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Pekuniäre Verwaltungssanktionen Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 18.4100 SPK-N vom 1. November 2018 vom 23. Februar 2022

2022-0603

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Übersicht Der vorliegende Bericht beleuchtet in Erfüllung des Postulats 18.4100 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats die pekuniären Verwaltungssanktionen. Die pekuniäre Verwaltungssanktion ist ein Aufsichtsinstrument, mit dem die Aufsichtsbehörde auf einen Verstoss gegen eine verwaltungsrechtliche Vorschrift reagiert.

Adressiert sind durchwegs Unternehmen, nicht aber die für das Unternehmen handelnden Personen (Organe, Mitarbeitende). Die Rechtsfolge besteht in einer finanziellen Belastung, die hohe bis sehr hohe Beträge umfassen kann. Mit dem Instrument lässt sich kommerziell erfolgreichen, aber rechtswidrigen Praktiken nachträglich der wirtschaftliche Erfolg entziehen und damit ein Anreiz zu zielkonformem Verhalten schaffen.

Pekuniäre Verwaltungssanktionen haben sich sektoriell etabliert, z. B. im Kartellrecht, Fernmelderecht oder im Landwirtschaftsbereich. Jedoch haben sich in der Praxis rechtliche Unsicherheiten gezeigt. Grund hierfür sind insbesondere die verschiedenen Verfahrensgrundsätze, die gleichzeitig auf denselben Sachverhalt anwendbar sind. Die pekuniären Verwaltungssanktionen sind zwar dem Verwaltungsrecht zuzurechnen und werden in Form von anfechtbaren Verfügungen ausgesprochen. Aufgrund der Sanktionshöhe und der repressiven sowie pönalen Wirkung gelten sie jedoch regelmässig als «strafrechtliche Anklagen» im Sinn von Artikel 6 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Deshalb kommen die strafprozessualen Garantien der Bundesverfassung (Art. 30 und 32 BV) sowie jene der EMRK (Art. 6 und 7 EMRK, Art. 2 Zusatzprotokoll 7 zur EMRK) grundsätzlich zur Anwendung. Diese Garantien sehen einen weitergehenden Schutz der Partei vor als das Verwaltungsrecht.

Der Bericht legt unter Berücksichtigung der reichhaltigen Praxis der Vollzugsbehörden und der Gerichte umfassend dar, wie das Instrument in die Rechtsordnung eingebettet ist. Im Grossen und Ganzen hat sich gezeigt, dass sich das bestehende Regelungskonzept bewährt. Das Verwaltungsverfahrensgesetz und die jeweiligen Sacherlasse bieten unter Beizug der strafrechtlichen Garantien des übergeordneten Rechts eine tragfähige Grundlage für das Instrument. Die Verwaltungspraxis und die Rechtsprechung konnten gestützt auf das geltende Recht für alle identifizierten Bereiche jeweils gangbare Lösungen entwickeln. Insbesondere
hat sich gezeigt, dass aus konventions- und verfassungsrechtlicher Optik die Bewehrung von verwaltungsrechtlichen Verhaltensvorschriften mit pekuniären Verwaltungssanktionen nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Die Sanktionierung setzt gemäss Rechtsprechung freilich voraus, dass dem Unternehmen ein Verschulden im Sinn einer Vorwerfbarkeit (Organisationsverschulden) nachgewiesen wird. Die untersuchten Bestimmungen regeln die Verschuldensfrage zwar nicht ausdrücklich, jedoch erscheinen gesetzliche Anpassungen aufgrund der richterrechtlichen Rechtsfortbildung nicht dringend. Der Bericht stellt ferner dar, dass die in verschiedenen Sacherlassen vorgesehenen Vermutungen zulasten der Partei mit der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK bzw. Art. 32 Abs. 1 BV) zu vereinbaren sind. Vermutungen können, je nach Sachgebiet, ein zweckmässiges Mittel sein, um Beweisschwierigkeiten zu begegnen.

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Zu Einzelfragen wurde möglicher Klärungsbedarf auf gesetzlicher Ebene erkannt.

Empfehlenswert erscheinen namentlich sachgebietsübergreifende Regelungen der Folgen einer Umstrukturierung des Unternehmens auf das Sanktionsverfahren, der prozessualen Vertretung des Unternehmens und der behördlichen Koordination von Verfahren. Für die Regelung der Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung bietet sich der jeweilige Sacherlass an. Gleiches gilt für die Information der Öffentlichkeit über das Sanktionsverfahren. Für den Konflikt zwischen der verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht und der strafrechtlichen Selbstbelastungsfreiheit (nemo teneturGrundsatz) hat die Praxis bisher einzelfallgerechte Lösungen gefunden, weshalb es naheliegt, das Austarieren des vielschichtigen Problems weiterhin auf der Ebene von Einzelfallentscheiden zu belassen. Für den Fall, dass der Konflikt einer gesetzlichen Lösung zugeführt werden soll, zeigt der Bericht verschiedene Optionen auf.

Nach Ansicht des Bundesrates erscheint es derzeit nicht erforderlich, für die genannten Einzelfragen eine sektorübergreifende Harmonisierung der bestehenden Rechtsgrundlagen an die Hand zu nehmen. Wo er Handlungsbedarf auf Gesetzesstufe festgestellt hat, die Auswirkungen auf laufende Gesetzgebungsverfahren haben, ist er dafür besorgt, dass die Ergebnisse dieses Berichts direkt in die laufenden Projekte einfliessen. Die weitere Entwicklung in diesem Bereich wird weiterhin aufmerksam beobachtet.

Ob pekuniäre Verwaltungssanktionen in Zukunft in weiteren Sachbereichen eingeführt werden sollen, bildet nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Hingegen zeigt der Bericht auf, welche Ausgestaltungen überhaupt möglich sind und welche Vorkehren zu ihrer Realisierung zu treffen wären.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht 1.1 Auftrag 1.2 Hintergrund und Fragestellung 1.3 Inhalt des Berichts 1.4 Vorgehen bei der Erarbeitung des Berichts

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Pekuniäre Verwaltungssanktionen im geltenden Bundesrecht 2.1 Begriff der pekuniären Verwaltungssanktion 2.2 Bestand im Bundesrecht 2.3 Wesensmerkmale der pekuniären Verwaltungssanktion 2.4 Abgrenzung zu weiteren Durchsetzungsinstrumenten 2.5 Anwendbares Verfahrensrecht 2.6 Zwischenfazit

11 11 12 15 19 21 22

3

Garantien des übergeordneten Rechts 3.1 Garantien gemäss Art. 6 und 7 EMRK sowie Art. 2 und 4 ZP 7 EMRK 3.2 Garantien gemäss Art. 29, 29a, 30 und 32 BV 3.3 Anwendbarkeit der Garantien in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren 3.4 Qualitative Abstufung in «Randbereichen» des Strafrechts 3.5 Zeitliche Aspekte der Anwendbarkeit 3.6 Hinweise auf weitere völkerrechtlich verankerte Verfahrensgarantien 3.7 Exkurs: Garantien in Verfahren betreffend «zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen» gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK 3.8 Zwischenfazit

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Verankerung des Instruments im Sacherlass 4.1 Grundlage für die Sanktionierung im Sacherlass 4.2 Festlegung der sanktionsbewehrten Pflichten 4.3 Voraussetzung der subjektiven Zurechenbarkeit (Verschulden) 4.3.1 Ausgangslage und konventionsund verfassungsrechtliche Vorgaben 4.3.2 Kartellrechtliches Konzept der «Vorwerfbarkeit» 4.3.3 Würdigung 4.4 Rechtsfolge 4.4.1 Belastung mit einem Betrag 4.4.2 Sanktionshöhe 4.4.3 Bemessungskriterien

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23 25 27 29 30 31 33 34

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4.4.4 4.5 4.6 5

Verhältnis zwischen pekuniären Verwaltungssanktionen und anderen Durchsetzungsinstrumenten Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung Zwischenfazit

Verfahren auf Erlass von pekuniären Verwaltungssanktionen 5.1 Beginn des Verwaltungssanktionsverfahrens 5.1.1 Zuständige Behörden 5.1.2 Verfahrenseinleitung 5.1.3 Recht auf Verteidigung, auf unentgeltlichen Rechtsbeistand sowie auf einen Dolmetscher 5.1.4 Zwischenfazit 5.2 Parteien und weitere Beteiligte (Dritte) 5.2.1 Parteistellung der Adressaten von pekuniären Verwaltungssanktionen 5.2.2 Auswirkung der Umstrukturierung des Unternehmens auf die Parteistellung 5.2.3 Vertretung von Unternehmen im Verwaltungssanktionsverfahren 5.2.4 Verfahrensrechtliche Stellung von Angehörigen von Unternehmen 5.2.4.1 Aktive Vertreterinnen und Vertreter des Unternehmens 5.2.4.2 Ehemalige Vertreterinnen und Vertreter 5.2.4.3 Übrige Unternehmensangehörige 5.2.5 Zwischenfazit 5.3 Mitwirkung der Partei bei der Feststellung des Sachverhalts 5.3.1 Ausgangslage 5.3.2 Verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflichten 5.3.2.1 Allgemeines 5.3.2.2 Aufklärung über die konkreten Mitwirkungspflichten 5.3.2.3 Freiwillige und erzwungene Mitwirkung 5.3.3 Strafrechtliche Selbstbelastungsfreiheit (nemo teneturGrundsatz) 5.3.4 Typische Konfliktkonstellationen zwischen Mitwirkungspflichten und Selbstbelastungsfreiheit 5.3.5 Bisherige Lösungsansätze der Judikatur, Legislative und Lehre 5.3.5.1 Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte 5.3.5.2 Rechtsprechung des EGMR 5.3.5.3 Lösungen des Gesetzgebers im Steuerstrafrecht 5.3.5.4 In der Lehre erörterte Lösungsansätze 5.3.6 Optionen für den Gesetzgeber 5.3.6.1 Option 1: Status quo

46 47 49 50 50 50 52 54 55 56 56 58 59 60 60 62 62 63 64 64 65 65 66 66 68 71 72 72 74 77 79 81 82

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5.3.6.2

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5.5 5.6

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6

Option 2: Vorrang der Mitwirkungspflichten bei vorbestehenden Verwaltungsrechts- bzw.

Aufsichtsverhältnissen 5.3.6.3 Option 3: Einführung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts und/oder eines Beweisverwertungsverbotes 5.3.7 Zwischenfazit Ausgewählte Fragen des Beweisrechts 5.4.1 Ausgangslage 5.4.2 Gesetzliche Tatsachen- und Rechtsvermutungen 5.4.3 Beweismassreduktion 5.4.4 Freie Beweiswürdigung 5.4.5 Zwischenfazit Rechtliches Gehör sowie Recht auf öffentliche und mündliche Verhandlung Verfahrensabschluss 5.6.1 Entscheid in der Sache 5.6.2 Verzicht auf die Sanktionierung 5.6.3 Einstellung des Verwaltungssanktionsverfahrens 5.6.4 Entscheidung innerhalb angemessener Frist 5.6.5 Verfahrenskosten 5.6.6 Parteientschädigung 5.6.7 Änderung von pekuniären Verwaltungssanktionsverfügungen 5.6.8 Zwischenfazit Information der Öffentlichkeit 5.7.1 Orientierung der Öffentlichkeit über hängige Verfahren 5.7.2 Publikation von Verwaltungssanktionsverfügungen Rechtsmittel gegen Verfügungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen 5.8.1 Rechtsmittel an das Bundesverwaltungsgericht (Rechtsweggarantie) 5.8.2 Rechtsmittel an das Bundesgericht (Rechtsmittelgarantie) Parallele Verfahren 5.9.1 Ausgangslage 5.9.2 Koordination der Verfahren 5.9.3 Übermittlung von Beweismitteln an andere Behörden 5.9.4 Bindungswirkung des erstergangenen Entscheides 5.9.5 Parallele Verfahren im Kontext des Doppelbestrafungsverbots 5.9.6 Verhältnis von in- und ausländischen Verwaltungssanktionsverfahren oder ausländischen Strafverfahren 5.9.7 Zwischenfazit

Weiteres Vorgehen

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83 88 90 91 91 92 93 94 95 95 97 97 97 98 98 99 101 103 104 105 105 106 107 107 108 110 110 111 111 111 112 114 115 116

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Fazit 117

Literaturverzeichnis

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Materialienverzeichnis

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Abkürzungen

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Anhang: Rechtsvergleichende Hinweise

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Einleitung 1.1

Auftrag

Mit dem vorliegenden Bericht erfüllt der Bundesrat das Postulat der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates «Instrument der pekuniären Verwaltungssanktionen» vom 1. November 2018 (18.4100). Das Postulat hat folgenden Wortlaut: «Der Bundesrat wird beauftragt aufzuzeigen, wie im Schweizer Recht ein allgemeines System der pekuniären Verwaltungssanktionen sowie die erforderlichen rechtlichen Garantien eingeführt werden können.».

Der Bundesrat hat in seiner Antwort vom 19. Dezember 2018 die Annahme des Postulats beantragt. Das Postulat wurde am 4. März 2019 vom Nationalrat angenommen.

1.2

Hintergrund und Fragestellung

Das Recht steuert individuelles Verhalten in erster Linie durch Verhaltensvorschriften, insbesondere Verbote und Gebote. Zu deren Durchsetzung stellt die Rechtsordnung eine Vielzahl unterschiedlicher Instrumente zur Verfügung, darunter auch jenes der «pekuniären Verwaltungssanktion». Dieses Instrument dient typischerweise der Verhaltenssteuerung von Unternehmen. Im Bundesverwaltungsrecht findet es sich denn auch zumeist im Wirtschaftsverwaltungsrecht (z. B. im Kartellrecht, Fernmelderecht oder Landwirtschaftsbereich) und gehört dort zu den Marktaufsichtsinstrumenten. Es ermöglicht der Behörde, ein Unternehmen mit einem Betrag zu belasten, wenn dieses die ihm obliegenden verwaltungsrechtlichen Pflichten verletzt hat. Nicht damit adressiert werden demgegenüber die für das Unternehmen handelnden natürlichen Personen (z. B. Organe oder Mitarbeiter).

Pekuniäre Verwaltungssanktionen haben sich sektoriell etabliert, jedoch bestehen in der Praxis verschiedene rechtliche Unsicherheiten. Grund hierfür sind vor allem die unterschiedlichen Verfahrensgrundsätze, die gleichzeitig auf denselben Sachverhalt zur Anwendung gelangen. Einerseits werden pekuniäre Verwaltungssanktionen in einem Verwaltungsverfahren auferlegt. Andererseits kommen ­ je nach Einzelfall ­ die strafprozessualen Garantien der Bundesverfassung (BV)1 sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention2 (EMRK) zur Anwendung. Letztere gewährleisten einen weitergehenden Schutz der Partei, wie das folgende Beispiel veranschaulicht: Das Verwaltungsverfahren verlangt von der beteiligten Partei, dass diese am Verfahren aktiv mitwirkt (sog. Mitwirkungspflicht). Dabei müssen auch selbstbelastende Informationen preisgegeben werden. Zur Durchsetzung der Mitwirkungspflicht kann die Behörde verwaltungs- und strafrechtliche Zwangsmittel einsetzen. Umgekehrt 1 2

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (SR 101; BV).

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101; EMRK).

Die EMRK wurde von der Bundesversammlung am 3. Oktober 1974 genehmigt und trat am 28. November 1974 für die Schweiz in Kraft.

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gilt im Strafverfahren der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selber zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare vel prodere, Selbstbelastungsoder Mitwirkungsfreiheit). Klärungsbedürftig ist daher, ob die verfassungs- und konventionsrechtliche Mitwirkungsfreiheit und damit das Schweigerecht die verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten übersteuert. Ähnliche Fragestellungen ergeben sich hinsichtlich der Unschuldsvermutung (in dubio pro reo) oder dem Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem).

Das geltende Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes kennt kein allgemeines System zur Regelung von Konflikten zwischen den verschiedenen Verfahrensgrundsätzen. Somit obliegt es den rechtsanwendenden Behörden und ­ im Fall von Beschwerdeverfahren ­ den Gerichten, das Spannungsfeld zwischen den Vorgaben des Verwaltungsverfahrensrechts einerseits und den verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien für ein faires Strafverfahren andererseits im Einzelfall aufzulösen.

Das fall- und praxisbasierte Austarieren von verwaltungsrechtlichen Pflichten und strafprozessualen Garantien ist der Rechtssicherheit jedoch nicht zuträglich.3 Zusammenfassend gilt es somit abzuklären, welche rechtlichen Vorkehrungen zu treffen sind, um pekuniäre Verwaltungssanktionen auf effiziente Weise aussprechen zu können und dabei gleichzeitig die verfassungs- und konventionsrechtlichen Schutzansprüche der betroffenen Personen und Unternehmen einzuhalten. Dabei ist ein Ausgleich zu finden zwischen dem Interesse an der wirksamen und gleichmässigen Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Pflichten und den Interessen der zu sanktionierenden privaten Partei an einem fairen Verfahren.

1.3

Inhalt des Berichts

Der vorliegende Bericht zeigt auf, wie im Schweizer Recht ein allgemeines System der pekuniären Verwaltungssanktionen eingeführt werden kann. Die pekuniären Verwaltungssanktionen sind grundsätzlich dem Verwaltungsrecht zuzurechnen und werden demzufolge in das System des Allgemeinen Verwaltungsrechts eingebettet bzw. anhand der dazu gehörenden Rechtsfiguren und Begriffe dargestellt.

Der Bericht beschreibt das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion ausgehend von den im geltenden Bundesrecht bestehenden pekuniären Verwaltungssanktionsbestimmungen (Ziff. 2). In einem nächsten Schritt werden die verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben beschrieben, die beim Erlass von Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen bzw. bei deren Vollzug durch die Behörden zu berücksichtigen sind. Im Zentrum stehen dabei die strafprozessualen Garantien der EMRK sowie der Bundesverfassung (Ziff. 3).

Anschliessend werden die in der Verwaltungspraxis und Rechtsprechung betreffend die pekuniären Verwaltungssanktionen bekannt gewordenen rechtlichen Unsicherheiten beschrieben und der rechtliche Anpassungsbedarf auf Gesetzesebene bezeichnet. Die Darstellung folgt der Idee, dass allfällige Änderungen entweder im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (VwVG)4 oder im jeweiligen Sacherlass 3 4

In diesem Sinn DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 73.

SR 172.021

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verankert werden. Zunächst werden die materiellrechtlichen Vorgaben beschrieben, die bei der gesetzlichen Regelung von pekuniären Verwaltungssanktionen zu beachten sind. Dazu gehören die Schaffung einer formellgesetzlichen Grundlage für die Sanktionierung und die Festlegung der sanktionsbewehrten Verhaltenspflichten (Ziff. 4.1 und 4.2). Einzugehen ist zudem auf das Erfordernis der subjektiven Zurechenbarkeit (Ziff. 4.3) und die Anforderungen an die Regelung der Rechtsfolge (Ziff. 4.4). Darauf folgt die Darstellung des Anpassungsbedarfs hinsichtlich der Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung (Ziff. 4.5).

Die anschliessenden Ausführungen betreffen verfahrensrechtliche Aspekte. Sie orientieren sich an der Chronologie des erstinstanzlichen Verwaltungssanktionsverfahrens bzw. der Systematik des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Zunächst ist auf den Beginn des Sanktionsverfahrens (Ziff. 5.1) sowie die Parteistellung einzugehen (Ziff. 5.2). Anschliessend folgen Ausführungen über die Feststellung des sanktionsbegründenden Sachverhalts unter Mitwirkung der Parteien. Dabei werden der Konflikt zwischen den verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und der strafprozessualen Selbstbelastungs- oder Mitwirkungsfreiheit sowie mögliche Lösungsoptionen für den Gesetzgeber beschrieben (Ziff. 5.3). Auf die Beweisführung in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren unter dem Aspekt der Unschuldsvermutung wird in Ziffer 5.4 eingegangen. Daran anschliessend folgen Ausführungen zum rechtlichen Gehör (Ziff. 5.5), zum Verfahrensabschluss (Ziff. 5.6), zur Information der Öffentlichkeit über das Sanktionsverfahren (Ziff. 5.7), zur Frage der Rechtsmittel und Beschwerderechte der Partei (Ziff. 5.8) sowie zu den in parallelen Verwaltungs- und Verwaltungssanktionsverfahren zu berücksichtigenden Aspekte (Ziff. 5.9). Abschliessend wird das weitere Vorgehen skizziert (Ziff. 6).

Im Anhang findet sich ergänzend ein rechtsvergleichender Blick auf einzelne Regulierungen in Deutschland, Frankreich sowie der Europäischen Union.

Von der vorliegenden Untersuchung nicht erfasst ist die Frage, ob das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion in zusätzlichen Sacherlassen des Bundes eingeführt werden soll.

1.4

Vorgehen bei der Erarbeitung des Berichts

In der Bundesverwaltung sind verschiedene Stellen für den Vollzug von pekuniären Verwaltungssanktionen zuständig. Entsprechend war es für die Erfüllung des Postulats unerlässlich, auf deren Fachwissen in Theorie und Praxis zurückzugreifen. Das federführende Bundesamt für Justiz (BJ) setzte deshalb eine Arbeitsgruppe ein, die sich aus Fachpersonen verschiedener Verwaltungseinheiten zusammensetzte (Wettbewerbskommission [WEKO], Eidgenössische Finanzmarktaufsicht [FINMA], Eidgenössische Spielbankenkommission [ESBK], Bundesamt für Kommunikation [BAKOM], Generalsekretariat des Eidgenössischen Finanzdepartements [GS-EFD], Bundesamt für Landwirtschaft [BLW], Staatssekretariat für Wirtschaft [SECO], Eidgenössische Steuerverwaltung [ESTV]).

Das BJ hat zusätzlich eine verwaltungsexterne Expertengruppe eingesetzt, bestehend aus Vertreterinnen und Vertreter der kantonalen Verwaltungsgerichte (Dr. iur. Ruth Herzog, Richterin am Verwaltungsgericht des Kantons Bern sowie Dr. iur. Patrick 10 / 140

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M. Müller, Richter am Kantonsgericht Luzern) und der Rechtswissenschaften (Prof.

Dr. iur. Vincent Martenet [Universität Lausanne], Prof. Dr. iur. Matthias Oesch [Universität Zürich], Prof. Dr. iur. Robert Roth [Universität Genf] und Prof. Dr. iur.

Bernhard Rütsche [Universität Luzern]). Die Expertengruppe hat sich an drei Treffen mit den Ergebnissen der verwaltungsinternen Arbeitsgruppe auseinandergesetzt und konnte sich zum Berichtsentwurf äussern.

2

Pekuniäre Verwaltungssanktionen im geltenden Bundesrecht

2.1

Begriff der pekuniären Verwaltungssanktion

Der Begriff der pekuniären Verwaltungssanktion wird im Bundesrecht nicht verwendet. Die Sacherlasse, welche das Instrument vorsehen, gebrauchen zumeist verkürzende Bezeichnungen wie «Verwaltungssanktion»5 «verwaltungsrechtliche Sanktion»6 oder «administrative Sanktion».7 Zusätzlich zur uneinheitlichen Begriffsverwendung sind die Bestimmungen auch inhaltlich unterschiedlich ausgestaltet (vgl. beispielsweise Art. 49a des Kartellgesetzes [KG]8, Art. 12 des Bundesgesetzes über den internationalen automatischen Austausch länderbezogener Berichte multinationaler Konzerne [ALBAG]9 und Art. 100 des Geldspielgesetzes [BGS]10). In der Literatur wird denn auch festgestellt, dass die im Wirtschaftsverwaltungsrecht anzutreffenden pekuniären Verwaltungssanktionen keinem einheitlichen System folgen und daher die begriffliche Abgrenzung zu anderen verwaltungs- und strafrechtlichen Durchsetzungsinstrumenten erschwert ist.11 In der Rechtsprechung12 und in der rechtswissenschaftliche Lehre13 finden sich ebenfalls zahlreiche begriffliche Abwandlungen. Letztere versteht die pekuniären Verwaltungssanktionen mehrheitlich als verwaltungsrechtliche Sanktionen mit pönalem Charakter.14 Die genaue Einordnung des Instruments in die

5 6 7 8 9 10 11 12

13

14

Vgl. beispielsweise Art. 100 und 109 BGS oder Art. 12 ALBAG.

Vgl. Art. 23 NBG.

Vgl. beispielsweise den Abschnittstitel vor Art. 122a und 122b AIG.

SR 251 SR 654.1 SR 935.51 Vgl. DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 67.

Das Bundesgericht spricht beispielsweise im kartellrechtlichen Zusammenhang von «kartellrechtlichen Sanktionen» (BGE 139 II 279; 135 II 60 sowie Urteil 2C_985/2015 vom 9. Dezember 2019), während im geldspielrechtlichen Kontext von einer «verwaltungsrechtlichen Sanktion» die Rede ist (vgl. BGE 140 II 384 ­ Spielbank).

