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Bundesrathsbeschluß über

1) den Rekurs der israelitischen Ortsbürgergemeinden NeuEndingen und Neu-Lengnau und der israelitischen Kultusgemeinden Baden und Bremgarten im Kanton Aargau gegen die Maßnahmen der aargauischen Staatsbehörden, betreffend die Art der Tödtung der Schlachtthiere (Schächtverbot) ; 2) die Petition der Israeliten in der Schweiz vom 25. Mai und 4. Juni 1888 in der Schächtangelegenheit; 3) den Rekurs der israelitischen Kultusvereine des Kantons Bern gegen Art. 13 der bernischen Regierungsverordnung vom 14. August 1889 über das Schlachten von Vieh und über den Fleischverkauf.

(Vom

17. März 1890.)

Der schweizerische Bundesrath hat !

[ i n Sachen; I. des Rekurses der israelitischen Ortsbürgergemeinden NeuEndingen und Neu-Lengnau und der israelitischen Kultusgemeinden Baden und Bremgarten im Kanton Aargau gegen die Maßnahmen der aargauischen Staatsbehörden, betreffend die Art der Tödtung der Schlachtthiere (Schächtverbot); X

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II. der Petition der Israeliten in der Schweiz vom 25. Mai und 4. Juni 1888 in der Schachtangelegenheit ; III. des Rekurses der israelitischen Kultusvereine des Kantons Bern gegen Art. 13 der bernisehen Regierungsverordnung vom 14. August '1889 über das Schlachten von Vieh und über den Fleisch verkauf ; auf den Beiicht des Justiz- und Polizeidepartements und nach Feststellung folgender aktenmässiger SachVerhältnisse: A.

Ein aargauisches Gesetz vom 23. Wintermonat 1854 über Thierquälerei schreibt vor, daß die Tödtung von großem und kleinem Schlachtvieh und von Pferden durch den Schlag auf den Kopf des Thieres zu geschehen habe.

Bin Gesetz vom 13. Wintermonat 1855 bestimmt dagegen, daß ,den aargauischen Juden das Tödten von Schlachtvieh nach den "'Vorschriften ihres Kultus, in Ausnahme von der (vorhin erwähnten) Bestimmung des Gesetzes über Thierquälerei, fernerhin gestattet, daß dasselbe jedoch auf die Gemeinden Oberendingen und Lengnau eingeschränkt sei. Zur Zeit des Erlasses dieser Gesetze bestanden im Kanton Aargau bloß die israelitischen Korporationen Endingen und Lengnau ; dieselben sind durch großräthliches Dekret vom 15. Mai 1877 unter dem Namen Neu-Endingen und Neu-Lengnau üu Ortsbürgergemeinden erhoben worden.

Auf Grund eines Gesetzes vom 27. Juni 1863 betreffend die öffentlichen Rechtsverhältnisse der aargauischen Juden bildeten sieh auch in ändern Gemeinden des Kantons, namentlich in Baden und Bremgarten, israelitische Kultusgemeinden, und es wurden auch in diesen Jahre lang ungehindert die Schlachtthiere nach jüdischem Ritus getödtet.

Im November 1886 wurde gegen drei Metzger in Baden wegen Thierquälerei durch Schächten eine zuchtpolizeiliche Anzeige erstattet. Das Bezirksgericht Baden erkannte in dieser Sache um 4. Januar 1887, es werde von einer Bestrafung der Beanzeigten ·abgesehen. Auf das Rekursbegehren der Staatsanwaltschaft, welchem ·sich der Vorstand des aargauischen Thierschutzvereins anschloß, erklärte dagegen das Obergericht des Kantons Aargau durch Urtheil vom 14. Mai 1887 die drei Metzger der Zuwiderhandlung gegen das Gesetz über die Thierquälerei vom 23. November 1854 schuldig und verurtheilte sie zu einer Buße von je 10 Franken (im Falle der Zahlungsunfähigkeit zu je 2*/2 Tagen Gefängniß).

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Inzwischen war die Angelegenheit von zwei entgegengesetzten Seiten auch vor den Großen Rath des Kantons Aargau gebracht worden, nämlich von Seite des aargauischen Thierschutzvereins und einiger Metzger in Baden mit dem Begehren : ,,Das Ausnahmegesetz vom 13. Wintermonat 1885 sei aufzuheben, weil es sich gegen Artikel 4 der Bundesverfassung und Artikel 17 der aargauischen Staatsverfassung (Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetze) verstoße11 und von Seite der israelitischen Kultusgemeiude Baden und dortiger Metzger mit dem Begehren : ,,Es sei das Ausnahmegesetz von 1855 auch auf diejenigen Orte des Kantons auszudehnen, an welchen sich israelitische Kultusgemeinden befinden."1 Der Große Rath beschloß, entgegen dem Antrag des Regierungsrathes und der großräthlichen Vorberathungskommission, mit 82 gegen 51 Stimmen (44 Mitglieder waren abwesend), am 12. Juli 1887 : ,,Der Regierungsralh wird eingeladen, einen Gesetzesentwurf einzubringen, welcher das Ausnahmegesetz vom 13. November 1855 betreffend das rituelle Viehsehlachten der Juden aufhebt. tt Auf das vorsorgliche Begehren: ,,Es sei bis nach erfolgtem Entscheid des Großen Rathes vom Regierungsrath die Weisung zu erlassen, daß wegen Schächten in Baden keine Anzeigen zu machen seientt hatte sich der Regierungsrath in seiner Botschaft an den Großen Rath dahin ausgesprochen, daß, nachdem das Obergericht durch sein Urlheil vom 14. Mai 1887 das Gesetz restriktive interpretirt habe, ihm -- dein Regierungsrathe -- nicht zustehe, von sich aus etwas Anderes zu verfugen. Als dann mit Eingabe vom 1. September 1887 die israelitischen Kultusgemeinden Baden und Bremgarten an den Regierungsrath das Gesuch richteten, er wolle ihnen provisorisch, bis der Große Rath in dieser Angelegenheit endgültig legiferirt habe, gestatten, ihr · Schlachtvieh, soweit es zu ihrem Bedarf dient, nach den Vorschriften des israelitischen Ritus tödten zu dürfen, wies die Behörde am 4. Oktober 1887 das Gesuch ab, auf das Motiv gestützt, daß es dem Regierungsrathe nicht zustehe, das Schächten zu bewilligen, entgegen dem klar ausgesprochenen Willen der obersten gesetzgebenden Behörde, die das Ausnahmegesetz von 1855 aufzuheben entschlossen sei, und entgegen dem rechtskräftigen Urtheile des Obergerichts, zufolge welchem jede Tödtung von Schlachtvieh durch Schächten überall da als Thierquälerei, bezeichnet und bestraft werden müsse, wo nicht das Ausnahmegesetz dieses Verfahren ausdrücklich gestatte.

B.

Schon bevor die aargauischen Gerichts- und Administrativbehörden -in der unter Littera A angeführten Weise gegen die Zu-

642 läßigkeit des Schächlens sich erklärten, war auch die Bundes·behörde mit der Frage behelligt worden.

Mit Begleitschreiben vom 27. April 1886 reichte dei' Centralvorstand der schweizerischen Thierschutzvereine dem eidgenössischen Departement des Innern eine Petition ein, in welcher unter Berufung auf Artikel 50 und 4 der Bundesverfassung im Namen der, Moral und der öffentlichen Ordnung, sowie im Namen der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze ein prinzipieller Entscheid gegen das Schächten nachgesucht und verlaugt wurde, daß der Bund eine rituelle Handlung, an welöher die Mehrzahl der Bürger gegründeten Anstoß nehme und die eine offenbare Verletzung der bestehenden Sittlichkeitsgesetze und der Rechtsgleichheit sei, in die Schranken der Sittlichkeit und öffentlichen Ordnung weise, was dadurch erreicht werden könne, daß das Tödten der Schlachtthiere in den öffentlichen Schlachthäusern und in den Privatschlächtereien ohne vorgängige Betäubung durch Schlag oder Schuss verboten werde.

