der Staatsweisheit ablegen, als wenn sie der Opposition die gewaltigste Waffe, ich meine den Beweis, daß ein Theil des Schweizervolkes politisch mundtodt ist, aus der Hand entwindet.

· Für uns ist diese Frage viel weniger eine Machtfrage, als eine Frage des Herzens, der Ehre, des Gewissens. Wir müßten nicht Männer von Ehrgefühl und Charakter sein, wenn wir nicht Alles daran setzen würden, daß nicht allein die Völkerschaften unserer Kantone, sondern auch all' unsere Gesinnungsgenossen, überhaupt alle Eidgenossen eine thunlichst gleichmäßige Vertretung im Rathe der Nation erhalten.

Bei allem sonst freudigen und ernsten Schaffen für Volk und Vaterland erfüllt so lange ein tiefes Schmerzgefühl viele tausend brave Schweizerherzen, als nicht die gleiche Sonne der Freiheit über allen Eidgenossen strahlt.

Es handelt sich, wie gesagt, in keiner Weise um die Herrschaft, es handelt sich um das R e c h t . Das Recht aber ist gleichbedeutend mit der F r e i h e i t , und auf der F r e i h e i t ruhen F r i e d e und Z u f r i e d e n h e i t unter den Eidgenossen. Recht und Gerechtigkeit sind überhaupt die einzig festen Grundpfeiler unseres schweizerischen Volksstaates.

IL Spezialbericht über die Eintheilnng des Berner-Jura.

Tit.

Es ist vor Allem das unabweislichste Postulat der Gerechtigkeit, den katholischen J u r a s s i e r n nach vierzig Jahren in bescheidenem Umfang zu einer naturgemäßen Repräsentation zu helfen.

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X

Der jurassische Kreis hatte zuerst von der radikalen Berner Regierung, als im Jahre 1848 die Nationalrathswahlen nach der kantonalen Zirkumskription vorzunehmen waren, eine etwas andere Konfiguration erhalten. Damals war nämlich N e u e n s t a d t mit B i e l , zu dem es historisch in enger Beziehung steht, dem S e e l a n d zugeschieden. Im Jahre 1850 hatte die Regierung von B e r n ebenfalls beantragt, N e u e n s t a d t beim S e e l a n d zu belassen. Die Bundesversammlung hat aber dem jurassischen Kreise die Amtsbezirke N e u e n s t a d t , C o u r t e l a r y , M ü n s t e r , F r e i b e r g e n , P r u n t r u t , D e l s b e r g und L a u f e n zugeschieden. Dadurch ist jetzt der Kreis J u r a außer dem Kreise G e n f der volkreichste Kreis der Schweiz Man spricht von ,,historischer"1 Zusammengehörigkeit. Diese besteht lediglich darin, daß alle diese Aemter im Jahre 1815 als Kompensation für W a ad t und A a r g a u zu B e r n gekommen sind.

Das war aber auch hei B i e l der Fall. Früher hatten diese Landschaften für sich kein selbstständiges politisches Leben, sie waren theils direkte, theils indirekte Unterthanenlande des in P r u n t r u t residirenden Fürstbischofs von B a s e l , theils stunden sie, wie N e u e n s t a d t und B i e l , im Bündniß mit B e r n und durch ' B e r n mit den Eidgenossen. Dadurch erklärt sich auch, daß die Reformation in einigen Laodestheilen Boden faßte, während die andern streng katholisch blieben. Auch sind diese Landestheile, nicht nach den konfessionellen Grenzen, sprachlich unterschieden. Sie haben sehr verschiedene Wasserscheiden und überhaupt eine interessante und reichgestaltige topographische Konfiguration-^JOnd bezüglich der Berufs- und Lebensweise unterscheidet sich z. BTTm höchsten Maße das industrielle St. Im m e r t liai von B'r ei b e r gè B.