Beispielsweise bezeichnet LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, S. 87 f. das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion als «Verwaltungsbusse»; DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 67 verwenden die Begriffe «Geldsanktionen», «Bussen und Belastungen» bzw. «Verwaltungssanktionen», während KARLEN, Verwaltungsrecht, S. 474 von «reiner Verwaltungsbusse» spricht. Für eine umfassende Darstellung der Begrifflichkeit vgl. LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, S. 8 ff.

Vgl. LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, S. 90, mit Hinweis auf TAGMANN, Sanktionen, S. 85; ZELLER/HÜRLIMANN, Fernmelde- und Rundfunkrecht, S. 131, 136.

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verwaltungsrechtliche Begrifflichkeit ist jedoch umstritten.15 Die Bezeichnungen reichen von «administrativer Rechtsnachteil»16 über «bussenähnliche finanzielle Sanktionen»17 bis hin zu «Verwaltungsbusse».18 Ausgehend von den im Bundesrecht geregelten pekuniären «Verwaltungssanktionen» lässt sich freilich ein gewisses Muster erkennen. Demnach kann das Instrument vereinfachend als eine finanzielle Belastung der Verfahrenspartei mit einem Betrag beschrieben werden, die als behördliche Reaktion auf eine in der Vergangenheit liegende Verletzung einer verwaltungsrechtlichen Vorschrift erfolgt und in einem Verwaltungsverfahren durchgesetzt wird. Diese begriffliche Annäherung wird den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt.

Begrifflich verwandt sind die im Disziplinarrecht vorgesehenen «Disziplinarbussen».19 Diese richten sich ­ im Unterschied zu den meisten pekuniären Verwaltungssanktionen ­ gegen natürliche Personen. Sie kommen beispielsweise im Bereich von personenbezogenen und bewilligungspflichtigen Tätigkeiten (sog. freie Berufe) vor. Im weiteren Verlauf der Untersuchung bleiben die Disziplinarbussen ausgeklammert. Abzugrenzen sind zudem die dem Strafrecht zuzuordnenden «Bussen», «Ordnungsbussen» und «Geldstrafen», für die das (Verwaltungs-)Strafverfahren zur Anwendung kommt. Zu den Abgrenzungsfragen vgl. Ziffer 2.4.

2.2

Bestand im Bundesrecht

Das Bundesrecht sieht in insgesamt 13 Erlassen die Möglichkeit für pekuniäre Verwaltungssanktionen im Sinn der in Ziffer 2.1 eingeführten Begriffsannäherung vor. Die nachfolgende Tabelle stellt den Bestand der vorgefundenen Bestimmungen dar: Fundstelle

Art. 122a Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG)

Sanktioniertes Verhalten (Tatbestand)

Verletzung von Sorgfaltspflichten betreffend Prüfung der Reisedokumente, Visa oder Aufenthaltstitel durch Luftfahrtunternehmen.

Art. 122b AIG Verletzung der Meldepflichten betreffend Passagierdaten durch Luftfahrtunternehmen.

Art. 12 BG über den inter- Versäumen der Einreichefrist der nationalen automatischen länderbezogenen Berichte durch Austausch länderbezogener juristische Personen («RechtsträBerichte multinationaler ger»).

Konzerne (ALBAG)

15 16 17 18 19

Pekuniäre Verwaltungssanktion (Rechtsfolge)

Belastung mit 4000 Franken pro Passagier, in schweren Fällen 16 000 Franken.

Belastung mit 4000 Franken pro Flug, in schweren Fällen 12 000 Franken.

Belastung mit einem Betrag von 200 Franken pro Tag, höchstens 50 000 Franken.

Für einen Überblick über die Lehrmeinungen siehe LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, S. 91 f.

TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 32 Rz. 40.

JAAG, Sanktionen, S. 17.

LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, S. 89.

DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 68.

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Fundstelle

Sanktioniertes Verhalten (Tatbestand)

Art. 100 Geldspielgesetz (BGS)

Verstoss gegen gesetzliche Bestimmungen, gegen die Konzession oder gegen eine rechtskräftige Verfügung durch die Spielbank.

Art. 109 BGS Verstoss gegen gesetzliche Bestimmungen oder gegen eine rechtskräftige Verfügung durch die Veranstalterin von Grossspielen.

Art. 40asexies Eisenbahnge- Verstoss gegen das Diskriminiesetz (EBG) rungsverbot beim Zugang zum Eisenbahnnetz; Verstoss gegen eine einvernehmliche Regelung, eine Verfügung der Aufsichtsbehörde (RailCom) oder einen Entscheid einer Rechtsmittelinstanz.

Art. 9 Entsendegesetz Verstoss gegen bestimmte Vorga(EntsG) ben des EntsG durch Unternehmen.

Art. 60 Fernmeldegesetz Verstoss gegen anwendbares (FMG) Recht, die Konzession oder gegen eine rechtskräftige Verfügung durch ein Unternehmen.

Art. 35a Gentechnikgesetz Widerhandlungen gegen das GTG, (GTG) dessen Ausführungsbestimmungen oder die gestützt darauf erlassenen Verfügungen.

Art. 59 Abs. 1 Bst. c Krankenversicherungsgesetz (KVG)

Verstoss des Leistungserbringers gegen Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsanforderungen oder gegen vertragliche Abmachungen zwischen Verbänden der Leistungserbringer und der Versicherer.

Art. 49a Kartellgesetz (KG) Unzulässige Wettbewerbsbeschränkung durch ein Unternehmen.

Art. 50 KG Verstoss eines Unternehmens gegen eine einvernehmliche Regelung, eine rechtskräftige Verfügung der Wettbewerbsbehörden oder einen Entscheid der Rechtsmittelinstanzen.

Art. 51 KG Unzulässiger Vollzug eines Unternehmenszusammenschlusses oder Nichtdurchführung einer Massnahme zur Wiederherstellung wirksamen Wettbewerbs.

Art. 52 KG Nichterfüllung von Auskunftspflichten oder Pflichten zur Vorlage von Urkunden durch Unternehmen.

Pekuniäre Verwaltungssanktion (Rechtsfolge)

Belastung mit ertragsabhängigem Betrag (bis 15% des letztjährigen Bruttospielertrages).

Belastung mit ertragsabhängigem Betrag (bis 15% des letztjährigen Bruttospielertrages).

Belastung mit einem umsatzbezogenen Betrag bzw. mit einem Betrag von bis zu 100 000 Franken.

Belastung mit Betrag bis 30 000 Franken.

Belastung mit umsatzabhängigem Betrag (bis 10%).

Belastung mit einem Betrag bis 10 000 Franken oder bis zum Gegenwert des BruttoErlöses von unrechtmässig in Verkehr gebrachten Produkten.

Busse.

Belastung mit umsatzabhängigem Betrag (bis 10% der letzten drei Geschäftsjahre).

Belastung mit umsatzabhängigem Betrag (bis 10% der letzten drei Geschäftsjahre).

Belastung bis zu einer Million Franken, im Einzelfall bis zu 10% des Gesamtumsatzes der beteiligten Unternehmen.

Belastung bis zu 100 000 Franken.

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Fundstelle

Sanktioniertes Verhalten (Tatbestand)

Art. 169 Abs. 1 Bst. h Landwirtschaftsgesetz (LwG)

Widerhandlungen gegen das LwG, dessen Ausführungsbestimmungen oder die gestützt darauf erlassenen Verfügungen durch Unternehmen (einschl. Einzelunternehmen).

Art. 171a LwG Gegengeschäfte marktbeherrschender Unternehmen im Markt für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Produktionsmittel, die die Übernahme von Waren und Dienstleistungen zu unangemessenen Preisen an den Abschluss des Vertrags koppeln.

Art. 23 Nationalbankgesetz Nichteinhaltung von Mindestreser(NBG) ven durch eine Bank.

Art. 25 Postgesetz (PG)

Verstoss gegen das PG, Ausführungsrecht oder rechtskräftige Verfügung durch Anbieterinnen von Postdiensten (einschl. Einzelunternehmen).

Art. 90 Radio- und Fernseh- Verstoss gegen rechtskräftige gesetz (RTVG) Verfügung, schwerer Verstoss gegen Konzession sowie weitere spezifische Bestimmungen durch juristische (und theoretisch auch natürliche) Personen (Programmveranstalter, Kabelnetzbetreiber, Organisatoren öffentlicher Ereignisse oder Ereignisse von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung u. a.m.)

Pekuniäre Verwaltungssanktion (Rechtsfolge)

Belastung mit Betrag bis höchstens 10 000 Franken.

Ahndung nach Massgabe von Art. 49a oder 50 KG.

Verzinsung des Fehlbetrag; Zins kann bis zu 5 Prozentpunkte über dem Geldmarktsatz für Interbankkredite liegen.

Belastung mit umsatzabhängigem Betrag (bis 10%).

Belastung mit umsatzabhängigem Betrag (bis 10%).

Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, dass nicht alle der genannten Bestimmungen dieselbe Vollzugsrelevanz aufweisen. So besteht namentlich zu den Bestimmungen der Kartell-, Entsende-, Geldspiel-, Post-, Fernmelde- und Landwirtschaftsgesetze eine behördliche Praxis bzw. Rechtsprechung, welche in der nachfolgenden Analyse berücksichtigt werden konnte. Andere Bestimmungen sind entweder erst kürzlich in Kraft getreten (z. B. Art. 12 ALBAG und Art. 40asexies EBG20) oder es liegen aus anderen Gründen nur beschränkte Vollzugserfahrungen vor (Art. 122a und 122b des Ausländer- und Integrationsgesetzes [AIG],21 Art. 35a Gentechnikgesetz [GTG]22). Auf diese Bestimmungen wird im vorliegenden Bericht nur am Rande eingegangen. Schliesslich hat sich gezeigt, dass gewisse Bestimmungen speziell gelagerte Sachlagen betreffen, die sich nur schwer verallgemeinern lassen und daher ausgeklammert bleiben (Art. 59 Abs. 1 Bst. c Krankenversiche20 21 22

SR 742.101 SR 142.20 SR 814.91

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rungsgesetz [KVG],23 Art. 23 Abs. 1 Nationalbankgesetz [NBG]24). Gleiches gilt für einzelne Bestimmungen, deren Einordnung noch nicht eindeutig geklärt ist. Grenzfälle finden sich etwa im Bereich des Sozialversicherungsrechts (Art. 14bis Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung [AHVG]25, Art. 92 Abs. 2 und Art. 95 Unfallversicherungsgesetz [UVG]26). Die typische Terminologie (Sanktion, Belastung) fehlt, dennoch ist die Rechtsfolge zumindest mit einer pekuniären Verwaltungssanktion vergleichbar.27 Aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzung im Sozialversicherungsrecht, wo insbesondere der Schutz der Versicherungsgemeinschaft vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme im Vordergrund steht,28 aber auch wegen der besonderen Verfahrensregeln29, sind diese Bestimmungen wenig geeignet als Vorlage für ein allgemeines System der pekuniären Verwaltungssanktionen.

Nicht berücksichtig wurden zudem die Bestimmungen des CO2-Gesetzes30 (Art. 12, 21, 28 und 32).31

2.3

Wesensmerkmale der pekuniären Verwaltungssanktion

Die Wesensmerkmale der pekuniären Verwaltungssanktionen, die im geltenden Bundesverwaltungsrecht geregelt sind, lassen sich annäherungsweise wie folgt umschreiben:

23 24 25 26 27 28 29 30 31

32

­

Gegenstand: Das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion befasst sich mit den rechtlichen Konsequenzen von Verstössen gegen verwaltungsrechtliche Verhaltensvorschriften.

­

Vorkommen und Adressaten: Pekuniäre Verwaltungssanktionen sind vorwiegend im Bereich des Wirtschaftsaufsichtsrechts angesiedelt und adressieren typischerweise Unternehmen des privaten und öffentlichen Rechts, wobei in der Mehrzahl der Fälle juristische Personen betroffen sind.32 Je nach Geltungsbereich des Sacherlasses können auch natürliche Personen erfasst

SR 832.10 SR 951.11 SR 831.10 SR 832.20 Vgl. Urteil BVGer C-640/2008 vom 18. August 2009, E. 4.2.4 zu Art. 92 Abs. 3 UVG; ähnlich GÄCHTER/GERBER, BSK-UVG, Art. 92 N 110 ff.

BGE 134 V 315 E. 4.5.1.1.

Art. 34 ff. i.V.m. Art. 55 Abs. 1 ATSG.

SR 641.71 Die genannten Bestimmungen regeln Ersatzleistungen von Fahrzeugimporteuren oder Luftfahrzeugbetreibern bei Überschreiten von CO2-Emissionsvorgaben o.a. Mit der abgelehnten Revision des CO2-Gesetzes wären die Bezeichnungen entsprechend angepasst worden, vgl. Botschaft zur Totalrevision des CO2-Gesetzes nach 2020 vom 1. Dezember 2017, BBl 2018 247, 324; a.M. in Bezug auf Art. 32 BALLY/BURKHARDT/ NÄGELI, Kommentar zum Energierecht, Band II, Art. 32 N 18 ff.

Bspw. Unternehmen im Sinn des Kartellgesetzes (Art. 49a KG), Luftfahrtunternehmen (Art. 122a und 122b AIG), konzessionierte Spielbanken (Art. 100 BGS), Anbieterinnen von Postdiensten (Art. 25 PG) etc. Vgl. zur Frage des Adressaten auch LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, S. 90.

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sein, die einer spezifisch regulierten Tätigkeit nachgehen.33 Hingegen adressieren die pekuniären Verwaltungssanktionsbestimmungen des geltenden Bundesrechts generell keine Personen, die keine regulierte Tätigkeit im Sinn des jeweiligen Sacherlasses ausüben (z. B. Konsumentinnen und Konsumenten, Flugpassagiere, Arbeitnehmende usw.). Insofern lassen sich pekuniäre Verwaltungssanktionen vereinfachend als «Unternehmenssanktionen» umschreiben. Häufig besteht zum betreffenden Unternehmen bereits ein Verwaltungsrechtsverhältnis (z. B. aufgrund einer Konzession oder einer Betriebsbewilligung) oder es unterliegt einer nachgelagerten behördlichen Aufsicht (z. B. im Rahmen von Meldepflichten). Es handelt sich somit in der strafrechtlichen Terminologie nicht um «Jedermannsdelikte», sondern um eigentliche Sonderdelikte.

Hervorzuheben ist, dass die Organe einer juristischen Person sowie die Mitarbeitenden von Unternehmen nicht von pekuniären Verwaltungssanktionsverfügungen erfasst werden. Die fraglichen Verhaltenspflichten richten sich auch nicht direkt an sie, sondern an das Unternehmen selbst. Allerdings ergeben sich im Verhältnis zwischen dem verfahrensbetroffenen Unternehmen und den Organen sowie den Mitarbeitenden mannigfache rechtliche Fragen (vgl. Ziff. 5.2).

­

33

34

Zwecke: Pekuniäre Verwaltungssanktionen dienen der Erreichung übergeordneter Regelungszwecke (z. B. der Verhinderung von schädlichen Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen) und der Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Pflichten (z. B. der Einhaltung von Sozialschutzvorkehrungen durch Spielbanken).34 Indem kommerziell erfolgreichen, aber rechtswidrigen Praktiken nachträglich der wirtschaftliche Erfolg entzogen wird, wird ein Anreiz zu zielkonformem Verhalten geschafBeispiele: Personen, welche in der Ausübung ihrer unternehmerischen Tätigkeit gegen das Fernmelderecht verstossen, unterstehen der Sanktionsbestimmung von Art. 60 FMG (Botschaft zur Änderung des Fernmeldegesetzes, S. 7989). Demgegenüber sind Privatpersonen, die kein kommerzielles Unternehmen betreiben, z.B. Funkamateure, dieser Bestimmung nicht unterstellt. ­ Im Bereich des Radio- und Fernsehrechts können sowohl juristische Personen (Programmveranstalter) als auch andere Normadressaten wie namentlich Organisatoren von Sportveranstaltungen, welche das gesetzliche Kurzberichterstattungsrecht verweigern (Art. 90 Abs. 1 Buchstabe e RTVG, vgl. auch Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen, S. 1656) und an dieser Haltung ein erhebliches finanzielles Interesse haben können, als Adressaten von pekuniären Verwaltungssanktionen in Frage kommen. ­ Im Bereich des Entsenderechts können pekuniäre Verwaltungssanktionen gestützt auf Art. 9 Abs. 2 Buchstabe f EntsG gegenüber privaten Arbeitgebern von Hauswirtschaftsangestellten ausgesprochen werden (vgl. Verordnung vom 20. Oktober 2010 über den Normalarbeitsvertrag für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Hauswirtschaft [NAV Hauswirtschaft], SR 221.215.329.4). Ihre Tätigkeit ist zwar nicht «unternehmerisch», doch werden sie aufgrund ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber erfasst. ­ Eine vergleichbare Situation liegt im Landwirtschaftsbereich vor, dessen Sanktionsbestimmung auf die vom jeweiligen Sacherlass adressierten Personen anwendbar ist (Art. 169 Abs. 1 Bst. h LwG). Der Kreis der Adressaten umfasst nicht «jedermann», sondern (Land-)Wirtschaftsunternehmen, die ein Verwaltungsrechtsverhältnis nach LwG eingegangen sind, als Bauer, Händler etc. Privatpersonen, die keiner landwirtschaftsrechtlich geregelten Tätigkeit nachgehen, werden von der Sanktionsbestimmung nicht erfasst.

ZELLER/HÜRLIMANN, Fernmelde- und Rundfunkrecht, S. 128.

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fen.35 Insofern soll das Verhalten der sanktionsbedrohten Unternehmen beeinflusst werden.36 Die drohende Belastung soll die Adressaten zur Einhaltung des Rechts veranlassen und fehlbare Teilnehmer von weiteren Rechtsverstössen abhalten.37 Nach Meinungen in der Lehre dient das Instrument daher spezial- als auch generalpräventiven Zwecken.38

35 36 37 38 39 40

41

­

Wirkungen: Pekuniäre Verwaltungssanktionen haben repressive Züge, da sie an ein in der Vergangenheit liegendes, pflichtwidriges Verhalten anknüpfen.39 Gemäss Bundesgericht kommt pekuniären Verwaltungssanktionen ein präventiver, gleichzeitig aber auch ein pönaler und repressiver Charakter zu.40 Diese Ausrichtung des Instruments sowie die hohen Beträge sind denn auch die massgeblichen Gründe, weshalb pekuniäre Verwaltungssanktionen regelmässig in den Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien des übergeordneten Rechts fallen (dazu Ziff. 3). Inwiefern freilich eine Sanktion überhaupt eine erzieherische oder abschreckende Funktion entfalten kann, wenn sie nicht eine natürliche Person trifft, kann in Frage gestellt werden.41 Anzufügen ist, dass den pekuniären Verwaltungssanktionen keine unmittelbare restitutorische oder exekutorische Wirkung zukommt. Sie führen nicht zur unmittelbaren Beseitigung des Missstandes, der Anlass zu ihrer Ausfällung geboten hat, weshalb sie regelmässig im Verbund mit weiteren aufsichtsrechtlichen Verwaltungsmassnahmen ausgesprochen werden müssen (siehe Ziff. 4.4.4).

­

Direkte Sanktionierbarkeit von Unternehmen: Verstösst ein Unternehmen gegen eine ihm obliegende Verhaltenspflicht, kann es direkt ins Recht gefasst werden. Dieses Konzept der unmittelbaren Verantwortlichkeit von Unternehmen findet sich auch bei der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche bei Vertragsverletzungen oder Schadenersatzansprüchen. Für die Sanktionierung ist es nicht erforderlich, dass die Behörde den Rechtsverstoss einer natürlichen Person innerhalb des Unternehmens nachweisen kann. Vielmehr genügt der Beweis, dass der objektive Tatbestand verwirklicht wurde. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die Schuld einer spezifischen Person bei Rechtsverstössen durch Unternehmen wegen der komplexen Ar-

Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen, S. 1656.

RIEDO/NIGGLI, Verwaltungsstrafrecht, Teil 1, S. 49.

DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 68.

DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 68; KARLEN, Verwaltungsrecht, S. 474.

TAGMANN, Sanktionen, S. 81 f.; allgemein zu repressiven Instrumenten JAAG, Sanktionen, S. 13.

Vgl. betreffend die geldspielrechten Sanktionsbestimmungen BGE 140 II 384 E. 3.2.2 ­ Spielbank; betreffend das Kartellrecht BGE 139 I 72 E. 2 ­ Publigroupe; DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 68; KARLEN, Verwaltungsrecht, S. 474.

Botschaft zum Bundesgesetz über die steuerliche Behandlung finanzieller Sanktionen, S. 8514; Bericht des Bundesrates zur Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe für besonders schwere Straftaten, S. 10 m.w.H. Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass der Nachweis der abschreckenden Wirkung von Strafbestimmungen bis heute nicht gelungen ist, vgl. WIPRÄCHTIGER/KELLER, BSK-StGB, Art. 47 N 73; KILLIAS/KUHN/AEBI, Grundriss, Rz. 1006 ff., 1037.

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beitsorganisation oft nicht nachweisen lässt.42 Umstritten ist indessen, ob seitens des Unternehmens ein Verschulden vorliegen muss (vgl. Ziff. 4.3).

42 43

44 45

46 47

­

Rechtsfolge: Die rechtliche Konsequenz einer Verhaltenspflichtverletzung besteht in einer «Belastung» mit einem Betrag, der sich zumeist am Umsatz des Unternehmens orientiert (vgl. z. B. Art. 49a KG). In einzelnen Sacherlassen werden auch fixe Beträge pro Ereignis vorgeschrieben (vgl. z. B.

Art. 122aAIG). Um die Wirksamkeit von pekuniären Verwaltungssanktionen zu gewährleisten, sehen die Sacherlasse hohe bis sehr hohe Sanktionsbeträge vor. Die bisher höchste rechtskräftige Sanktion im Kartellrechtsbereich beträgt beispielsweise 186 Mio. Franken.43

­

Verhältnis zu anderen Durchsetzungsinstrumenten: Die pekuniären Verwaltungssanktionen stellen gegenüber dem im Marktaufsichtsbereich häufig vorgesehenen Bewilligungs- oder Konzessionsentzug in der Regel ein milderes Instrument dar.44 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Vollstreckung von pekuniären Verwaltungssanktionen nur auf dem Weg der Schuldbetreibung des betroffenen Unternehmens erfolgen kann, während eine Konkursbetreibung ausgeschlossen ist (vgl. Art. 40 VwVG i.V.m. Art. 43 Ziff. 1 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs [SchKG]45).

Somit bedeutet eine pekuniäre Verwaltungssanktion in der Regel keine unmittelbar existentielle Bedrohung des sanktionierten Unternehmens. Für die Abgrenzung bzw. das Verhältnis zwischen pekuniären Verwaltungssanktionen und anderen Durchsetzungsinstrumenten siehe Ziffer 2.4 bzw. 4.4.4.

­

Beeinflussung durch EU-Recht: Die im Entsende- und im Ausländerbereich angesiedelten pekuniären Verwaltungssanktionsbestimmungen46 befinden sich im Anwendungsbereich von EU-Vorgaben qua bilateraler Abkommen.

So hat die Schweiz als Schengen-assoziierter Staat47 zum SchengenBesitzstand gehörende abschreckende Sanktionen gegen Beförderungsunternehmer eingeführt, die Drittstaatenangehörige, welche nicht über die erforderlichen Reisedokumente verfügen, auf dem Luft- oder Seeweg aus einem

KARLEN, Verwaltungsrecht, S. 474.

BGE 146 II 217 ­ Swisscom ADSL. Die mitunter hohen Sanktionsbeträge in kartellrechtlichen Sanktionsverfahren rühren auch daher, dass das Kartellgesetz keine separate Bestimmung zur Einziehung von unrechtmässig erwirtschafteten Erträgen kennt (vgl.

demgegenüber etwa Art. 56 BGS oder Art. 58 Abs. 2 Bst. b FMG oder Art. 24 Abs. 2 Bst. e PG).

DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 64.

SR 281.1. Diese Ordnung wird derzeit im Rahmen der parlamentarischen Beratung zum Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Bekämpfung des missbräuchlichen Konkurses überprüft (vgl. BBl 2019 5193, 5216).

Vgl. Art. 9 EntsG bzw. Art. 122a und 122b AIG.

Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Notenaustauschs zwischen der Schweiz und der Europäischen Union betreffend die Übernahme des Schengener Grenzkodex und zu den Änderungen im Ausländer- und Asylrecht zur vollständigen Umsetzung des bereits übernommenen Schengen- und Dublin-Besitzstandes, S. 7942.

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Drittstaat in ihr Hoheitsgebiet verbringen.48 Im konkreten Anwendungsfall muss die Behörde somit sowohl die strafprozessualen Garantien des übergeordneten Rechts (BV, EMRK) wie auch das übernommene EU-Recht berücksichtigen.

