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Bericht der

ständeräthlichen Kommissionsmehrheit, betreffend die bewaffnete eidgenössische Intervention im Tessin und die politische Lage dieses Kantons.

(Vom 7. Oktober 1890.)

Herr Präsident!

Meine Herren!

Die Mehrheit Ihrer Kommission beantragt Ihnen Zustimmung zum Beschlüsse des Nationalrathes.

Es ist allerdings inzwischen und seit dem Beschlüsse des Nationalrathes im Kanton Tessin eine Entscheidung gefallen, die das ganze Land mit großer Spannung erwartet hat und deren Eesultat von einer großen Mehrheit des Schweizervolkes mit hoher Befriedigung entgegengenommen worden ist.

Es hat das Tessiner Volk mit allerdings kleiner Mehrheit die ihm vorgelegte Frage, ob es seine Verfassung revidiren wolle, bejaht. Damit hat dasselbe aber auch in seiner Mehrheit erklärt, es wolle eine Remedur derjenigen politischen Verhältnisse schaffen, die bis jetzt jeweilen die Ursache aller politischen Wirren und Unruhen waren, deren fruchtbarer Boden der Kanton Tessin schon seit Jahren geworden ist.

Die Bedeutung des Abstimmungsresultates vom 5. Oktober liegt übrigens nicht allein und nicht in erster Linie in der nun eröffneten Aussicht einer Aenderung der Verfassung, sondern das Resultat hat meines Erachtens vorab für uns Alle die hohe Bedeutung, daß endlich festgestellt ist, daß die beiden Parteien gleich

588 stark sind, daß es also künftig niemals mehr angehen kann, daß die eine Partei die andere mit der Ausschließlichkeit behandelt, wie dies bisher geschehen, daß beide Parteien infolge dieser ihrer gleichen Stärke zur Theilnahme an der Verwaltung und dem öffentlichen Leben im Kanton Tessin in gleicher Weise berufen sind, daß mithin durch das Resultat der Abstimmung vom 5. Oktober ·der Boden für eine Verständigung und Versöhnung der beiden Parteien gefunden ist.

Was dann die weitere Frage betrifft, die wir hier zu lösen haben, so hat der 5. Oktober für die Würdigung der Verhältnisse, welche die eidgenössische Intervention beschlagen, keine maßgebende Bedeutung. Die Frage, ob die alte Regierung nach dem 5. Oktober wiederum in Funktion gesetzt werden soll, ist schon durch die Erklärung des Bundesrathes vom 29. September eine gelöste, und sie ist auch durch die Schlußnahme des Nationalrathes bestätigt worden.

Nachdem nun der 5. Oktober verflossen, mithin die Erklärung des Bundesrathes, er werde nach dem 5. Oktober die Einsetzung der alten Regierung in Aussicht nehmen, gleichviel welches Resultat die Abstimmung haben werde, verfallen ist, kann ich Ihnen mittheilen, und ich thue dies im ausdrucklichen Auftrage der gesammten Kommission, daß wir den Herrn Bundespräsidenten zu der Kommissionssitzung eingeladen haben, um von ihm zu erfahren, wann die Wiedereinsetzung der Regierung in Aussicht genommen sei, und wir haben aus dem Munde des Herrn Bundespräsidenten vernommen, daß die Wiedereinsetzung der alten Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach sehr nahe bevorstehe. Ihre Kommission hat mit Genugthuung von dieser Erklärung Akt genommen, und ich setze voraus, daß der Ständerath einstimmig sei in der Genehmigung aller Schritte, welche der Bundesrath in Aussicht nimmt, um im Kanton Tessin sobald als möglich die gesetzliche Ordnung wieder herzustellen.

Ich gehe nun zur Sache selbst über. Sie werden mir wohl nicht zumuthen, daß ich, nachdem im Nationalrath neunzehn Redner die Tessiner Frage behandelten, Ihnen die Ereignisse des 11. September abhin detaillirt schildere. Ich würde Sie wirklich auf eine abgegraste Weide führen, wenn ich dies thun wollte. Ich glaube meiner Pflicht als Berichterstatter zu genügen, wenn ich die Hauptfrage erörtere, die noch zu erörtern übrig bleibt, die Frage nämlich, über die
jetzt noch Mehrheit und Minderheit streitig sind, ob der Bundesrath konstitutionell berechtigt war, die Regierung zu suspendiren und bis heute suspendirt zu lassen.

Ein weit interessanteres Thema und einer einläßlichen Besprechung würdig scheint mir die politische und staatsrechtliche

589 Bedeutung des Aufwandes zu sein. Wir dürfen sagen, heute schon beschäftigt uns die Revolution im Tessin nicht mehr als solche.

Aber heute schon drängen sich andere Fragen in den Vordergrund der Tessiner Angelegenheiten. Es ist vorab die Frage, die wir uns stellen müssen, welches sind die staatsrechtlichen und welches sind die aus der Situation hervorgehenden Konsequenzen dieses Tessiner Aufstandes? Welche Folgen knüpfen sich an denselben für den Kanton Tessin und welche für die Eidgenossenschaft? Es drängt sich uns die Frage auf: Haben sich die konstitutionellen Garantien, welche die neue Bundesverfassung für die Ruhe und Ordnung im Innern und für die Rechte und Freiheiten der Bürger aufstellt, bewährt? Dürfen wir uns mit Recht sagen, die neue Bundesverfassung schützt uns vor solchen Ereignissen ; wir sind an der Hand derselben im Stande, ohne Gefährde für die innere und äußere Ruhe des Landes solche Ereignisse zu ertragen?

Diese Fragen, meine Herren, scheinen mir von höherer Bedeutung, als eine retrospektive Betrachtung der Ereignisse des 11. September, die Ihnen Allen wohl bekannt sind. Sie wissen Alle, was an jenem verhängnißvollen 11. September im Tessin geschehen ist; daß die Regierung durch Anhänger der liberalen Partei gewaltsam ihres Amtes entsetzt und theilweise sammt ihren Funktionären verhaftet; daß leider ein Mitglied der Regierung getödtet wurde; daß eine provisorische Regierung sich der Regierungsgewalt bemächtigte und dem tessinischen Volke die Absetzung der alten Regierung verkündigte.