Nachdem die Petition successive denjenigen Departementen des Bundesrathes zur Begutachtung unterbreitet worden war, in deren Geschäftskreis dieselbe nach ihren verschiedenen Gesichtspunkten fallen konnte, erließ der Bundesrath an den Central vorstand am 19. Juli lb>87 ein Antwortschreiben, in welchem er zu folgendem Schlüsse kam : ,,Es könnte auf das vorliegende Gesuch nur in der Art eingetreten werden, daß das Schlachtverfahren, gestützt auf Artikel 50 der Bundesverfassung, auf eine das Schächten ausschließende Weise geregelt würde. Zu dem Ende müßte jedoch vor Allem der Beweis erbracht werden, daß die israelitische Schlachtmethode als eine qualvolle, beziehungsweise thierquälerische Tödtungsart zu betrachten sei, durch deren Anwendung die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit beeinträchtigt werde. Dieser Nachweis kann Angesichts des abweichenden Urtheils zahlreicher kompetenter Fachmänner nicat als geleistet angesehen werden, und der Bundesralh ist daher nicht in der Lage, die Petition in Erwägung zu ziehen und der Bundesversammlung eine entsprechende Gesetzesvorlage zu unterbreiten."· In einem Schreiben an den Vorsteher des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 9. November 1887 machte Herr Professor Wertheimer, Groß-Babbiner in Genf, auf die durch die Beschlüsse der aarganischen Behörden in diesem
Kantone geschaffene Lage aufmerksam, unter Beifügung der Bitte, es möchte der Bundesrath bei der Regierung des Kantons Aargau sich in dem Sinne verwenden,- daß den Israeliten die Anwendung ihrer rituellen Schlachtmethode auch fernerhin gestattet werde.

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Nach Antrag des genannten Départements hat darauf der Bundesrath die aargauische Regierung unterm 5. Dezember 1887 ersucht, die vorwürfige Angelegenheit einer genauen Prüfung zu unterstellen, und dabei seiner Ansicht Ausdruck verliehen, daß die religiösen Bedenken der israelitischen Mitbürger insoweit und solange zu berücksichtigen seien, als dieselben nicht nachweislich mit der öffentlichen Ordnung und der den Thieren gebührenden Rücksicht unvereinbar erscheinen.

Der Regierungsrath des Kantons Aargau antwortete am 15. Februar 1888, indem er kurz den Stand der Frage darlegte.

Er schloß seinen Bericht mit den Worten : ,,Für einmal ist die Frage noch nicht gelöst und es muß nun abgewartet werden, welche Stellung der Große Rath und sodann das aargauische Volk der von uns zu bearbeitenden Vorlage gegenüber einnehmen wird. tt In einem weitern Schreiben vom 10. April aber ersuchte der Regierungsrath den Bundesrath um einen förmlichen Entscheid darüber, ob die Bundesbehörden das Viehschächten der Juden als religiöse Angelegenheit oder lediglich als Polizeisache auffassen ; denn, bemerkte die aargauische Behörde, ^wir können eine umständliehe Gesetzesberathung und eine möglicher Weise mit Agitation und Aufregung verbundene Volksabstimmung über diese leicht dio Volksleidenschaften entfesselnde Frage nicht vor sich gehen lassen, wenn in Aussicht sieht, daß ein solcher Gesetzeserlaß ohnehin seiner Zeit vom Bundesrathe kassir^t werden wird. tt Der Bundesrath erwiederte hierauf durch Sehreiben vorn 20. April, was folgt: ,,Bevor wir unsere Antwort auf Ihre Zusshrift abgehen lafsen konnten, ist uns beifolgende Rekursschrift der jüdischen Glaubensgenobsenschaften des Kantons Aargau, d. d. Baden, den 11. April 1888, nebst einem Kachtrag (vom 18. April) zugekommen. Infolge dessen sind wir in der Lage, den regelmäßigen Geschäftsgang zu befolgen und Sie um Ihre gefällige Vernehmlassung auf diesen Rekurs zu ersuchen. Wir werden darauf unsern Entscheid über die Rekursfrage zu fällen haben, womit gleichzeitig auch die in Ihrem Schreiben vom 10. dieses Monats aufgeworfene Frage ihre Beantwortung finden wird.tt| Die Rekursschrift, von der hier die Rede ist, war am l'J. April 1888 in den Besitz des Bundesrathes gelangt; sie trägt die Unterschriften der Präsidenten der israelitischen Kultusgemeindeu Baden und Bremgarten
und der Kirchenpflegen Neu-Endingen und NeuLengnau als Vertreter dieser Korporationen ; der Nachtrag ist unterzeichnet von Herrn Dr. Ehrmann, Bczirks-Rabbiner in Baden.

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Der aargauisché Regierungsrath erklärte, nachdem^ er von der Rekursschrift und den übrigen Akten Kenntniß genommen hatte, mit Schreiben an den Bundesrath vom 27. April, er verzichte auf eine eigentliche Rekursbeantwortung. Um in der vielbestrittenen Schächtfrage Stellung zn nehmen, müßte er eine Untersuchung derselben durch Sachverständige veranlassen: es erscheine ihm aber nicht angezeigt, hierin dem Bundesrathe vorzugreifen; der Regierungsrath stelle daher den ganzen Entscheid zutrauensvoll der Bundesbehörde anheim.

i C.

Die Rekursschrift macht folgende rechtliche und thatsächliche Momente geltend : ' 1. Das Gesetz; vorn 13. Wintermonat '1855 spricht den Gemeinden Endingen und Lengnau Vorrechte des Ortes zu ; die Ent^ ziehung derselben wäre gleichbedeutend mit dem vollständigen Ruin dieser Gemeinden, deren Bestand e i n s c h l i e ß l i c h d e r S c h ä c h t i n s t i t u t i o n gesetzlich garantirt ist. So setzt auch die regierungsrätbliche Verordnung vom 4. Hornung 1853 betreffend die Rabbinate der israelitischen Gemeinden Eudingen und Lengnau die Anerkennung der Scbächtinstitution seitens des Staates als selbstverständlich voraus.

2.j Seit länger; als 3000 Jahren schlachten alle Juden ihre Schlachtthiere nach; einer bis in die kleinsten Details übereinstimmenden Methode. Keine einzige jüdische Gemeinde gibt es, die nicht diese Schlachtmethode gewissenhaft befolgt. Es besteht, wie bei allen ande.rn Religionen auch innerhalb des Judenthums eine tiefgehende Spaltung der Ansichten über die Verbindlichkeit einer Reihe von religiösen Vorschriften; allein die Art und Weise, die Schlachtthiere jsu tödten, wird in ganz gleicher Weise von radikaler wie konservativer Seite als eine fundamentale Institution des auf Bibel und Talmud beruhenden Judenthums anerkannt.

3. Das Schächten ist eine in der Bibel vorgeschriebene und durch die im Talmud niedergelegte, dem Gesetze an WerUi gleichkommende Tradition kommentirte gottesdienstliche Handlung. An 42 Stellen ist im Pentateuci! allein vom Schächten die Rede (was zwar Bibellesern, di^ den hebräischen Urtext nicht verstehen, leicht entgeht, weil das Verbum ,,Schachat"1 nicht durch ,,schachten11, sondern einfach durèh ,,schlachten" übersetzt zu werden pflegt).

Die (von der Rekursschrift im Einzeln aufgeführten) talmudischen Bestimmungen über das Schächten qualifiziren sich durch den tiefsittlichen Ernst und die Gewissenhaftigkeit, die aus ihnen sprechen, als gottesdienstliche Satzungen.

645 4. Die Israeliten wissen wohl, daß die Kultusfreiheit sich innerhalb der von der Sittlichkeit gezogenen Schranken bewegen muß.

Wäre das israelitische Schlachtverfahren eine unsittliche Quälerei, so ließe sich die Entziehung des staatlichen Schutzes auch dieser religiösen Handlung gegenüber vielleicht formell begründen. Allein dieser Beweis ist bis jetzt gegen das Schächten nicht erbracht worden. Im Gegentheil ist durch eine große Zahl wissenschaftlicher Gutachten, von zum Theil europäisch berühmten Autoritäten die vulgäre Meinung, das Schächten sei eine Thierquälerei, vollständig entkräftet worden.