2.4

Abgrenzung zu weiteren Durchsetzungsinstrumenten

Die Rechtsordnung kennt ­ neben den pekuniären Verwaltungssanktionen ­ eine breite Palette weiterer Instrumente, die ebenfalls der Durchsetzung von verwaltungsrechtlichen Pflichten dienen. Pekuniäre Verwaltungssanktionen sind von diesen wie folgt abzugrenzen:

48

49

50

51 52

53

­

Exekutorisch49 und restitutorisch50 wirkende Verwaltungsmassnahmen zielen auf die Abwehr von Gefahren oder auf Wiederherstellung der Verwaltungsrechtsordnung. Anders als pekuniäre Verwaltungssanktionen haben sie keine repressive oder präventive Wirkung und keinerlei Strafzweck.51 Die Frage der Anwendbarkeit der strafrechtlichen Garantien des übergeordneten Rechts stellt sich in diesen Verwaltungsmassnahmenverfahren daher grundsätzlich nicht; sie bilden denn auch nicht Gegenstand dieser Untersuchung.

­

Disziplinarmassnahmen richten sich gegen natürliche Personen, die sich in einem besonderen Rechtsverhältnis zum Staat befinden (z. B. Angehörige der Armee, Studierende, Angestellte des öffentlichen Dienstes etc.) oder die einer besonderen Aufsicht des Staates unterstehen (z. B. Angehörige der «freien Berufe» wie Rechtsanwälte oder Medizinalpersonen).52 Diesbezüglich gleichen die Disziplinarmassnahmen den pekuniären Verwaltungssanktionen, deren Adressaten ­ meist Unternehmen ­ sich typischerweise ebenfalls in einem Verwaltungsrechtsverhältnis befinden oder beaufsichtigt sind.53 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung haben sie jedoch keinen vergeltenden, sondern administrativen Charakter, da sie der Aufrechterhal-

Art. 26 Abs. 2 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) i.V.m. Art. 4 Richtlinie 2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985, ABl. L 187 vom 10. Juli 2001, S. 45.; vgl. dazu auch Urteil des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 3.2 ­ Swiss I.

Beispiele bilden die Schuldbetreibung für öffentlich-rechtliche Geldforderungen, die (antizipierte) Ersatzvornahme und die unmittelbaren Zwangsmassnahmen wie etwa die Schliessung eines Betriebs wegen Verletzung der Gesundheitsvorschriften. Aus der Literatur vgl. etwa HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 1442, 1478 ff.; LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, N 53 ff.; TANQUEREL, droit administratif, RZ. 1184 ff., 1173.

Beispiel ist der Widerruf einer Bewilligung aufgrund Wegfalls der Bewilligungsvoraussetzungen. Sie setzen kein Fehlverhalten des Betroffenen voraus. Aus der Literatur vgl. etwa TANQUEREL, droit administratif, RZ. 1197 ff.

JAAG, Sanktionen, S. 561 TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Verwaltungsrecht, § 32 Rz. 46 ff.; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 1505 f.; JAAG, Sanktionen, S. 572 f.; TANQUEREL, droit administratif, RZ. 1223 ff.

Vgl. DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 68.

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tung der guten Ordnung und nicht der Ahndung von Unrecht dienen.54 Disziplinarbussen fallen gemäss ständiger Gerichtspraxis55 und der Lehre56 somit grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien des übergeordneten Rechts. Vorbehalten bleiben allenfalls «empfindliche» Bussen57 sowie Konstellationen, in denen sich Disziplinarbussen (in einem separaten Verfahren) wegen Uneinbringlichkeit in Ersatzfreiheitsstrafe umwandeln lassen und eine gewisse Höhe erreichen.58

54 55 56 57 58

59 60

61 62

­

Entzieht die Verwaltungsbehörde der betroffenen Person aufgrund eines Fehlverhaltens zuvor gewährte Vorteile (z. B. eine Berufsausübungs- oder eine Betriebsbewilligung) oder gewährt diese gar nicht erst, handelt es sich um sog. administrative Rechtsnachteile.59 Deren rechtliche Einordnung ist in der Lehre umstritten.60 Da ein administrativer Rechtsnachteil keine Belastung mit einem Betrag im Sinn einer pekuniären Verwaltungssanktion darstellt, bleibt dieser Typus von der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert. Anzufügen ist, dass namentlich das aufsichtsrechtliche Berufsausübungsverbot gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts ­ trotz seiner repressiven Wirkung ­ nicht als strafrechtliche Anklage im Sinn von Artikel 6 EMRK gilt.61 Auch nach der neusten Rechtsprechung des EGMR fallen derartige Massnahmen, welche nicht in erster Linie auf eine Vergeltung begangenen Unrechts, sondern auf die (Wieder-)Herstellung des öffentlichen Vertrauens in einen bestimmten Berufsstand zielen, nicht in den Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien der EMRK.62

­

Verwaltungsstrafen sind repressiv und präventiv wirkende Instrumente vom Typ «Busse», «Geldstrafe» oder «Freiheitsstrafe». In gesetzessystematischer Hinsicht sind sie jeweils in einem eigenen Erlassabschnitt eingeordnet. Sie

Vgl. statt vieler BGE 128 I 346 E. 2.2.

Urteil des Bundesgerichts 2C_407/2008 vom 23. Oktober 2008 E. 3.5; BGE 128 I 346 E. 2.3; 121 I 379 E. 3c/aa; zum Ganzen HERZOG, Art. 6 EMRK, S. 201 ff., 255 ff., 304 f.

Vgl. statt vieler TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Verwaltungsrecht, § 42 Rz. 47; sowie ausführlich zur Problematik WALDMANN, Disziplinarwesen, S. 95 ff., insb. S. 119.

Vgl. BGE 128 I 346 E. 2.3.

Vgl. Urteile des EGMR Weber gegen Schweiz vom 22. Mai 1990, Nr. 11034/84, Serie A Bd. 177 § 34; O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 60.

TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Verwaltungsrecht, § 32 Rz. 39 ff.; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 1520 ff.

LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, N 48 und 72 ff.; WIEDERKEHR/RICHLI, Verwaltungsrecht, § 7 Rz. 3165 ff.; vgl. auch MOOR/POLTIER, Droit administratif: vol. II, Ziff. 1.4.3; TANQUEREL, droit administratif, RZ. 1191.

Vgl. BGE 142 II 243 E. 3.4 bezüglich des finanzmarktrechtlichen Berufsverbotes (Art. 33 Finanzmarktaufsichtsgesetzes [FINMAG, SR 956.1]).

Solche Massnahmen würden sich nach der Auffassung des EGMR an einen bestimmten Berufsstand mit einem besonderen Status richten, weshalb einem Berufsausübungsverbot nicht dieselbe repressive und abschreckende Wirkung wie eine strafrechtliche Sanktion zukomme, vgl. Urteil des EGMR Rola gegen Slowenien vom 4. Juni 2019, Nr. 12096/14 und 39335/16, § 54, 56 f., 64, 66 unter Verweis auf die Urteile des EGMR MüllerHartburg gegen Österreich vom 19. Februar 2013, Nr. 47195/06 § 44 f.; Biagioli gegen San Marino vom 13. September 2016, Nr. 64735/14 § 54 ff.; a.A. GRAF, Strafrechtlicher Umgang, S. 46.

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adressieren in der Regel natürliche Personen.63 In gewissen Aspekten gleichen sie den pekuniären Verwaltungssanktionen. Gleichwohl unterscheiden sich die beiden Instrumente, insbesondere durch das anwendbare Verfahrensrecht (vgl. Ziff. 2.5).

2.5

Anwendbares Verfahrensrecht

Aufgrund der besonderen Natur von pekuniären Verwaltungssanktionen stellt sich die Frage nach dem anwendbaren Verfahrensrecht. Zur Anwendung kommt entweder das Verwaltungsverfahrens- oder das (Verwaltungs-)Strafverfahrensrecht. Vorauszuschicken ist, dass es nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR den Vertragsstaaten überlassen ist, nach welchem Verfahrensgesetz administrative Sanktionen verhängt werden, die als strafrechtliche Anklage i.S.d. EMRK gelten, sofern die Garantien nach Artikel 6 EMRK beachtet werden.

Das Bundesgericht hat betreffend der kartell- und der geldspielrechtlichen Sanktionsbestimmungen entschieden, dass das Verfahren dem Verwaltungsverfahrensgesetz folgt.64 Somit kommen weder das Bundesgesetz vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR)65 noch die Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO)66 in diesen Bereichen zur Anwendung. Indessen erfährt das Verwaltungsverfahren gewisse Anpassungen, wenn das Verfahren in den Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK fällt,67 wie dies für pekuniäre Verwaltungssanktionen regelmässig der Fall ist (vgl. Ziff. 3). Gemäss Rechtsprechung bedeutet dies, dass in Verfahren auf Erlass von pekuniären Verwaltungssanktionsverfügungen die Regeln des Verwaltungsverfahrensrechts im Lichte der konventions- und verfassungsrechtlichen Strafrechtsgarantien auszulegen und im Konfliktfall anzupassen sind.68 Es ist davon auszugehen, dass sich die dargelegte Rechtsprechung betreffend die kartell- und geldspielrechtlichen Sanktionsverfahren generell auf die hier untersuchten Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen übertragen lässt, soweit der Vollzug Sache des Bundes ist. Entsprechend richten sich pekuniäre Verwal63 64

65 66 67 68

Vgl. etwa Art. 6 VStrR.

Vgl. BGE 146 II 217 E. 8.5.3 ­ Swisscom ADSL, BGE 140 II 384 E. 3.3.1 m.w.H. ­ Spielbank; ferner Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 649 ff., insb. 652 ­ Swisscom ADSL. Ein Teil der kartellrechtlichen Lehre bejaht die Anwendbarkeit des Verwaltungsverfahrensgesetzes, vgl. etwa ZIRLICK/TAGMANN, BSK-KG, N. 7c und 40 zu Art. 27 KG. Ein anderer Teil der Lehre ordnet die (kartellrechtlichen) pekuniären Verwaltungssanktionen hingegen dem Strafrecht zu und postuliert die Anwendbarkeit des Strafgesetzbuches bzw. des Verwaltungsstrafrechts, vgl. NIGGLI/RIEDO, Verwaltungsstrafrecht, Teil 2, S. 52; NIGGLI/RIEDO, BSK-KG, N 50 ff. vor Art. 49a ­ 53 KG.

SR 313.0 SR 312.0 Vgl. BGE 146 II 217 E. 8.5.3 ­ Swisscom ADSL, mit Hinweis auf BGE 139 I 72 ­ Publigroupe sowie Urteil des Bundesgerichts 2C_1065/2014 vom 26. Mai 2016 E. 8.

Vgl. BGE 146 II 217 E. 8.5.3 ­ Swisscom ADSL; BGE 140 II 384 E. 3.3.1 m.w.H. ­ Spielbank; ferner Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 649 ff., insb. 652 ­ Swisscom ADSL. Die konventions- und verfassungsrechtlichen Strafrechtsgarantien sind auch in Verfahren gemäss kantonalem Verfahrensrecht zu beachten.

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tungssanktionsverfahren im Grundsatz nach dem VwVG. Einzelne Sacherlasse erklären das VwVG ausdrücklich als anwendbar.69 Vorbehalten bleiben spezifische Verfahrensbestimmungen in den jeweiligen Sacherlassen (vgl. Art. 4 VwVG). Der in der Sache zuständige Gesetzgeber kann somit sektoriell ergänzende Verfahrensvorschriften erlassen, wie er das im Bereich der pekuniären Verwaltungssanktionen punktuell auch gemacht hat. Freilich sollte er dabei nicht ohne Not von der verfahrensrechtlichen Grundordnung abweichen.70 Für bundesrechtliche Bestimmungen, die wie das Entsendegesetz in die Vollzugszuständigkeit der Kantone fallen, kommt das jeweilige kantonale Verfahrensrecht zu Anwendung. Vorbehalten sind die im Sacherlass enthaltenen verfahrensrechtlichen Vorgaben.

2.6

Zwischenfazit

Die pekuniäre Verwaltungssanktion ist vorwiegend ein Instrument des Wirtschaftsaufsichtsrechts. Es dient der Durchsetzung des Verwaltungsrechts im Umfeld von regulierten Märkten und erlaubt, kommerziell erfolgreichen, aber rechtswidrigen Praktiken nachträglich den wirtschaftlichen Erfolg zu entziehen, um einen Anreiz zu zielkonformem Verhalten zu schaffen.

Das Bundesrecht sieht pekuniäre Verwaltungssanktionen in insgesamt 13 Erlassen vor. Die Bestimmungen ermöglichen die Belastung mit einem teils hohen bis sehr hohen Betrag. Das Instrument hat repressive Züge und bezweckt sowohl spezial- als auch generalpräventive Wirkungen.

Pekuniäre Verwaltungssanktionen werden in Form von anfechtbaren Verfügungen in Anwendung des Verwaltungsverfahrensgesetzes angeordnet. Fällt das pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren in den Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK bzw. Artikel 32 BV, sind die Regeln des Verwaltungsverfahrensrechts im Lichte der konventions- und verfassungsrechtlichen Strafrechtsgarantien auszulegen und im Konfliktfall anzupassen. Da die strafprozessualen Garantien einen weitergehenden Schutz der Partei vorschreiben als das Verwaltungsrecht, ergeben sich in der Praxis verschiedene rechtliche Fragestellungen, auf welche im Folgenden einzugehen ist.

3

Garantien des übergeordneten Rechts

Die grundlegenden Rechte der verfahrensbetroffenen Parteien ergeben sich aus einem Normengeflecht, das neben den Grundrechten der Bundesverfassung insbesondere auch Garantien des internationalen Menschenrechtsschutzes umfasst. Im vorliegenden Zusammenhang stehen dabei die Vorgaben für strafrechtliche Verfahren im Zentrum, welche in der EMRK und dem Zusatzprotokoll 7 zur EMRK festgelegt sind (Ziff. 3.1). Hinzu treten die allgemeinen Verfahrensgrundrechte, die strafprozessualen Garantien sowie die rechtsstaatlichen Grundsätze der Bundesverfas69 70

Vgl. etwa Art. 39 KG und Art. 122c Abs. 3 AIG.

Vgl. zum Ganzen TSCHANNEN, VwVG-Kommentar, N 5 ff. zu Art. 4 VwVG.

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sung (Ziff. 3.2). Näher zu beleuchten ist anschliessend, unter welchen Voraussetzungen die Garantien des übergeordneten Rechts in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren zu berücksichtigen sind (Ziff. 3.3 ff.).

3.1

Garantien gemäss Art. 6 und 7 EMRK sowie Art. 2 und 4 ZP 7 EMRK

Die EMRK enthält in Artikel 6 und 7 sowie in Artikel 2 und 4 des Zusatzprotokolls 7 zur EMRK (ZP 7 EMRK)71 Vorgaben für strafrechtliche Verfahren. Artikel 6 EMRK gewährleistet das Recht auf ein faires Verfahren. Dessen Teilgehalte umfassen nach der Rechtsprechung des EGMR unter anderem die Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur-Grundsatz), die Unschuldsvermutung (in dubio pro reo) sowie das Recht auf Gerichtszugang. Weitere Teilgehalte sind der Anspruch auf rechtliches Gehör, auf eine öffentliche und mündliche Verhandlung, auf öffentliche Verkündung des Entscheids, auf eine Entscheidung innert angemessener Frist, das Recht auf Verteidigung sowie das Recht auf einen unentgeltlichen Dolmetscher.

Artikel 7 EMRK verankert den Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege, woraus sich unter anderem der Gesetzesvorbehalt sowie das Gebot der Bestimmtheit ergeben. Weiter gewährleistet Artikel 4 ZP 7 zur EMRK das Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden (sog. Doppelbestrafungsverbot, ne bis in idem-Grundsatz). Schliesslich ist in Artikel 2 ZP 7 EMRK der Anspruch auf ein Rechtsmittel in Strafsachen verankert.

Diese strafprozessualen Garantien finden bei Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage Anwendung. Ob die Anklage strafrechtlicher Natur im Sinne von Artikel 6 oder 7 EMRK ist, beurteilt sich nach den sog. Engel-Kriterien.72 Diese Kriterien gelten alternativ und umfassen: 1)

71 72

die Zuordnung der Tat nach nationalem Recht: Falls die Tat nach nationalem Recht in den Bereich des Strafrechts fällt, ist Artikel 6 EMRK grundsätzlich anwendbar;

SR 0.101.07 Urteil des EGMR Engel u. a. gegen Niederlande vom 8. Juni 1976, Nr. 5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72 und 5370/72, Serie A22, Ziff. 80 ff., letztmals bestätigt im Urteil des EGMR Rola gegen Slowenien vom 4. Juni 2019, Nr. 12096/14 und 39335/16 § 54 (betreffend Art. 6 EMRK); sowie Urteil des EGMR Zaja gegen Kroatien vom 4. Oktober 2016, Nr. 37462/09 § 86 (betreffend Art. 7 EMRK). Bei der Operationalisierung der Kriterien des Gerichtshofes können folgende Aspekte hilfreich sein: (1) Die Vorwerfbarkeit des Gesetzesverstosses wird bei der Bemessung der Sanktion bewertet (Verschulden). (2) Die Sanktion hat eine abschreckende und strafende Wirkung (Vergeltung). (3) Die Sanktion ist in der Regel eine Reaktion auf eine zurückliegende Rechtsverletzung. Die Gefahrenabwehr bzw. Störungsbeseitigung stehen nicht im Vordergrund. (4) Die zugrundeliegende Bestimmung richtet sich an jedermann und ist nicht auf eine bestimmte Personengruppe oder ein Sonderrechtsverhältnis beschränkt (generalpräventiv). (5) Die Sanktion geht über die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes hinaus (mehr als blosse Restitution).

(6) Die Höhe der Sanktion greift erheblich in die (finanziellen) Rechte des Betroffenen ein.

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2)

die Natur des Vergehens: Eine strafrechtliche Natur ist anzunehmen, wenn die Vorschrift abschreckende und strafende Zwecke verfolgt und sich nicht an einen besonderen Personenkreis richtet, sondern für jedermann, d. h. generell-abstrakt, verpflichtend ist;73

3)

die Natur und Schwere der Sanktion: Massgeblich ist die gesetzliche Strafandrohung (Höchststrafe); auch die Möglichkeit der Umwandlung der Busse in eine Freiheitsstrafe spricht für die Anwendbarkeit von Artikel 6 EMRK.74

Die Engel-Kriterien haben zu einer Ausdehnung des Schutzbereichs von Artikel 6 EMRK über das Kernstrafrecht (StGB75, Verwaltungsstrafrecht) hinaus geführt.

Dies zeigt sich exemplarisch an pekuniären Verwaltungssanktionsbestimmungen.

Diese sind im schweizerischen Recht dem Verwaltungsrecht und nicht dem Strafrecht zugeordnet. Trotzdem können die strafprozessualen Garantien aufgrund des zweiten oder des dritten Engel-Kriteriums zur Anwendung gelangen. Auf die Einzelheiten ist in Ziffer 3.3 zurückzukommen.

Der Begriff der strafrechtlichen Anklage gemäss Artikel 6 Absatz 1 EMRK wird vom EGMR unabhängig vom innerstaatlichen Recht bestimmt. Die autonome Auslegung bedeutet, dass die Anwendung von Artikel 6 EMRK keine formelle Anklage voraussetzt. Als Anklage gilt die amtliche Benachrichtigung der betroffenen Person durch die zuständige Behörde über die Anschuldigung, eine strafbare Handlung begangen zu haben. Eine Anklage liegt auch ab dem Zeitpunkt vor, ab welchem die Situation der betroffenen Person durch behördliche Handlungen aufgrund eines Verdachts gegen sie erheblich beeinträchtigt wird.76 Führt die Prüfung der EngelKriterien zum Schluss, dass eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Artikel 6 EMRK vorliegt, kommen die strafprozessualen Garantien von Artikel 6 EMRK zur Anwendung.

Eine Strafe im Sinn von Artikel 7 EMRK liegt vor, wenn die Sanktion infolge einer Verurteilung für eine Straftat ausgesprochen wurde. Weitere Kriterien, die in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden können, sind namentlich die Natur und der Zweck der Sanktion, die Charakterisierung durch das nationale Recht, das Verfahren betreffend Annahme und Vollzug der Sanktion sowie die Schwere der Sanktion (sog. Welch-Kriterien).77 Führt die Prüfung dieser Kriterien zum Schluss, dass eine Strafe im Sinne von Artikel 7 EMRK vorliegt, kommen die Garantien von Artikel 7 EMRK zur Anwendung.

Für die Anwendbarkeit des Doppelbestrafungsverbots gemäss Artikel 4 ZP 7 EMRK bzw. zur Auslegung des Begriffs des Strafverfahrens sind die zu den relevanten Begriffen in Artikel 6 und 7 EMRK entwickelten Grundsätze heranzuziehen, sodass 73 74 75 76 77

Vgl. MEYER, EMRK Kommentar 2015, Art. 6 N 25; MEYERLADEWIG/HARRENDORF/KÖNIG, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 27.

EGMR-Urteil, Weber gegen Schweiz vom 22. Mai 1990, Nr. 11034/84, Serie A177, Ziff. 34; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, EMRK Handkommentar 2017, Art. 6 N 27.

SR 311.0 Urteil des EGMR Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 249.

Urteile des EGMR Welch gegen Vereinigtes Königreich vom 9. Februar 1995, Nr. 17440/90, Serie A Bd. 307-A § 28; G.I.E.M. S.R.L. u. a. gegen Italien vom 28. Juni 2018 [Grosse Kammer], Nr. 1828/06 u. a. § 211.

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auch hier die Engel-Kriterien anwendbar sind.78 Ebenso kommt der Anspruch auf ein Rechtsmittel in Strafsachen (Art. 2 ZP 7 EMRK) zur Anwendung, wenn eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Artikel 6 EMRK vorliegt.79 Auf die strafprozessualen Garantien der EMRK können sich, neben natürlichen Personen, gemäss der Praxis des EGMR grundsätzlich auch juristische Personen und Personengesellschaften berufen, mithin also «Unternehmen».80 Zu beachten ist, dass die strafprozessualen Garantien der EMRK bei juristischen Personen ­ jedenfalls gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ­ nicht unbedingt in gleicher Weise anwendbar sind wie bei natürlichen Personen.81

3.2

Garantien gemäss Art. 29, 29a, 30 und 32 BV

Die schweizerische Bundesverfassung enthält allgemeine Verfahrensgrundrechte (Art. 29, 29a, 30 BV), strafprozessuale Garantien (Art. 32 BV) sowie rechtsstaatliche Grundsätze (Art. 5 BV), die den Garantien von Artikel 6 und 7 EMRK sowie Artikel 2 und 4 ZP 7 zur EMRK zu einem grossen Teil entsprechen. Sie sind in Verfahren zum Erlass von pekuniären Verwaltungssanktionen bzw. bei der gesetzlichen Ausgestaltung der Verfahren und der Verwaltungssanktionsnormen ebenfalls zu beachten. Ob ein schweizerisches Gericht eine Beschwerde gegen eine verhängte Sanktion unter dem Aspekt der Verfassungsmässigkeit oder der EMRK-Konformität oder unter beiden Aspekten prüft, hängt auch davon ab, welche Garantien die Beschwerdeführerin oder der Beschwerdeführer anruft. Die Auslegung der Verfassungsgarantien und jene der parallelen EMRK-Garantien beeinflussen sich gegenseitig. Die Rechtsprechung der Schweizer Gerichte orientiert sich stark an der Rechtsprechung des EGMR.82 Die in Artikel 29, 29a, 30 und 32 BV verankerten Garantien sind in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Sie umreissen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an rechtsstaatliche Verfahren vor Gerichten und Verwaltungsbehörden. In ihnen widerspiegelt sich nicht nur die frühere schöpferische Praxis des Bundesgerichts zu Artikel 4 der Bundesverfassung von 1874 (aBV), sondern sind auch die Einflüsse der EMRK und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II)83 erkennbar.84 78

79 80 81

82 83 84

Urteile des EGMR A. und B. gegen Norwegen vom 15. November 2016 [Grosse Kammer], Nr. 24130/11 und 29758/11, Recueil CourEDH 2016 § 105 ff.; Zolotukhin gegen Russland vom 10. Februar 2009 [Grosse Kammer], Nr. 14939/03, Recueil CourEDH 2009 § 52 f.

Urteil des EGMR Kamburov gegen Bulgarien vom 23. April 2009, Nr. 31001/02 § 22.

Urteile des EGMR Grande Stevens u. a. gegen Italien vom 4. März 2014, Nr. 18640/10 u. a.; SA-Capital Oy gegen Finnland vom 14. Februar 2019, Nr. 5556/10.

Vgl. BGE 147 II 144 E. 5.2 ­ Boykott Apple Pay; BGE 140 II 384 E. 3.3.4 ­ Spielbank.