Dem Aufstande folgte die eidgenössische Intervention auf dem Fuße. Der Bundesrath sandte einen Kommissär mit zwei Bataillonen in den Tessin, erklärte alle Akte der provisorischen Regierung für null und nichtig und ordnete deren Absetzung, die Freilassung der Gefangenen und die Untersuchung gegen die Schuldigen an und verfügte die Verfolgung des vermuthlichen Mörders des unglücklichen Staatsrathes Rossi.

Durch diese mit einer anerkennenswerthen Raschheit; ausgeführten Maßregeln des Bundesrathes wurde die Ruhe im Kanton Tessin rasch wieder hergestellt, die Folgen des Friedensbruches beseitigt und der eidgenössischen Justiz die weitere Verfolgung der Angelegenheit übertragen.

Dagegen wurde aus diesen vom Bundesrath verfügten Maßnahmen gegen denselben ein Vorwurf erhoben. Dieser Vorwurf scheint
mir die Hauptsache von dem zu enthalten, was eine Minderheit der Bundesversammlung an den Maßnahmen und der Haltung des Bundesrathes und seines Kommissärs auszusetzen fand, und ich.

werde mich auch nur mit diesen Rekriminationen befassen.

Bnndesblatt. 42. Jahrg. Bd. IV.

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590 Es wird dem Bundesrath der Vorwurf gemacht, er hätte die absolute und konstitutionelle Pflicht gehabt, die alte Regierung,, die in illegaler und gewaltsamer Weise aus ihrer Gewalt vertrieben worden sei, sofort und als erste Amtshandlung wieder in ihre Rechte einzusetzen.

Ich muß hier vorab einen Irrthum berichtigen, der namentlich in der Presse und auch von verschiedenen Rednern im Nationalrath begangen worden ist. Man hat dort vielfach von einer Wiedereinsetzung der alten Regierung gesprochen in dem Sinne, als ob dieselbe jemals als abgesetzt betrachtet worden wäre. Die alte Regierung ist lediglich durch die provisorische Regierung als abgesetzt erklärt worden. Diese Verfügung der letztern ist aber vom Bundesrath sofort, wie alle ändern, die von ihr ausgingen, annullirt worden. Es hat also die alte Regierung nie aufgehört zu existiren; sie ist rechtlich stets als die legale Regierung des Kantons Tessiu vom Bundesrath anerkannt worden. Es ist also nicht richtig, wenn man behauptet, es sei auch nach erfolgter Beseitigung der provisorischen Regierung die Absetzung der alten Regierung vom Bundesrath noch aufrecht erhalten, resp. durch deren nicht sofortige Wiedereinsetzung ein durch die Revolution geschaffener illegaler Zustand mit Bezug auf die legale Regierung sanktionirt worden. Es ist nichts Anderes geschehen, als daß die Interventionsstelle die Regierungsgewalt am Platze der im Moment der Intervention . nicht vorhandenen Kantonsregierung übernommen hat.

Allein wollte man in dieser Beziehung noch irgend einen Zweifel haben, so ist derselbe durch die seitherige Erklärung des Bundesrathes vom 29. September vollständig und formell beseitigt worden. Der Bundesrath hat ausdrücklich erklärt, daß er die alte Regierung des Kantons Tessin stets als die legale Regierung anerkannt habe und daß er dieselbe lediglich in ihren Funktionen einstweilen suspendirt habe, weil ihm dieses im Interesse der Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Tessin, für welche er nach Art. 2 und 102 der Bundesverfassung verantwortlich sei, momentan nothwendig erschienen sei. Der Bundesrath erklärt ferner, daß er die alte Regierung nach dem 5. Oktober ohne Rücksicht darauf, welches Resultat die Abstimmung vom 5. Oktober habe, zu ihren Funktionen zurückkehren lassen werde, und von der heutigen Erklärung haben Sie ebenfalls
Akt genommen.

Ich gestehe nun offen, daß ich nach dieser Erklärung des Bundesrathes es unverständlich finde, wie man an den Anträgen der Minderheit der Kommission festhalten kann, welche die sofortige Einsetzung der alten Regierung zu ihrem Hauptinhalt haben.

591 Würdigt man das Verhalten des Bundesrathes an der Hand des schweizerischen Staatsrechts und wohl nach jedem ändern, so komme ich zu dem Schlüsse, daß der Bundesrath zweifellos berechtigt war, nachdem er gezwungen war, die Regierungsgewalt an der Stelle der nicht mehr vorhandenen, der zersprengten Regierung zu übernehmen, dieselbe so lange fortzuführen, als er es im Interesse der öffentlichen Ruhe und des öffentlichen Friedens für nothwendig erachtete.

Meine Herren! In dem Moment, wo die Intervention im Kanton Tessin eintrat, fand sich keine Regierung vor; dieselbe war zersprengt, de facto außer Stand, die Regierungsgewalt auszuüben.

Ob sie gewaltsam oder nicht ihrer Gewalt beraubt war, ist für die staatsrechtliche Seite der Frage durchaus unerheblich ; genug, sie war faktisch regierungsunfähig, ihrer Machtbefugnisse beraubt und nicht im Stande, aus eigener Machtvollkommenheit die im Kanton Tessin gestörte Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten. Diese ihre Machtsphäre, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Ausübung der Regierungsgewalt, mußte deßhalb von der Interventionsstelle übernommen und am Platze der nicht vorhandenen Regierung ausgeübt werden.