5. Die Angabe, daß unter den Vertretern d(er Wissenschaft keine Einigkeit über die Frage herrsche, ob das Schächten qualvoller als die ändern Schlachtmethoden sei, ist irrig, wie namentlich ein Gutachten von Professoren der Berner Thierarzneischule überzeugend dargethan hat.

6. Unter den vielen Tausenden jüdischer Religionslehrer hat Ein (württembergischer) Rabbiner sich gegen das Schächten ausgesprochen, nachdem er von der'Oberkirchenbehörde seines Landes wegen verschiedener Extravanzen seines Amtes entsetzt worden war. Alle ändern von den Thierschutzvereinen als Gegner des Schächtens namhaft gemachten Israeliten haben öffentlich diese Berufung auf sie als eine irrige bezeichnet.

7. In sämtntlichen zivilisirten Ländern wird der staatliche Schutz der Schächtinstitution als etwas Selbstverständliches betrachtet.

^ Am 18. Mai 1887 hat der Deutsche Reichstag das Ansinnen eines Schächtverbotes zurückgewiesen. In Frankreich, England, Rußland, Oesterreich, Belgien, Dänemark und selbst in Rumänien wurde der Ausübung dieses religiösen Aktes niemals ein Hinderuiss in den Weg gelegt, wie aus den bei den Akten liegenden Erklärungen der Ober-Rabbiner von Paris, London, Odessa, Wien, Brüssel, Kopenhagen und Bukarest hervorgeht.

Das Gleiche ist zu sagen von den außereuropäischen Staaten.

Im Namen zunächst der unterzeichneten israelitischen Gemeinden, indirekt sodann auch im Namen aller israelitischen Glaubensgenossen in der Schweiz bitten die Rekurrenten : De r B u n d es r a t h möge d i e s ä m r n t l i c h e u a a r g a u i s c h c n B e s t i m m u n g e n gegen d i e j ü d i s c h e S c h l a c h t m e t h o d e alsimWiderspruchiuitder bundesmäßig garantirteli Glaubens- und Kultusfreiheit stehend und somit als aufgehoben erklären.

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In einem vom 18. April 1888 datirten Nachtrage zum Rekursmemorial lenkt Herr Dr. B. Ehrmann, Bezirks-Rabbiner in Baden, die Aufmerksamkeit des Bundesrathes auf die im Jahre 1888 erschienene Schrift des aargauischen Thierschutzvereins, betitelt ,,Die Schächtfnige in der Schweiz"1.

Herr Dr. Ehrmann legt diese Abhandlung zu den Akten ; er bemerkt über dieselbe, wa.s folgt: ,,Die Schrift sucht einerseits die dem Schächten günstigen wissenschaftlichen Voten zu bemängeln und andererseits die religiöse Seite dieser Handlung in Frage zu stellen. Sie bringt jedoch für diesen Zweck auch nicht ein einziges neues Moment, welches nicht bereits in vorstehendem Rekurs seine Erledigung gefunden h a t . . . .

Nur ein Punkt möge als Maßstab für die Zuverläßigkeit der in dieser Schrift enthaltenen Angaben hervorgehoben werden.

,,Als Beweis, daß das Schächten keine den Juden religionsgesetzlich gebotene Pflicht sei, führt sie folgende sechs Gewährsmänner an: 1) Dr. Stern (8. 11), 2) Dr. Stein, 3) Geiger, 4) Rubens, 5) Theologus (ibidem), 6) Dr. Rothschild (S. 15): ,,Dr. Stern ist der im Rekursmemorial erwähnte württembergische Rabbiner.

,,Der Rabbiner Dr. Stein von Frankfurt a. M. wurde am 15. August 1862 wegen verschiedener Extravaganzen von seiner Gemeinde seines Amtes entsetzt. (Notiz in der Schweiz. Freien Presse vom 20. Juli 1887).

,,Das Zitat aus Geigers Schriften ist mir nicht bekannt. Auffallend erscheint, daß es nicht wörtlich angeführt ist. Thalsache ist, daß Dr. Kayserling in seiner bekannten Schrift: ,,Die rituale Schlathtfrage a das gerade Gegentheil behauptet, daß nämlich Geiger, obwohl der radikal 1 freisinnigen Richtung angehörend, die Verbindlichkeit der in Rede stehenden Religionsgesetze ausdrücklich anerkannt habe.

,,Rubens und Theologus sind pseudonyme Bezeichnungen des bereits genannten Dr. Stern.

,,Was endlich Herrn Dr. Rothschild betrifft, so erklärt derselbe öffentlich in Nr. l der ,,Allgemeinen Thieischulz-Zeitung" 1 (Darmstadt, 1888), daß die Nennung seines Namens unter don Gegnern der jüdischen Schlachtweise auf einem Irrthum beruhe."· D.

Am 2., 5. und 12. Juni 1888 gingen dem Bundesralhe aus 36 schweizerischen Ortschaften Petitionen mit zusammen 1047 Unter-

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suhrifteu der israelitischen Konfession angehörender Männer ein.

Die Zusendung erfolgte durch Vermittlung des engem Ausschusses der israelischen Gemeinde Basel. Das Begleitschreiben vom 4. Juni 1888 qualifizirt die Eingabe als Petition der Israeliten der Schweiz betreffend die Sehächtangelegenheit und bemerkt, daß die aargauischen Gemeinden Aarau, Baden, Endingen und Lengnau keine Unterschriften geliefert haben, weil bereits ein von deren Vorständen unterzeichneter Rekurs dem Bundesrathe vorliege.

Die Petitionäre erklären, von der Beantwortung der Frage, ob das Verbot des Schächtens gegen die verfassungsgemäß verbürgte Gewissensfreiheit verstoße, hange das Wohl und Wehe der israelitischen Gemeinden in der Schweiz ab; denn das Schächten bilde einen, integrirenden Bestandtheil ihres Religionsgesetzes. ,,Zum Zeichen,"1 sagen die Petenten wörtlich, ,,daß nicht etwa nur ein bestimmter Theil der Israeliten das Verbot des Schächtens perhorreszirt, sondern daß wir Alle ohne Unterschied 'der religiösen Richtung darin eine Verletzung unserer Gewissensfreiheit erblicken, haben wir uns vereinigt, diese Petition an den h. Bundesrath zu richten, mit der Bitte, der h. Bundesrath wolle ein etwaiges Verbot des Schächtens als eine Verletzung des § 49 der Bundesverfassung, der die Freiheit des Kultus garantirt, erklären."· E.

Am 13. Juni 1888 wandte sich das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement an die schweizerischen Gesandtschaften in Berlin, Wien, Rom und Paris und an die schweizerischen GeneralKonsulate in Brüssel, Petersburg und London, um in authentischer Weise zu erfahren, wie in auswärtigen Staaten die Schächtfrage behandelt wird.

An die schweizerische Gesandtschaft in Washington erging die spezielle Anfrage, ob es richtig sei (was in einem von der Rekursschrift signalisirten Buche [Manuel de l'inspecteur des viandes, par L. Villain et V. Bascou, médecins-vétérinaires ; Paris 1888] behauptet wird), daß im Staate New-York der Halsschnitt, wie ihn der jüdische Ritus vorschreibt, durch Gesetz allgemein vorgeschrieben sei.

Unser Departement erhielt im Laufe der Jahre 1888/89 die gewünschten Aufschlüsse.

In der Hauptsache lauten dieselben folgendermaßen :

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a. Für Deutschland.

Abgesehen votì den allgemeinen Bestimmungen über Thierquälerei in § 360, Nr. 13 des Reichsstrafgesetzbuches (,,Mit Geldstrafe bis zu einhundcrtlünf'zig Mark oder mit Haft wird bestraft: . . .

13) wer öffentlich oder in Aergerniß erregender Weise Thiere boshaft quält oder roh mißhandelt11), welche unter besonderen Umständen Anwendung finden könnten, sind speziell über das Schächten nach jüdischem Ritus im Deutschen Reiche gesetzliche Vorschriften nicht erlassen worden.