Wohl nirgends wie im Jura bestehen so schroffe politische Gegensätze, es liegt dies theilweise im Volkscharakter, es liegt dies aber auch darin, daß diese Gegensätze nicht auf einer weitern politischen Arena zur freien Bewegung und zu einem friedliehen Ausgleich kommen konnten. Es war schon an und für sich ein Anachronismus, daß der katholische und französisch sprechende Jura dem deutschen, aristokratischen Bern als Unterthaneuland zugeschlagen wurde. -- Wir wollen alte Wunden nicht aufreißen,
aber das dürfen wir mit allem Fug behaupten, daß der katholische Jura, dieses französische Grenzland, stets einen gut schweizerischen Patriotismus bekundet hat, trotzdem er, gegenüber den feierlichsten Vertrags- und verfassungsgemäßen Garantien, wiederholt in seinen religiösen Gefühlen auf das Schmerzlichste verletzt wurde. Der katholische Jura ist nie ein freies Land im Sinne der bündnerischen und urschweizerischen Demokratie gewesen, und wir sagen es nicht,

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um einen Gegenstand der Polemik in die Diskussion hineinzutragen, wohl aber, um zu konstatiren, wie weit der katholische Jura vom Vollgenusse der demokratischen Freiheit noch entfernt ist: Seit vielen Jahrzehnten wurden in den katholisch-konservativen Amtsbezirken nie die vom Volke gewählten Präfekten und Gerichtspräsidenten anerkannt, sondern an ihre Stelle setzte rückhaltlos und rücksichtslos der Große Rath die von der Minderheit in Vorschlag gebrachten Kandidaten. Das ist etwas unsern urschweizerischen Begriffen so Widerstrebendes, daß man sich im höchsten Grade wundern müßte, wenn hierdurch der politische Antagonismus sich nicht ungemein verschärft und wenn nicht tiefgehende Unzufriedenheit des Volksgeistes sieh bemächtigt hätte.

Und welches war nun die Repräsentation des J u r a , im Nationalr a t h ? Seit dem Jahre 1854 hatte er keinen katholisch-konservativen Repräsentanten. Im Jahre 1875 wurden durchschnittlich für die radikalen Kandidaten 11,021, für die konservativen 8455 Stimmen abgegeben. Im Jahre 1878 hatte sich die radikale Partei im ersten Wahlgang offenbar zu wenig angestrengt, darum erhielten dann die konservativen Kandidaten im Maximum 6660, die radikalen 6192 Stimmen. Aber trotz dieser bedeutenden Stimmendifferenz wurden doch nur die zwei protestantisch-konservativen Kandidaten validirt, und im zweiten Wahlgang siegten dann die drei radikalen Kandidaten. Im Jahre 1881 erhielten die radikalen Kandidaten 9958, die konservativen 6719; im Jahre 1884 die Radikalen 10,096, die Konservativen 8008; im Jahre 1887 die Radikalen 7570, die Konservativen 5362 Stimmen. Die Konservativen vereinigten, also in der Regel auf sieh 4/9 oder 8!i der Stimmen. Sehr wenige Nationalräthe wurden in der Schweiz mit einer größern Stimmenzahl gewählt, als die konservativen Kandidaten im Jura jeweilen auf sich vereinigt haben. Aber trotz dieser sehr großen Stimmenzahl und trotz dieser sehr geringen Stimmendifferenz hatte seit dem Jahre 1854 der konservativ-katholische Jura k e i n e Vertretung in den Räthen der Eidgenossenschaft. Ein Theil des katholischen Jura, wie F r ei b e r g e n , hat ganz kompakt gestimmt, aber er wurde immer von den einmüthigen Stimmenmassen des volkreichen Amtes C o u r t e l a r y erdrückt.

Das ist um so mehr eine schreiende Ungerechtigkeit, weil dann die nicht vertretenen
hatholischen Jurassier durch ihre Seelenzahl im Nationalräthe die Reihen ihrer intensivsten Gegner mehren müssen. Wenn das republikanisch und gerecht ist, so glaube ich auch, daß der Lauf der Ströme bergaufwärts und der Lauf der Sonne ostwärts geht.