Das war ja das Ziel und der Zweck der Intervention des Bundes, daß er infolge Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung die Gewalt ausübte, welche die verjagte Regierung nicht auszuüben in der Möglichkeit war. Die stärkere Hand des Bunden tritt an den Platz der schwächern Hand, der das Steuer der Regierung entfallen ist, und der Bundeskommissär übernimmt die Ausübung der Regierungsgewalt im Namen des Bundesrathes. Es wird nun Niemand zu bestreiten versuchen, daß im Kanton Tessin der Bundeskommissär doch jedenfalls in dem Augenblick vollauf berechtigt war, die Regierungsgewalt an sich zu ziehen, in welchem die alte Regierung nicht vorhanden war und selbst nicht mehr die Regierungsgewalt ausüben konnte. D i e Frage l ä ß t s i c h nur n a c h der Seite hin d i s k u t i r e n , wie l a n g e d e n n der Bundesr a t h r e s p e k t i v e sein V e r t r e t e r d i e s e G e w a l t a m P l a t z e d e r R e g i e r u n g a u s z u ü b e n b e f u g t sei.

Meine Herren ! Diese Frage richtet sieh nun meines Eraehtens lediglich nach den vorhandenen faktischen Verhältnissen in Bezug auf die gestörte Ruhe und den öffentlichen Frieden ; denn das erste
Ziel der Intervention ist die Herstellung derselben, und für diese trägt der Bundesrath die Verantwortlichkeit. Es übernimmt also mit dem Augenblicke, wo die Regierungsgewalt durch die stattgehabte Intervention auf den Bundesrath und seinen Kommissär übergeht, derselbe auch die volle Responsabilität für die Aufrecht-

592 erhaltung der Ordnung und trägt sie so lange, als er die Regierungsgewalt nicht wieder der frühern Regierung übertragen hat.

Es ist nun unbestritten, daß die Regierungsgewalt nicht eo ipso auf die alte Regierung übergeht, sobald eine Mehrzahl derselben sich zu dieser Uebernahme wieder bereit erklärt, sondern es muß die Regierungsgewalt ihr durch die Behörde, die sie an ihrem Platz zur Zeit ausübt, förmlich übergeben werden. Daß diese meine Anschauung richtig ist, geht aus dem Umstand hervor, daß ja der Bundesrath befugt ist, je nach der Situation im Lande, je nach dem Stand der öffentlichen Ruhe der Regierung ihre Amtsfunktionen ganz oder auch nur theilweise wieder zu übertragen. Er kann sie auch nur für gewisse Funktionen in die Gewalt wieder einsetzen.

Er wird z. B., so lange die Intervention dauert, der Regierung auch nach dem 5. Oktober nicht alle ihre Attribute zurückgeben, sondern die polizeiliche Gewalt für sich beanspruchen. Ebenso gut ist es ja möglich, einer solchen Regierung während der Zeit der Intervention nur die administrativen Befugnisse zu überlassen, dagegen politische Funktionen in der Hand des Kommissärs zu lassen. Ich weiß nicht, ob dieses gegenüber der Tessiner Regierung geschehen soll ; allein ich sage im Allgemeinen, daß diese Befugnisse aus dem Rechte der Intervention hergeleitet werden können und müssen, soll überhaupt Ziel und Zweck derselben erreicht werden.

Es scheint mir auch zum Beispiel zweifellos, daß. auch wenn die alte Regierung nach dem 5. Oktober wieder in Funktion tritt, sie mit der Prüfung der Abstimmungsresultate, Rekurse etc. nichts zu thun hat, sondern daß diese vom Kommissär erledigt werden5 denn nachdem derselbe die Wahlen angeordnet hat, so muß ihm auch das Recht zustehen, die ganze Wahlaktion zu Ende zu führen. Man kann sie nicht zur Hälfte dem Kommissär und zur Hälfte der wieder funktionirenden Regierung übertragen.

D i e Prämisse nun ist von keiner Seite bestritten, die Prämisse nämlich, daß mit der Uebernahme der öffentlichen Gewalt auch die Verantwortlichkeit für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung auf die Trägerin dieser Gewalt, hier auf die Interventionsbehörde, übergeht. Wenn dies nun richtig ist, und es ist richtig, so muß konsequenterweise auch die gleiche Behörde, die diese Verantwortlichkeit übernommen hat, berechtigt erscheinen,
den Zeitpunkt zu bestimmen, in welchem sie glaubt, ohne Gefährdung derjenigen Pflichten, die sie mit Bezug auf die öffentliche Ruhe übernommen hat, die alte Regierung wieder in Funktion zu setzen.

Das Kriterium der Entscheidung also, in welchem Zeitpunkt der Bundesrath der Regierung die Amtsgewalt wieder übertragen

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soll, ohne daß er Gefahr läuft, verantwortlich zu werden, l i e g t e i n z i g und a l l e i n beim Bundesrath. Er hat dies nur dann zu thun, wenn er sich überzeugt hat oder überzeugt worden ist, daß er, ohne die Ruhe im Tessin zu gefährden, die alte Regierung wieder funktioniren lassen kann.

Jede andere Auffassung würde das Ziel und die Zwecke der Intervention illusorisch machen und dem Bundesrath eine Verantwortlichkeit aufbürden, die zu tragen er nicht verpflichtet wäre.

Die Intervention hat nicht nur den Zweck, die Regierung in solchen Fällen, wo gegen sie revolutionirt wird, mit den eidgenössischen Bajonneten zu schützen, sondern sie hat nach Art. 5 der, Bundesverfassung auch die Pflicht, und zwar in erster Linie, die Rechte und Freiheiten des Volkes und der Bürger, die ihnen die Verfassung gewährleistet, in gleicher Weise zu schützen.

In gleicher Weise, wie die depossedirte Regierung den Schutz des Bundes anrufen kann, in gleicher Weise haben die Bürger des Landes, in welchem ein Aufstand ausgebrochen, das Recht, den Schutz des Bundes zu verlangen, wenn dieser Aufstand sie in ihren Rechten und Freiheiten bedroht, wenn die öffentliche Ruhe und Ordnung, die ihnen die Verfassung garantirt, gefährdet erscheint.

Man braucht dabei gar nicht an die beiden Parteien im Tessin zu denken, die sich feindlich gegenüberstehen, sondern auch a l l e D i e haben Anspruch auf den Schutz des Bundes, die mit den Parteien im Lande gar nichts zu schaffen haben, die Niedergelassenen, die Aufenthalter, alle die ruhigen Bürger, die keiner Partei angehören, auch diese haben das verfassungsmäßige Recht, daß der Bund ihre Freiheiten, ihr Eigenthum, ihre persönliche Sicherheit schütze, wenn die Revolution und die Kämpfe der Parteien sie in diesen Rechten gefährden und bedrohen. Alle diese können beanspruchen, daß im Tessin nicht Verhältnisse existiren, die ihre Sicherheit gefährden.