In einzelnen für die vorhandenen Schlachthäuser ergangenen Ortspolizeiverordnungen findet sich die Frage des Schächtens berührt, dergestalt, daß dasselbe in Deutschland nirgends verboten, für einzelne Schlachthäuser aber ausdrücklich gestattet ist. Besondere Restimmungen über die Ausführung des Schächtens und namentlich über das Niederlegen der Thiere vor dem Schächtungsakte sind in 'den für die Städte Berlin, Wiesbaden, Zweibrücken, Forchheim, Fürth, 'Konstanz, Mannheim, Pforzheim und Rastatt erlassenen Schlachthausordnungen getroffen worden. So sagt z. B.

B e r l i n : ,,Das Niederlegen der durch den Halsschnitt (Schächten) zu tödtenden Thiere muß in Gegenwart der mit der Tödtung beauftragten Person erfolgen."· Z w e i b r ü c k e n : ,,Beim Schächten darf das Aufziehen j an den Stricken der Windachse nicht stattfinden. a F o r e h h e i m : .,,Die zum Schächten bestimmten Thiere dürfen nicht plötzlich und mit Gewalt zu Boden geworfen werden.

Es sind daher die zum Schächten bestimmten Thiere größerer Gattung nach gehöriger Fesselung mittelst des im Schlachthaus befindlichen Krahnes zunächst mit dem Hintertheil uud hierauf erst mit dem Vordertheil sanft zu Boden zu bringen. Zu dem ganzen Vorgange sind eine genügende Anzahl tüchtiger Gehülfen beizuziehen und müßige Zuschauer strengstens fernzuhalten." 1 K o n s t a n z : ,,Beim Schächten müssen' die Thiere durch ein geeignetes Werkzeug möglichst rasch und schmerzlos zum Liegen gebracht und dann sofort getödtet werden."1 Aehnlich M a n n heim, Pforzheim, Rastatt.

Am 18. Mai 1887 ist der D e u t s c h e R e i c h s t a g über eine Anzahl gegen das Sehächten gerichteter Petitionen der deutschen Thierschutzvereine zur Tagesordnung übergegangen.

Mittelst einer Q i r c u l a r v e r f ü g u n g d e r k ö n i g l i c h preußischen Herren Minister der geistlichen A n g e l e g e n h e
i t e n u n d ! des I n n e r n vom 14. Januar 1889 sind den königlichen Regierungen ,,zur Vermeidung unnöthiger Tierquälereien bei der jüdischen Methode des Viehschlachtens (Schächten)"- folgende Maßregeln zu allgemeiner Durchführung empfohlen worden :

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1. Das Niederlegen der größern Thiere soll hauptsächlich durch Winden oder ähnliche Vorrichtungen bewerkstelligt werden.

Diese Winden, sowie die dabei gebrauchten Seile etc. sollen haltbar sein und stets geschmeidig gehalten werden, so daß die Ausführung ohne Verzug erfolgen kann.

2. Während des Niederlegens soll der Kopf des Thieres gehörig unterstützt und geführt werden, damit ein Aufschlagen desselben auf den Fußboden und ein Bruch der Hörner vermieden wird.

3. Bei dem Niederlegen des Thieres soll der Schächter bereits zugegen sein, um unmittelbar darauf die Schächtung vorzunehmen.

Letztere soll sicher und schnell ausgeführt werden.

4. Nicht nur während des Schächtungsaktes, sondern a.uch für die ganze Dauer der nach dem Halsschnitte eintretenden Muskelkrämpfe soll der Kopf des Thieres festgelegt werden, da andernfalls der bewegliche Kopf des in Muskelkrämpfen liegenden Thieres nicht selten in der heftigsten Weise am Boden aufgeschlagen und namentlich an den Hörnern verletzt wird.

5. Bndlich soll die Schächtung nur durch erprobte Schächter ausgeführt werden.

b. Für Oesterreich-Ungarn.

Das k. und k. Ministerium des Aeußern machte der schweizerischen Gesandtschaft folgende Mittheilungen : ,,In der diesseitigen (cisleithanischen) Reichshälfte bestehen bezüglich des bei den Juden üblichen Schächtens keine speziellen Bestimmungen und es kommen bei dieser Tödtungsart lediglich die rituellen Vorschriften zur Anwendung.

,,In Ungarn besorgen die Israeliten die rituelle Tödtung der Thiere ihren religiösen Gesetzen entsprechend. In dieser Hinsicht ist auch die Anwendung des Gewerbegesetzes einer gewissen Beschränkung unterworfen, nachdem man in Ungarn der Ansicht ist, daß die Regelung dieser mit der israelitischen Religion eng zusammenhängenden Angelegenheit in den Wirkungskreis der israelitischen Konfession gehört, und derselben ohne einen schweren Gewissenszwang auch nicht entzogen werden kann, und zwar um so weniger, als das bei den Juden übliche Schächten dem Thiere eine viel leichtere Todesart bereitet, wie das bei den Christen größtentheils gebräuchliche Erschlagen, weiters weil die bestehenden gesundheitspolizeilichen Normen jede gebräuchliche Tödtungsarfc

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der Thiere gestatten und schließlich weil die Handhabung dieses rituellen Schächtens für die israelitischen Kultusgemeinden eine indirekte Steuerquelle bildet, ohne welche dieselben ihre religiösen, kulturellen und humanistischen Institutionen nicht zu erhalten im Stande wären. tt c. FUr Italien.

Es besteht keinerlei besondere Vorschrift über die Tödtung der Schlachtthiere; die Anwendung der israelitischen Schlachtmethode ist daher gäazlich freigegeben.

d. Für Frankreich.

. Es besteht kein diesen Gegenstand regelndes Staatsgesetz ; es bestehen auch keine bezüglichen Ortsreglemente.

Die Berichterstattung bezieht sich speziell auf folgende französische Städte: P a r i s : ,,Die für das israelitische Schlachthaus bestimmten Thiere werden gemäss dorn Mosaischen Gesetze ,,geopfert" (sacrifiés); diese Tödtungsart ist durch kein Reglement normirt und vollzieht «ich nach einer sehr alten Uebung. a Lyon, Nizza, Bordeaux, Besançon, Nantes, Mars e i l l e , Le H a v r e und N a n c y : Die Schlachtung nach israelitischem Ritus ist unbeschränkt gestattet.

A l g i e r : ,,Die dem jüdischen Ritus entsprechende Schlachtmethode wird genau befolgt Da kein bezügliches Reglement besteht, so k,anu jeder Metzger verfahren, wie er will, und da die Schlächter ausnahmslos Araber sind, so erfolgt die Tödtung durch den Halsschnitt bei allen Thieren, mögen sie für Europäer oder für Araber bestimmt sein. (Die muselmanische Religion verpflichtet ihre Anhänger ebenfalls zur Tödtung der Schlachtthiere durch den Halsschnilt.)

e. FUr Nord-Amerika.

Es bestehen in den Vereinigten Staaten keinerlei Gesetze oder Réglemente, welche sich auf das Schächten beziehen; dasselbe wird überall als ein ritueller Akt gestattet.

Für christlich^ Händler, sagt der Schweizer Konsul in NewYork in einem Schreiben an die Gesandtschaft vom 29. Juni 1888, wird das Schlachtvieh entweder geschlagen oder geschachtet, je nach Bestellung; für den jüdischen Bedarf dagegen muß es ge-

651 schachtet werden, um ,,koscher" zu sein, und darauf wird hier sehr strenge gehalten. Derselbe fügt bei: ,,Ueberdies hat in den letzten Jahren die mosaische Vorschrift resp. die Methode des Schächtens sich auch in christlichen Schlachthäusern mehr Eingang verschafft, weil dieselbe weniger zeitraubend ist und ganz im Einklänge mit den Verordnungen der Thierschutzvereine steht, die sich zur Verhütung von Grausamkeiten gegen Thiere gebildet haben."