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Man sagt uns, die katholische Rechte habe sonst genügende Vertreter im Nationalrath. Erstlich ist dies aber unwahr, denn die zahlreichen Katholiken in der Diaspora haben nicht einmal Zähl. kandidaten aufgestellt, und bei jedem grundsätzlichen Referendum zeigen sich die Stimrnenmassen des katholischen Schweizervolkes verhältnißmäßig mächtiger als ihre Repräsentanten im Nationalrath.

Zweitens würde der Uuterwaldner und der Appenzeller vom jurassischen Volke nie als sein Abgeordneter anerkannt, er ist eben lediglich der Vertrauensmann des Unterwaldner un'd des Appenzeller Volkes. Dieses Mißverhältniß ist aber, wie schon bei der Eintretensfrage erwähnt, doppelt und zehnfach frappant geworden, seitdem man durch künstliche Wahlkreise den radikalen Minderheiten in den katholischen Kantonen eine Repräsentation zu sichern suchte, während man kalten Herzens über die bestbegründeten Petitionen vieler tausend katholischer Jnrassier zur Tagesordnung schritt. Der Nationalrath erklärte durch die Annahme der Motion S p r e c h e r einstimmig, dali hier Wandel geschaffen werden m ü s s e . Das Gleiche erklärten Bundesrath und Bundesversammlung ebenfalls mit Einmuth, als sie zu gleichem Zwecke die Volkszählung prä. maturirten. -- Und jetzt ist der Nationalrath neuerdings wieder so schrecklich konservativ geworden, daß er am Status quo nichts ändern will!

Der katholische Jura wird aber mehr und mehr erdrückt, weil der industrielle, radikale Jura durch Einwanderung an Seelenzahl gewinnt.

Herr M u n z i n g e r stellt sich nun auf den Boden des eventuellen Antrages S t o c k m ä r - J o l i s s a i n t , d. h. er will einen Zweier-Kreis aus den drei Aemtern P r u n t r u t - D e l s b e r g - L a u f e n schaffen. Er erklärt, daß hierdurch die Möglichkeit für eine konservative Repräsentation gegeben sei. Wir halten dies für dermalen, und mehr noch für die Zukunft, als unwahrscheinlich.

Unser Herr Kollega M u n z i n g e r argutnentirt mit der MaximalStimmenzahl des konservativen Kandidaten im Jahre 1887. Am meisten Stimmen von der k o n s e r v a t i v e n Liste hatte damals in diesen drei Aemtern kein Katholik, sondern ein den Katholiken allerdings wohlgesinnter protestantischer Zentrums-Mann, der aber nicht diesen Aemtern angehört, und der also für die Zukunft nicht in Frage kommen könnte. Thatsache ist aber,
daß dieser protestantisch-konservative Kandidat gegenüber dem radikalen Kandidaten 49 Stimmen weniger auf sich vereinte, und daß im Ganzen in diesen drei Aemtern für die fünf radikalen Kandidaten 17,565 und für die fünf konservativen 17,428 Stimmen, also durchschnittlich auf einen radikalen Kandidaten 3513 und auf einen konservativen 3485