Wenn nun der Bundesrath, als v e r a n t w o r t l i c h e S t e l l e für die Ruhe im Tessin, es unthunlich erachtet, bei der hochgradigen Gereiztheit der Parteien, den entfesselten Parteileidenschaftwi, der waltenden Aufregung und leichten Ent/.llndlichkeit des südlichen Blutes, die alle Regierung s o f o r t wieder amten zu lassen, so hat er hiezu vollkommen das Recht und die konstitutionelle Befugniß. Sobald er befürchten mußte,
und er mußte es nach allen Berichten befürchten, daß die sofortige Einsetzung der Regierung neue Wirren und Unruhen erzeuge, so war es sein Recht und seine verfassungsmäßige Befugniß, mit dieser Ein.seUuug der alten Regierung noch zuzuwarten, bis die Geister sich etwas mehr beruhigt hätten.

594 Schon der Umstand, daß am 5. Oktober die. Abstimmung über die Revision der Verfassung- stattfand, mußte es dem Bundesrath Kur Pflicht machen, die Regierung nicht v o r diesem Datum wieder in Funktion treten zu lassen. Man wußte es j a , mit welchen Mitteln, mit welchem Hochdruck die Regierung gegen diese Revision Stellung nahm, wie alle Mittel angewendet wurden, um diese zu Fall zu bringen ; wie selbst der Regierungspräsident sich nicht scheute, gegen die Revision höchst erregte Proklamationen zu erlassen und überall gegen sie aufzutreten ; wie die Presse dev Regierungspartei mit einer maßlosen Leidenschaft fcegen die Revision wüthete. Welche Summe von Mißtrauen, Aufregung und Unruhe hatte es im Tessiner Volk erzeugen müssen, wenn die gleiche Regierung bei der Abstimmung in amtliche Funktion getreten wäre, welche in leidenschaftlichster Weise gegen diese Revision au Felde zog; die gleiche Regierung, die des Verfassungshruehes beschuldigt wurde, deren Verhalten gegenüber dem Begehreu der 10,000 auf "Verfassuugsreviskm die unglückliche Revolution heraufbeschworen hat!

Es scheint mir überflüssig, noch ein einziges Wort darüber zu verlieren, daß der Bundesrath korrekt und im Interesse der Ruhe und des Friedens im Kanton Tessin gehandelt hat, indem er die Regierung vor dem 5. Oktober nichl in Funktion setzte.

Der Bundesrath hat nicht nur im Rahinen seiner Befugnisse gehandelt, er hat auch vernünftigerweise d i e j e n i g e n Maßnahmen getroffen, die einzig eine sichere Gewähr gegen die Erneuerung der Wirren und des Aufruhrs bieten konnten. Wir haben allen Grund, ihm dafür dankbar zu sein.

Jcb muß noeh auf einen zweiten Vorwurf antworten, welcher in der Sache der Intervention gemacht worden ist. Ich erkläre offen, daß in dieser Hinsicht in der Kommission keine Vorwürfe gemacht wurden. Allein im Nationalrathe sind Vorwürfe in starkem Maße gefallen, und ich halte es für meine Pflicht, in diesem Käthe gegen diese Vorwürfe mich ^.usKusprechen. Sie sind gerichtet gegen den eidgenössischen Kommissär. Man wirft ihm vor, er habe mit der provisorischen Regierung verhandelt auf dem Fuße einer legalen Regierung, statt sie e i n f a c h mit Waffengewalt an die Luft zu setzen. Man hat auch im Nationalrath seine Verfügungen, selbst dem W o r t l a u t n a c h , und seine Erlasse und Berichte au den Kundesrath
einer scharfen Krilik unterzogen.

Es isl allerdings bedeutend leichter, im Rathssaal, ohne alle Verantwortlichkeit und ohne alle Gefahr, die Handlungen eines Mannes zu krilisiren, der mitten in den Wogen und in einer aufgeregten Volksmenge, bestürmt von allen Seiten, überlastet mit

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allen möglichen Geschäften der Verwaltung, der Organisation der Intervention etc., auf seinen zwei Schultern die ganze Verantwortlichkeit für die Ruhe des Landes, die Beschwichtigung der erregten Gemüther und die Ehre der Eidgenossenschaft zu tragen hat, es ist leichter, sage ich, diese Arbeit zu kritisireu, als sie selbst zu thun.

Ja wohl, der Kommissär hätte allerdings energischer verfahren können ; ich traue ihm auch hiezu die nöthige Energie ohne Weiteres zu, und auch die Macht hatte er. Er hätte die provisorische Regierung, ohne ein Wort der Verständigung mit ihr zu wechseln, einfach aus dem usurpirten Regierungsgebäude auf die Straße werfen oder verhaften können. Er hat es nicht gethau, und ich möchte ihn darum nicht tadeln.

Ich erinnere Sie nur, wie die Dinge damals standen, als Künzli in den Tessin kam ; die Botschaft und sein Bericht gehen darüber ein anschauliches Bild. Auf den Straßen ßellinzona's wogte eine Menge bewaffneter Leute. Den geladenen Revolver in der Hand oder den geladenen Stutzer, stürmten die Anhänger der neuen Regierung in den Straßen herum zu Hunderten. Die beiden von der provisorischen Regierung aufgebotenen Kompagnien waren noch in Funktion. Bewaffnete Überall, darunter natürlich manche Bassermann'sche Gestalt. Nun stellen Sie sieh vor, es wäre plötzlich die erst eingesetzte Regierung, von der ihre Anhänger eine neu« Aera für den Kanton, die Befreiung jahrelanger Bedrückung, kurz Alles, was siegreiche Insurgenten im Taumel des Sieges wünschen und erwarten -- es wäre diese neue Regierung verhaftet, zwischen den Berner Soldaten eskortirt, über die Straße in's Getängniß geführt, sie wäre überhaupt auf die Gasse gesetzt worden. Wer von Ihnen hätte dafür die Bürgschaft übernehmen wollen, daß bei diesem Anblick und der verlorenen Hoffnung einigen von den Hunderten der bewaffneten Freunde der provisorischen Regierung bei der ungeheuren Spannung und Aufregung, die noch die Getnüther beherrschte, der Finger an den Drücker ihres Revolvers oder ihres Vetteriis gefahren wäre, d;iß ein, mcJirere Schüsse gefallen und daß, wie ja die Gewehre im Tessiu bekanntlich leicht Josgehen, ein allgemeines Schießen und Feuern entstanden wäre?