Das schweizerische Konsultat in St. Louis schreibt der Gesandtschaft in Washington unterm 24. Juli 1888 : ,,Das hiesige freisinnige israelitische Element kümmert sich im Allgemeinen nicht um die mosaischen Vorschriften bezüglich des Schächtens, dagegen werden dieselben von den Orthodoxen beobachtet."

Hinwieder berichtet der Stellvertreter des schweizerischen Konsuls in Gai veston (Texas) unterm 22. September 1888 der Gesandtschaft: ,,Ich selbst wohne hier seit 42 Jahren und kann berichten, daß weder von Seiten des Staates Texas, noch seitens unserer Munizipalbehörden eine Verordnung mit Bezug auf die isrrtelitische Tödtungsart des Schlachtviehs je erlassen ist. Ferner kann ich, nach Erkundigungen bei mehrern mir persönlich bekannten Juden, erwähnen, daß hier seit Jahren eia Schächter nicht praktizirt und daß die Mitglieder der Gemeinde sieh darein gefunden haben, das in den Markt kommende Fleisch zu kaufen wie andere Leute."

f. Für Belgien.

Alle Schlachtmethoden sind zuläßig ·o und im Gebrauche.

g. FUr Rußland.

Die Schlachthäuser sind ausschließlich den städtischen Behörden unterstellt.

Die israelitische Schlachtmethode wird als eine alte Uebung betrachtet und ungehindert angewendet.

h. FUr England.

Weder Gesetze noch Réglemente regeln diese Materie.

Die Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten gegen die Thiere schreibt dem schweizerischen Generalkonsulate in London, daß sie sich nicht für berechtigt halte, das Gesetz, welches die Grausamkeit gegen Thiere bestraft, auf die israelitische Schlaehtmethode anwenden zu lassen, möge diese auch etwas grausamerBimdesblatt. 42. Jahrg. Bd. I.

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652 sein als neuere Methoden ; die jüdische Methode beruhe eben auf religiösem "Ritus.

F.

Da der Eingang der Antworten auf die vom eidgenössischen Justizdepartement an die schweizerischen Vertreter im Auslande gerichtete Anfrage voraussichtlich nicht so bald zu erwarten stand, sah sich das Departement veranlaßt, den Parteien mitzutheilen, daß es diese Erhebungen veranstaltet habe.

Die Regierung des Kantons Aargau wurde überdies eingeladen inzwischen den Status quo nicht zu verändern.

Die aargauische Regierung legte diese Einladung dahin aus, daß das Gesetz über das Viehschlachten der aargauischen Juden vom 13. November 1855 auch jetzt noch in seiner l o k a l e n Beschränkung zu belassen und Uebertretungen desselben zu bestrafen seien.

Gegen diese Auffassung erhoben sich die israelitischen Kultusgemeinden in Bremgarten und Baden. Sie fanden die Unterstützung des Gerneinderathes von" Baden, der am 7. Dezember 1888 in einer Beschwerdeschrift an den Bundesrath sich wandte, um von diesem eine die Interpretation der aargauischen Regierung berichtigende Verfügung zu erlangen.. Eventuell wurde vom Gemeindevorstand das Begehren gestellt, es möge der Rekurs über die Schächtfrage beförderlichst entschieden werden, ,,damit die zur Zeit im Kanton Aargau herrschenden verfassungswidrigen und inhumanen Bestimmungen und Beschränkungen in Bezug auf das rituelle «Schächten der aargauischen Juden möglichst rasch beseitigt werden.tt Ueber diese Beschwerde wurde die Vernehmlassung des Regierungsrathes von Aargau eingeholt. Derselbe beharrte auf seinem Standpunkte. Es erfolgte jedoch ein Entscheid des Bundesrathes darüber nicht, da Aussichten vorhanden waren, den ganzen Streit .gütlich beizulegen.

G.

Von den Israeliten in Genf wird der Akt des Schächtens in der Weise vollzogen, daß dem Schlachtthiere unmittelbar nach dem Halsschnitt ein G e n i c k s t i c h beigebracht wird. Auf diesen Modus procedendi haben sich in Genf am 22. Januar 1886 der dortige Thierschutzverein und das dortige Groß-Rabbinat vereinigt ; es wurde ein bezügliches Reglement aufgestellt, das am 16. April 1886 die Genehmigung des Genfer Staatsrathes erhielt. Die Detailbestimmungen dieses Reglements beziehen sich auf den ganzen Akt des Schächtens u'nd bezwecken. namentlich auch, die Vorbereitung

653 desselben für das Thier möglichst wenig qualvoll zu machen. Den Genfer Thierschutzverein befriedigen diese Bestimmungen so sehr, daß er sieh veranlaßt sah, dem Bundesrathe in einem Schreiben vom 7. Juni 1889 dieselben als Vergleichsgrundlage in dem schwebenden Rekursstreite zu empfehlen.

Der Bundesrath erwiederte auf dieses Schreiben, daß ihm die Genfer Vereinbarung bereits bekannt sei, er habe indessen mit Vergnügen von der Anregung des dortigen Thierschutzvereins Akt genommen, da sie ihm beweise, daß sich der Standpunkt der Thierschutzfreunde mit demjenigen israelitischer Kultusgenossen versöhnen lasse.

Der aargauische Rekursstreit konnte,jedoch nicht durch Vergleich erledigt werden. Mit den Vorständen der aargauischen israelitischen Gemeinden, die auf endliche Erledigung der Sache durch buudesbehördlichen Entscheid drangen, trafen in dieser Beziehung zusammen der aargauische Thierschutzverein und der Zentral vorstand der schweizerischen Thierschutz vereine. Am 15. März 1889 beschloß die Delegirtenversarnmlung der schweizerischen Thierschutzvereine mit allen Stimmen gegen diejenige der Sektion St. Gallen (Vertreter Herr Rabbiner Dr. Engelbert) in der Schächtfrage, was folgt: ,,Die DelegirtenversammluQg ertheilt dem Zentral vorstände die Vollmacht, die erforderlichen Schritte zur Erreichung einer einheitlichen Schlachtmethode in der ganzen Schweiz, mit vorgängiger Betäubung des Schlaehtthieres, zu thun und nöthigenfalls die zur Abänderung oder Ergänzung der Bundesverfassung nöthigen 50,000 Unterschriften zu sammeln.* Mit Schreiben vom 30. Juli 1889 frug der Zentral vorstand den Bundesrath an, ob ein Entscheid über die Beschwerde der Israeliten gegen den Beschluß des aargauischen Großen Rathes in naher Zukunft in Aussicht stehe, woran er die Bemerkung schloß : ,,Sie wollen uns diese Anfrage zu gute halten. Verschiedene Erscheinungen nöthigen uns zu entschiedenem Vorgehen in der Frage und dies um so mehr, als wir mit dem Kompromiß des Thierschutzvereins in Genf mit dem dortigen Rabbinate uns in keiner Weise einverstanden erklären können. Betäubung des Schlaehtthieres vor der Blutentziehung ist unser Ceterum censeo gegenüber israelitischen und christlichen Schlächtern."

H.

Mittelst einer Eingabe vom 19. September 1889 haben sich die israelitischen Kultusvereine des Kantons Bern, vertreten durch

654

Herrn Fürsprecher Salili in Bern, mit einer Vorstellung an den Bundesrath gewandt, in welcher mitgetheilt wird, daß der bernische Regierungsrath unterm 14. August 1889 eine Verordnung über das Schlachten von Vieh und über den Fleischverkauf erlassen habe, welche, im Amtsblatt vorn 20 August publizirt, in Artikel 13 die folgende Bestimmung enthält: ,,Die Tödtung eines Schlachtthieres ist rasch und sicher und unter Vermeidung jeder Thierquälerei nach vorheriger Betäubung durch einen genügend kräftigen Schlag auf den Kopf oder durch die Anwendung einer richtig konstruirten Schlachtmaske vorzunehmen.

,,Das sogenannte Schächten oder Halsanschneiden, sowie das Kopfabschneiden ohne vorherige Betäubung ist untersagt* Nach dem Schlußartikel 20 soll diese Verordnung sofort in Kraft treten.