287 Stimmen abgegeben wurden. Nach nüchterner Diagnose dürfte sich das Stimmenverbältniß für die Konservativen in der Zukunft kaum günstiger gestalten. Es ist dies, wie wir aus sicherer Quelle vernommen haben, die ausgesprochene Ansicht eines hervorragenden Wortführers des liberalen Bern. Es würde auf diese Weise ein eigentlicher Kampfkreis geschaffen, die politischen Leidenschaften würden recht eigentlich durch die Bundesgesetzgebung entfesselt und auf den Siedepunkt gesteigert, Luft und Licht würden aber in diesem Kampfe derart vertheilt, daß die Radikalen im Vorsprung sich befinden würden. Und da wissen wir ja, daß, wenn es so wenig braucht, durch vorübergehende Einwanderung von ,,Arbeitern"1 oder ,,Angestellten11 mit größter Leichtigkeit geholfen werden kann. D i e s e Umschreibung wäre also wahrscheinlich für die katholisch-konservativen Jurassier ein Danaergeschenk, sie könnten in unnützem Kampfe sich aufreiben, w ä h r e n d der ganz s p e z i f i s c h k o n s e r v a t i v - k a t h o l i s c h e A m t s b e z i r k Freibergen dem protestantisch-radikalen Jura mit g e b u n d e n e n H ä n d e n ü b e r l i e f e r t w ü r d e . D i e s e Eintheilung verdient also wegen der Preisgabe von F r e i b e r g e n und wegen der Provokation einer äußerst leidenschaftlichen und wahrscheinlich unnützen Wahlschlacht kaum den Vorzug vor den bisherigen, allerdings h ö c h s t u n n a t ü r l i c h e n Verhältnissen.

Wir beantragen, nach dem Eventual-Antrage der nationalräthlichen Kommissionsminderheit, P r u n t r u t und F r e i b e r g e n zu einem Zweier-Kreise auszuscheiden. Es ist dies der zusammenhängende, nordwestlichste Theil des Kantons B e r n . Diese zwei Amtsbezirke passen vermöge ihrer Anschauungen und vermöge ihrer mehr landwirtschaftlichen Beschäftigungsweise ganz vorzüglich zu einander. Es ist dies jene Eintheiluug, wodurch in beiden Kreisen die geringste Minorität geschaffen wird. Die konservativen Jurassier haben dann zwei Vertreter, während ihnen nach der Volkszahl, wie den radikalen, eher drei gebühren würden. Der Herr Berichterstatter der Minderheit wird Ihnen vorrechnen, wie nach unserm Vorschlag die liberale Minderheit im Bezirk P r u n t r u t unterdrückt würde. Aber nach s e i n e m Antrag würde der ganze Bezirk F r ei b e r g e n erdrückt, ja nach dem altbewährten Feldherrn-Axiom
: ,,divide et impera!" ist es wahrscheinlich, daß der katholische Jura keine Repräsentation erhielte.

Will aber die Kommissionsminderheit auch nur in bescheidener Weise eine reelle Garantie gewähren, so soll sie ihren Antrag durch den Vorschlag des B u n d e s r a t h e s amendiren lassen, d. h. sie soll sich nicht weigern, dern neuen Kreise jene vier kleinen Gemeinden des Amtsbezirkes M ü n s t e r beizufügen, welche auf der nördlichen

288 Abdachung des Höhenzuges R a i m e u x liegen, welche, ganz abgetrennt vom übrigen Bezirke M ü n s t e r , eine eigentliche Enclave des Amtes D e l s b e r g bilden, und welche fast bis an die Thore des Städtchens D e l s b e r g reichen. Diese vier Gemeinden C o u r c h a p o i x , C o r b a n , M e r v e l i e r und Seh e u l t e sind nur durch historische Verhältnisse, weil sie ehedem der Propstei M ü n s t e r angehörten, administrativ vom Amtsbezirke D e l s b e r g abgegrenzt.

In topographischer, volkswirtschaftlicher, sprachlicher und konfessioneller Beziehung gehören sie voll und ganz zum Bezirke D e l s berg. Diejenigen aber, welche behaupten, man dürfe keine kantonalen Verwaltungsbezirke trotz der ausgesprochensten territorialen Berechtigung für eidgenössische Kreise trennen, die sollen dann nie mehr von Aufhebung der kantonalen Grenzen reden, und die dürfen dann auch nicht mehr an die Eintheilung der Kantone L uz e r n, Freiburg, G r a u b ü n d e n , Aargau, Tessin, Waadt und W a l l i s denken.