Die Berner hätten sich jedenfalls nicht ohne Gegenwehr anfallen lassen, sie hätten auch geschossen, das Blutvergießen wäre dagewesen und hätte bei der
großen Zahl Bewaffneter ein großes und schweres Blutbad werden können.

Was hatte man wohl draußen in der Seliweiz .lazu gesagt, wenn ein solches Blutvergießen stattgefunden hätte, was hätten die Berner gesagt, wenn von ihren Brüdern und Söhnen ein Theil ge-

596 tödtet oder verwundet worden wäre? Vergegenwärtigen Sie sich die Verbitterung, die Aufregung, die Wuth, die unser Volk ergriffen hätte, und vergegenwärtigen Sie sich, es hätte die Debatte in den Käthen unter dem Eindruck solcher Ereignisse stattfinden müssen und es wären die Tribünen des Rathssaales mit den Freunden und Verwandten der gefallenen und verwundeten Berner Soldaten besetzt gewesen ! Nun kann man ja allerdings sagen, daswäre nicht erfolgt, Niemand hätte sich der Verfügung des Kommissärs zu widersetzen gewagt. Man hat allerdings verschiedene wohlfeile Witze gemacht; man hat von Eroi di Caffè gesprochen und gesagt, die Tessiner schießen wohl gerne hin, aber das Herschießen lieben sie nicht, und man hat auch den Ausspruch zitirt, den ein alter Tessiner Politiker that, man finde die Knochen der Tessiner überall, nur auf keinem Schlachtfelde. Allein wer von Ihnen hätte damals die Garantie übernehmen können und wollen, daß es nicht so hätte kommen können, wie es befürchtet worden ist? Wir dürfen daher dem Herrn Kommissär dankbar sein, der die Situation doch besser kennen mußte, als die Redner im Rathssaal, daß er auch denen gegenüber, die allerdings die legale Gewalt gestürzt hatten, nicht vergaß, daß auch diese Eidgenossen und Landeskinder sind. Ich verurtheile den Aufstand, aber ich billige es, daß der Kommissär gegen diese Männer, die eben doch keine solchen Verbrecher sind, wie sie die gegnerische Presse darstellt, milde und versöhnlich verfuhr. Und wenn gesagt wurde, man habe die Kanonen und Gewehre nicht bloß zum Spielen, so sage ich, wir haben dieselben aber auch nicht angeschafft, um sie in erster Linie gegen unsere eigenen Leute zu gebrauchen, sondern zur Verteidigung gegen einen äußern Feind.

Ich resümire bezüglich der Dinge im Tessin dahin: Der Bundesrath hat die provisorische Regierung abgesetzt und ihre sämmtlichen Regierungsakte null und nichtig erklärt; er hat die Ordnung und Ruhe im Tessin wieder hergestellt und die Schuldigen an dem Aufstand der Justiz überwiesen. Er hat überhaupt Alles und Jedes gethan, was ihm seine Pflicht und die vor ihm liegende Verantwortlichkeit gebot, und es liegt gegenüber dem Bundesrath auch kein einziger Grund vor, ihm nicht volle und ganze Anerkennung für sein ebenso rasches als besonnenes Handeln zu zollen und zugleich ihm auch die schließliche
Durchführung der Intervention in vollem Vertrauen zu überlassen; er wird, wie bis anhin, seine Pflicht thun, dessen ist Ihre ganze Kommission überzeugt.

Wir bedauern nur, daß dieses Vertrauen nicht auch von aller» denen getheilt wird, die nach unserer Ansicht in erster Linie dem Bundesrath für seine rasche Intervention im Tessin Anerkennung

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und Dank schuldig wären, den Vertretern der kantonalen Regierung; es wäre dem Bundesrath die e i n s t i m m i g e Anerkennungaller Parteien wohl zu gönnen gewesen, und er hat sie verdient.

Gibt es doch im Lande herum genug Leute, die den Bundesrath auch tadeln, aber aus ganz den entgegengesetzten Gründen, als diejenigen der Minderheit sind, aus dem Grunde nämlich, weil er überhaupt die alte Regierung so bald wieder einzusetzen die Absicht hat.

Herr Präsident, meine Herren ! Mit diesem könnte ich meine Berichterstattung schließen, soweit sie die Ereignisse im Tessin und ihre Erledigung betrifft.

Allein ich glaube, es lohne sich der Mühe und es dürfe die Gelegenheit nicht versäumt werden, auch die Erscheinungen und die Symptome mit in Betracht zu ziehen, welche die ursächlichen und Folgeerscheinungen dieser Revolution sind und die so grelle Schlaglichter auf manche unserer politischen Verhältnisse werfen.

Wir stehen vorab vor der verblüffenden Thatsache, daß trotz unserer neuen Bundesverfassung und trotz all der in derselben enthaltenen Garantien für die Rechte und Freiheiten des Volkes und der Bürger e i n e P a r t e i keine andere Hülfe und keinen ändern Ausweg in den Grundbestimmungen unserer Konstitution mehr finden zu können glaubt, als den Appell an die Selbsthülfe und die Gewalt. Seit 1848 und namentlich seit der neuen Bundesverfassung glaubten wir, es sei ein Rekurs an die Gewalt ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Nun erleben wir unter der Herrschaft der neuen Bundesverfassung mitten in der freiesten Betrachtung der Volksrechte diese unsere ganze Staatsraison so demülhigende Erscheinung einer Revolution.