Aus der Literatur vgl. beispielsweise VAN KEMPEN PIET HEIN, The Recognition of Legal Persons in International Human Rights Instruments: Protection Against and Through Criminal Justice?, in: Corporate Criminal Liability, 2011, S. 355­389, S. 372 f.: «Indeed, the ECtHR's case law implies that these and other human rights accrue to legal persons but not necessarily under the same conditions as they apply to human beings.» Vgl. etwa BGE 142 IV 207 E. 8.3 ­ Bankunterlagen.

SR 0.103.2 Vgl. dazu STEINMANN, SGK-BV, N 1, 4 f. zu Art. 29 BV.

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85 86 87 88 89 90

­

Artikel 29a BV garantiert für Rechtsstreitigkeiten in allen Rechtsgebieten den Zugang zu einem gerichtlichen Verfahren. Diese Rechtsweggarantie geht insofern über Artikel 6 Absatz 1 EMRK hinaus, als der Gerichtszugang nicht nur für «strafrechtliche Anklagen» und «zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen» gewährleistet ist, sondern auch für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 6 Absatz 1 EMRK fallen. Der Gesetzgeber kann die richterliche Beurteilung jedoch in Ausnahmefällen ausschliessen und die verfassungsrechtliche Rechtsweggarantie einschränken. Fällt eine Rechtsstreitigkeit in solchen Fällen aber in den Anwendungsbereich von Artikel 6 Absatz 1 EMRK, so bleibt der Gerichtszugang gewährleistet. Artikel 6 Absatz 1 EMRK geht in diesen Fällen somit weiter als Artikel 29a BV.

­

Artikel 29 BV verankert in Anlehnung an einzelne Teilgehalte von Artikel 6 Absatz 1 EMRK den grundlegenden Anspruch auf ein gerechtes (faires) Verfahren, den Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist, den Anspruch auf rechtliches Gehör sowie auf unentgeltliche Rechtspflege und einen unentgeltlichen Rechtsbeistand. Diese Garantien gelten nicht nur für Gerichtsverfahren, sondern auch für Verwaltungsverfahren. Der Anwendungsbereich dieser Garantien ist insofern weiter als Artikel 6 Absatz 1 EMRK.

­

Artikel 30 Absatz 1 und 3 BV enthalten grundlegende Anforderungen an Verfahren, die sich an Artikel 6 Absatz 1 EMRK orientieren (Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht sowie auf öffentliche Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung). Seit dem Inkrafttreten der Rechtsweggarantie am 1. Januar 2007 hat der Anwendungsbereich von Artikel 30 Absatz 1 und 3 BV insofern eine Ausweitung erfahren, als die entsprechenden Garantien auch für die gerichtliche Beurteilung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 6 Absatz 1 EMRK fallen, zu beachten sind.

Die Verfassungsgarantien gelten für sämtliche gerichtlichen Verfahren aller Instanzen.85 Für Strafverfahren hat das Bundesgericht die Anwendung der Garantien auf Entscheide ausgeweitet, mit denen eine nichtgerichtliche Behörde ein Verfahren erledigt.86 Dies trifft namentlich auf Strafbefehle, Einstellungen nach Artikel 53 StGB87 und erstinstanzliche Einstellungsverfügungen88 der Staatsanwaltschaft sowie erstinstanzliche Strafbescheide der Verwaltungsbehörden in Anwendung des VStrR89 zu. Sofern pekuniäre Verwaltungssanktionen als «strafrechtliche Anklage» im Sinn von Artikel 6 Absatz 1 EMRK betrachtet werden können, ist davon auszugehen, dass diese Rechtsprechung auf sie ebenfalls Anwendung findet.90 STEINMANN, SGK-BV, N 10 zu Art. 30 BV, mit Hinweisen auf die Praxis.

Vgl. dazu auch REICH, BSK-BV, N 52 zu Art. 30 BV.

BGE 137 I 16 E. 2.3.

BGE 134 I 286 E. 6.3.

BGE 124 IV 234 E. 3 zum erstinstanzlichen Strafbescheid des BAZL.

Die Lehre ist sich jedoch in der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 30 Abs. 1 und 3 BV im Verwaltungsverfahren nicht einig. Vgl. namentlich HERZOG, Art. 6 EMRK, S. 333 ff.

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­

3.3

Artikel 32 BV enthält in Anlehnung an Artikel 6 Absatz 2 und 3 EMRK sowie Artikel 2 ZP 7 zur EMRK spezifische Garantien, die für das Strafverfahren gelten. Ihre Anwendbarkeit bestimmt sich wie bei Artikel 6 EMRK nach den sog. Engel-Kriterien, d. h. sie kommen nicht nur im Bereich des Kernstrafrechts, sondern namentlich auch bei der Verhängung von strafrechtsähnlichen Verwaltungssanktionen zur Geltung (siehe dazu Ziff. 3.4).91 Artikel 32 Absatz 1 (Unschuldsvermutung) und Absatz 2 BV (Recht auf wirksame Verteidigung) gelten für das gesamte Strafverfahren (Strafuntersuchung und Gerichtsverfahren). Der Kern der Unschuldsvermutung (Grundsatz in dubio pro reo als Beweiswürdigungs- und materielle Beweislastregel) richtet sich indessen in erster Linie an die zum Entscheid berufene Instanz zum Urteilszeitpunkt. Dies ist in der Regel ein Gericht, kann aber im Strafbefehlsverfahren auch die Staatsanwaltschaft oder im Verwaltungsstrafverfahren eine Verwaltungsbehörde sein.92 Die Unschuldsvermutung als Beweislastregel hat indessen auch Auswirkungen auf die Ausgestaltung des Verfahrens zur Durchsetzung von strafrechtsähnlichen Verwaltungssanktionsnormen (Stichworte Umkehr der Beweislast, gesetzliche Vermutungen) und richtet sich somit auch an den Gesetzgeber. Weiter statuiert Artikel 32 Absatz 3 BV eine Rechtsmittelgarantie, die über Artikel 29a BV hinaus geht.

Anwendbarkeit der Garantien in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren

In einem pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren sind zunächst die rechtsstaatlichen Grundsätze sowie die allgemeinen Verfahrensgrundrechte anwendbar (vgl.

Ziff. 3.2). Insofern besteht kein Unterschied zu anderen Verwaltungsverfahren. Die Besonderheit des pekuniären Verwaltungssanktionsverfahrens besteht darin, dass zusätzlich die strafprozessualen Garantien der EMRK sowie der Bundesverfassung zur Anwendung gelangen können. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich nach den Engel-Kriterien (vgl. Ziff. 3.1).

Der EGMR sowie die schweizerischen Gerichte haben bereits verschiedentlich Gelegenheit gehabt, sich zur Anwendbarkeit der strafprozessualen Garantien auf pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren zu äussern: ­

91 92 93

Kartellrecht: Der EGMR hat im Urteil Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien betreffend ein Kartellverfahren mit hohen Bussgeldern festgehalten, dass Artikel 6 EMRK grundsätzlich anwendbar ist.93 Das Bundesgericht ordnet die kartellrechtlichen Verwaltungssanktionen nach Artikel 49a KG

BGE 139 I 72 E. 2.2.2 ­ Publigroupe.

Vgl. BGE 139 I 72 E. 4.5 in Verbindung mit E. 8.3 ­ Publigroupe.

Urteil des EGMR, Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien vom 27. September 2011, Nr. 43509/08 § 44.

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ebenfalls dem Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien zu.94 Demnach haben kartellrechtliche Sanktionen nach Artikel 49a KG den Charakter einer strafrechtlichen Anklage im Sinn von Artikel 6 EMRK, weshalb die entsprechenden Garantien von Artikel 6 und 7 EMRK und Artikel 32 BV grundsätzlich anwendbar sind.

­

Geldspielrecht: Das Bundesgericht hat betreffend die im mittlerweile aufgehobenen Spielbankengesetz vorgesehene pekuniäre Verwaltungssanktion95 entschieden, dass diese Parallelen zu jenen nach Artikel 49a KG aufweist96.

Es hat erkannt, dass ihr grundsätzlich ein präventiver, gleichzeitig aber auch ein pönaler und repressiver Charakter zukommt. Das Bundesgericht kam daher zum Schluss, dass es sich bei dieser pekuniären Verwaltungssanktion um eine Massnahme im Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK handelt. Es ist davon auszugehen, dass selbiges auf Artikel 100 sowie 109 BGS zutrifft.

­

Luftverkehrsrecht: Die gegen Luftverkehrsunternehmen gerichtete pekuniäre Verwaltungssanktion nach Artikel 122a AIG hat gemäss Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts den Charakter einer strafrechtlichen Anklage im Sinn von Artikel 6 EMRK.97 Dies folge aus der abschreckenden sowie vergeltenden Wirkung wie auch der Schwere der angedrohten Sanktion.

­

Landwirtschaftsrecht: In pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren gestützt auf Artikel 169 Absatz 1 Buchstabe h LwG sind die strafprozessualen Garantien der EMRK und der Bundesverfassung gemäss Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu beachten.98

Für die pekuniären Verwaltungssanktionsbestimmungen im Postrecht (Art. 25 PG), im Fernmelderecht (Art. 60 FMG) und im Radio- und Fernsehbereich (Art. 90 RTVG) liegen zwar keine gerichtlichen Beurteilungen der Anwendbarkeit der strafprozessualen Garantien vor, jedoch besteht eine entsprechende behördliche Praxis.

Die im Bereich des Steuerrechts vorgesehene pekuniäre Verwaltungssanktion (Art. 12 ALBAG) wurde seit ihrem Inkrafttreten im Jahr 2020 zwar noch nie angewendet, jedoch geht die zuständige Vollzugsbehörde von der Anwendbarkeit der

94

95 96 97 98

BGE 139 I 72 E. 2 ­ Publigroupe. Vgl. auch BGE 144 II 194 E. 5.1; 143 II 297, E. 9.1; zuletzt Urteil des Bundesgerichts 2C_149/2018 vom 4. Februar 2021 E. 8.2 ­ Hors Liste Medikamente; ausführlich Urteile des BVGer B-831/2011 vom 18. Dezember 2018 E. 1475 ff. ­ SIX/DCC (noch nicht rechtskräftig); B-807/2012 vom 25. Juni 2018 E. 6.3 ­ Strassen- und Tiefbau im Kt. Aargau/Erne, sowie Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 5.5.2. f. ­ Nikon.

Vgl. Art. 51 des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1998 über Glückspiele und Spielbanken, aufgehoben am 29. September 2017 (AS 2018 5103).

BGE 140 II 384 ­ Spielbank.

Urteil des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 4.3.2 ­ Swiss International Airlines, bestätigt mit Urteil des BVGer A-597/2020 vom 23. Februar 2021 E. 5.3.

Urteil des BVGer B-6592/2010 vom 18. März 2011 E. 3.2.

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strafprozessualen Garantien aus.99 Zur Qualifikation der im Entsendegesetz vorgesehenen pekuniären Verwaltungssanktionen (Art. 9 EntsG) liegt kaum Praxis vor.100 Insgesamt ist für die Mehrheit der im geltenden Recht vorhandenen pekuniären Verwaltungssanktionsbestimmungen von der Anwendbarkeit der strafprozessualen Garantien auszugehen. Für jene Sacherlasse, zu denen keine höchstrichterliche Praxis vorliegt, besteht zu dieser zentralen Frage keine abschliessende Klarheit.101 Auf die einzelnen Garantien im Kontext von pekuniären Verwaltungssanktionen wird in Ziffer 4 ff. eingegangen.

3.4

Qualitative Abstufung in «Randbereichen» des Strafrechts

Gemäss dem EGMR sind das Recht auf ein faires Verfahren und dessen Teilgehalte im Kontext einer gesamtheitlichen Betrachtung zu sehen. Entscheidend ist demnach, dass das Verfahren insgesamt fair ist.102 Diese Frage beurteilt sich gestützt auf eine Vielzahl von Faktoren103 und die konkreten Umstände des Verfahrens104. In Anbetracht des erweiterten Spektrums der unter den strafrechtlichen Teil von Artikel 6 EMRK fallenden Verfahren hat der EGMR im Fall Capital Oy gegen Finnland bestätigt, dass es «strafrechtliche Anklagen» von unterschiedlichem Gewicht gibt.105 Während die Anforderungen an ein faires Verfahren im «harten Kern des Strafrechts»106 am strengsten sind, gibt es Fälle, in denen die Verfahrensgarantien nicht unbedingt mit voller Strenge gelten. In Randbereichen wie zum Beispiel dem Wettbewerbsrecht, dem Zollrecht oder dem Steuerrecht können daher gewisse Abstriche 99

100

101

102

103

104 105 106

In der Lehre wird die Bestimmung als «Strafe» bezeichnet, ohne auf deren Rechtsnatur näher einzugehen, vgl. HUBER MARKUS F. U. A., Blickpunkt International, StR 74/2019, pp. 876­885, S. 884; DUSS FABIAN/DIETSCHI MARC, Dokumentationsvorschriften im Transfer Pricing, EF 9/17 S. 616­620, S. 620.

Siehe Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 8. Februar 2016, in: BVR 2017 S. 255 E. 3.2 ff., in welchem der strafrechtliche Charakter der Verwaltungssanktion nach Art. 9 Abs. 2 Bst. a EntsG verneint wurde, unter anderem auch «angesichts des Bagatellcharakters der in Frage stehenden finanziellen Belastung». Zu berücksichtigen ist indessen, dass die Obergrenze der Verwaltungssanktionen gemäss Art. 9 Abs. 2 Bst. b und f EntsG seither von CHF 5 000 auf CHF 30 000 erhöht wurde, vgl. Botschaft zur Änderung des Entsendegesetzes.

Sollte in Zukunft das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion in weiteren Sacherlassen eingeführt werden, empfehlen sich daher Ausführungen zu den Intentionen des Gesetzgebers in den Materialien.

Siehe zum Beispiel Urteile des EGMR SA-Capital Oy gegen Finnland vom 14. Februar 2019, Nr. 5556/10; Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 251.

Eine nicht abschliessende Liste dieser Faktoren findet sich in Urteil des EGMR Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr.

50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 274.

Urteil des EGMR Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 250 f.

Urteil des EGMR SA-Capital Oy gegen Finnland vom 14. Februar 2019, Nr. 5556/10 § 71 m.w.H.

Der EGMR spricht von «the hard core of criminal law», vgl. Urteil des EGMR SA-Capital Oy gegen Finnland vom 14. Februar 2019, Nr. 5556/10 § 71.

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zulässig sein.107 Der genaue Umfang der Abstufung hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. So hat der EGMR es beispielsweise für zulässig erachtet, dass ein Verwaltungssanktionsverfahren im Kartellrechtsbereich in erster Instanz von einer Verwaltungsbehörde statt einem unabhängigen Gericht entschieden wird (vgl. eingehender Ziff. 5.1.1) oder dass auf eine mündliche Verhandlung verzichtet wird (vgl. dazu Ziff. 5.5).

Auch gemäss der schweizerischen Gerichtspraxis betreffend pekuniäre Verwaltungssanktionen gelangen die Verfahrensgarantien der EMRK nicht umfassend zur Anwendung und beanspruchen keine absolute Geltung. So haben das Bundesgericht bzw. das Bundesverwaltungsgericht in den geldspiel- und kartellrechtlichen Fällen erwogen, dass die Garantien in eine einzelfallbezogene Interessenabwägung einzubeziehen sind. Dabei seien auch allfällige Besonderheiten zu berücksichtigen, soweit sie sich aus der Rechtsnatur von Unternehmen herleiten.108 Auf die Einzelheiten wird in Ziffer 4 und 5 eingegangen.

3.5

Zeitliche Aspekte der Anwendbarkeit

Die strafprozessualen Garantien der EMRK kommen grundsätzlich ab dem Zeitpunkt der Anklageerhebung109 zur Anwendung. Artikel 6 EMRK bezweckt primär, ein faires Verfahren durch ein Gericht zu gewährleisten. Der EGMR folgt dabei einer ganzheitlichen Betrachtungsweise und bezieht auch die Untersuchung und Ermittlung mit ein. Die Garantien von Artikel 6 EMRK gelten dann bereits, sofern die anfängliche Nichteinhaltung dieser Garantien geeignet ist, die Fairness des Verfahrens ernsthaft zu beeinträchtigen.110 Zu nennen sind namentlich die Ansprüche nach Artikel 6 Absatz 3 EMRK (Verteidigungsrechte, einschliesslich rechtlicher Gehörsanspruch). Gleiches gilt unter anderem für die Selbstbelastungsfreiheit (nemo-tenetur-Grundsatz), die Unschuldsvermutung und das Doppelbestrafungsverbot.

Übertragen auf Verwaltungssanktionsverfahren folgt daraus, dass jene strafprozessualen Garantien, deren anfängliche Nichtbeachtung die Verfahrensfairness insgesamt ernsthaft beeinträchtigen würde, bereits im erstinstanzlichen Verwaltungssanktionsverfahren durch die Verwaltungsbehörde zu gewährleisten sind. Für andere Garantien ist es demgegenüber nicht erforderlich, dass sie bereits im Verfahren vor der erstinstanzlichen Verwaltungsbehörde eingehalten werden. Dies gilt 107

Urteil des EGMR Jussila gegen Finnland vom 23. November 2006, Nr. 73053/01, Recueil CourEDH 2006-XIV § 43.

108 BGE 140 II 384 E. 3.3.4, 3.3.5 ­ Spielbank; vgl. auch Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 643 ff. m.w.H ­ Swisscom ADSL.

109 Siehe Urteil des EGMR Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 249, mit Verweis auf u. a. Urteil des EGMR Deweer gegen Belgien vom 27. Februar 1980, Nr. 6903/75, Serie A Bd. 35 § 42 ff.

110 Urteil des EGMR Dvorski gegen Kroatien vom 20. Oktober 2015 [Grosse Kammer], Nr. 25703/11, Recueil CourEDH 2015 § 76, mit Hinweis auf Urteil des EGMR Imbrioscia gegen Schweiz vom 24. November 1993, Nr. 1372/88, Serie A Bd. 275 § 36 f.; ferner Urteil des EGMR Vera Fernández-Huidobro gegen Spanien vom 6. Januar 2010, Nr. 74181/01 § 108 ff.

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insbesondere für jene Ansprüche, die ein unabhängiges und unparteiisches Gericht geradezu voraussetzen (z. B. das Recht auf mündliche Verhandlung und Öffentlichkeit des Verfahrens, vgl. Ziff. 5.5).

3.6

Hinweise auf weitere völkerrechtlich verankerte Verfahrensgarantien

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass neben den Verfahrensgarantien der EMRK weitere völkerrechtliche Verträge spezifische Garantien vorsehen, welche auf pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren Anwendung finden können. Im UNOPakt II finden sich ähnliche Verfahrensgarantien wie in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen: Festgehalten sind namentlich das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II), die Unschuldsvermutung (Art. 14 Abs. 2 UNOPakt II), die Rechte von angeklagten Personen (Art. 14 Abs. 3 UNO-Pakt II), das Recht auf ein Rechtsmittel in Strafsachen (Art. 14 Abs. 5 UNO-Pakt II), der Grundsatz keine Strafe ohne Gesetz (Art. 15 UNO-Pakt II), das Verbot der doppelten Bestrafung (Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II) und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 17 UNO-Pakt II). Zu beachten ist freilich, dass juristischen Personen und ähnlichen Unternehmensformen gemäss Praxis des UN Menschenrechtsausschusses grundsätzlich keine Beschwerdebefugnis zukommt.111 Jedoch können Einzelpersonen, die hinter der juristischen Person oder einer sonstigen Vereinigung stehen, eine Beschwerde einreichen, wenn sie durch die mutmassliche Verletzung selbst betroffen sind.112 Die genannten Garantien sind weitgehend übereinstimmend mit jenen nach Artikel 6 und 7 EMRK sowie Artikel 2 und 4 ZP 7 EMRK (vgl. Ziff. 3.1). Aufgrund der grossen Bedeutung der in der Bundesverfassung und der EMRK festgehaltenen prozessualen Grundrechte und der Durchsetzungsmechanismen (insb. EGMR) konzentriert sich der vorliegende Bericht im Folgenden auf die zuletzt genannten Rechtsquellen.

Die bilateralen Abkommen Schweiz-EU enthalten vereinzelt Vorgaben, welche bei der Einführung und Ausgestaltung von pekuniären Verwaltungssanktionen wie auch bei deren Vollzug beachtet werden müssen. Die Verwaltungssanktionen gemäss Artikel 9 EntsG wurden im Zuge der Genehmigung der bilateralen Abkommen I von 1999 erlassen, um die Einhaltung der in der Schweiz geltenden Vorschriften über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchzusetzen; sie müssen das Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU (FZA)113 und den

111

Siehe Art. 1 ZP I zum UNO-Pakt II, welches die Schweiz im Übrigen nicht ratifiziert hat sowie Allgemeine Bemerkung Nr. 31 des UN Menschenrechtsausschusses vom 29. März 2004, La nature de l'obligation juridique générale imposée aux États parties au Pacte, U.N. Doc. HRI/GEN/1/Rev.7 (2004), § 9.

112 Siehe z.B. B.d.B. et al. v. the Netherlands (No. 273/1988), Entscheidung vom 30. März 1989, A/44/40 (1989), Annex XI.F (S. 286) = CCPR/C/OP/3 (2002), S. 37, § 2.1.

113 SR 0.142.112.681

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darin referenzierten Rechtsakt der EU114 respektieren.115 Die gegen Luftverkehrsunternehmen gerichteten Verwaltungssanktionen gemäss Artikel 122a und 122b AIG setzen Vorgaben des Schengener Assoziierungsabkommens Schweiz-EU (SAA)116 um;117 sie müssen «abschreckend, wirksam und angemessen» sein (Art. 4 RL 2001/51/EG, Art. 4 RL 2004/82/EG).118 Auf das in Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) geregelte Doppelbestrafungsverbot wird in Ziffer 5.9.6 eingegangen.

Die Schweiz entscheidet gestützt auf die Auslegungsmethoden gemäss Artikel 31­ 33 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge119 grundsätzlich autonom, ob die erwähnten pekuniären Verwaltungssanktionen mit den bilateralrechtlichen Vorgaben vereinbar sind.120 Gewisse Abkommen verpflichten die Behörden in der Schweiz allerdings, die Praxis des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Auslegung von Parallelbestimmungen im EU-Recht zu beachten (z. B. Art. 16 FZA). Weitere Abkommen thematisieren die Auslegung von referenzierten Rechtsakten der EU, ohne eine Bindungswirkung zu stipulieren (z. B. Art. 8 und Art. 9 SAA). Obwohl die schweizerischen rechtsanwendenden Behörden hinsichtlich des FZA nur die vor der Unterzeichnung des Abkommens ergangene Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen verpflichtet sind (Art. 16 Abs. 2 FZA), orientieren sie sich bei der Auslegung der in diesem Abkommen referenzierten Rechtsakte der EU standardmässig auch an der nach der Unterzeichnung ergangenen Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung dieser Bestimmungen im EU-Recht, sofern nicht triftige Gründe eine davon abweichende Lesart nahelegen. Im SAA besteht grundsätzlich eine Verpflichtung zur Verfolgung der Rechtsprechung des EuGH beziehungsweise der Rechtsprechung der zuständigen schweizerischen Gerichte im Gemischten Ausschuss (Art. 8 Abs. 1 SAA).

114

115

116 117

118

119 120

Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 18 vom 21. Januar 1997, S. 1 ff.

Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG, S. 6405; Botschaft zur Änderung des Entsendegesetzes, S. 5853, 5856; siehe zum Ganzen PÄRLI KURT, Entsendegesetz (EntsG) Handkommentar, N 1 ff. zu Art. 9 EntsG, Bern 2018.

SR 0.362.31 Art. 26 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ), Richtlinie 2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985, ABl. L 187 vom 10. Juli 2001, S. 45, Richtlinie 2004/82/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Verpflichtung von Beförderungsunternehmen, Angaben über die beförderten Personen zu übermitteln, ABl. L X vom 6.8.2004. Das Schengener Durchführungsübereinkommen gilt für die Schweiz aufgrund des Verweises in Art. 2 SAA.

Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Notenaustauschs zwischen der Schweiz und der Europäischen Union betreffend die Übernahme des Schengener Grenzkodex und zu den Änderungen im Ausländer- und Asylrecht zur vollständigen Umsetzung des bereits übernommenen Schengen- und Dublin-Besitzstandes, S. 7959 ff.; Botschaft zur Änderung des Ausländergesetzes, S. 2598; Urteil des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 4.3.2 ­ Swiss International Airlines.

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, in Kraft getreten für die Schweiz am 6. Juni 1990 (SR 0.111).

Siehe zur Auslegung der bilateralen Abkommen und zum Grundsatz der parallelen Auslegung, OESCH, Schweiz ­ Europäische Union, Rz. 77 ff.