Ich stelle also ganz entschieden zum Minderheitsantrage den eventuellen Antrag, man wolle mit dem Bundesrathe die vier obgenannten Gemeinden des Amtes M ü n s t e r zum projektirten Zweier-Kreise P r u n t r u t - D e l s b e r g - L a u f e n schlagen. Der Urheber dieses Antrages, der B u n d e s r a t h , bietet die untrüglichste Gewähr, daß in dieser Kombination durchaus keine künstliche Bevorzugung der konservativen Mindei'heit zu finden ist. Uebrigens geht aus den Wahlziffern von 1887 klar hervor, daß die liberale Partei auch in d i e'"s e m Kreise keineswegs für alle Zukunft sich in einer hoffnungslosen Situation befindet, denn es ergab sich damals in dem so umschriebenen Kreise d u r c h a u s k e i n e s t a r k ü b e r w i e g e n d e Mehrheit für die konservativen Kandidaten.

Dieser Antrag ist von unserer Seite im Interesse des Friedens ganz zweifellos ein sehr weitgehendes Entgegenkommen.

Man betont immer, daß die eidgenössischen Wahlkreise nicht konfessionell umschrieben werden dürfen. Warum sind denn die w e i t a u s m e i s t e n Wahlkreise konfessionell umschrieben? Im Namen aller überzougungstreuen Katholiken und Protestanten, im Namen der Urschweiz und im Namen des katholischen Jura lege ich dagegen feierlich Verwahrung ein, daß prinzipielle Treue gegenüber der Konfession
mit energischer, opferstarker Vaterlandsliebe nicht ausgezeichnet gut vereinbar ist. Die gegentheilige Behauptung verletzt aufs Tiefste das Ehrgefühl des protestantischen wie des katholischen Schweizervolkes, sie wird widerlegt durch alle ehrenhaften Blätter der vaterländischen Geschichte. Konfessionelle Treue ist ein fundamentaler Bestandtheil der Charakterfestigkeit, der Indifferentismus ist erfahrungsgemäß keineswegs stets gleichbedeutend

289 mit wahrer Toleranz, zu den Hauptgeboten jedes t h a t k r ä f t i g e n Christenthums gehört aber die V a t e r l a n d s - und M e n s c h e n l i e b e . Das Schweizervolk ist in seiner enormen Mehrheit ein konfessionell christliches Volk. Warum sollen denn al I e Faktoren des öffentlichen Lebens, nur der k o n f e s s i o n e l l e nicht, ein Motiv zur Zusammengehörigkeit begründen? Liegt denn in der konfessionellen Treue eine Gefahr für's Vaterland und für einen charakterfesten Frieden unter den Eidgenossen? Dürfen wir denn, im Hinblick auf unser eidgenössisches Wappen und mit Rücksicht auf den Patriotismus aller Eidgenossen, die religiöse Verflachung und damit die Verflachung des schweizerischen Volksgeistes als ein staatsmännisch wünschenswertes Ziel betrachten?

Am tiefsten hat mir weh gethan, daß man die Vaterlandsliebe der katholischen Jurassier zu bestreiten wagte. Durch eine künstliche Wahlkreiseintheilung, d. h. durch ein Gesetz, welch es mit dem Sinn und Geiste des eidgenössischen Grundgesetzes in frappantestem Widerspruche steht, hat man ihnen das fundamentalste Recht, das Recht der Vertretung im Rathe der Nation, entrissen. Und nun benützt man ihre Abwesenheit, um in jener Stunde, wo ihnen vor einem hochwichtigen Entscheide auch keine schriftliche Vertheidigung mehr möglich ist, ihnen das abzusprechen, was dem Schweizer so heilig ist als seine Ehre, ich meine die Liebe und Treue zum schweizerischen Vaterland. Ich weise Namens «Her hier nicht repräsentirten Eidgenossen, mit aller Entschiedenheit diese Verdächtigung zurück. Die Schule des Patriotismus sind allerdings für ein selbstbewußtes Volk ein freundliches Entgegenkommen, die Freiheit und Gleichberechtigung. Ich überlasse es dem parteilosen Urtheil der Geschichte, ob die katholischen Jurassier, nach Maßgabe der Vereinigungsurkunde, Stetsfort in d i e s e r Schule erzogen worden sind. Aber sie haben die beschworene Treue gegenüber dem Vaterlande nie verletzt, sie bewährten sich in guten wie in schlimmen Tagen stetsfort als b r a v e Eidgenossen, darum sind wir in unserm G e w i s s e n verpflichtet, daß wir gegenüber unsern Eidgenossen an der äußersten Westmark des Vaterlandes, welche noch nie im t h a t s ä c h l i c h e n Genüsse der vollen demokratischen Freiheit waren, endlich die Art. 4 und 72 unserer Bundesakte zur That
und Wahrheit machen.