Bis jetzt war es unser Stolz, den anderen Staaten um uns beiden Beweis zu leisten, daß es uns gelungen sei, lediglich durch die innere Kraft unserer freiheitlichen Institutionen und die Hochachtung vor den uns selbst gegebenen Gesetzen die Einheit, Kraft und Unabhängigkeit so verschieden gearteter Völker zu erhalten. Wir glaubten uns durch die Garantien unserer Konstitution vor jedem Friedensbruch, vor jeder innern Unruhe für ein und allemal geschützt und unsere politische Sicherheit für allemal gewährleistet.

Und ich glaube heute noch : die Achtung, die wir den anderen um uns liegenden Staaten abgewonnen haben, sei basirt nicht allein auf dem Respekt vor unseren militärischen
Einrichtungen, sondern auch auf der Hochachtung gerade vor unsern konstitutionellen Verhältnissen.

Wie sehr aber dieser Aufstand im Tessin uns in der Achtung des Auslandes geschadet hat, das können Sie dem Hohn entnehmen, der uns aus ausländischen Blättern entgegentritt.

598 Allein nicht nur im Auslande, auch in unserm eigenen Land werden sonderbare Konsequenzen aus dio e jRevolution gezogen, die namentlich die sich merken solllen, die an dem Interventionsrecht des Bundes immer herumdeuteln. Man stellt auf eimml das Recht zur Revolution auch bei uns als ein schweizerisches Grundrecht dar; man beruft sich auf die Menschenrechte, denen wir unsere schweizerische Freiheit verdanken. Ich gebe zu, daß ein Volk
Allein wie man eine solche Theorie angesichts der Grundsätze unserer Bundesverfassung und unseres Bundesstaatsrechtes aufstellen kann, das ist mir unbegreiflich. Jede solche Revolution ist die Negation der Centralgewalt, ist die Ignorirung und Verachtung aller derjenigen Garantien, die wir in der Bundesverfassung uns selbst gegeben haben. Es ist das Zurückgehen der Eidgenossenschaft auf die staatlichen Verhältnisse und Zustände der Schweiz vor dem Jahre 1848; es ist einfach die Bankerotterklärung des neuen Bundes.

Solche Theorien geben zu denken in einem Lande, das seinem Volke alle Garantien der bürgerlichen und politischen Freiheit und eines geordneten institutionellen Lebens gegeben zu haben glaubt. Wie diese Theorie der Selbsthülfe bereits Anklang gefunden, das mag Ihnen folgender Artikel der Arbeiterstitnrne beweisen. Hier wird gesagt: ,,Die Revolution im Kanton beweist, wie leicht es möglich ist, mit der herrschenden Gewalt bei uns fertig zu werden, wenn sie Recht und Gerechtigkeit mit Füßen tritt und alle Wege zum Menscheurecht verletzt. Die Tessiner Revolution wird hoffentlich «lien gewaltthäligen Regenten eine Warnung, allen Bedrückten ein Trost sein. Was in einem Kanton möglich ist, kann in mehreren und selbst im Bunde nicht unmöglich sein."

Ich ziehe aus diesen Erscheinungen den Schluß, daß wir unter keinen Umständen in unserer Schweiz solche Verhältnisse und Ereignisse aufkommen lassen und dulden dürfen, die uns in innere und äußere Gefahr stürzen und geeignet sind, das Ansehen unserer Institutionen und die Grundlage unserer ganzen Bundesverfassung und des Bundes selbst bis ins Mark hinein zu erschüttern und ins Wanken zu bringen.

Ich will nun nicht übersehen,
daß allerdings im Kanton Tessin bis anhiu ganz außerordentliche politische Verhältnisse existirton, wie sie in keinem ändern Kanton vorkommen. Es herrscht dort ein Geist der politischen Unduldsamkeit und Ausschließlichkeit, wie er sonst nirgends in dem Grad bei uns gefunden wird und der uun hoffentlich nach der Abstimmung vom 5. Oktober sich bessern wird.

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Allein, was eben die Tessiner Parleiverhältnisse zu einer Gefahr für das ganze Land stempelt, das ist die Spaltung, die, sich infolge dieser Parteinahme für und wider die beiden Parteien im Tessin in der Schweiz zu bilden anfängt. Die Freunde der ultramoütaneu Partei schaareri sieh um die Fahne der bestehenden Regierung, die Anhänger der liberalen Partei, sie stellen sich auf die Seite derer, in denen sie ihre Gesinnungsgenossen sehen und die sie als die Unterdrückten und Verfolgten betrachten. So kommt es, daß diese Tcssineraffaire, die an und für sich eine Revolution im Glas Wasser ist, dureh die Kreise, die sie im ganzen Land zieht, die Anschauungen, die sie zu Tage fördert, geradezu als eine Landesgofahr bezeichnet werden muß. Sie schadet dem Ansehen der Eidgenossenschaft nach außen, sie erschüttert die Achtung vor den verfassungsmäßigen Rechten der Bürger und ihren Regierungen, sie droht eine Spaltung zu vollziehen in der Eidgenossenschaft, die für uns und unsere Institutionen nach innen und außen verderblich werden kann. Es ist der Same des alten Sonderbundes, der hier gesäet wird.

Wir würden zu den politischen Gewohnheiten und Gepflogenheiten der südamerikanischen Republiken herabsinkeu, wollten wir zugeben, daß solche Zustände und Ereignisse, wie sie im Tessin herrschen, sich Jahr um Jahr wiederholen dürfen.

Hier muß Wandel geschaffen werden. Wir dulden und wollen solche Zustände nicht mehr, wie sie im Tessili herrschen. Das Schweizervolk in seiner großen Mehrheit untersucht nicht lange, was im Tessili Schuld ist, es verlangt einfach von weinen Behörden und Käthen, daß einmal diese Tessinerwirren gTiiudlieh beendigt werden, geschehe dies, wie es wolle.

Wir aber müssen uns allerdings die Frage stellen : Wie ist da zu helfen ?