Die Vorstellung der israelitischen Kultusvereine des Kantons Bern erklärt, daß diesesi Verbot des rituellen Schlaehtens dem Verbote des FleischgenuHses für sie gleichkomme und sie in die Nothlage versetze, gegen die fragliche Verordnung den Schutz der Bundesbehörden anzurufen.

Die bernischen Israeliten schließen sich in dieser Angelegenheit ihren aargauischen Glaubensgenossen an und machen die Eingabe der letzteren inhaltlich zu der ihrigen; sie halten dafür, daß die Agitation gegen das Schächten lediglich durch antisemitische Vorurtheile hervorgerufen wurde.

Allerdings habe die bernische Regierung unterm 14. September 1889 die Direktion des Innern ermächtigt, das Verbot des Schächtens bis zum 15. November EU suspendiren, ,,um den Israeliten Gelegenheit zu geben, die nach der neuen Verordnung über das Tödten des Schlachtviehs tiöthigen Einrichtungen zu treïïena ; allein diese transitorische Konzession könne selbstverständlich die Petenten nicht beruhigen, sondern weise um so mehr auf eine grundsätzliche Lösung der Frage durch die Bundesbehörden hin.

Die Petenten stellen daher beim Bundesrathe das Gesuch: 1) Es sei die fragliche Verordnung, insoweit sie ein Verbot des sogenannten Elchächtens enthält (Art. 13), als im Widerspruch stehend mit der schweizerischen Bundesverfassung (Art. 49 und 50j aufzuheben, und 2) vorgehend die bernische Regierung anzuweisen, bis zu endgültiger Erledigung dieser Frage die Vollziehung gedachter Verordnung, soweit sie das jüdische Schächten betrifft, zu suspendiren.

655 Der Bundesralh hat der Berner Regierung diese Vorstellung zur Einsichtnahme und gutscheinenden Vernehmlassung übermittelt, mit dem Bemerken, er werde demnächst über den einschlägigen Rekurs der aargauischen Israeliten Beschluß fassen und ersuche daher die Regierung um beförderliche Einsendung allfälliger Gegenvorstellungen, inzwischen aber um Suspension der Vollziehung des Art. 13 ihrer Verordnung vom 14. August 1889 über das Schlachten von Vieh und den Fleischverkauf, soweit sich derselbe auf das Schächten bezieht.

I.

In ihrer Vernehmlassungsschrift vom 4. Dezember 1889 macht die bernische Regierung vorest darauf aufmerksam, daß bei den Israeliten selbst darüber, ob das Schächten in seiner jetzigen Form eine unabänderliche religiöse Satzung sei, verschiedene Ansichten herrschen und eine ganze Reihe von Autoritäten die Abänderung des Schächtens befürworten, weil sie dasselbe lediglich als eine rabbinische Observanz und nicht als eine feste bindende religiöse Vorschrift betrachten.

Sodann bespricht sie, unter der Voraussetzung, daß das Schächten eine Kultushandlung sei, die Frage, ob dasselbe nicht trotzdem als den Geboten der Humanität, d. h. der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung, zuwiderlaufend verboten werden dürfe und solle, und sie kommt zum Schlüsse, daß das Verbot des Schächtens gerechtfertigt sei, da das Schächten erweislichermaßen grausamer, qualvoller, schmerzhafter sei, als die sonst üblichen Methoden.

Diesen Nachweis will die Regierung wie folgt erbringen.

Durch Artikel 13 der Verordnung vom 14. August 1889 wird vorgeschrieben, daß die Tödtung eines Schlachtthieres s t e t s e r s t n a c h v o r h e r i g e r B e t ä u b u n g zu geschehen habe; die Betäubung ist durch Gewalteinwirkung auf den Kopf, welche eine Hirnerschütterung oder Hirnzertrümmerung zur unmittelbaren, sofortigen Folge hat, zu bewirken. Mit der Hirnersehütterung ist die plötzliche Aufhebung des Schmerzempfindungsvermögens verknüpft.

Umgekehrt bedingen beim israelitischen Schlachtverfahren schon die Vorbereitungen unnöthige Quälereien des Thieres, ja es entstehen beim Niederstürzen desselben nicht selten Brüche der Hörner und des Darmbeines, während die übrigen Schlachtmethoden, solcher Vorbereitungshandlungen nicht bedürfen.

Die durch den Halsschnitt verursachte ausgedehnte Wunde wird dem Thiere bei vollem Empfindungsvermögen beigebracht.

656 Hautschnitte gehören aber bekanntlich zu den schmerzhaftesten chirurgischen Eingriffen.

Nach Durchschneidung der Halsgefässe tritt die Empfindungslosigkeit nicht plötzlich ein, besonders da der Kopf tief zu liegen kommt und darum die Blutleere des Gehirns nicht augenblicklich zu Stande kommt.

Nach Lydtin, Meclizioalreferent im großherzoglich badischen Ministerium des Innern, rea.girt das Thier (nach dem Halsschnitte) noch- während 2 bis 4 Minuten gegen die Berührung des Äug-, apfels mit dem Finger, gegen Eibstiche in die Haut und gegen das Eingreifen in die Ohren. Während dieser Zeit dauert der Wundschmerz fort.

Daraus zieht die Berner Regierung den Schluß, daß das Schächten, selbst wenn es vorzüglich ausgeführt wird, einen minutenlang anhaltenden schmerzhaften Todeskampf des Thieres bedinge und darum grausamer, qualvoller und schmerzhafter sei, als die in der bernischen Schlachtverordnung gestatteten Methoden der Tödtung.

Allerdings kommen bei jeder Methode Fälle des Mißlingens vor, sowohl beim Schlag auf den Kopf, als auch beim Schächten (das sogenannte ,,Nabeln"1) ; allein die bernische Verordnung bestimme ausdrücklich, die Tödtung sei rasch und sicher und unter Vermeidung jeder Thierquälerei vorzunehmen, worauf gestützt die Regierung ungeschickten Metzgern die Ausübung des Schlachtens untersagen würde.

Auf Grund dieser Ausführungen bestreitet die Regierung von Bern, daß das Verbot dea Schächtens im Widerspruch stehe mit Art. 49 und 50 der Bundesverfassung, und beantragt daher Abweisung des Rekurses der israelitischen Kultusvereine des Kantons Bern gegen Artikel 13 der Verordnung vom 14. August 1889.

i

K.

Im Namen der israelitischen Kultusvereine des Kantons Bern hat Herr Fürsprecher Salili am 31. Dezember 1889 dem Bundesrathe als Entgegnung auf die Ausführungen der Berner Regierung folgende Bemerkungen eingereicht : 1. Die sogenannten israelitischen Autoritäten,i welche die AbCT änderung des Schächtens befürworten, weil sie dasselbe nicht als eine bindende religiöse Vorschrift betrachten, sind in Sachen des israelitischen Glaubens keine Autoritäten. Es gibt, wie innerhalb jeder Religionsgemeinschaft, so auch im Judenthum Ungläubige.

657 Ein von Geburt dem Christenthum angehörender Gottesläugner, welcher sich über die religiösen Glaubenssätze und Gebräuehe der Katholiken und Protestanten hinwegsetzt, mag vielleicht über viel Gelehrsamkeit verfügen, von den christlichen Glaubensgenossen aber kann er nicht als Autorität in Religionssachen anerkannt werden. Das Schächten ist ein Gebot, eine Kultushandlung der israelitischen Religion, dessen Verbindlichkeit von keinem rechtgläubigen Juden bezweifelt wird. ' 2. Die von der Regierung anempfohlene Betäubung des Schlachtthieres durch Gewalteinwirkung auf den Kopf ist bis zur Stunde eine sehr unsichere und unzuverläßige Operation und eben deßwegen grausamer und qualvoller, als der sichere und rasche Halsschnitt des Schächtens. Tritt die völlige Betäubung des Thieres nicht beim ersten Schlage ein, so sind die Qualen desselben weit intensiver und erschreckender als beim Halsschnitt. Die Erklärung der Regierung, daß, sie ungeschickten Metzgern die Ausübung des Schlachtens untersagen werde, bietet diesfalls keine genügende Beruhigung.

