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Bericht des

Bundesrathes an die Bundesversammlung über den vom Staatsrathe des Kantons Tessin gegen den Bundesrath beim Bundesgerichte angehobenen Konflikt, betreffend die Kompetenz zur Erledigung der tessinischen Stimmrechtsrekurse von 1889 und zur Eröffnung einer mit der eidgenössischen Intervention von 1889 zusammenhängenden eidgenössischen strafgerichtlichen Untersuchung.

(Vom 2. Juni 1890.)

Tit.

Im Anschlüsse an die in unserm Geschäftsberichte für 1889 enthaltenen Mittheilungen über die mit der eidgenössischen Intervention im Kanton Tessin zusammenhängenden Fragen (Bundesbl. 1890, II, Seite 187 ff.) und unter Bezugnahme auf unsern einschlägigen Bericht vom 7. Juni 1889 (Bundesbl. 1889, III, Seite 361--583) halten wir es für angezeigt, Ihnen den Entscheid, welchen das Bundesgericht am 19. April d. J. in Sachen des sog. Kompetenzkonfliktes gefällt hat, zur Kenntniß zu bringen.

Der Staatsrath des Kantons Tessin hatte in einem Memorial vom 16. März, dem Bundesgerichte zugekommen am 26. April 1889, an den Gerichtshof folgende Anträge gestellt: ,,1. Es stehe dem Bundesrath die Kompetez nicht zu, über Rekurse von Tessinerbürgern, welche die Stimmberechtigung bei kantonalen Wahlen zum Gegenstande haben, zu entscheiden oder

192 zu dem Behufe amtliche Untersuchungen anzuordnen, sondern es sei hiefür nach Erschöpfung der kantonalen Instanzen einzig der staatsrechtliche Rekurs an das Bundesgericht zulässig.

,,2. Dem Bundesrath stehe die Kompetenz nicht zu, Strafuntersuchungen durch eidgenössische Beamte anzuordnen, für Vergehen, welche bei Anlaß der kantonalen Großrathswahlen begangen worden sind und sich weder als politische, noch auch als Ursachen oder Folgen einer verfassungsmäßig angeordneten bewaffneten eidgenössischen Intervention darstellen.

,,3. Es sei in Folge dessen die auf Anordnung des Bundesrathes durch Beschlüsse desselben vom 7. und 25. März durch den eidgenössischen Generalanwalt Bezzola und den eidgenössischen Untersuchungsrichter Dedual angehobene Strafuntersuchung, wegen der in obigen Beschlüssen näher bezeichneten Vergehen, aufzuheben und die Kompetenz des Kantons Tessin anzuerkennen.

,,4. Dem Bundësrathe stehe die Kompetenz nicht zu, eine von dem Großen Rathe des Kantons Tessin beschlossene Strafuntersuchung gegen diejenigen Gemeinderäthe, welche durch Verfügung der Regierungsstatthalter und der Regierung vom Stimmrecht ausgeschlossene Bürger zur Stimmabgabe zugelassen haben, zu untersagen oder zu hemmen.

,,5. Es sei die gewaltsame, auf Befehl des eidgenössischen Kommissärs angeordnete Freilassung Belloni's als ungesetzlich zu erklären und zu kassiren."

Der Bundesrath beantragte in seiner Antwort vom 7. Juni 1889 : l") Es sei das staatsräthliche Begehren betreffend die Stimmrechtsrekurse wegen Inkompetenz des Bundesgerichts abzuweisen, da es sich ja, nach dem Antrage des Staatsrathes selbst, nicht um einen Konflikt zwischen Bundes- und Kantonsgewalt, sondern bloß um die Frage handle, ob der Bundesrath oder das Bundesgericht zur Rekursbehandlung kompetent sei.

2) Es sei auf die Begehren des Staatsrathes betreffend die Strafuntersuchungen zur Zeit nicht einzutreten.

3) Es seien die Begehren betreffend die gleichzeitige eidgenössische und kantonale Straf Untersuchung und die Freilassung Belloni's als unbegründet abzuweisen.