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Die bilateralen Abkommen enthalten keine Grundrechtskataloge. Ebenso wenig verweisen sie direkt auf die EMRK, die Grundrechtecharta der EU oder andere Grundrechtsinstrumente.121 Dessen ungeachtet legen die Behörden in der Schweiz die bilateralen Abkommen durchwegs im Licht völkerrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen aus; ganz im Vordergrund steht die EMRK. Es ist davon auszugehen, dass auch bei den pekuniären Verwaltungssanktionen, welche sich im Geltungsbereich von bilateralen Abkommen befinden, die einschlägigen strafprozessualen Garantien des übergeordneten Rechts (Ziff. 3.1 f.) anwendbar sind. Darüber hinaus ist durchaus vorstellbar, dass die Behörden bei Bedarf auch auf die Grundrechtecharta der EU rekurrieren.122

3.7

Exkurs: Garantien in Verfahren betreffend «zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen» gemäss Art. 6 Abs. 1 EMRK

Neben den strafrechtlichen Anklagen ist Artikel 6 EMRK auch auf Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen anwendbar. Die Anwendung von Artikel 6 Absatz 1 EMRK setzt einen echten und ernsthaften Streit über ein zivilrechtliches Recht, von welchen man zumindest in vertretbarer Weise sagen kann, dass es im nationalen Recht anerkannt ist, voraus. Zudem muss der Ausgang des Streits für das betroffene Recht unmittelbar entscheidend sein.123 In den zivilrechtlichen Anwendungsbereich von Artikel 6 Absatz 1 EMRK können auch Verfahren fallen, welche innerstaatlich zwar dem öffentlichen Recht zugeordnet werden, deren Ausgang jedoch für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder den Schutz von Eigentumsrechten entscheidend ist.124 Soweit ersichtlich, wurde diese Frage betreffend pekuniäre Verwaltungssanktionen noch nicht entschieden. Wie vorstehend dargelegt, kommen auf diese Form von Verwaltungssanktionen in der Regel die ­ vergleichsweise strengeren ­ Anforderungen der strafprozessualen Garantien von Artikel 6 Absatz 1 EMRK zur Anwendung. Dementsprechend dürfte sich hier eine Prüfung des zivilrechtlichen Bereichs von Artikel 6 Absatz 1 EMRK erübrigen.

121

Wobei etwa das SAA wenigstens in der Präambel darauf hinweist, dass die Schengener Zusammenarbeit auf der Achtung der Menschenrechte, wie sie insbesondere in der EMRK gewährleistet sind, beruht.

122 Siehe dazu OESCH, Schweiz ­ Europäische Union, Rz.78.

123 Urteil des EGMR Denisov gegen Ukraine vom 25. September 2018 [Grosse Kammer], Nr. 76639/11 § 44.

124 Urteile des EGMR Ringeisen gegen Österreich vom 16. Juli 1971, Nr. 2614/65, Serie A Bd. 13 § 94; König gegen Deutschland vom 28. Juni 1978, Nr. 6232/73, Serie A Bd, 27 § 94 f.

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3.8

Zwischenfazit

In pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren kommen zunächst die rechtsstaatlichen Grundsätze (Art. 5 BV) sowie die allgemeinen Verfahrensgrundrechte zur Anwendung (Art. 29, 29a, 30 BV). Zusätzlich sind die strafprozessualen Garantien der Bundesverfassung sowie der EMRK zu berücksichtigen (Art. 32 BV, Art. 6 und 7 EMRK, Art. 2 und 4 ZP 7 zur EMRK), sofern die pekuniäre Verwaltungssanktion als «strafrechtliche Anklage» im Sinn der Engel-Kriterien zu charakterisieren ist. Ob diese Kriterien erfüllt sind, hängt letztlich vom Einzelfall ab.

Für den überwiegenden Teil der vorliegend untersuchten pekuniären Verwaltungssanktionen besteht entweder gestützt auf die Gerichts- oder die Verwaltungspraxis Klarheit, dass die strafprozessualen Garantien des übergeordneten Rechts anwendbar sind. Dabei sind jedoch qualitative Abstufungen hinsichtlich ihrer Tragweite zulässig. Gemäss Rechtsprechung müssen die strafrechtlichen Garantien in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren nicht mit derselben Strenge zur Anwendung gelangen wie im Kernbereich des Strafrechts. Auf die einzelnen Garantien und ihre abgestufte Tragweite im Kontext von pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren wird in Ziffer 4 und 5 eingegangen.

4

Verankerung des Instruments im Sacherlass

Im Folgenden werden die Vorgaben beschrieben, die bei der gesetzlichen Regelung von pekuniären Verwaltungssanktionen zu beachten sind. Dem Gesetzgeber kommt bei der Festlegung der Instrumente zur Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Pflichten grosse Gestaltungsfreiheit zu. Aus konventions- und verfassungsrechtlicher Optik steht der Bewehrung von Verhaltensvorschriften mit pekuniären Verwaltungssanktionen ­ in Ergänzung zu anderen Verwaltungsmassnahmen, nicht-pekuniären Verwaltungssanktionen oder strafrechtlichen Sanktionen ­ grundsätzlich nichts entgegen. Die wirksame Durchsetzung des materiellen Rechts mittels gesetzlich vorgesehenen und verhältnismässig ausgestalteten Instrumenten liegt im öffentlichen Interesse.

Der Gesetzgeber ist beim Erlass von Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen verpflichtet, die aus dem übergeordneten Recht fliessenden Vorgaben zu berücksichtigen. Zunächst erfordert das Legalitätsprinzip eine gesetzliche Verankerung des Instruments (Ziff. 4.1). Bei der Festlegung der Verhaltenspflichten, die mit einer pekuniären Verwaltungssanktion bewehrt sind (objektiver Tatbestand), müssen die Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheits- und Klarheitsgebots berücksichtigt werden (Ziff. 4.2). Auf die Frage, ob der Sacherlass die Voraussetzungen der subjektiven Zurechenbarkeit im Sinn des Verschuldens regeln muss, wird in Ziffer 4.3 eingegangen. Den Anforderungen an die Ausgestaltung der Rechtsfolge (Belastung mit einem bestimmten Betrag) widmet sich Ziffer 4.4. Schliesslich folgt die Darstellung des Anpassungsbedarfs hinsichtlich der Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung (Ziff. 4.5).

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4.1

Grundlage für die Sanktionierung im Sacherlass

Als allgemeiner Grundsatz staatlichen Handelns stützt sich das Legalitätsprinzip im Schweizer Recht auf Artikel 5 Absatz 1 BV.125 Aus Artikel 5 Absatz 1 BV geht hervor, dass die Auferlegung einer Sanktion einer gesetzlichen Grundlage bedarf.

Fällt die pekuniäre Verwaltungssanktion in den Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien der EMRK, so sind die Vorgaben von Artikel 7 EMRK zu berücksichtigen. Artikel 7 EMRK verankert den Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege. Aus dem Verbot der Strafe ohne Gesetz126 ergeben sich der Gesetzesvorbehalt, das Gebot der Bestimmtheit, das Analogieverbot und das Rückwirkungsverbot.

Angesichts der hohen Anforderungen des Legalitätsprinzips im Strafrecht ist eine formellgesetzliche Regelung jedenfalls für pekuniäre Verwaltungssanktionen im Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK im jeweiligen Sacherlass vorausgesetzt.127 Darin festgehalten sein muss namentlich der Höchstbetrag der Sanktion (z. B. in Franken oder als maximaler Prozentsatz des Umsatzes des sanktionierten Unternehmens).

Die Übertragung der Rechtsetzungsbefugnis auf den Verordnungsgeber ist unter Einhaltung der Delegationsgrundsätze möglich. Die BV oder das Gesetz können den Bundesrat somit zum Erlass von pekuniären Verwaltungssanktionsbestimmungen ermächtigen oder festlegen, dass eine Sanktionsandrohung für jene Ausführungsvorschriften gelten soll, deren Übertretung der Bundesrat ausdrücklich mit einer Sanktion bewehrt. Zulässig erscheint ferner der Erlass von gesetzeskonkretisierendem Verordnungsrecht (z. B. betreffend den Einzelheiten der Sanktionsbetragsberechnung), wobei davon auszugehen ist, dass dieselben Regeln wie im Bereich des Nebenstrafrechts herangezogen werden sollten.128 Die Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen sind überdies in gesetzessystematischer Hinsicht von den Strafbestimmungen zu trennen, um die Festlegung des anwendbaren Verfahrensrechts zu erleichtern (vgl. Ziff. 2.5).

4.2

Festlegung der sanktionsbewehrten Pflichten

Die Verhaltenspflichten, die mit einer pekuniären Verwaltungssanktion durchgesetzt werden sollen, sind im jeweiligen Sacherlass festzulegen. Als erstes stellt sich dabei die Frage, auf welcher Normstufe die Tatbestandselemente für eine Sanktion geregelt werden müssen. Für pekuniäre Verwaltungssanktionen im Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien der EMRK müssen die sanktionierbaren Verhal-

125 126 127

MOOR/FLÜCKIGER/MARTENET, Droit administratif: vol. I, S. 652.

Zum strafprozessualen Legalitätsprinzip (Verfolgungszwang) siehe Ziff. 5.1.2.

TANQUEREL, droit disciplinaire, S. 21 f.; WALDMANN, Disziplinarwesen, S. 113; TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Verwaltungsrecht, § 32 N 52. Ausnahmen kommen nur in Betracht, falls das pönale Element stark in den Hintergrund tritt. Vgl. hierzu die Ausführungen im Gesetzgebungsleitfaden, Rz. 891 betreffend das Nebenstrafrecht, welche sinngemäss auch für pekuniäre Verwaltungssanktionen gelten dürften.

128 Vgl. hierzu die Ausführungen im Gesetzgebungsleitfaden, Rz. 891.

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tensweisen grundsätzlich im formellen Gesetz festgehalten werden (Art. 6 und 7 EMRK).129 Dabei kann in der formellgesetzlichen Bestimmung über die pekuniäre Verwaltungssanktion betreffend einzelne Tatbestandselemente auf andere formellgesetzliche Bestimmungen oder auf Ausführungsbestimmungen verwiesen werden. Ein Verweis auf Ausführungsbestimmungen erscheint namentlich zulässig, wenn sich die Bestimmungen an einen beschränkten Adressatenkreis, z. B. an Inhaber einer Bewilligung oder einer Konzession, richten.130 Ein Verweis auf in einem Rechtsakt (Konzession oder Bewilligung) festgelegte Pflichten ist ebenfalls möglich, wenn die Bewilligung oder Konzession in einem formellen Gesetz vorgesehen ist. Die für die Inhaber geltenden Pflichten werden in der Konzession oder Bewilligung genannt und können sich auch aus Verordnungen ergeben.

Zweitens stellt sich die Frage der erforderlichen Normdichte. Die mit pekuniären Verwaltungssanktionen bewehrten Verhaltensvorschriften verwenden zumeist offene Formulierungen oder unbestimmte Rechtsbegriffe, die der Auslegung bedürfen.

Im Lichte des in Artikel 7 EMRK verankerten Bestimmtheits- und Klarheitsgebots für gesetzliche Straftatbestände muss die Straftat im Gesetz klar umrissen sein, so dass der Gesetzesadressat sein Verhalten danach richten kann.131 Das Bestimmtheitsgebot verlangt namentlich, dass jede Person aus dem Wortlaut der betroffenen Bestimmung ­ bei Bedarf unter Beizug der gerichtlichen Auslegung und angemessenen rechtlichen Rats ­ erkennen kann, welche Handlung oder Unterlassung ihre Strafbarkeit begründet und welche Strafe dafür verhängt wird.132 Die Anforderungen an die Bestimmtheit hängen erheblich vom Inhalt des betroffenen Textes und dem Rechtsgebiet ab. Zu berücksichtigen sind zudem die Zahl und der Status der Adressaten.133 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung muss ein Gesetz präzise genug formuliert sein, dass betroffene Personen ihr Verhalten danach ausrichten und mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit die Folgen eines bestimmten Verhaltens erkennen können.134 Das Bestimmtheitsgebot bezieht sich ferner sowohl auf die Tatbestands- als auch auf die Rechtsfolgenseite einer Norm.135 Wie das Bundesgericht sowie das Bundesverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 7 Absatz 1 EMRK ausführen, ist es von 129 130 131 132 133

134 135

TANQUEREL, Droit disciplinaire, S. 19 ff.; MOOR/FLÜCKIGER/MARTENET, Droit administratif: vol. I, S. 721 f.; WALDMANN, Disziplinarwesen, S. 101 ff.

Vgl. z.B. Art. 25 PG, 60 FMG, 100 und 109 BGS, in denen von Verstoss «gegen dieses Gesetz [oder] Ausführungsbestimmungen» die Rede ist.

Urteil des EGMR Del Río Prada gegen Spanien vom 21. Oktober 2013 [Grosse Kammer], Nr. 42750/09, Recueil CourEDH 2013 § 91.

Urteil des EGMR Del Río Prada gegen Spanien vom 21. Oktober 2013 [Grosse Kammer], Nr. 42750/09, Recueil CourEDH 2013 § 79.

Urteile des EGMR Kononov gegen Lettland vom 17. Mai 2010 [Grosse Kammer], Nr. 36376/04, Recueil CourEDH 2010 § 235; Cantoni gegen Frankreich vom 11. November 1996, Nr. 17862/91, Recueil 1996-V § 35.

BGE 119 IV 242 E. 1c; 125 IV 35 E. 8; Urteil BVGer B-5291/2018 vom 14. Mai 2020 E. 11.

Vgl. namentlich: Urteile BVGer B-831/2011 vom 18. Dezember 2018 E. 1428 ff. ­ SIX/DCC (noch nicht rechtskräftig); B-807/2012 vom 25. Juni 2018 E. 11.1 ­ Strassenund Tiefbau im Kt. Aargau/Erne. Vgl. auch: TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 19 zu Art. 49a KG.

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vornherein ausgeschlossen, dass alle denkbaren Sachverhaltsvarianten, die rechtlich erfasst werden sollen, in einer gesetzlichen Vorschrift auch ausdrücklich abgebildet werden können.136 Der Gesetzgeber muss daher teilweise allgemeine sowie mehr oder weniger bestimmte Begriffe verwenden und deren Auslegung und Anwendung der Rechtspraxis überlassen. Dies gilt auch für die Bereiche, in denen pekuniäre Verwaltungssanktionen typischerweise vorkommen. So müssen im sanktionierenden Wirtschaftsverwaltungsrecht ­ ähnlich wie im Straf- und Wirtschaftsstrafrecht ­ offene Normen verwendet werden. Dabei ist, wie in der Rechtsprechung des Bundesgerichts dargelegt, eine «schrittweise erfolgende Klärung»137 der Bestimmungen mittels Auslegung durch die Behörden, grundsätzlich zulässig.138 Eine Möglichkeit für die Klärung des Gehalts von offen formulierten Verhaltenspflichten besteht in der Veröffentlichung von erstinstanzlichen Sanktionsverfügungen. Aufgrund der Publikation der Entscheide können Dritte Kenntnis davon nehmen, welche Verhaltensweisen aus welchen Gründen zu einer Sanktion führen können. Durch die Veröffentlichung kann die Öffentlichkeit des Weiteren darüber orientiert werden, wie die Sanktionsbestimmungen angewendet werden (vgl.

Ziff. 5.7.2 über die Veröffentlichung von Sanktionsverfügungen).

4.3

Voraussetzung der subjektiven Zurechenbarkeit (Verschulden)

4.3.1

Ausgangslage und konventionsund verfassungsrechtliche Vorgaben

Die im geltenden Bundesverwaltungsrecht anzutreffenden Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen enthalten typischerweise keine Vorgaben zum Verschulden. Die Formulierungen lassen auf eine schlichte Erfolgshaftung schliessen, weil von der objektiv tatbestandsmässigen Verletzung der sanktionsbewehrten Pflicht auf die Haftung des Adressaten geschlossen wird. Vorgaben zu den subjektiven Voraussetzungen der Verantwortlichkeit des Adressaten wie etwa «Vorsatz» oder «Fahrlässigkeit» oder zu individueller Schuld sind in den einschlägigen Nor-

136

Vgl. BGE 146 II 217 E. 8.2 ­ Swisscom ADSL; Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 594 ­ Swisscom ADSL.

137 BGE 143 II 297 E. 9.3.

138 BGE 146 II 217 E. 8.3.1 ­ Swisscom ADSL; 143 II 297 E. 9.3; ATF 139 I 72 consid. 8.2.3 ­ Publigroupe. Vgl. zum Bestimmtheitsgebot im Kartellsanktionsverfahren auch das Urteil des Bundesgerichts 2C_149/2018 vom 4. Februar 2021 E. 8.3.3.

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men nicht enthalten. Mit anderen Worten konzipierte der Gesetzgeber die pekuniären Verwaltungssanktionen als verschuldensunabhängiges Instrument.139 Die EMRK enthält keine ausdrückliche Regelung der Frage der Zulässigkeit von verschuldensunabhängigen Instrumenten. Der EGMR beurteilt Sanktionen, die lediglich aufgrund von objektiv tatbestandsmässigen Pflichtverletzungen ausgesprochen werden und weder Fahrlässigkeit noch Vorsatz erfordern, nicht per se als unzulässig.140 Er interpretiert sie viel mehr als (widerlegbare) Verschuldensvermutungen, deren Zulässigkeit von ausreichenden Verteidigungsmöglichkeiten der Parteien abhängt.141 Mithin beurteilt der EGMR diese Fälle unter dem Aspekt der Unschuldsvermutung142 sowie des Legalitätsprinzips.143 Es muss dabei gewährleistet sein, dass dem Gericht bzw. der Verwaltungsbehörde im Einzelfall ein Ermessensspielraum zusteht, zu Gunsten der Partei zu entscheiden. Die Berücksichtigung von Verhältnismässigkeitsüberlegungen, mildernden Umständen oder höherer Gewalt können dazu bereits ausreichen.144 Grundsätzlich fordert der EGMR auch in diesen Fällen eine geistige Verbindung («mental link»), um eine Bestrafung zu rechtfertigen, dies insbesondere in Bezug auf die Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit.145 Gleichzeitig bestätigt er aber die Zulässigkeit von Bestimmungen, die objektiv tatbestandsmässige Pflichtverletzungen bestrafen, sofern gewisse Grenzen nicht

139

140

141

142 143 144

145

So ausdrücklich die Botschaft über die Änderung des Kartellgesetzes, S. 2034; vgl. auch Botschaft zur Änderung des Kartellgesetzes und zum Bundesgesetzüber die Organisation der Wettbewerbsbehörde, S. 3931. In der Botschaft zu den ausländerrechtlichen pekuniären Verwaltungssanktionen (Art. 122a und 122b AIG) führt der Bundesrat ausdrücklich aus, dass das Verschulden kein selbständiges Tatbestandselement ist. Über Exkulpationstatbestände wird das Verschulden allerdings indirekt berücksichtigt (vgl. Botschaft zur Änderung des Ausländergesetzes, S. 2589, 2591 f.). Bei anderen neueren pekuniären Verwaltungssanktionen fehlen ausdrückliche Ausführungen über das Verschulden. Teilweise wird jedoch auf die Vergleichbarkeit mit den kartellrechtlichen oder anderen bestehenden Verwaltungssanktionen verwiesen (vgl. bspw. Botschaft zum Geldspielgesetz, S. 8482; Botschaft zum Postgesetz, S. 5208, 5231; Botschaft zur Genehmigung der Multilateralen Vereinbarung der zuständigen Behörden über den Austausch länderbezogener Berichte und zu ihrer Umsetzung, S. 73, 79; Botschaft zur Änderung des Entsendegesetzes, S. 5856).

Umgekehrt verlieren Bestimmungen, die weder Fahrlässigkeit noch Vorsatz erfordern, nicht automatisch den Charakter einer strafrechtlichen Anklage, siehe Urteil des EGMR Janosevic gegen Schweden vom 23. Juli 2002, Nr. 34619/97, Recueil CourEDH 2002-VII § 68.

Urteile des EGMR Janosevic gegen Schweden vom 23. Juli 2002, Nr. 34619/97, Recueil CourEDH 2002-VII § 96 ff.; Salabiaku gegen Frankreich vom 7. Oktober 1998, Nr. 10519/83, Serie A Bd. 141-A § 27 f.; siehe dazu WASER, Wettbewerbsverfahren, S. 158 f.

Urteil des EGMR Janosevic gegen Schweden vom 23. Juli 2002, Nr. 34619/97, Recueil CourEDH 2002-VII § 96 ff.

Vgl. Urteil des EGMR Varvara gegen Italien vom 29. Oktober 2013, Nr. 17475/09 § 66, 70. Siehe zum Legalitätsprinzip Ziff. 4.1.

Urteile des EGMR Janosevic gegen Schweden vom 23. Juli 2002, Nr. 34619/97, Recueil CourEDH 2002-VII § 96 ff.; Salabiaku gegen Frankreich vom 7. Oktober 1998, Nr. 10519/83, Serie A Bd. 141-A § 29.

Nur wenn eine Gesetzesbestimmung zugänglich und die Folgen vorhersehbar sind, kann der Einzelne erkennen, welche Handlungen strafbar sind und damit eine entsprechende «geistige Verbindung» entstehen (vgl. Urteil des EGMR G.I.E.M. S.R.L. u. a. gegen Italien vom 28. Juni 2018 [Grosse Kammer], Nr. 1828/06 u. a. § 242).

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überschritten werden.146 Die Rechtsprechung des EGMR erscheint insofern noch nicht vollständig gefestigt.

Die Bundesverfassung regelt die Frage der Zulässigkeit von verschuldensunabhängigen Sanktionen nicht ausdrücklich. Sie garantiert das Schuldprinzip nicht explizit.147 In Artikel 47 StGB ist es hingegen ausdrücklich geregelt. Ganz überwiegend wird das strafrechtliche Schuldprinzip aus dem Rechtsstaatprinzip abgeleitet.148 Vereinzelt wird dieses Prinzip auch aus der konventions- bzw. verfassungsrechtlichen Unschuldsvermutung hergeleitet.149

4.3.2

Kartellrechtliches Konzept der «Vorwerfbarkeit»

Die konventions- und verfassungsrechtliche Zulässigkeit von verschuldensunabhängigen Verwaltungssanktionen wurde insbesondere im Bereich des Kartellrechts kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite wurde die Ansicht vertreten, dass der Gesetzgeber mit Artikel 49a KG ausdrücklich eine vom Strafgesetzbuch abweichende Regelung getroffen habe und Verwaltungssanktionen verschuldensunabhängig ausgefällt werden können.150 Die andere Seite verlangt dagegen mit Blick auf den strafrechtlichen Charakter der Verwaltungssanktionen ein Verschulden als Voraussetzung für die Sanktionierung.151 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts stellt die subjektive Zurechenbarkeit eine notwendige Voraussetzung für eine Sanktionierung dar.152 Im Fall Swisscom ADSL hat sich das Bundesverwaltungsgericht ausführlich mit der Frage der konventionsrechtlichen Vereinbarkeit von Artikel 49a KG auseinandergesetzt. Es hat dargelegt, dass die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches wie namentlich das Schuldprinzip (vgl. Art. 333 Abs. 1 und 7

146 147 148 149 150

151

152

Urteil des EGMR G.I.E.M. S.R.L. u. a. gegen Italien vom 28. Juni 2018 [Grosse Kammer], Nr. 1828/06 u. a. § 243.

Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.1 ­ Nikon.

Statt vieler WIPRÄCHTIGER/KELLER, BSK-StGB, N 80 zu Art. 47. Ferner Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.1 ­ Nikon m.w.H.

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 654 ff. ­ Swisscom ADSL.

Vgl. z.B. DÄHLER/KRAUSKOPF, Sanktionsbemessung, S. 139; KOUMBARAKIS ZINON, Die Kronzeugenregelung im schweizerischen Strafprozess de lege ferenda, Diss. Zürich 2006, S. 114; LÜSCHER CHRISTOPH, Der Ruf nach einem wirksameren und gerechteren Kartellstrafrecht ­ Ein irritierender Ruf?, Jusletter 15. März 2010. Rz. 45; WASER, Wettbewerbsverfahren, S. 162, entnimmt Art. 49a KG eine objektive Schuldvermutung, die im Einzelfall durch das Unternehmen widerlegt werden kann.

Vgl. z.B. NIGGLI/RIEDO, BSK-KG, N 106 vor Art. 49a-53 KG; ROTH, CR-Concurrence, N 37 ff. zu Rem. Art. 49a-53 LCart; REINERT, KG-Handkommentar, N 5 zu Art. 49a KG; WIPRÄCHTIGER HANS/ZIMMERLIN SVEN, Kartellrechtliche Verantwortlichkeit aus der Sicht des Strafrechts und Strafprozessrechts: Bemerkungen zu den Sanktionen und zum Sanktionsverfahren im revidierten Kartellgesetz, in: Niggli/Amstutz, Verantwortlichkeit im Unternehmen, Basel 2007, pp. 203­244, S. 209.