In erster Linie wollen wir nun die Früchte der Abstimmung vom 5. Oktober abwarten; allein wenn wir in dieser Hoffnung getäuscht werden sollten, dann müssen wir unbedingt Mittel und Wege finden, um dein Lamie die Erneuerung solcher Ereignisse zu ersparen.

Eine Saniruug dieser Zustände im Tessin ist schwierig, denn mehr als im Gesetz und in der Verfassung liegen diese. Mißverhältnisse und Mißstäude in den Sitten und Gebräuchen, im Blut und Temperament des TesHiner Volkes.

Und, meine Herren, wir müssen es uns ja leider gestehen, daß auch die Bundesverfassung und die eidgenössischen Gesetze uns zur Zeit nicht genügende Miltel an die Hand geben, um diese Tessiner Mißstände gründlich zu bessern oder zu beseitigen.

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Mit der Intervention allein ist es nicht gethan. Es ist die Gewalt des Bundes, mit der er allerdings jede Auflehnung und jeden Aufruhr durch seine wuchtige Hand niederzuschlagen im Stande ist. Allein die Intervention ist eben kein Mittel zur Sanirung und Besserung ungesunder politischer Zustände. Sie stellt die gestörte Rechtsordnung wieder her, aber sie vermag eine schlechte Rechtsordnung und politisch verwahrloste Zustände nicht in gute umzuwandeln.

Sie kommt ihrer Natur nach immer erst dann, wenn das Unglück geschehen, wenn der Rechtsbruch vollzogen ist; sie kann Konflikte verhindern, aber sie kann deren innere und äußere Ursachen nicht beseitigen. Sie ist der Arzt, der das kranke Bein amputiren, aber nicht heilen kann.

Und, meine Herren, stellen Sie sich vor, wir bekommen einmal einen Bundesrath, der nicht so rasch und energisch handelt, wie unser gegenwärtige Bundesrath bei den beiden Interventionen von 1889 und 1890 gehandelt hat; wir hätten einmal einen Bundesrath, der zögert, einzuschreiten, oder der es opportun findet, die Parteien etwas machen zu lassen, was man ja da und dort recht sehr gewünscht hat, weil ihm vielleicht der durch die Revolution geschaffene Zustand besser konvenirt als der bisherige; einen Bundesrath, der also vorläufig zu Hause bleibt und die Dinge gehen läßt. Meine Herren, was wären da für Zustände möglich und was würde eintreten, wenn am Platze des zögernden Bundes die befreundeten Kantone, gemäß Art. 16 der Bundesverfassung, ihren Gesinnungsgenossen zu Hülfe eilen würden, wenn diese dem Bunde zuvorkämen und i h r e Gewalt an Stelle der B u n d e s g e w a l t übten ? ! Ich überlasse es Ihnen, meine Herren, die Folgerungen zu ziehen, die aus der Anwendung des Art. 16 in solchen Fällen für das Gesammtvaterland erwachsen müßten.

Und was für ein trauriges Nachspiel uns endlich die Intervention jeweilen in den Räthen bietet, das wird Ihnen, meine Herren, noch aus den Debatten des letzten Jahres wohl in Erinnerung sein ; Sie werden sich erinnern, wie man Tage lang darüber debattirte, ob die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für die Intervention vorhanden gewesen seien oder nicht. Sie werden sich auch erinnern, welche Rolle man die Autorität des Bundes spielen ließ, als Herr Karrer ihn im Tessin als Kommissär vertrat.

Kurz, meine Herren ! Die Intervention, die ich
natürlich nicht etwa bestreit.en möchte und deren Nothwendigkeit ich voll anerkenne, ist speziell jeweilen i m T e s s i n von solch schwerer Aufregung des gesammten Schweizervolkes begleitet, sie stört jeweilen so sehr die innere Ruhe und den Gesammtfrieden des Vaterlandes,

601 und sie schädigt so sehr jeweilen unser Ansehen im Ausland und die Achtung vor unsern politischen Institutionen, daß es einmal genug sein muß mit dieser offiziellen Reisläuferei in den Tessin.

Wir müssen dieses Schauspiel, das schon so viele Reprisen erfahren hat, endlich dem Schweizervolk ersparen ; es wird uns dankbar dafür sein.

Hoffen wir, daß die Revision vorah bei den schwersten der gesetzlich sanktionirten Uebel Wandel schaffe, bei der so unglücklichen Wahlkreiseintheilung, die so künstlich ist, daß bis anhin, was durch die letzte Abstimmung deutlich zu Tage getreten, die Vertretung der Parteien nicht von Weitem dem wirklichen Bestände derselben im Lande entspricht.

Aber ein anderer schwerer Uebelstand bei den Tessiner Wahlen muß hier noch erwähnt werden. Es ist die Wahlbestechung und der Stimmenkauf, der im Tessin so schwungvoll betrieben wird, daß man sich nicht einmal mehr die Mühe nimmt, denselben heimlich zu betreiben; es geschieht öffentlich coram publico durch bezahlte Agenten. Wie die Sache auch jetzt auf die Abstimmung des 5. Oktober hin betrieben worden, davon erzählt man sich Beispiele genug; hier nur eines, das ich selbst erlebt habe. Zu fünf in Baden arbeitenden Steinbrechern kam ein Agent der ultramontauen Partei mit einer langen Liste von Stimmfähigen, die er nach Hause zur Urne zu führen hatte, und gab jedem Fr. 20 zur Reise nach Hause; dem einzigen Liberalen bot er Fr. 15, wenn er auf dem Platze bleibe und nicht zum Stimmen heimkomme.

Wie im Tessin selbst dieser Stimmenkauf betrieben wurde, darüber haben wir genug gehört. Da wird gefeilscht und geboten, wie an einem Jahrmarkte. Und das ist bei beiden Parteien gleich.