Nachdem der Schriftenwechsel zwischen den Parteien a 7. September 1889 geschlossen worden, gelangte der Gegenstand am 18. und 19. April 1890 zur bundesgerichtlichen Verhandlung.

193 Das Bundesgericht fußte darüber am zweiten Verhandlungstage nachstehende Entscheidung: Ueber d a s e r s t e R e k u r s b e g e h r e n d e r T e s s i n e r Regierung.

,,l. Es gilt als feststehender Grundsatz des »schweizerischen Bundesstaatsrechtes, daß eine Kompetenzstreitigkeit zwischen Bund und Kantonen erst dann vorliege, wenn die Bundesbehörde einen Beschluß gefaßt hat, welcher von einer Kantonsregierung als den Bereich der Bundesgewalt überschreitend augefochten wird (vergi.

Blumer Morel, ,,Handbuch des Schweiz. Bundesstaatsrechts", Bd. III, S. 80). Damit also vorliegend das Bundesgericht mit Sachkenntniß darüber urtheilen könne, ob der Bundesrath, wie die Tessiner Regierung behauptet, die Grenzen seiner Jurisdiktion, sei es zum Nachtheil der kantonalen Gewalt, sei es zum Schaden der Befugnisse einer andern Bundesbehörde (Art. 56, Abs. l und 3, des eidg. Rechtspflegesetzes), überschritten habe, muß dies vorerst aus einem Beschlüsse hervorgehen, in welchem der Bundesrath sich über seine Kompetenz bezüglich jeder einzelnen der in Frage stehenden Beschwerden kategorisch ausgesprochen hat. Nun läßt sich zwar nicht leugnen, daß in seinem Sehreiben an den Tessiner Staatsrath vom 26. Februar 1889 der Bundesrath zum Voraus, nach großen Zügen, die Normen angegeben hat, an der Hand welcher er allfällige, durch Weiterziehung an ihn gelangende Beschwerden solcher Tessinerbürger zu beurtheilen gedachte, die vom Rechte der Theilnahme an den Großrathswahlen vom 3. März Ausgeschlossen worden waren. Und es steht auch fest, daß der Bundesrath in seinen Rechtsschriften an (las Bundesgericht die Befugniß zur Beurtheilung der Stimmrechtsbeschwerden von Tessinerbürgern bei künftigen sowohl als bei stattgehabten kantonalen Wahlen und Abstimmungen für sich in Anspruch genommen hat.

Abgesehen aber davon, dass die in besagtem Schreiben erwähnten Normen nur einen Theil der vor und nach dem dritten März beim Bundesrath wirklich eingelegten Beschwerden betreffen, liegt es auf der Hand, daß das Schreiben selbst sowie auch bloße Rechtsschriften nicht als förmliche B e s c h l ü s s e über die einzelnen Streitfälle, hinsichtlich welcher allein das Bundesgericht einen ihm vorgelegten Konflikt zu lösen befugt ist, angesehen werden können.

Mehrere unter den genannten Beschwerden scheinen übrigens bis anhin noch
nicht den Gegenstand eines Entscheides von Seiten der Tessiner Regierung gebildet zu haben, während der Bundesrath selbst (auf S. 5 seiner Rechtsantwort) erklärt, daß er dem Staatsrathe als oberster kantonaler Administrativbehörde keineswegs

das Recht abgesprochen habe, über Stimmrechtsbeschwerden von Tessiner Bürgern zu urtheilen, sondern bloß die Kompetenz beanspruche, n a c h der Entscheidung der Kantonsregierung . . . solche Beschwerden zu behandeln und zu beurtheilen.

Es muß daher anerkannt werden, daß bis zur Stunde der Bundesrath sich noch in keiner definitiv verbindlichen Weise über die eigene Kompetenz in Betreff der einzelnen bei ihm eingelegten Rekursbeschwerden ausgesprochen hat, so daß dem Bundesgericht noch immer einer der Hauptfaktoren mangelt, worauf gestützt es entscheiden kann, ob der aufgeworfene Kompetenzkonflikt begründet oder unbegründet sei. Dies gibt übrigens der Bundesrath selbst wiederum ausdrücklieh zu, indem er auf S. 11 seiner Duplik, wo von seineu Urtheilsbefugnissen mit Bezug auf Art. 59, Ziff. 9 des eidg.