BGE 143 II 297 E. 9.6.1 f., mit Verweis auf Urteil des Bundesgerichts 2C_484/2010 vom 29. Juni 2012 E. 12.2.1. f. (nicht publ. in: BGE 139 I 72) ­ Publigroupe; BGE 146 II 217 E. 8.5.2 ­ Swisscom ADSL; Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 654 ff., 674 ­ Swisscom ADSL, bestätigt mit Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.2 ­ Nikon.

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StGB) nicht auf Kartellsanktionen anwendbar sind.153 Dabei berücksichtigt es auch, dass die bestehenden Voraussetzungen und Schranken des strafrechtlichen Schuldprinzips auf natürliche Personen zugeschnitten sind.154 Angesichts dessen stellt Artikel 49a KG eine Sonderregelung dar, die als lex specialis den allgemeinen strafrechtlichen Vorschriften vorgeht.155 Gleichwohl sind strafrechtliche Grundsätze bei Kartellsanktionen zu berücksichtigen, sofern ihre Anwendung aufgrund höherrangigen Rechts im Rahmen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung zwingend geboten ist.156 Konkret setzt die Verantwortlichkeit des Unternehmens im Rahmen von Artikel 49a KG gemäss der kartellrechtlichen Rechtsprechung sowie einem Teil der Literatur entweder ein schuldhaftes Handeln einer verantwortlichen Person oder den Nachweis eines Organisationsmangels seitens des Unternehmens voraus.157 Die beiden Alternativen, die unter dem Begriff der «Vorwerfbarkeit» zusammengefasst werden, lassen sich wie folgt skizzieren:

153 154

155 156 157

158

159

­

Schuldhaftes Verhalten einer verantwortlichen Person: Kann einer natürlichen Person vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten nachgewiesen werden, trägt das Unternehmen die Verantwortung hierfür. Dabei dürfen gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung keine überzogenen Anforderungen an den Nachweis der Zuordnung gestellt werden.158 Das Verhalten von Personen innerhalb eines Unternehmens lässt sich kaum je im Einzelnen feststellen. Daher darf vom Vorliegen eines objektiven Tatbestandes (z. B. eine wettbewerbswidrige Abrede) im Sinn einer widerlegbaren Vermutung auf das schuldhafte Verhalten der verantwortlichen Personen geschlossen werden (Eventualvorsatz), wobei bereits eine sorgfaltspflichtwidrige Verursachung (Fahrlässigkeit) von der Rechtsprechung als tatbestandsmässig beurteilt wird.159

­

Organisationsverschulden: Kann dem Unternehmen ein Verstoss gegen das Kartellrecht nachgewiesen werden, so darf darauf basierend auch auf eine Verletzung von objektiven Sorgfaltspflichten im Sinn eines Organisationsmangels und damit auf ein schuldhaftes Verhalten des Unternehmens ge-

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 651 ­ Swisscom ADSL, bestätigt in BGE 146 II 217 E. 8.5.3 ­ Swisscom ADSL.

Vgl. Urteile des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 645 ­ Swisscom ADSL; B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.2 ­ Nikon; so bereits BGE 140 II 384 E. 3.3.4 ­ Spielbank.

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 649 ­ Swisscom ADSL, mit Hinweis auf HEINE/ROTH, Kartellgesetzrevision 2010, S. 15.

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 651 ­ Swisscom ADSL.

Vgl. zuletzt Urteil des Bundesgerichts 2C_149/2018 vom 4. Februar 2021 E. 8.4. ­ Hors Liste Medikamente; ausführlich Urteil des BVGer B-831/2011 vom 18. Dezember 2018, E. 1488 ff. ­ SIX/DCC (noch nicht rechtskräftig). Vgl. ferner die Hinweise bei TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 10a zu Art. 49a KG.

Urteil des Bundesgerichts 2C_484/2010 vom 29. Juni 2012 E. 3.4 (nicht publ. in: BGE 139 I 72) ­ Publigroupe; ferner Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.4 ­ Nikon m.w.H.

Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.4 ­ Nikon.

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schlossen werden.160 Die Sorgfaltspflichten ergeben sich dabei primär aus dem Kartellgesetz selbst.161 Nicht notwendig ist, dass der Verstoss einer bestimmten natürlichen Person innerhalb des Unternehmens zugeordnet werden kann.162 Dies folgt aus der Überlegung, dass es in der Verantwortung des Unternehmens liegt, mittels geeigneter organisatorischer oder betrieblicher Massnahmen dafür zu sorgen, dass die Organe und Mitarbeitenden keine Gesetzesverstösse begehen. Kommt trotzdem ein Verstoss vor, darf deshalb grundsätzlich auf eine Verletzung einer Sorgfaltspflicht geschlossen werden. Die Vorwerfbarkeit stützt sich auf eine widerlegbare Vermutung, weshalb sich gemäss Rechtsprechung kein grundsätzlicher Widerspruch zur Unschuldsvermutung ergibt.163 Dem Unternehmen steht dabei der Entlastungsbeweis offen.164 Das Bundesgericht hat festgehalten, dass «in aller Regel die objektive Sorgfaltspflicht verletzt ist», wenn ein «nachweisbares wettbewerbswidriges Verhalten» vorliegt.165 Umstritten ist die Frage nach allfälligen Exkulpationsgründen. Namentlich fordert ein Teil der kartellrechtlichen Lehre, dass unternehmensinterne Compliance-Programme das Unternehmen vom Vorwurf des Organisationsmangels entlasten.166 Gemäss gegenteiliger Ansicht,167 welcher auch die Rechtsprechung folgt,168 können Compliance-Programme jedoch lediglich bei der Sanktionsbemessung berücksichtigt werden. Der Bundesrat hat sich ebenfalls gegen eine schuldausschliessende Wirkung ausgesprochen.169 Auch für das Einholen eines externen Gutachtens zur Zulässigkeit des fraglichen Verhaltens dürfte Ähnliches gelten.170

160

161 162 163 164

165 166 167

168

169 170

Urteil des Bundesgerichts 2C_484/2010 vom 29. Juni 2012 E. 12.2.1. f. (nicht publ. in: BGE 139 I 72) ­ Publigroupe; Urteile des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.2 ­ Nikon; B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 674 ­ Swisscom ADSL, je mit weiteren Hinweisen.

BGE 146 II 217 E. 8.5.2 ­ Swisscom ADSL.

BGE 146 II 217 E. 8.5.2 ­ Swisscom ADSL; bestätigt in BGE 147 II 72 E. 8.4.2.

Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.4 ­ Nikon; vgl. auch Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 677 in fine ­ Swisscom ADSL.

Urteile des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 644, 677 ­ Swisscom ADSL; B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.4 ­ Nikon; vgl. ferner WASER, Wettbewerbsverfahren, S. 161 f.

BGE 146 II 217 E. 8.5.2 m.w.H. ­ Swisscom ADSL.

NIGGLI/RIEDO, BSK-KG, N 144 ff. vor Art. 49a-53 KG; WOHLMANN, Sanktionsverfahren, Rz. 17 f.

HEINEMANN, Konzerne als Adressaten des Kartellrechts, in: Hochreutener/Stoffel/Amstutz [Hrsg.], Wettbewerbsrecht: Jüngste Entwicklungen in der Rechtsprechung ­ Konzernsachverhalte und Konzernbegriff aus kartellrechtlicher Sicht, 2015, S. 49­65, S. 62 f.; HEINE/ROTH, Kartellgesetzrevision 2010, S. 23 ff.; TAGMANN, Sanktionen, S. 81 f.; TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 111 zu Art. 49a KG.

BGE 143 II 297 E. 9.6.2 in fine, bestätigt mit Urteil des Bundesgerichts 2C_149/2018 vom 4. Februar 2021 E. 8.4.4.3; Urteile des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.3 ­ Nikon; B-807/2012 vom 25. Juni 2018 E. 11.2.5 ­ Strassen- und Tiefbau im Kt.

Aargau/Erne.

Bericht des Bundesrates zur Abschreibung der Motion Schweiger, S. 1836.

Voraussetzung für die Annahme eines schuldausschliessenden Rechtsirrtums ist, dass das Gutachten die relevanten Fragen gründlich, eindeutig und detailliert beantwortet und dass das Unternehmen auf die Richtigkeit vertrauen durfte, vgl. Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 8.2.3 ­ Nikon.

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4.3.3

Würdigung

Das Konzept der Vorwerfbarkeit ist in der kartellrechtlichen Literatur einerseits auf Zustimmung171 und andererseits wegen der fehlenden Anwendung von strafrechtlichen Grundsätzen auf Ablehnung172 gestossen. Soweit ersichtlich hat es sich in der kartellrechtlichen Praxis bewährt. Insgesamt stellt das Konzept der Vorwerfbarkeit einen gangbaren Mittelweg dar, indem die Verwaltungsbehörde dem Unternehmen entweder ein Organisationsverschulden oder ein schuldhaftes Verhalten eines Angehörigen nachweisen muss, jedoch ohne dabei allzu hohe Anforderungen zu stellen.

Namentlich ist es gemäss Rechtsprechung für eine Sanktionierung bereits ausreichend, wenn die Sorgfaltspflichtverletzung, begangen durch im Einzelnen nicht bekannte Angehörige eines Unternehmens, dem Unternehmen als solchem zugeschrieben werden kann.173 Die Schlussfolgerung bezüglich Artikel 49a KG dürfte sinngemäss auf die anderen Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen übertragbar sein, wie die bundesgerichtlichen Ausführungen zur Sorgfaltspflichtverletzung im Bereich des Geldspiels zeigen.174 Anzufügen ist, dass das Konstrukt eines Unternehmensverschuldens nie ganz ohne kausales Haftungsmoment auskommt. Darin ist im Vergleich zum Individualstrafrecht eine bedeutende Erleichterung zu Gunsten der Verwaltungsbehörde zu erblicken. Sie lässt sich damit begründen, dass die Durchsetzung des materiellen Rechts im Kontext von Unternehmen aufgrund der kollektiven Organisationsform der Adressaten häufig erheblich erschwert ist. Die Ermittlung des oder der im Innenverhältnis verantwortlichen Personen gestaltet sich schwierig. Dies gilt besonders für den Nachweis des individuellen Verschuldens in einem arbeitsteiligen Umfeld.

Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass die fraglichen Pflichten direkt an das Unternehmen adressiert sind, welches i.d.R. auch Vorteile aus dem Gesetzesverstoss erzielt, nicht aber an die Mitarbeitenden. Diese differenzierte Handhabung trägt der Natur von pekuniären Verwaltungssanktionen als Instrumente des Verwaltungsrechts mit in der Regel strafrechtsähnlichem Charakter Rechnung und ist daher gegenüber sowohl der schlichten Erfolgshaftung als auch der strikten Anwendung des strafrechtlichen Schuldprinzips vorzuziehen.

Aus dem Gesagten folgt, dass das vom Gesetzgeber vorgesehene Konzept der verschuldensunabhängigen
pekuniären Verwaltungssanktion von der Rechtsprechung auf dem Weg der Auslegung korrigiert wurde. Demnach setzt die Sanktionierung seitens des Unternehmens ein Verschulden im Sinn der Vorwerfbarkeit voraus.

171

Vgl. etwa BORER, OFK-Wettbewerbsrecht I, N 11 zu Art. 49a KG; TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 10 zu Art. 49a KG; vgl. die zusammenfassende Darstellung der Rechtsprechung und Literatur bei KUBLI LINDA, Das kartellrechtliche Sanktionssubjekt im Konzern, Basel 2014, S. 149 f. Dabei wird auch eine funktionsgerechte Übertragung der strafrechtlichen Grundsätze unter Berücksichtigung von Zweck und Wirkungsweise des Kartellrechts eingefordert, vgl. HEINE, Quasi-Strafrecht, S. 118; HEINE/ROTH, Kartellgesetzrevision 2010, S. 9, 14 f.

172 Vgl. NIGGLI/RIEDO, BSK-KG, N 124 ff. vor Art. 49a-53 KG; ROTH, CR-Concurrence, N 37 ff. zu Rem. art. 49a-53 LCart.

173 Vgl. TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 10 zu Art. 49a KG.

174 BGE 140 II 384 E. 5.2.3 ­ Spielbank.

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Somit muss die Verwaltungsbehörde zumindest ein Organisationsverschulden (objektiver Sorgfaltsmangel) nachweisen. Sofern ein schuldhaftes Verhalten einer verantwortlichen Person vorliegt, kann das Unternehmen ebenfalls ins Recht gefasst werden. Dieser Mittelweg hat sich in der kartellrechtlichen Praxis bewährt und lässt sich auf die anderen Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen übertragen.

Gesamthaft betrachtet besteht somit hinsichtlich des Verschuldens der Sanktionsadressaten auf gesetzlicher Ebene kein grundsätzlicher Anpassungsbedarf. Ob allenfalls bei neuen Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen bestimmte subjektive Aspekte einer Regelung zuzuführen sind, wird dannzumal und mit Blick auf die konkreten Sachumstände vertieft zu prüfen sein.

4.4

Rechtsfolge

4.4.1

Belastung mit einem Betrag

Die Rechtsfolge einer pekuniären Verwaltungssanktion besteht in einer finanziellen Belastung der Verfahrenspartei mit einem Betrag. In diesem Sinn stellt sie eine Geldforderung der öffentlichen Hand gegenüber der sanktionierten Partei dar.

Zur Verdeutlichung der Art der Sanktion werden Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen im geltenden Recht (vgl. zum Bestand Ziff. 2.2) in aller Regel nicht als «Busse», sondern als «Belastung» mit einem Betrag formuliert (z B.

«das Unternehmen wird mit einem Betrag von ... belastet»). Diese Formulierung dient der Abgrenzung des Instruments von den strafrechtlichen Sanktionen. Damit wird auch die Wahl des anwendbaren Verfahrensrechts erleichtert (vgl. Ziff. 2.5).

Dieser Terminologie sollte auch bei allfälligen neuen Bestimmungen gefolgt werden.

Wie in Ziffer 4.3 dargelegt, kommt bei pekuniären Verwaltungssanktionen das im Kartellrecht entwickelte Konzept der Vorwerfbarkeit zur Anwendung. Dies erlaubt es, die Rechtsfolgen in Verwaltungssanktionsverfahren funktional äquivalent zum Strafrecht auszugestalten, das von einem strengen Schuldprinzip beherrscht wird und z. B. deliktisch erlangte Vermögensvorteile über die Einziehung abschöpft.

4.4.2

Sanktionshöhe

Die pekuniären Verwaltungssanktionen bezwecken, die Adressaten zur Einhaltung des Rechts zu veranlassen und fehlbare Teilnehmer von weiteren Rechtsverstössen abzuhalten (vgl. Ziff. 2.3). Der Gesetzgeber muss daher bei der Festlegung der Sanktionshöhe darauf achten, dass die Sanktion hoch genug ist, um wirksam zu sein.

Zu berücksichtigen sind dabei die Besonderheiten des jeweiligen Sachbereichs, die Wertigkeit des geschützten Rechtsguts175 sowie das Verhältnismässigkeitsprinzip.

Dabei lassen sich unterschiedliche Bemessungsarten unterscheiden: 175

JETZER, Bestimmtheitsgebot, S. 176.

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­

Umsatzbezogene Sanktionshöhe: Die Sanktionshöhe kann in Abhängigkeit von einer objektiv bestimmbaren Grösse bemessen werden, z. B. gemäss dem Jahresumsatz oder dem Bruttoertrag der sanktionierten Partei.176 Die umsatzbezogene Festlegung der Sanktionshöhe erscheint insbesondere sachgerecht für Sachbereiche, die eine bedeutende Anzahl Unternehmen betreffen oder wenn sich die Unternehmen bezüglich ihrer Grösse bzw. der finanziellen Verhältnisse stark unterscheiden.177 Im Anwendungsfall kann diese Bemessungsart zu hohen Sanktionsbeträgen führen. Anzufügen ist, dass das Bestimmtheitsgebot (Art. 7 EMRK) nicht verlangt, dass das Gesetz einen Höchstbetrag im Sinn eines «Deckels» festlegt.178

­

Pauschalsanktion: Mit fixen Pauschalbeträgen, die pro Rechtsverstoss fällig werden, kann Transparenz und Rechtssicherheit geschaffen werden. Beispiele für Pauschalsanktionen finden sich in Artikel 122a und 122b AIG.179 Diese Art der Bemessung eignet sich, wenn sich die zu sanktionierenden Pflichtverletzungen hinsichtlich der klassischen Bemessungskriterien des Täterverschuldens und der Tatschwere nicht erheblich unterscheiden bzw.

wenn sich derartige Unterschiede, wo sie bestehen sollten, kaum nachweisen lassen.180

­

Belastungsrahmen: Eine Verwaltungssanktion kann auch in Form eines Belastungsrahmens mit einem Höchstbetrag in Schweizer Franken vorgesehen werden.181 Eine solche Formulierung ist mit derjenigen der klassischen Strafbestimmung (Busse) vergleichbar.

­

Artikel 12 ALBAG schliesslich bildet einen Sonderfall. Gemäss dieser Bestimmung wird für jeden Tag ab dem Ende der vorgeschriebenen Frist ein Pauschalbetrag von 200 Franken, höchstens jedoch insgesamt 50 000 Franken belastet. Ein solche Formulierung kann mit dem Instrument der Konventionalstrafe verglichen werden.

4.4.3

Bemessungskriterien

Bei der Bemessung der pekuniären Verwaltungssanktionen im Einzelfall verfügt die zuständige Behörde namentlich unter Beachtung der Grundsätze der Rechtmässig176 177 178

179

180 181

Vgl. z.B. Art. 49a KG, 50 und 51 Abs. 2 KG, 100 und 109 BGS, 25 PG, 60 FMG, 90 Abs. 1 RTVG, 169 Abs. 2 LwG.

In diesem Sinn: JETZER, Bestimmtheitsgebot, S. 176 ff.

Vgl. namentlich: Urteil des BVGer B-2977/2007 vom 27. April 2010 E. 8.1.4 ff., 8.1.7.1 f. ­ Publigroupe. In diesem Urteil befand das BVGer, dass sich der EGMR zu dieser Frage zwar nicht direkt geäussert habe, dass sich aus seiner Rechtsprechung jedoch ableiten lasse, dass es nicht gegen Art. 7 EMRK verstösst, wenn im KG kein Höchstbetrag festgelegt ist (vgl. insbesondere E 8.1.7.2 des genannten Urteils). Vgl. ferner: JETZER, Bestimmtheitsgebot, S. 177.

Vgl. namentlich Botschaft zur Änderung des Ausländergesetzes, S. 2568 ff. Vgl. ebenfalls die Urteile des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 3.3 ­ Swiss International Airlines und A-597/2020 vom 23. Februar 2021 E. 3.

Vgl. namentlich Botschaft zur Änderung des Ausländergesetzes, S. 2560.

Vgl. z.B. Art. 9 Abs. 2 Bst. a, b Ziff. 1, d Ziff. 1, f EntsG, 51 Abs. 1 und 52 KG, 90 Abs. 2 RTVG, 169 Abs. 1 Bst. h LwG.

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keit, der Gleichbehandlung und der Verhältnismässigkeit über einen Ermessensspielraum zur Bestimmung der Sanktion.182 Das Verhältnismässigkeitsprinzip verlangt, dass die Konsequenzen der Sanktionierung für die verfahrensbetroffene Partei im Einzelfall angemessen berücksichtig werden, insbesondere in Bezug auf ihre finanzielle und soziale Situation.183 Durch die Festlegung von Kriterien zur Bemessung des Sanktionsbetrags in Sacherlassen mit pekuniären Verwaltungssanktionen kann im Einzelfall ein differenzierter Betrag bestimmt und so der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt werden.

Die Bemessungskriterien für die Behörden sind in einschlägigen Sacherlassen jedoch nicht immer mit derselben Genauigkeit festgelegt.184 In einigen Fällen sind die Kriterien zur Bemessung des Sanktionsbetrags bereits in besonderen Bestimmungen geregelt.185 Gemäss diesen Bestimmungen muss der Sanktionsbetrag in der Regel die Schwere und die Dauer der fraglichen Verletzung oder die finanzielle Situation der sanktionierten Unternehmung berücksichtigen.

In anderen Bestimmungen wird ausschliesslich die Sanktionshöhe festgelegt, ohne Kriterien zu bezeichnen, anhand welcher die Behörde im Einzelfall den genauen Sanktionsbetrag bemessen muss.186 Die Kriterien zur Bemessung des Sanktionsbetrags können ferner in der Botschaft des Bundesrates genannt oder aus der Verwaltungspraxis bzw. der Rechtsprechung abgeleitet werden.187 Angesichts der unterschiedlichen Regelungen in diesem Bereich stellt sich die Frage, ob die Kriterien zur Bemessung des Betrags einer Sanktion in einer allgemeinen Bestimmung geregelt werden sollten. Da die pekuniären Verwaltungssanktionen einen strafrechtsähnlichen Charakter haben, rechtfertigt sich ein Vergleich mit der entsprechenden Lösung im Strafrecht: ­

182 183 184 185

186 187

Artikel 47 StGB nennt allgemeine Kriterien, die bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Die Strafe wird gemäss dem Verschulden des Täters bemessen. Das Verschulden wird nach der Schwere der Verletzung oder Gefährdung des betroffenen Rechtsguts, nach der Verwerflichkeit des Handelns, den Beweggründen und Zielen des Täters, sowie danach bestimmt, Im Kartellbereich vgl. die Ausführungen von TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 15 ff. zu Art. 49a KG.

Z.B. der Ruf, die Tatsache, dass das Personal oder die Angestellten von der Minderung der finanziellen Mittel einer sanktionierten Partei betroffen sein könnten, usw.

Vgl. Ziff. 4.1 in Bezug auf das Gebot der Klarheit und Bestimmtheit der Rechtsgrundlage in Verbindung mit der Feststellung des Sachverhalts.

Vgl. z.B.: Art. 50 KG, Art. 90 Abs. 3 RTVG, Art. 60 Abs. 3 FMG, Art. 109 Abs. 1 BGS.

Beispielsweise präsiziert Art. 49a Abs. 1 KG, dass sich der Betrag «nach der Dauer und der Schwere des unzulässigen Verhaltens» bemisst und dass der «mutmassliche Gewinn, den das Unternehmen dadurch erzielt hat, [...] angemessen zu berücksichtigen [ist]».

Vgl.: JETZER, Bestimmtheitsgebot, S. 176 ff.; TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 41 ff.

zu Art. 49a KG; ROTH/BOVET, CR-Concurrence, N 24 ff. zu Art. 49a KG.

So namentlich in Art. 100 BGS, Art. 51­52 KG, Art. 169 LwG, sowie Art. 12 ALBAG.

Im Geldspielbereich waren die Kriterien zur Bemessung des Sanktionsbetrags gemäss dem alten Bundesgesetz vom 18. Dezember 1998 über Glücksspiele und Spielbanken (SBG, SR 935.52) von der Aufsichtsbehörde über die Spielbanken festgelegt und durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts bestätigt worden. Vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_949/2010 vom 18. Mai 2011 E. 6.2.2 und 6.3.1. Diese Kriterien gelten auch in Bezug auf Art. 100 BGS, siehe Botschaft zum Geldspielgesetz, S. 8482­8483.

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wie weit der Täter nach den inneren und äusseren Umständen in der Lage war, die Gefährdung oder Verletzung zu vermeiden. Das Gericht verfügt bei der Zumessung der Strafe gemäss diesen Kriterien über einen umfassenden Ermessensspielraum.188 Dabei gilt es freilich zu berücksichtigen, dass die genannten Kriterien auf natürliche Personen zugeschnitten sind und sich nicht ohne Weiteres auf pekuniäre Verwaltungssanktionen gegen Unternehmen übertragen lassen.

­

Artikel 102 Absatz 3 StGB nennt die Kriterien, die bei der Bemessung von Bussen für Unternehmen nach Artikel 102 StGB berücksichtigt werden müssen. Die Busse wird demnach nach der Schwere der Tat, der Schwere des Organisationsmangels und des angerichteten Schadens sowie nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens bemessen. Die Schwere der Tat wird anhand der objektiven Schwere der Tat (in abstracto) und der gesamten Umstände im Einzelfall (in concreto) beurteilt.189 Die Kriterien zur Bemessung der Busse sind allenfalls ergänzend gemäss Artikel 47 StGB auszulegen, da die Kriterien dieser Bestimmung auch für die Unternehmen gelten können.190

Eine allgemeine Regelung der Bemessungskriterien zu den pekuniären Verwaltungssanktionen im VwVG erscheint jedoch nicht angezeigt. Denn es handelt sich um eine Frage des materiellen Rechts, die folglich in Sacherlassen mit solchen Sanktionen geregelt werden sollte. Ferner erscheint es auch unter Berücksichtigung der Verschiedenartigkeit der Rechtsbereiche mit pekuniären Verwaltungssanktionen sinnvoller, die Kriterien im Einzelfall in den Spezialgesetzen festzuhalten.