Ja, Herr Präsident, meine Herren Ständeräthe ! Nicht im Namen des äußern, legalen, wohl aber des innern, tief im Herzen wurzelnden vaterländischen Friedens möchte ich Sie beschwören : Helfen Sie uns zu einer bescheidenen Repräsentation der katholischen Jurassier ! Wir verzichteten mit Rücksicht auf die ganz nothwendige Abhülfe dieses schreiendsten Unrechtes auf viele, Bnndesblatt. Jahrg. 42. Bd. I.

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290 äußerst gerechte Postulate. Es handelt sich, wie gesagt, in keiner Weise um ein Machtverhältniß im Nationalrathe. Zwei Schwalben machen noch lange keinen Sommer. Aber wir haben auch unser politisches und konfessionelles Ehrgefühl, es ist darum diese Frage für uns Gefühls- und Herzenssache. Wir dürfen einfach nicht mehr dulden, und wir müssen dagegen möglichst energisch Protestation erheben, daß ein respektabler Tlieil des katholischen Schweizervolkes in seinem fundamentalsten politischen Rechte Stetsfort vergewaltigt ist. I r l a n d und E l s a ß - L o t h r i n g e n haben ihre Abgeordneten in den nationalen Parlamenten, n i c h t aber der katholische J u r a ! Wenn man an die große politische Opposition im Kanton B e r n und an die verschwindende Zahl ihrer Vertreter im Nationalrathe denkt, so liegt es für jeden billigdenkenden Eidgenossen auf der Hand, daß es sich hier um einen Akt des klarsten, elementarsten Rechtes handelt.

Die sechste Säkularwende der Grundsteinlegung zu unserer Eidgenossenschaft sollen und wollen wir noch weniger mit äußerm Pomp als vor Allem g e m ü t h l i c h und v o n H e r z e n feiern. Am Vorabend der nationalen Gedächtnißfeier an den ältesten bekannten u r s c h w e i z e r i s c h e n Bund wird man, so Gott will, der Urschweiz die Bitte nicht verweigern, daß man endlich alle ihre Glaubensgenossen, überhaupt alle Eidgenoasen als gleichberechtigte Schweizerbrüder ansieht. Sie stellt diese freundeidgenössische Bitte und dieses s e h r e r n s t g e m e i n t e , t i e f g e f ü h l t e Postulat nach Sinn uod Wortlaut des ehrwürdigsten Bundbriefes unserer Eidgenossenschaft.

Ja, meine Herren Kollegen ! Im Namen des eidgenössischen Brudersinnes und der vaterländischen Ehre beschwöre ich Sie nochmals: Sehaffen Sie Frieden im Lande dadurch, daß Sie an Stelle der Parteiherrschaft und veralteter Vorurtheile Recht und Freiheit auf den Thron erheben !

Bern, den 12./13. Dezember 1889.

Der B e r i c h t e r s t a t t e r : Theodor Wirz.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht im Namen der ständeräthlichen Kommissionsmehrheit über die Wahlkreise für den Nationalrath. (Vom 12. /13. Dezember 1889.)

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08.02.1890

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273-290

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