Gerade die bekannte Barbarei des Schiagens hat zur Erfindung der Schuß- und Schlagmaske geführt; allein die Erfahrung hat auch diesem Modus die Zuverläßigkeit abgesprochen.

Daß beim Niederwerfen der Thiere nicht selten Brüche der Hörner und des Darmbeines entstehen, wird von den heroischen Rekurrenten bestritten. In Bern sind solche Vorfälle durchaus unbekannt. Bei der Art des Fällens, die beim Schächten angewendet wird, sind sie überhaupt nicht wahrscheinlich.

Der Vertreter der israelitischen Kultusvereiue des Kantons Bern schließt seine Bemerkungen mit der Versicherung, daß es sich für die Rekurrenten um eiue Glaubens- und Gewissensfrage von ernstester Bedeutung handle.

L.

In gleichem Sinne, wie die bernischen Israeliten, hat sich in einer Zuschrift an den Vorsteher des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 19. Dezember 1889 der Großrabbiuer in Genf, Herr Professor Wertheimer, ausgesprochen.

M.

Am 20. September 1889 ersuchte das antragstellende Departement den Herrn Direktor der Thierarzneischule in Zürich, J. Meyer, um die Begutachtung folgender Fragen :

658

1) Ist die rituelle Schlachtmethode der Israeliten (das Schachten) eine für das Thier dergestalt qualvolle Tödtungsart, daß sie als Thierquälerei bezeichnet werden kann?

2) Ist das mit dem Schächten verbundene Maß der Grausamkeit größer als dasjenige der ändern bekannten, gegen Schlachtthiere zur Anwendung kommenden Tödtungsarten?

3) Welche Vorkehrungen, Manipulationen u. s. f. sind zu treffen, sei es vor dem Akte des Schächtens, sei es unmittelbar nach demselben, um das Maß der Grausamkeit auf ein Minimum zn beschränken?

Herr Direktor Meyer hat unterm 28. Oktober 1889 sein Gutachten abgegeben; dasselbe lautet: ,,ad Frage j.

,,Es ist nicht leicht, den Begriff Thierquälerei genau zu definiren, indessen kann man im Allgemeinen sagen, daß man als eine solche jede Behandlung von Thieren auffassen kann, durch welche denselben mit Absicht und unnöthiger Weise oder über Gebühr lange Zeit Qualen verursacht werden. Will man nun das Schächten von diesem Gesichtspunkte aus beurtheilen, so hat man nach meinem Dafürhalten zunächst in1 s Auge zu fassen, daß diese Tödtungsart in zwei, wenn auch unmittelbar sich aneinander anschließende Akte zerfällt, nämlich in das Fesseln und Niederwerfen des Thieres und sodann das eigentliche Sehächten, d. h. die Applikation des Halsschuittes, infolge dessen das Thier durch Verblutung stirbt.

,,Was nun den ersten «Akt betrifft, so wird derselbe beim vollen ungestörten Bewußtsein des Thieres vollzogen. Es darf angenommen werden, daß schon das Einführen in das Schlachthaus dasselbe ahnen läßt, daß seiner hier etwas Ungewöhnliches wartet.

Um so mehr müssen dann die Manipulationen des Festbindens des Kopfes, das Anlegen der Fesseln und namentlich das etwas langsame Zusammenziehen der Füße und das Abziehen derselben vom Boden bis zum Niederfallen, sowie dann noch das Aufheben derselben bis das Thier nahezu auf den Rücken zu liegen kommt, dasselbe in hohem Grade beängstigen. Der höchste- Grad der Beängstigung während dieses Aktes dürfte dann bei der Zurechtlegung des Kopfes eintreten.

,,Ich komme daher dazu, diesen Theil der in Rede stehenden Tödtungsart unbedingt als Thierquälerei zu qualiflziren.

,,Der Halsschnitt wird dann ungewöhnlich rasch vollzogen, muß aber äußerst schmerzhaft sein. In diesem Moment ist dns Thier noch bei vollem Bewußtsein, allein es muß dieses infolge des

659 ebenso rasch eintretenden enormen Blutverlustes gewiß auch äußerst rasch verloren gehen. Wenn auch dabei nicht jede Kommunikation des Herzens mit dem Hirn aufgehoben wird und z. ß. während der Blutung aus der klaffenden Halswunde durch die Rückenmarksarterie dem Hirn noch etwas Blut zufließen kann, so möchte ich hierauf nicht so viel Gewicht legen, denn mir will scheinen, daß im Hirn ungewöhnlich, rasch eine Blutleere eintritt, bei welcher das Bewußtsein nicht mehr bestehen kann.

,,Den Genickstich, welcher in diesem Moment angebracht wird, kann man außer Betracht lassen. Infolge desselben werden ja nur die Reflexbewegungen reduzirt oder vielleicht ganz unmöglich, so daß das Thier mehr oder weniger ruhig liegt, bis es ausgeblutet hat. Wenn dieses Ausbluten dann auch noch einige Zeit in Anspruch nimmt, so kann das auch nicht mehr viel auf sich haben, da jetzt Bewußtlosigkeit besteht.

,,Nach meiner Ansicht kann man diesen Akt des Schächtens nicht mehr zu den thierquälerischen Handhingen rechnen."

,,ad Frage 2.

,,Ich beschränke mich darauf, nur die übrigen bei uns üblichen Schlachtmethoden in Vergleich zu ziehen, und lasse die ändern unberücksichtigt. Jene haben das mit einander gemein, daß immer vor dem Stechen das Bewußtsein aufgehoben wird. Selbst bei Kälbern und Schweinen, welche früher auch ohne Zerstörung des Bewußtseins abgestochen wurden, wird jetzt Bewußtlosigkeit durch Stirn- oder Genickschlag erzeugt. Auch die Vorbereitungen dazu nehmen kürzere Zeit in Anspruch. Diese hier üblichen Schlachtmethoden müssen daher weniger qualvoll sein.a ,,ad Frage 3.

,,Es geht schon aus dem oben Gesagten hervor, daß zu diesem Zweck die Vorbereitung (Fesselung und Niederwerfen) modifizirt oder durch andere Handlungen ersetzt werden sollte, damit rascher Bewußtlosigkeit einträte. Das Einfachste und Zweckmäßigste wäre ein Schuß in den Schädel, wie das ja vielfach mittelst der sogen.

Schußmaske praktizirt wird.

,,Für irgend welche Manipulationen während des Schächtens oder im Termine der Verblutung, noch weniger nachher, scheint mir gar kein Bedürfniß mehr vorzuliegen.

,,Ich resümire demgemäß folgendermaßen : ,,1) Der vorbereitende Akt des Schächtens ist als Thierquälerei zu betrachten, dagegen verdient das eigentliche Schächten.

660

diese Qualifikation nicht mehr. Wenn aber diese Schlachtung als Ganzes in'« Auge zu 'fassen ist, so wäre ich eher geneigt, dieselbe als thierquälerischer Natur zu bezeichnen.

,,2) Von allen bei uns üblichen Schlachtmethoden muß das Schächten da? Gefühl des Zuschauers wohl am meisten verletzen.

,,3) Wenn jener vorbereitende Akt durch eine andere Handlung, die rascher Bewußtlosigkeit herbeiführt, wie z. B. die Anwendung der Schußmaske, ersetzt werden könnte, so wäre auch das Schächten den ändern üblichen Tödtungsarten gleichwerthig zu taxiren.a M".

Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte haben sich die ersten Autoritäten auf dem, Gebiete der Thierphysiologie über die Frage, ob das Schächten an sich als Thierquälerei zu bezeichnen sei, in verneinendem Sinne ausgesprochen, unter denselben Virchow, Du Bois-Reymond, Gerlach, Fick, Grützner.