Rechtspflegegesetzes die Rede ist, sagt, daß er bis zur Stunde die Grenzlinie, bis zu welcher er in den vorliegenden Rekursfällen seine Kompetenz geltend machen will, noch nicht gezogen habe, und dies erst dann thun könue, wenn er zur Erledigung der einzelnen Rekurse schreiten werde.

Au dieser Rechtslage ändert der Umstand nichts, daß der Bundesrath die obenerwähnten Stimmrechtsbeschwerden entgegengenommen und rücksichtlieh derselben eine administrative UnterO suchung durch einen Bundesdelegirten angeordnet hat, -denn auch ein solches Verfahren schließt wiederum keinen materiellen Entscheid und daher auch keine ausdrückliche und direkte Anerkennung seiner sachbezüglichen Kompetenz in sich."

Ueber das zweite und dritte Rekursbegehren.

,,2. Die Tessiner Regierung stützt ihre Rechtsbegehren betreffend die Inkompetenz des Bundesrathes zur Anordnung von Strafuntersuchungen durch eidg. Beamte für Vergehen, welche bei Anlaß der kantonalen Großrathswahlen am 3. März begangen worden sind, und betreffend die Authebung der bezüglichen Beschlüsse hauptsächlich darauf, daß diese Vergehen sich weder als ,,politische", noch auch als Ursachen oder Folgen einer verfassungsgemäß (Art. 113, Ziff. 3, der B.-V.) angeordneten bewaffneten eidg. Intervention darstellen.

In dieser Hinsicht ist nun vorerst zu bemerken, daß die bewaffnete eidg. Intervention bereits von den zuständigen eidg. Räthen innerhalb der Grenzen ihrer verfassungsmäßigen Befugnisse (Art. 16, 71,85, Ziff. 7 und 9; 102, Ziff. 10 und 11, der B.-V.) genehmigt worden ist und daß diese Beschlüsse der Prüfung des Bundesgerichtes entzogen sind.

195 Wenn aber eine solche Genehmigung hierorts ohne weiteres als ein fait accompli betrachtet und behandelt werden muß, so folgt daraus nothwendig, einerseits, daß der Bundesrath -- formell wenigstens (Art. 4, 11 und 12 des Bundesgesetzes über die Strafrechtspflege) -- unzweifelhaft berechtigt war, die fraglichen Strafuntersuchungen anzuordnen, und andererseits, daß die von ihm aufgeworfene dilatorische Einrede als wohlbegründet zu erklären ist. Diese Strafuntersuchungen sind in der That noch nicht geschlossen und haben jedenfalls noch nicht zu den in Art. 29, 30, 31 und 40 des eidg. Strafrechtspflegegesetzes vorgesehenen Anträgen und Beschlüssen betreffend Fallenlassen oder Stellung der Anklage geführt, nach welchen erst ein allfälliger Entscheid über die Kompetenz der eidgenössischen an Stelle der kantonalen Strafgerichtsbebörden wird Platz greifen können. Erst dann wird sich auch herausstellen, ob man es hiermit einem Konpetenzkonflikte im Sinne der Art. 113. Ziff. l, B.-V., und 56, Abs. l, des eidg. Rechtspflegegesetzes zu thun habe oder nicht.a Ueber das vierte Rekursbegehren.

,,3. Aus den nämlichen Gründen erscheint es als logisch angezeigt, auch von einer Beurtheilung desjenigen Beschlusses zur Zeit völlig Umgang zu nehmen, durch welchen der Bundesrath die Anhebung der vom tessinischen Großen Rathe beschlossenen Strafuntersuchung gegen die Gemeinderäthe, welche durch Verfügung der Regierungsstatthalter und der Regierung vom Stimmrecht ausgeschlossene Bürger zur Stimmabgabe zugelassen haben, untersagte und hemmte. Es gilt demnach für fragliche Untersuchung, was oben mit Bezug auf die vom Bundesrathe selbst angeordneten eidg.