Solche Zustände müssen allmälig auch bei einem HO braven und guten Volke, wie es das Tessiner Volk ist, die politische Moral total untergraben und vernichten. Uns anderen Schweizern sind diese Dinge unverständlich, und ich glaube, sie kommen nirgendswo mehr vor. England, wo früher eine hoch getriebene Wahlbestechung statthatte, hat nunmehr gegen jegliche Art von Stimmenkauf ein überaus scharfes Gesetz erlassen. Auch im Tessin, wo dieser offene Stimmenkauf eine der häßlichsten Erscheinungen im politischen Leben bildet, sollte nothwendig, wenn eine gründliche Sanirung der dortigen Wahlzustände versucht werden soll, dieser Krebs im politischen Leben des
Tessin herausgeschnitten werden.

Auch die Parteipresse mit ihrer maßlosen Leidenschaftlichkeit und mit ihrer rohen Beschimpfung des politischen Gegners ist ein Krebsübel am politischen Leben des Tessiner Volkes.

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Auch das ist für uns andere Eidgenossen ein Schauspiel, wie es in unsern Kantonen undenkbar ist, wenn der Präsident der Landesregierung sich an die Spitze der Agitation gegen ein Revisionsbegehren stellt, das 10,000 seiner Mitbürger verlangt haben, und als solcher öffentlich eine Wahlbeeinflussung ausübt, die sogar im monarchischen Preußen einen Minister veranlaßte, von seiner Stelle zurückzutreten. Ich wünschte, Herr Respini würde dem Beispiele jenes Ministers folgen, nachdem die Abstimmung vom 5. Oktober gegen ihn entschieden hat.

Meine Herren ! Ich liebe gewiß den schönen Kanton Tessin und wünsche ihm das Beste. Es ist ja überhaupt in uns Nordländern allen jene Sehnsucht nach dem schönen Süden und M-inein blauen Himmel vorhanden, die schon die alten Allernannen, unsere Vorfahren, über die Alpen getrieben; allein es ist endlich nöthig, daß wir mit allen uns zu Gebot stehenden Mitteln an der Pazitikation des Tessin arbeiten ; denn lang genug hat dieses schöne, aber etwas verzogene Kind der Mutter Helvetia schwere Sorgen gemacht.

Es sind die Mittel genannt worden, die eine solche Pazifikation herbeiführen könnten, die Einsetzung einer gemischten Regierung, die Verwendung der Minderheit in der Regierung und in der Administration des Landes. Wir haben im Aargau diese Minderheitsvertretung uttd wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Ich bin überzeugt, daß das Tessiner Volk, das ja seiner Natur nach so gutmüthig und anspruchslos ist, dem Frieden zu lieb eine solche Minderheitsvertretung acceptiren würde, wenn nur seine Führer und Vertrauensmänner die Hand zur Versöhnung bieten wollten. Das Tessiner Volk schließt Frieden, sobald die Führer dazu das Signal zu geben sich verstehen wollten.

Eine solche Paziflkation des Kantons Tessin aber ist heute ein Postulat, das auf der Zunge jedes Schweizers schwebt, hören Sie auf die Stimmen des Schweizervolkes in dieser Tessinerfrage und Sie werden sich überzeugen, daß dießmal jedenfalls die große Mehrzahl des Schweizerv.olkes die Tessinerwirren ernst, sehr ernst nimmt.

Unser Volk hat mit jenem Feingefühle, das ein politisch geschultes und freies Volk für jedes Anzeichen einer drohenden äußern oder inuern Gefahr besitzt, herausgefühlt, daß der Kanton Tessin und seine politischen Verhältnisse anfangen, eine ernste Gefahr für die innere und äußere Ruhe des
Gesammtvaterlandes zu werden.

Und das Schweizervolk hat nicht länger Lust, die Dinge so gehen zu lassen, wie sie bis jetzt gegangen, und das Feuerlein brennen zu lassen, bis das ganze Haus in Brand steht. Nein ! Das Schweizervolk wird in seiner großen Mehrheit über kurz oder lang seinen Räthen zurufen: Nun ist es genug. E n t w e d e r -- oder: Entweder

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die Versöhnung auf Grundlage der durch die Annahme der Revision geschaffenen Situation, die friedliche Lösung des Knotens unter Mithülfe aller gutgesinnten Patrioten im Kanton Tessin, kommen sie von welcher Partei sie wollen. Oder dann diejenigen Schritte der Eidgenossenschaft, die nöthig sind oder erfolgen müssen, wenn ein Kanton sich als unfähig erwiesen hat, sich selbst regieren zu können, und dessen Zustände zu einer ernsten Gefahr für die innere und äußere Ruhe des ganzen Vaterlandes zu werden drohen. Das, meine Herren, ich bin dessen überzeugt, ist die Stimme des großen Mehrtheiles unseres Schweizervolkes, und sie ist die richtige und die auch, welche w i r hören sollen.

Nun aber hat das Abstimmungsresultat vom 5. Oktober dem Schweizervolk, jedenfalls seinem großen Mehrtheil, einen schweren Stein vom Herzen gewälzt. Es ist, wie ich schon gesagt, nicht der Sieg einer Partei mit ein paar Stimmen Mehrheit, der hier vorzugsweise in Betracht kommt, sondern es ist das Gefühl, das wir alle haben : Nun ist durch die Abstimmung vom 5. Oktober endlich die Furche gezogen in den harten und heißen Boden des Tessin. Dieser Boden ist geöffnet worden, und jetzt kann das Samenkorn der Versöhnung und der Verständigung endlich hineingelegt werden in fruchtbares Erdreich. Möge aus diesem Saatkorn dem Tessiuer Volk endlich jener politische Frieden und jene politische Ruhe erblühen !

Denn das ist ja das hehre Ziel unseres gemeinsamen Bundes und die erste Voraussetzung jeder gesunden und glücklichen Entwicklung eines Landes. Ich habe geschlossen.

B e r n , den 7. Oktober 1890.

N a m e n s der K o m m i s s i o n s m e h r h e i t : A. Kellersberger, Berichterstatter.

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Bericht der ständeräthlichen Kommissionsmehrheit, betreffend die bewaffnete eidgenössische Intervention im Tessin und die politische Lage dieses Kantons. (Vom 7.

Oktober 1890.)

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1890

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4

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18.10.1890

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