4.4.4

Verhältnis zwischen pekuniären Verwaltungssanktionen und anderen Durchsetzungsinstrumenten

Die Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen können in mehrere Kategorien unterteilt werden. Einige Sacherlasse umfassen ausschliesslich pekuniäre Verwaltungssanktionen.191 In anderen Sacherlassen sind in verschiedenen Bestimmungen pekuniäre und nichtpekuniäre Verwaltungssanktionen sowie Verwaltungsmassnahmen mit anderen Zielen enthalten.192 Andere Gesetze umfassen sowohl

188 189

Vgl. QUELOZ/MANTELLI-RODRIGUEZ, CR-CP I, N 8 ff. zu Art. 47 StGB.

MACALUSO, CR-CP I, N 80 zu Art. 102 StGB; NIGGLI/GFELLER, BSK-StGB, N 318 ff.

zu Art. 102 StGB.

190 MACALUSO, CR-CP I, N 81 zu Art. 102 StGB.

191 Vgl. z.B. Art. 122a­122b AIG, Art. 12 ALBAG.

192 Vgl. z.B. Art. 49a, 50, 51, 52 KG. Art 100 und 109 BGS enthalten pekuniäre Verwaltungssanktionen im Geldspielbereich; Art. 15 und 31 BGS umfassen ferner Bestimmungen zum Entzug einer Konzession bzw. einer Veranstalter- oder Spielbewilligung. Art. 98 BGS legt die Massnahmen dar, welche die ESBK zur Beseitigung von Missständen, zur Prävention von Gefahren oder zur Wiederherstellung eines rechtmässigen Zustands ergreifen kann. Vgl. auch Art. 24 Abs. 2 und 25 PG, Art. 58 und 60 FMG und Art. 89 und 90 RTVG.

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pekuniäre als auch nichtpekuniäre Verwaltungssanktionen in einer einzigen Bestimmung.193 Die Wahl zwischen den verschiedenen Formen der Verwaltungssanktionen einschliesslich der pekuniären Verwaltungssanktionen muss gemäss deren Zweck erfolgen. Die pekuniären Verwaltungssanktionen sollten grundsätzlich eine präventive und repressive Wirkung auf die Sanktionsadressaten haben. Ausserdem können andere Sanktionen, die im Allgemeinen keinen Strafcharakter haben ­ wie der Entzug einer Bewilligung oder das Verbot gegenüber dem betreffenden Unternehmen, seine Dienste in der Schweiz anzubieten ­, mit einer pekuniären Verwaltungssanktion verknüpft werden (vgl. z. B. Art. 9 Abs. 2 Bst. d EntsG). Schliesslich sehen bestimmte Sacherlasse die Möglichkeit vor, den von einem Unternehmen unrechtmässig erwirtschafteten finanziellen Vorteil einzuziehen.194 Im Gegensatz zur pekuniären Verwaltungssanktion, die einen präventiven und strafenden Zweck verfolgt, ist der Zweck dieser Massnahmen die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands. Obwohl die betreffenden Behörden die beiden Instrumente in der Praxis alternativ einsetzen, wäre eine Kumulierung der beiden Arten von Massnahmen innerhalb der Schranken der Verhältnismässigkeit denkbar.195 Aus dem Gesagten folgt, dass der Gesetzgeber bei der Festlegung des Katalogs der zulässigen Durchsetzungsinstrumente (Verwaltungsmassnahmen, Verwaltungssanktionen, Verwaltungsstrafen) grundsätzlich frei ist.

4.5

Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung

In Verwaltungssanktionsverfahren kann sich die Frage stellen, in welchem zeitlichen Rahmen zurückliegende Pflichtverletzungen sanktioniert werden dürfen. Das Strafrecht kennt hierfür die Rechtsfigur der Verfolgungsverjährung,196 wobei nach Ablauf der Frist die Einleitung des Strafverfahrens ausgeschlossen ist.

Gemäss dem Bundesgericht ist die Verjährung als allgemeiner Rechtsgrundsatz des öffentlichen Rechts zu betrachten, der selbst ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage gilt.197 Das geltende allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht enthält keine ausdrück193 194

Vgl. in diesem Sinn Art. 169 Abs. 1 LwG oder Art. 9 EntsG.

Vgl. namentlich Art. 56 BGS, 89 Abs. 1 Bst. a Ziff. 3 RTVG, 58 Abs. 2 Bst. b FMG, 24 Abs. 2 PG. Im Kartellsanktionsverfahren wird demgegenüber der mutmassliche Gewinn, den das sanktionierte Unternehmen durch das unzulässige Verhalten erwirtschaftet hat, bei der Festlegung des Sanktionsbetrages angemessen berücksichtigt (vgl. Art. 49a Abs. 1 KG). Dazu ist zu bemerken, dass kartellrechtliche Sanktionen steuerlich nicht abziehbar sind, weil der pönale Charakter im Vordergrund steht, vgl. Botschaft zum Bundesgesetz über die steuerliche Behandlung finanzieller Sanktionen, S. 8530.

195 Denn bei einer Einziehung des unrechtmässig erwirtschafteten finanziellen Vorteils steht der Adressat der Massnahme nicht schlechter da, als wenn er keine Straftat begangen hätte. Davon abgesehen kann das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion des Weiteren eingesetzt werden, um den Adressaten in der Zukunft zu einem rechtskonformen Verhalten zu bewegen. Im Übrigen kann die Einziehung von Vermögenswerten im Strafrecht nach Art. 70 StGB kumulativ zu einer Strafe angeordnet werden.

196 Vgl. Art. 97 ff. StGB betreffend Verbrechen und Vergehen bzw. Art. 109 StGB betreffend Übertretungen.

197 Vgl. z.B. BGE 126 II 49 E. 2a; 124 I 247 E. 5. Ferner: MOOR/FLÜCKIGER/MARTENET, Droit administratif: Bd. I, S. 70 ff.

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lichen Bestimmungen über die Verjährung der «Verfolgbarkeit» von Handlungen, für die Verwaltungssanktionen ausgesprochen werden können. In einzelnen Sacherlassen finden sich Regelungen, die Ähnlichkeiten mit der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung aufweisen.198 Für andere Bereiche fehlen demgegenüber ausdrückliche Vorgaben im Spezialgesetz, so namentlich für den Spielbankenbereich.

Gemäss ständiger Praxis des Bundesgerichts orientiert sich das Gericht bei Fehlen von Vorschriften zur Verjährung vorab an die Regeln, die der Gesetzgeber im öffentlichen Recht für verwandte Tatbestände aufgestellt hat. Mangels entsprechender Regelungen sind die allgemeinen (zivilrechtlichen) Grundsätze über die Verjährung heranzuziehen, wonach für einmalige Leistungen eine zehnjährige, für periodische eine fünfjährige Frist gilt.199 Das Bundesgericht hat sich für den Bereich der Spielbanken an der kartellrechtlichen Regelung nach Artikel 49a Absatz 3 KG orientiert und festgehalten, dass die Tat als verjährt gilt, wenn das zu sanktionierende Verhalten bei Eröffnung der Untersuchung seit länger als fünf Jahren beendet war. Denkbar wäre gemäss Bundesgericht freilich auch eine Analogie zur strafrechtlichen Verjährungsfrist für die geldspielrechtlichen Übertretungstatbestände gewesen, welche nach damaligem Recht sieben Jahre betrug.200 Aus Gründen der Vorhersehbarkeit und der Rechtssicherheit erscheint eine gesetzliche Festlegung der Verfolgungsverjährung für den Bereich der pekuniären Verwaltungssanktionen angebracht, wobei die sektorielle Ergänzung der Sacherlasse im Vordergrund steht. Die Regelungen sollten nicht bewirken, dass die Verwaltungsbehörden selbst nach Ablauf der Verjährungsfrist keine anderen Verwaltungsmassnahmen anordnen. Folgende Punkte sind regelungsbedürftig: ­

Dauer der Verjährungsfrist: Die Verjährungsfrist sollte zum einen die Wertigkeit des verletzten Rechtsgutes und andererseits die praktische Durchführbarkeit des Verwaltungssanktionsverfahrens berücksichtigen. Der Gesetzgeber kann sich dabei an den einleitend erwähnten sektoriellen Regelungen orientieren. Allgemein sollte eine hinreichend lange Frist zwischen der Begehung der Straftat und der Eröffnung des Verfahrens sowie zwischen der Eröffnung und dem Abschluss des Verfahrens (Sanktionsanordnung) vorgesehen werden.

­

Beginn der Frist: Der Beginn der Frist sollte auf den Tag fallen, an dem die Pflichtverletzung erfolgte bzw. an dem eine fortwährende Pflichtverletzung aufhörte.

­

Ende der Verjährung: Es ist festzulegen, ob die Verfolgungsverjährung beim Eintritt eines bestimmten Ereignisses (z. B. der Eröffnung eines for-

198

Z.B. Art. 14 ALBAG (5 bzw. 10 Jahre); Art. 122c Abs. 3 AIG (2 Jahre); Art. 49a Abs. 3 Bst. b KG (5 Jahre), dazu auch TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 239a f. zu Art. 49a KG, wonach es sich nicht um eine Verfolgungsverjährungs- sondern eine Verwirkungsfrist handelt.

199 BGE 140 II 384 E. 4.2 m.w.H. ­ Spielbank.

200 BGE 140 II 384 E. 4.3.2 ­ Spielbank. Zur Verjährungsfrage im Kartellsanktionsverfahren vgl. etwa das Urteil des BVGer B-831/2011 vom 18. Dezember 2018 E. 1660 ff. ­ SIX/DCC (noch nicht rechtskräftig).

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mellen Verfahrens oder eines erstinstanzlichen Sanktionsentscheids) nicht mehr eintritt.201 ­

Wahl einer relativen und einer absoluten Frist: In Bezug auf die Frist wäre der Ansatz einer einzigen absoluten Frist vorzuziehen.

Betreffend die Vollstreckungsverjährung ist Folgendes anzumerken: Nach Artikel 40 VwVG sind Verfügungen betreffend pekuniäre Verwaltungssanktionen gestützt auf das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs zu vollstrecken.

Für die Verjährung sind implizit die Regelungen gemäss dem OR anwendbar.202 In dieser Hinsicht besteht kein gesetzlicher Anpassungsbedarf.203

4.6

Zwischenfazit

Aus konventions- und verfassungsrechtlicher Optik ist die Bewehrung von Verhaltensvorschriften mit pekuniären Verwaltungssanktionen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Pekuniäre Verwaltungssanktionen im Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien setzen freilich eine Verankerung im formellen Gesetz voraus.

Dies folgt aus dem Legalitätsprinzips im Strafrecht. Die Verhaltenspflichten, die mit einer pekuniären Verwaltungssanktion durchgesetzt werden sollen, sind grundsätzlich ebenfalls im jeweiligen Sachgesetz festzulegen.

Gemäss Rechtsprechung setzt die Sanktionierung seitens des Unternehmens ein Verschulden im Sinn der Vorwerfbarkeit voraus. Somit muss die Verwaltungsbehörde zumindest ein Organisationsverschulden (objektiver Sorgfaltsmangel) nachweisen. Sofern ein schuldhaftes Verhalten einer verantwortlichen Person vorliegt, kann das Unternehmen ebenfalls ins Recht gefasst werden. Die untersuchten Bestimmungen regeln die Verschuldensfrage nicht ausdrücklich. Gesetzliche Anpassungen erscheinen indessen nicht dringend. Ob allenfalls bei neuen Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen bestimmte subjektive Aspekte einer Regelung zuzuführen sind, ist dannzumal und mit Blick auf die konkreten Sachumstände vertieft zu prüfen.

Die Rechtsfolge einer pekuniären Verwaltungssanktion ist als «Belastung» mit einem Betrag zu formulieren (z. B. «das Unternehmen wird mit einem Betrag von ...

belastet») und nicht als «Busse». Dies ermöglicht die Abgrenzung der Verwaltungssanktionen von den Strafbestimmungen eines Gesetzes und damit die Bestimmung des anwendbaren Verfahrensrechts (VwVG statt VStrR).

201

Art. 25 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, Abl. 2006, C 210, S. 1 geht weiter und schreibt jeder auf Ermittlung oder Verfolgung gerichteten Handlung Unterbrechungswirkung zu.

202 Vgl. Art. 81 Abs. 1 in fine SchKG. Siehe ebenfalls: MOOR/POLTIER, Droit administratif: vol. II, S. 145 ff.

203 Aus rechtsvergleichender Sicht ist anzumerken, dass im Wettbewerbsrecht der EU in Art. 26 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, Amtsblatt Nr. L 001 vom 4. Januar 2003 S. 1, für die Vollstreckung von Entscheidungen der Kommission eine Verjährungsfrist von fünf Jahren ab dem Tag, an dem die Entscheidung bestandskräftig ist, vorgesehen ist.

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Bei der gesetzlichen Festlegung der Sanktionshöhe ist darauf zu achten, dass die Sanktion hoch genug ist, um wirksam zu sein. Je nach Sachgebiet eignen sich unterschiedliche Bemessungsarten (umsatzbezogene Sanktion, Pauschalsanktion, Belastungsrahmen).

Die Kriterien für die Sanktionsbemessung sollten im Sacherlass oder in Ausführungsbestimmungen festgelegt werden. Die Kriterien können auch aus einer Botschaft des Bundesrates, aus der Praxis der Verwaltungsbehörden oder der Rechtsprechung hervorgehen. Zudem ist darauf zu achten, dass die zuständige Verwaltungsbehörde im Hinblick auf die Wahl der Sanktionsart über einen angemessenen Ermessensspielraum verfügt.

Die gesetzliche Festlegung der Verfolgungsverjährung im jeweiligen Sacherlass erscheint aus Gründen der Vorhersehbarkeit und der Rechtssicherheit angebracht.

5

Verfahren auf Erlass von pekuniären Verwaltungssanktionen

Im Folgenden wird das Verfahren auf Erlass von pekuniären Verwaltungssanktionsverfügungen beschrieben. Dabei werden diejenigen Aspekte beleuchtet, die in der Praxis der Behörden zu rechtlichen Unsicherheiten geführt haben. Die Darstellung orientiert sich an der Chronologie des erstinstanzlichen Verwaltungssanktionsverfahrens bzw. der Systematik des Verwaltungsverfahrensgesetzes.

5.1

Beginn des Verwaltungssanktionsverfahrens

5.1.1

Zuständige Behörden

Verwaltungssanktionsverfahren werden in erster Instanz von derselben Verwaltungsbehörde instruiert, die auch den Sanktionsentscheid ausspricht. Die Verwaltungsbehörden übernehmen als instruierende und sanktionierende Behörden folglich eine Doppelfunktion. Je nach Sachbereich sind entweder Ämter der Zentralverwaltung204 oder ausserparlamentarische Kommissionen205 mit dieser Aufgabe betraut.

Nach Artikel 6 Absatz 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht verhandelt wird. Daraus ergibt sich, dass die beschuldigte Person einen wirksamen Zugang zu einem Gericht mit voller Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht haben muss. Das Gericht muss von den anderen Staatsgewalten, d. h. Exekutive und Legislative, sowie von den Parteien unabhängig sein. Seine Unabhängigkeit beurteilt sich nach der Ausgestaltung der

204

Das BAKOM beispielsweise ist zuständig für die Instruktion der Verfahren und die Anordnung der Sanktionen nach Art. 60 FMG und 90 RTVG.

205 Z.B. die WEKO für Verwaltungssanktionen nach Art. 49a ff. KG, die PostCom in Bezug auf Art. 25 PG und die ESBK in Bezug auf Art. 100 BGS.

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Wahl der Gerichtsmitglieder, der Amtsdauer, dem Schutz vor Beeinflussung von aussen und danach, ob das Gericht den Eindruck der Unabhängigkeit vermittelt.206 Die erstinstanzlichen Verwaltungsbehörden sind zwar keine «Gerichte», jedoch hat der EGMR im Urteil Menarini Diagnostics S.R.L. betreffend ein Kartellverfahren mit hohen Bussgeldern festgehalten, dass es nicht per se mit Artikel 6 EMRK unvereinbar ist, wenn die erstverfügende Behörde eine Verwaltungsbehörde ist (mit Kompetenzbündelung von Untersuchung, Anklageentscheidung und Sanktionierung). In diesen Fällen müssen die Anforderungen von Artikel 6 EMRK im anschliessenden gerichtlichen Beschwerdeverfahren, d. h. vor einem Gericht mit voller Kognition, erfüllt werden.207 Im Lichte der Menarini-Rechtsprechung hat das Bundesgericht bezüglich des Kartellrechts denn auch entschieden, dass die institutionelle Struktur der WEKO als erstverfügende Sanktionsbehörde mit den Vorgaben der EMRK vereinbar ist,208 da deren Verfügungen im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht entsprechend den konventionsrechtlichen Vorgaben überprüft werden können. Verallgemeinernd lässt sich somit festhalten, dass die bestehende Zuständigkeitsordnung im Bereich der pekuniären Verwaltungssanktionen auf der Ebene des Bundesverwaltungsrechts konventionsrechtlich zulässig erscheint.

Diese Lösung bietet aus praktischer Sicht Vorteile, da die Verwaltungsbehörden über die nötige Expertise im betreffenden Bereich verfügen und oft bereits in einem Aufsichtsverhältnis zu den verfahrensbetroffenen Unternehmen stehen.209 Die Konzentration der Instruktions- und Entscheidkompetenz bei den Aufsichtsbehörden der Verwaltung bietet zudem den Vorteil, dass für Aufsichts- wie auch Verwaltungssanktionsentscheide derselbe Rechtsmittelweg gewährleistet ist (in der Regel zuerst das Bundesverwaltungsgericht und in der Folge das Bundesgericht). Die Konzentration der Aufsichts- und Sanktionskompetenz bei derselben Verwaltungsbehörde verhindert somit eine unerwünschte Zersplitterung der Zuständigkeiten. Sie dient damit auch dem Ziel der Wirksamkeit der Verfahren.

Davon abgesehen ist sicherzustellen, dass die zuständigen Verwaltungsbehörden über die erforderlichen Qualifikationen und die nötige Erfahrung für die Durchführung von Sanktionsverfahren verfügen.210

206 207

208

209 210

Urteil des EGMR Ramos Nunes de Carvalho e Sá gegen Portugal vom 6. November 2018 [Grosse Kammer], Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13 § 144.

Urteil des EGMR Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien vom 27. September 2011, Nr. 43509/08 § 57 ff., bestätigt im Urteil des EGMR Grande Stevens u. a. gegen Italien vom 4. März 2014, Nr. 18640/10 u. a § 139. Zur Frage der Kognition der Beschwerdeinstanz vgl. Ziff. 5.8.

BGE 139 I 72 E. 4.4 ­ Publigroupe. Der Bundesrat hat mit der Botschaft zur Änderung des Kartellgesetzes und zum Bundesgesetzüber die Organisation der Wettbewerbsbehörde, S. 3950 die vollständige Trennung zwischen untersuchender Behörde einerseits und urteilender Behörde andererseits vorgeschlagen. Das Parlament ist jedoch auf die Vorlage nicht eingetreten. Es besteht entsprechend auch kein politisches Bedürfnis, eine weitergehende Trennung der Funktionen einzuführen.

So z.B. die PostCom, die ESBK oder das BAKOM.

Vgl. dazu namentlich Art. 14 Abs. 2 VwVG.

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Aus dem Gesagten folgt, dass die Konzentration der Instruktions- und Entscheidkompetenz bei den Aufsichtsbehörden konventions- und verfassungsrechtlich zulässig sowie aus praktischen Gründen vorteilhaft ist.

5.1.2

Verfahrenseinleitung

Pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren werden von Amtes wegen oder auf (Selbst-)Anzeige hin eingeleitet. Dabei stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Behörde aktiv werden darf bzw. welcher Entscheidungsspielraum ihr dabei zukommt.

Das geltende Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes enthält keine allgemeine Regelung über die Verfahrenseinleitung. Die Befugnis zur Verfahrenseinleitung folgt aus den massgeblichen Bestimmungen des Sacherlasses. Die zuständige Behörde leitet in der Regel ein Verfahren ein, wenn ein hinreichender Verdacht auf Erfüllung der Tatbestandselemente besteht und ein Anlass zur autoritativen Regelung des Rechtsverhältnisses vorliegt.

Von der Befugnis zur Verfahrenseinleitung ist die Frage zu unterscheiden, ob die Behörde hierzu verpflichtet ist. Das Verwaltungsrecht kennt keinen generellen «Verfolgungszwang», wie dies im Bereich der Strafverfolgung der Fall ist (vgl.

Art. 7 StPO). Der Verwaltungsbehörde kommt im Allgemeinen ein gewisses Ermessen zu, ob sie ein pekuniäres Verwaltungssanktionsverfahren einleitet oder aus Opportunitätsgründen darauf verzichtet. Bei der Ermessensausübung sind das Gleichbehandlungs-, das Gesetzmässigkeits- und das Verhältnismässigkeitsprinzip wegleitend. Die Verwaltungsbehörde ist im Rahmen ihrer Zuständigkeiten grundsätzlich verpflichtet, das Recht anzuwenden. Sie ist folglich gehalten, ein Verfahren zu eröffnen, sei dies von Amtes wegen, wenn ihr Tatsachen bekannt werden, die ein Einschreiten erfordern, sei dies auf Ersuchen eines Rechtssubjekts, wenn dieses ein schutzwürdiges Interesse geltend macht.211 Auf der anderen Seite kann sie beispielsweise auf die Verfahrenseinleitung verzichten, wenn angesichts der geringen Schwere der Verletzung, der Verfahrenskosten oder des Zeitaufwands ein Verwaltungssanktionsverfahren unverhältnismässig erscheint.

Eine Sonderstellung bildet das Kartellrecht (vgl. Art. 27 Abs. 1 KG). In diesem Bereich wird aufgrund rechtsstaatlicher Überlegungen grundsätzlich von einem Verfolgungszwang unter Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips ausgegangen.212 Durch eine allgemeine Regelung der Modalitäten zur Einleitung eines Verfahrens und der Kriterien zum Verzicht auf ein Verfahren könnte eine Einheitlichkeit der 211 212

BOVAY, Procédure administrative, S. 211 ff.

Vgl. ZIRLICK/TAGMANN, BSK-KG, N 52a ff. zu Art. 27 KG. Die WEKO berücksichtigt beim Entscheid über den Verzicht auf die Eröffnung eines Kartellverfahrens praxisgemäss u.a. folgende Kriterien: Die Art und die Schwere der Wettbewerbsbeschränkung, deren Umfang und Dauer, die Notwendigkeit eines Grundsatzurteils, das Vorliegen privater Interessen, die Komplexität und die geschätzten Kosten des Verfahrens, die Entscheidprognose sowie das Vorhandensein ausreichender Ressourcen bei den zuständigen Wettbewerbsbehörden.

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Praxis im Bereich der pekuniären Verwaltungssanktionen sichergestellt werden.

Dagegen spricht jedoch, dass es aufgrund der Verschiedenartigkeit der betroffenen Bereiche schwierig ist, eine sachbereichsübergreifende Regelung zu erlassen. Damit die Besonderheiten der einzelnen Bereiche berücksichtigt werden können, ist es vorzuziehen, den Behörden weiterhin einen Ermessensspielraum zu lassen. Es obliegt der zuständigen Verwaltungsbehörde, innerhalb ihres Vollzugsbereichs eine «unité de doctrine» zu etablieren. Bei der Anwendung eines Erlasses sollte eine Praxis erkennbar sein, aus der heraus eine Gleichbehandlung der Akteure durch die sanktionierende Behörde erkennbar ist.

Anzufügen ist, dass die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens keine formale Verfügung voraussetzt;213 dies im Unterschied zu Strafverfahren (vgl. Art. 309 Abs. 3 StPO).214 Auch kennt das Verwaltungsverfahrensrecht für den Fall, dass die Behörde auf die Einleitung des Verfahrens verzichtet, keine «Nichtanhandnahmeverfügung» (vgl. demgegenüber Art. 310 StPO).215 Diese Lösung überzeugt: Für Verwaltungssanktionsverfahren ist es nicht erforderlich, die Einleitung bzw. den Verzicht auf die Einleitung zu formalisieren, zumal in der Regel auch keine Rechtsschutzbedürfnisse Dritter bestehen.

Hingegen bedarf es der Kundgabe der Verfahrenseinleitung an die Partei, um sie in Kenntnis über das Verfahren sowie die drohenden Rechtsfolgen zu setzen. Die Kundgabe stellt letztlich die Voraussetzung für die Wahrnehmung des aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör fliessenden Äusserungsrechts dar.216 Die Pflicht zur Kundgabe lässt sich also aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 BV vgl. Ziff. 5.5) ableiten.217 Das geltende Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes sieht zwar nicht ausdrücklich vor, dass die Einleitung eines Verfahrens der Partei mitzuteilen ist.218 Mit Blick auf Artikel 29 BV sowie die bestehende Praxis der Verwaltungsbehörden, die Verfahrenseinleitung kundzugeben, besteht jedoch kein unmittelbarer Bedarf für eine entsprechende Ergänzung des Verwaltungsverfahrensgesetzes.