Dem Deutschen Reichstage lagen, als er im Jahre 1887 diese Frage behandelte, nicht weniger als 55 Gutachten von Professoren der Physiologie an den Universitäten Deutschlands und sonstigen wissenschaftlichen Autoritäten Deutschlands und des übrigen Buropa vor, und alle diese Gutachten, ohne eine einzige Ausnahme, erklärten, daß bei dem Schlachten der Thiere nach der israelitischen Methode unter Beobachtung der nöthigen Schutz- und Vorsichtsmaßregeln von Thierquälerei nicht gesprochen werden könne ; inErwägung: 1. Der Bundesvath kann sich bei Beurtheilung der Frage, ob das Schächten durch das mosaische Gesetz vorgesehrieben und infolge dessen eine Kultushandlung der Israeliten sei, jeder dogmatisch-kritischen Untersuchung entschlagen. Es muß ihm zur Feststellung dieses Punktes genügen, daß zwei israelitische Ortsbürgergemeinden und zwei israelitische Kultusgemeinden des Kantons Aargau, daß mit 104"Î Unterschriften bedeckte Petitionen von Israeliten aus 36 schweizerischen Ortschaften, daß sämmtliche israelitische Kultusvereine des Kantons Bern, daß endlich, mit ganz verschwindend geringen Ausnahmen, die Israeliten der übrigen europäischen und außereuropäischen Staaten das Schächten als eine auf religiöser Satzung beruhende, rituelle Handlung erklären, und daß die Israeliten überall, wo sie sich aufhalten, das Schächten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit ausüben.

661 Angesichts dieser Thatsachen ist das Schächten als eine gottesdienstliche Handlung der Israeliten anzuerkennen.

2. Artikel 50, Absatz l, der Bundesverfassung gewährleistet ,,die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung.11 Die Botschaft des Bundesrathes betreffend die Revision der Bundesverfassung, vom 4. Juli 1873 (Bundesblatt 1873, II, 963), spricht sich über diese Bestimmung aus, wie folgt : ,,Die Ausübung einer Religion ist ein Ausfluß der individuellen Freiheit in gleicher Weise, wie die ändern Urrechte des Individuums. Diese Ausübung findet ihre Schranke nur in der öffentlichen Ordnung und den guten Sitten. Jeder Kultus, welcher diese Schranke respektirt, hat ein Anrecht nicht bloß auf Duldung, sondern auf den Schutz des Staates."

Da das Schächten eine gottesdientliche Handlung ist. so kann daher für dasselbe der Rechtsschutz des Staates (Bundes) angerufen werden, wenn es nicht gegen die Gebote der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung verstößt.

3. Wie bei der unter Ziffer l besprochenen konfessionellen Frage von einer dogmatisch-kritischen Untersuchung abgesehen wurde, ebenso kann und muß sich der Bundesr.ath bei Feststellung des Begriffes der Sittlichkeit philosophisch-ethischer Erörterungen enthalten. Der Staat hält sich an die Dinge, die in konkreter Gestalt seiner Betrachtung sich darbieten. Das Sittliche nun wird für ihn wahrnehmbar in der S i t t e . Die Sitte erscheint als das in der menschlichen Gemeinschaft Gültige, Gebräuchliche; die gute Sitte als das normal Menschliche.

Das normal Menschliche ist indessen nicht blos etwas Gegebenes, der Inbegriff der menschlichen Anlagen, sondern auch etwas Erworbenes. Um als persönlich sittlich zu gelten, muß der Mensch demjenigen, was ihm als das Allgemein-Menschliche vor Augen tritt, sich unterordnen und diese Unterordnung als seine Pflicht erkennen. Die für den Staat wahrnehmbaren und von ihm festzuhaltenden Schranken der Sittlichkeit sind daher die Gebote der Menschlichkeit, welchen sich die Völker, wie die Individuen, pflichtgemäß zu unterwerfen haben.

Es kann sonach der Berner Regierung beigestimmt werden^ wenn sie die Gebote der Menschlichkeit mit denen der Sittlichkeit auf die gleiche Linie stellt. Unmenschlich ist auch unsittlich.

662 Unter den Pflichten, welche die gute Sitte dem Menschen auferlegt, steht in vorderster Reihe eine gerechte und rücksichtsvolle Behandlung seiner Mitgeschöpfe.

Von diesem Standpunkte aus ist die T h i e r q u ä l e r e i , d. h.

eine solche Behandlung des Thieres, bei welcher der Mensch aus Bosheit oder Unverstand dem Thiere Qualen zufügt, als etwas Unsittliches zu bezeichnen ; denn dieselbe verletzt nach allgemeinem Urtheil die menschliche Würde und die Rücksichten, welche der Mensch dem Thiere schuldet; sie wird auch durch die staatliche Gesetzgebung geradezu mit Strafe bedroht.

Wenn die rituelle Schlachtmethode der Israeliten, das Schächten, eine Thierquälerei ist, so kann für dasselbe nicht der in Artikel 50, Absatz l, der Bundesverfassung ausgesprochene Rechtsschutz iu Anspruch genommen werden.

4. Nach dein durch die Akten festgestellten Stande der Schächtfrage auf legislativem und auf fachwissenschaftlichem Gebiete in den verschiedenen EAilturstaaten Europa's und Nordamerika^, sowie nach den Schlüssen des vom eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartemente bera.thenen Fachmannes kann das Schächten nicht schlechthin als Thierquälerei bezeichnet werden ; dagegen erscheint es als eine Methode des Viehschlachtens, welche vermöge der Vorbereitungshaodlungen und der Art der Ausführung dem Thiere unnöthige Qualen bereiten kann, wenn nicht eine Reihe von Vorsichts- und Schutzmaßregeln getroffen und aufs Genaueste beobachtet werden.

In dieser Beziclmng enthalten die oben unter Littera E der Fakten angeführten Ortspolizeiverordnungeu deutscher Städte, sowie das Kreisschreiben der preußischen Minister der Kultus-, Unterrichtsund Medizinalangelegenheiten und des Innern an die königl. preuß.

Regierungen vorn 14. Januar 1889 diejenigen Anforderungen in Bezug auf das Schächten, welchen zur Vermeidung von Thierquälerei genügt werden muß.

6. Daß das Schachten, abgesehen von der Frage der Thierquälerei, der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufe, ist von keiner Seite behauptet; in dieser Richtung gibt daher die in Art. 50, Absatz l, der Bundesverfassung enthaltene Beschränkung der Kultusfreiheit im Rekursfalle zu keinen weiteren Erörterungen Anlaß.

6. Aus dem gesagten ergibt sich, daß ein unbedingtes Verbot des Schächtens mit Art. 50, Absatz l, der Bundesverfassung im Widerspruche steht und daher nicht zu Recht bestehen kann,

663

daß es sich dagegen rechtfertigt, das Schächten nur unter den bei Ziffer 4 erwähnten Bedingungen zu gestatten ; beschlossen: I. Die Rekurse werden insofern als begründet erklärt, als dieselben gegen ein unbedingtes Verbot des Schächtens durch die kantonale Gesetzgebung gerichtet sind.

II. Gegen kantonale Gesetze und Verordnungen oder Ortspolizeireglemente, welche im Sinne der Erwägung 4 das Schächten bloß bedingungsweise gestatten, ist von Bundes wegen nichts einzuwenden.

III. Dieser Beschluß ist in je einer Ausfertigung den Regierungen der Kantone Aargau und Bern, den israelitischen Ortsbürgergemeinden Neu-Endingen und Neu-Lengnau und den israelitischen Kultusgemeinden Baden und Bremgarten, dem Herrn Fürsprecher Sahli in Bern zu Händen der israelitischen Kultusvereine des Kantons Bern, sowie in Erledigung der sachbezüglichen Petition der Israeliten der Schweiz, vom Jahre 1888, dem Herrn L. DreyfusNeumann in Basel zu Händen der Petitionäre mitzutheilen.

B e r n , den 17. März 1890.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

L. Ruchonnet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesrathsbeschluß über 1) den Rekurs der israelitischen Ortsbürgergemeinden NeuEndingen und Neu-Lengnau und der israelitischen Kultusgemeinden Baden und Bremgarten im Kanton Aargau gegen die Maßnahmen der aargauischen Staatsbehörden, betreffend di...

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1890

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12

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Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

22.03.1890

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639-663

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