Strafuntersuchungen gesagt wurde, nämlich : es muß auch in dieser Richtung vorerst der Entscheid abgewartet werden, den die eidg.

Anklagekammer nach beendigter eidgenössischer Untersuchung über die Kompetenzfrage allfällig abzugeben haben wird.tt Ueber das fünfte Rekursbegehren.

,,4. Diesfalls genügt es zu konstatiren, einerseits, daß die Tessiner Regierung in ihren Rechtsschriften an das Bundesgericht (Memorial S. 26) ausdrücklich anerkannt hat, die Kompetenz zur Anordnung der Freilassung Belloni's habe dem eidgenössischen Generalanwalt zugestanden, und andererseits, daß dieser, der zur Zeit, als der eidg. Kommissär den Befehl zur Freilassung jenes Angeschuldigten ertheilte und ausführen ließ, bereits im Kanton Tessin sich befand, hiegegen nicht bloß keinerlei Opposition gemacht, sondern sogar

196 expressis verbis erklärt hat. er habe gegen ein solches Vorgehen des eidg. Kommissärs durchaus keine Einwendungen zu erheben.

(Vergi, seinen Bericht [Nr. 95] vom 13. März 1889 an den Bundesralh.)

Angesichts dieser Umstände erscheint in der That das Begehren der Tessiner Regierung, ,,es sei die gewaltsame, auf Befehl des eidg. Kommissärs angeordnete Freilassung Belloni's als ungesetzlich zu erklären und zu kassiren", als gegenstandslos geworden, und es kann daher dieses Begehren das Bundesgericht zu keinerlei praktischer Entscheidung mehr veranlassen. a Demnach hat das Bundesgericht erkannt: ,,I. Auf das Rechtsbegehren der Tessiner Regierung betreffend die Stimmbeschwerden der Tessiner Bürger bei kantonalen Wahlen wird, so lange der Bundesrath sich über seine eigene Kompetenz mit Bezug auf diese einzelnen Beschwerden nicht ausgesprochen haben wird, nicht eingetreten.

II. Auf die Rechtsbegehren betreffend die vom Bundesiathe angeordneten Strafuntersuchungen und die Untersagung der Anhebung derjenigen Untersuchungen, die vo°m tessiuischen Großen Rathe beschlossen wurden, wird, so lange die in Art. 29, 30, 31 und 40 des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege vorgesehenen Beschlüsse nicht gefaßt sein werden, nicht eingetreten.

III. Auf das Rechtsbegehren betreffend die Freilassung Belloni's wird überhaupt nicht eingetreten."

Tit.

Infolge dieser bundesgerichtlichen Entscheidung werden wir nun die bei uns anhängig gemachten Stimmrechtsbesehwerden -- die Zahl der Eingaben beläuft sich auf ungefähr 150 -- einläßlich prüfen, uns über unsere Kompetenz zur Erledigung derselben bei jeder einzelnen Beschwerde schlüssig machen und eventuell die uns richtig scheinende materielle Entscheidung fassen. Zur Zeit können wir Ihnen jedoch in dieser Richtung keine näheren Mittheilungen machen.

In Bezug auf die strafgerichtlichen Q Voruntersuchungen können wir Ihnen nur sagen, daß sie dermalen noch nicht ihren definitiven Abschluß gefunden haben.

.

197

Indem wir somit in beiden Beziehungen weitergehende Aufschlüsse einer künftigen Berichterstattung vorbehalten, benutzen wir diesen Anlaß, um Sie, Tit., unserer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 2. Juni

1890.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

L. Ruchonnet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Ringier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über den vom Staatsrathe des Kantons Tessin gegen den Bundesrath beim Bundesgerichte angehobenen Konflikt, betreffend die Kompetenz zur Erledigung der tessinischen Stimmrechtsrekurse von 1889 und zur ...

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14.06.1890

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