213 214

215

216 217 218

Dies auch dann nicht, wenn der Sacherlass eine explizite Vorschrift zur Anzeige der Verfahrenseröffnung enthält, vgl. z.B. Art. 30 FINMAG.

Vgl. Art. 309 StPO. Das Verwaltungsstrafrecht sieht ebenfalls keine Formerfordernisse in Bezug auf die Einleitung des Verfahrens vor. Zu erwähnen ist, dass Art. 104 Abs. 4 des Bundesgesetzes über die Mehrwertsteuer (MWSTG; SR 641.20) eine Ausnahme von diesem Grundsatz enthält. Gemäss dieser Bestimmung ist die Eröffnung eines Strafverfahrens der beschuldigten Person schriftlich mitzuteilen.

Vgl. KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Verfahrensrecht, Rz. 463, mit Hinweis auf BGE 130 II 521 E. 2.7.4 sowie BGE 135 II 60 E. 3.1.2, wonach eine allfällige Mitteilung an einen Anzeigesteller (z.B. ein Konkurrent im kartellrechtlichen Sinn) betreffend die Absicht der Behörde, kein Verfahren einzuleiten, keine anfechtbare Verfügung darstellt.

Vgl. KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Verfahrensrecht, Rz. 461 f.; vgl. zum Recht auf Orientierung über den Verfahrensverlauf auch BGE 140 I 99 E. 3.4.

WALDMANN, BSK-BV, N 53 zu Art. 29 BV.

Im Kartellrecht besteht eine spezielle Vorschrift über die Bekanntgabe der Verfahrenseinleitung mittels amtlicher Publikation (Art. 28 KG). Die Publikation dient hauptsächlich der Information Dritter, die sich an der Untersuchung beteiligen können.

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5.1.3

Recht auf Verteidigung, auf unentgeltlichen Rechtsbeistand sowie auf einen Dolmetscher

Die beschuldigte Person hat gestützt auf Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c EMRK das Recht, sich selbst zu verteidigen oder durch einen Anwalt verteidigen zu lassen. Das Recht auf effektive Verteidigung durch einen Anwalt ist ein zentraler Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren.219 Es besteht ab dem Zeitpunkt der strafrechtlichen Anklage.220 Die Behörde muss die beschuldigte Person über das Recht auf Verteidigung informieren.221 Sofern der beschuldigten Person die erforderlichen Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes fehlen und die Interessen der Rechtspflege es erfordern, hat sie zudem ein Recht auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand.222 Auf Verfassungsstufe bildet das Recht auf Vertretung und Verbeiständung einen Teilgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Artikel 29 Absatz 2 BV.223 Es ist für Strafverfahren ausführlich in Artikel 128 ff. StPO geregelt und für Verwaltungsverfahren in Artikel 11 Absatz 1 VwVG festgelegt. Eine Partei darf jederzeit Prozesshandlungen durch einen Dritten eigener Wahl ausführen lassen (Vertretung) oder sich bei mündlichen Verhandlungen von einem Dritten eigener Wahl unterstützen lassen (Verbeiständung). Für pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren im Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK ist davon auszugehen, dass bereits bei der «Einvernahme der ersten Stunde»224 das Recht besteht, eine Anwältin oder einen Anwalt beizuziehen.225 Der verfassungsmässige Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand ist in Artikel 29 Absatz 3 BV verankert. Er gilt allgemein auch für erstinstanzliche Verwaltungsverfahren. Der Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand setzt unter anderem voraus, dass die betreffende Person bedürftig ist, weshalb grundsätzlich nur natürliche Personen anspruchsberechtigt sind.226 Juristische Personen sind nur

219 220 221 222 223 224

225 226

Urteil des EGMR Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 255.

Urteil des EGMR Simeonovi gegen Bulgarien vom 12. Mai 2017 [Grosse Kammer], Nr. 21980/04, Recueil CourEDH 2017 § 110.

Urteil des EGMR Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 272.

Vgl. Urteil des EGMR Quaranta gegen Schweiz vom 24. Mai 1991, Nr. 12744/87, Serie A Bd. 205 § 27.

Urteil des BVGer A-897/2012 vom 13. August 2012 E. 4.1.1; vgl. auch BGE 132 V 443 E. 3.3, mit Hinweis auf BGE 119 Ia 261 E. 6a.

Kartellrechtliche Untersuchungen werden häufig mit der Durchführung von Hausdurchsuchungen gemäss Art. 42 Abs. 2 KG begonnen, damit der Überraschungseffekt genutzt und Beweismittel sofort sichergestellt werden können. Parallel zu den Hausdurchsuchungen führen die Wettbewerbsbehörden Einvernahmen mit Parteien und Zeugen durch, auch hier mit dem Ziel, aufgrund des Überraschungseffekts Aussagen zu erhalten, welche nicht abgesprochen wurden.

Vgl. Merkblatt des Sekretariats der WEKO, Ausgewählte Ermittlungsinstrumente vom 6. Januar 2016, Rz. 59.

BGE 131 II 306 E. 5.2.

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ausnahmsweise berechtigt, sodass Artikel 29 Absatz 3 BV in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren in aller Regel nicht einschlägig ist.227 Das VwVG sieht die unentgeltliche Verbeiständung für das nichtstreitige Verfahren nicht ausdrücklich vor, während es für das Beschwerdeverfahren eine entsprechende Regelung enthält (vgl. Art. 65 VwVG). Da sich die Ansprüche unmittelbar aus Artikel 29 Absatz 3 BV ableiten lassen, besteht aus verfassungsrechtlicher Sicht kein unmittelbarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

Nebst dem Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand garantiert Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe e EMRK der beschuldigten Person das Recht auf Erhalt unentgeltlicher Unterstützung durch einen Dolmetscher, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht. Die beschuldigte Person ist über das Recht zu informieren.228 Die Bundesverfassung sowie das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes kennen ­ anders als die StPO (Art. 68 StPO) ­ keinen allgemeinen Anspruch auf einen unentgeltlichen Beizug eines Dolmetschers.229 Gemäss Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es international tätigen Unternehmen auch in Verwaltungssanktionsverfahren im Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK zuzumuten, auf eigene Kosten für die Übersetzung zu sorgen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird damit nicht übermässig eingeschränkt.230 Sind demgegenüber fremdsprachige natürliche Personen vom Verwaltungssanktionsverfahren betroffen, ist davon auszugehen, dass gestützt auf Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe e EMRK ein Anspruch auf eine unentgeltliche Übersetzung besteht.

5.1.4

Zwischenfazit

Verwaltungssanktionsverfahren werden erstinstanzlich von der für den Vollzug des entsprechenden Sacherlasses zuständigen Verwaltungsbehörde geführt. Die Rechtsprechung hat erkannt, dass diese Zuständigkeitsordnung mit dem aus Artikel 6 Absatz 1 EMRK fliessenden Anspruch auf eine gerichtliche Beurteilung von strafrechtlichen Anklagen grundsätzlich zu vereinbaren ist. Vorausgesetzt ist, dass die erstinstanzliche Sanktionsverfügung im Beschwerdeverfahren entsprechend den konventionsrechtlichen Vorgaben überprüft werden kann. Dies ist für die im Bundesverwaltungsrecht vorgesehenen pekuniären Verwaltungssanktionen der Fall.

Die Befugnis der Verwaltungsbehörde zur Verfahrenseinleitung leitet sich aus den massgeblichen Bestimmungen des Sacherlasses ab. Das Verwaltungsverfahrensgesetz kennt keinen allgemeinen «Verfolgungszwang». Es liegt somit im Ermessen der Verwaltungssanktionsbehörde, ob sie ein pekuniäres Verwaltungssanktionsverfahren

227

Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung muss das einzige Aktivum der juristischen Person im Streit liegen und neben ihr müssen auch die wirtschaftlich Beteiligten mittellos sein, vgl. BGE 143 I 328 E. 3.1; 131 II 306 E 5.2.2).

228 Urteil des EGMR Vizgirda gegen Slowenien vom 28. August 2018, Nr. 59868/08 § 86.

229 LOCHER, Verwaltungsrechtliche Sanktionen, N 456.

230 Urteil des BVGer B-6030/2012 vom 5. Dezember 2012, S. 6. Für pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren gegen mehrere Parteien unterschiedlicher Sprache siehe Urteil des BVGer B-2577/2016 vom 12. Oktober 2016 E. 4 ff.

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einleitet oder aus Opportunitätsgründen darauf verzichtet. Leitet sie ein Sanktionsverfahren ein, so teilt sie dies der Partei praxisgemäss mit.

Bezüglich des Rechts auf Vertretung und Verbeiständung sowie auf einen Dolmetscher hat sich gezeigt, dass in der Praxis keine rechtlichen Probleme aufgetaucht sind, die eine Anpassung der gesetzlichen Grundlagen erfordern würden.

5.2

Parteien und weitere Beteiligte (Dritte)

5.2.1

Parteistellung der Adressaten von pekuniären Verwaltungssanktionen

Die Parteistellung im Verwaltungsverfahren gemäss Artikel 6 VwVG setzt unter anderem voraus, dass der Verfügungsadressat als rechtsfähiges Subjekt im Sinn des Zivilrechts231 konstituiert ist und damit Parteifähigkeit aufweist, oder von Gesetzes wegen parteifähig ist.232 Die untersuchten Sacherlasse, die pekuniäre Verwaltungssanktionen vorsehen, erfassen in vielen Fällen sowohl rechts- als auch nicht rechtsfähige Subjekte. Beispielsweise richten sich die kartellrechtlichen Pflichten an Unternehmen im Sinn von Artikel 2 Absatz 1bis KG, worunter auch Konzerne als Ganzes oder Kollektivgesellschaften fallen können.233 Weitere Beispiele für Regelungen, die sich an nicht rechtsfähige Subjekte richten, finden sich im Entsenderecht,234 im Fernmelderecht235 oder im Luftverkehrsrecht.236 Im Einzelnen lassen sich folgende Fallgruppen unterscheiden:

231 232 233 234 235

236

237

­

Körperschaften: Körperschaftlich organisierte Unternehmen wie beispielsweise Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung sind rechtsfähige Rechtssubjekte in Gestalt von juristischen Personen, weshalb ihnen Rechtspersönlichkeit und damit ohne Weiteres Parteistellung in Verwaltungssanktionsverfahren zukommt (vgl. Art. 643 Abs. 1 und Art. 779 Abs. 1 OR).

­

Konzerne: Der Konzern als solcher hat keine Rechtspersönlichkeit; darüber verfügen allein die einzelnen Gruppengesellschaften.237 Folglich kommen in Art. 11 und Art. 53 ZGB (SR 210).

MARANTELLI-SONANINI/HUBER, Praxiskommentar VwVG, N 12 f. zu Art. 6 VwVG; JOST, Parteien, Rz. 422 ff.

TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 97 zu Art. 49a KG.

Das Entsendegesetz adressiert sowohl juristische Personen als auch Personengesellschaften und Einzelfirmen.

Gemäss Art. 60 Abs. 1 FMG sind «Unternehmen» Adressaten der Verwaltungssanktionen. Gemäss Botschaft zur Änderung des Fernmeldegesetzes, S. 7989) sind Privatpersonen, die kein kommerzielles Unternehmen betreiben, z.B. Funkamateure, dieser Bestimmung nicht unterstellt. Demgegenüber unterstehen auch natürliche Personen, welche in der Ausübung ihrer unternehmerischen Tätigkeit gegen das Fernmelderecht verstossen, der Sanktionsbestimmung. In der bisherigen Praxis der ComCom und des BAKOM waren stets Unternehmen die Verfügungsadressaten.

Bei den Luftfahrtunternehmen gemäss Art. 122a und 122b AIG handelt es sich in der Regel um juristische Personen, jedoch sind Einzelunternehmen oder Personengesellschaften nicht ausgeschlossen.

MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Gesellschaftsrecht, § 24 Rz. 61.

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prozessualer Hinsicht auch nur die einzelnen Gruppengesellschaften als Parteien des Verwaltungssanktionsverfahrens in Frage.238 ­

Personengesellschaften: Personengesellschaften ­ dazu zählen einfache Gesellschaften sowie Kollektiv- und Kommanditgesellschaften ­ sind nicht rechtsfähig.239 Kollektiv- und Kommanditgesellschaften kommt jedoch kraft Gesetz Partei- und Prozessfähigkeit zu (Art. 562 und Art. 602 OR). In verfahrensrechtlicher Hinsicht können diese somit direkt sanktioniert werden.

Einfache Gesellschaften hingegen sind nicht parteifähig. Im Prozess kommt daher nicht der einfachen Gesellschaft als solcher, sondern den einzelnen Gesellschaftern Parteistellung zu.240 Dieser Fall ist jedoch für pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren von untergeordneter Bedeutung, da sobald ein kaufmännisches Unternehmen geführt wird, eine Kollektivgesellschaft und nicht eine einfache Gesellschaft vorliegt.241

­

Einzelunternehmen: Ein Einzelunternehmen ist eine Rechtsform für ein kaufmännisches Unternehmen, dessen Träger eine einzelne Inhaberin oder ein einzelner Inhaber ist und von dieser oder diesem betrieben wird.242 Das Einzelunternehmen ist nicht rechtsfähig; die Inhaberin oder der Inhaber wird direkt ins Recht gefasst und hat Parteistellung.243 Formal betrachtet scheint diese Fallgruppe somit nicht problematisch.

­

Natürliche Personen: Die wirtschaftlich tätigen natürlichen Personen, die vom persönlichen Geltungsbereich des jeweiligen Sacherlasses erfasst sind (betrifft z. B. KG244, FMG, EntsG, LwG), sind prozessual als Partei des pekuniären Verwaltungssanktionsverfahrens zu betrachten. Formal betrachtet scheint diese Fallgruppe somit nicht problematisch.

Bei Konzernen, einfachen Gesellschaften und Einzelunternehmen kommt folglich nicht den Unternehmen als solche Parteistellung zu, auch wenn diese materiellrechtlich betrachtet durchaus in den Geltungsbereich des jeweiligen Sacherlasses fallen und Adressaten der sanktionsbewehrten Normen sind. Bei Konzernen sind die jeweiligen Gruppengesellschaften Partei des Verwaltungssanktionsverfahrens. Im 238

239 240

241 242 243 244

Gemäss der kartellrechtlichen Rechtsprechung sind die einzelnen rechtlich selbständigen Gruppengesellschaften (i.d.R. sind dies die direkt am Verstoss beteiligte Tochtergesellschaft sowie die Konzernmuttergesellschaft) die Verfügungsadressatinnen der pekuniären Verwaltungssanktion, welche zur Bezahlung der «Belastung» verpflichtet werden.

Vgl. zur Parteistellung von Konzernen in kartellrechtlichen Sanktionsverfahren JOST, Parteien, Rz. 719 ff.; zum EU-Kartellrecht, RAUBER, Verteidigungsrechte von Unternehmen, S. 109 f.

MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Gesellschaftsrecht, § 2 Rz. 83. Ihnen fehlt mangels Rechtsfähigkeit grundsätzlich auch die Parteifähigkeit, vgl. JOST, Parteien, Rz. 481 m.w.H.

MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Gesellschaftsrecht, § 11 Rz. 18, mit Hinweis auf BGE 100 Ia 392 E. 1; 132 I 256 E. 1.1; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 4.1.4 m.W.H. ­ Nikon. Für weiterführende Ausführungen zur einfachen Gesellschaft als Streitgenossenschaft, siehe JOST, Parteien, Rz. 483 ff.

MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Gesellschaftsrecht, § 11 Rz. 32 ff.

MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER, Gesellschaftsrecht, § 26 Rz. 2, 5.

Urteil des BVGer A-6542/2012 vom 22. April 2013 E. 1.2.

Der Unternehmensbegriff in Art. 2 Abs. 1bis KG umfasst auch natürliche Personen, die beispielsweise als professionelle Investoren auftreten, BORER, OFK-Wettbewerbsrecht I, N 7 zu Art. 2 KG.

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Fall der einfachen Gesellschaft und des Einzelunternehmens sind die Unternehmensträger Partei des Verfahrens.

Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Praxis und Rechtsprechung gestützt auf das geltende Recht die mit der Parteistellung verbundenen Fragen lösen konnten, weshalb in dieser Hinsicht derzeit kein Regelungsbedarf erkennbar ist.

5.2.2

Auswirkung der Umstrukturierung des Unternehmens auf die Parteistellung

Unternehmen können ihre gesellschaftliche Struktur im Verlauf eines pekuniären Verwaltungssanktionsverfahrens anpassen, etwa indem sie die wirtschaftliche Tätigkeit auf andere Unternehmen/Gesellschaften im Rahmen einer Gesamtrechtsnachfolge, einer Abspaltung oder einer Übertragung von Vermögenswerten (Asset Deal) übertragen.245 Die Umstrukturierung kann dazu führen, dass der Abschluss des Sanktionsverfahrens oder die Vollstreckung eines Sanktionsentscheides vereitelt werden. So kann sich ein Unternehmen beispielsweise der Belastung zu entziehen versuchen, indem es die sanktionierte Gesellschaft untergehen lässt und gleichzeitig die wirtschaftliche Tätigkeit durch eine andere Gesellschaft fortführt.246 Das geltende Verwaltungsverfahrensgesetz regelt die Rechtsfolge der Umstrukturierung von Unternehmen nicht. Klärungsbedürftig erscheint die Frage, ob die jeweilige strukturelle Veränderung das Verwaltungs- und gegebenenfalls Rechtsmittelverfahren in relevanter Weise beeinflusst. Dabei sind der Aspekt der personalen Anwendbarkeit des jeweiligen Sacherlasses, der Aspekt der massgeblichen Partei bzw. des massgeblichen Verfügungsadressaten sowie jener der Verantwortlichkeit des Konzerns für das rechtswidrige Verhalten zu berücksichtigen.247 In der wettbewerbsrechtlichen Praxis begegnet die WEKO dieser Problematik, indem sie am wirtschaftlichen Unternehmensbegriff (Art. 2 Abs. 1bis KG) anknüpft und den neuen Unternehmensträger ins Recht fasst, wenn eine wirtschaftliche Kontinuität besteht, das Unternehmen also wirtschaftlich betrachtet durch den neuen Unternehmensträger fortgeführt wird (Prinzip der Unternehmenskontinuität).248 245

Zu den verschiedenen Arten der Unternehmensumstrukturierung vgl. Urteil des BVGer B-831/2011 vom 18. Dezember 2018 E. 56 ­ SIX/DCC (noch nicht rechtskräftig).

246 In rechtsvergleichender Hinsicht ist auf die Regelung gemäss § 81 Abs. 3a­3f des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) hinzuweisen, welche die Konzernhaftung für Verstösse von Tochtergesellschaften regelt. Die Bestimmung wurde zur Schliessung eines Schlupflochs eingeführt, welches unter dem Begriff der «Wurstlücke» bekannt geworden ist. Hintergrund bildete die Sanktionierung von fleischverarbeitenden Unternehmen, die sich zum sogenannten «Wurstkartell» zusammengeschlossen hatten. Ein Teil der sanktionierten Unternehmen hat sich mittels Übertragung wesentlicher Vermögensgegenstände auf andere Konzernunternehmen unter Ausnutzung der genannten Lücke der kartellrechtlichen Belastung entziehen können. Vgl. dazu JUNGBLUTH ARMIN, Die 9. GWB-Novelle ­ Digitalisierung, Schliessung der Wurstlücke, Kartellschadensersatz und anderes mehr, in: Neue Zeitschrift für Kartellrecht. Bd. 5 Nr. 6, 2017, S. 257.

247 Vgl. Urteil des BVGer B-831/2011 vom 18. Dezember 2018 E. 57 ­ SIX/DCC.

248 Vgl. TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 100 f. zu Art. 49a KG; vgl. auch ROTH, CR-Concurrence, N 34 ff. zu Rem. art. 49a-53 LCart.

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Das Bundesverwaltungsgericht scheint dieser Argumentation zu folgen;249 ein Entscheid des Bundesgerichts dazu steht allerdings noch aus. Zudem ist auch die Problematik des Vollzugs des Sanktionsentscheids bei solchen Umstrukturierungen nach dem erstinstanzlichen WEKO-Entscheid noch nicht höchstrichterlich geklärt.

Schliesslich ist offen, ob sich das aus dem kartellgesetzlichen Unternehmensbegriff hergeleitete Prinzip der Unternehmenskontinuität generell auch auf andere Sektorgesetze übertragen lässt; jedenfalls ergibt sich dieses Prinzip nicht aus dem VwVG selbst.

Aus dem Gesagten folgt, dass die rechtliche Wirkung einer Unternehmensumstrukturierung auf das pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren sowie der allfällige Übergang der Haftung in Form einer allgemeinen Bestimmung gesetzlich geregelt bzw. geklärt werden sollten, um der Vereitelungsgefahr zu begegnen. Dabei bietet sich die Orientierung am Prinzip der Unternehmenskontinuität im Sinn der kartellrechtlichen Praxis an.

5.2.3

Vertretung von Unternehmen im Verwaltungssanktionsverfahren

Unternehmen handeln ­ je nach Gesellschaftsform ­ durch ihre Organe, Gesellschafter oder Unternehmensvertreter. Dies können, wiederum je nach Gesellschaftsform und individueller Regelung der Vertretungsbefugnis gegenüber Dritten, eine Mehrzahl natürlicher Personen sein. In pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren stellt sich die Frage, welche dieser natürlichen Personen das Unternehmen prozessual vertreten und mit ihren Handlungen verpflichten können. Das geltende Verwaltungsverfahrensgesetz regelt diese Frage nicht ausdrücklich.250 Demgegenüber kennt das Unternehmensstrafrecht mit Artikel 112 StPO eine Bestimmung, welche die prozessuale Vertretung des Unternehmens festlegt. Das Unternehmen hat primär selbst seine Vertreterin oder seinen Vertreter aus dem Kreis jener Personen auszuwählen, die uneingeschränkt zur Vertretung des Unternehmens in zivilrechtlichen Angelegenheiten befugt sind (z. B. Geschäftsführer, Verwaltungsräte). Erfolgt keine Bestellung durch das Unternehmen, wird die Vertretung von der zuständigen Verfahrensleitung bestimmt. Zur Vermeidung von Interessenkonflikten ist jedoch als Vertreterin oder Vertreter ausgeschlossen, wer wegen des gleichen oder eines damit zusammenhängenden Sachverhalts, der dem Unternehmen vorgeworfen wird, selbst in eine Strafuntersuchung einbezogen ist.251

249

Urteil des BVGer B-831/2011 vom 18. Dezember 2018 E. 56 ff., 1494 ff. ­ SIX/DCC (noch nicht rechtskräftig).

250 Die in den Artikeln 11 und 11b VwVG geregelte (obligatorische) Vertretung und Verbeiständung der Partei betrifft die anders gelagerte Frage nach dem Recht auf Vertretung als Teilgehalt des verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruchs auf rechtliches Gehör.

Demgegenüber enthält das Bundeszivilprozessrecht mit Art. 18 BZP zwar eine einschlägige Norm, diese ist aber mangels ausdrücklichem Verweis auf das Verwaltungsverfahren nicht anwendbar.

251 Vgl. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, S. 1167.

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Die Vertretungsfrage erscheint im Bereich von pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren als regelungsbedürftig. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte gewährleistet sein, dass eine einzige natürliche Person das Unternehmen prozessual vertritt und nicht sämtliche Personen, die das Unternehmen in zivilrechtlichen Angelegenheiten uneingeschränkt vertreten können. Namentlich sollte für den Fall von Interessenkonflikten zwischen der Partei und deren Organen oder weiteren Mitarbeitenden aufgrund von Verfahren, die wegen des gleichen oder eines damit zusammenhängenden Sachverhalts gegen diese natürlichen Personen laufen, eine gesetzlich festgelegte Befugnis zur amtlichen Bestellung eines Vertreters oder einer Vertreterin geschaffen werden. Hierzu empfiehlt sich die Einführung einer allgemeinen Bestimmung, wobei sich die Orientierung an der strafprozessualen Parallelnorm (Art. 112 StPO) anbietet.

5.2.4

Verfahrensrechtliche Stellung von Angehörigen von Unternehmen

In pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren, die sich gegen Unternehmen richten, stellt sich regelmässig die Frage, welche verfahrensrechtliche Stellung ­ Partei oder Dritte ­ den natürlichen Personen in deren Umfeld zukommt. Als solche sind namentlich die aktiven und die ehemaligen Vertreterinnen und Vertreter des Unternehmens (z. B. Organe einer juristischen Person, vgl. Ziff. 5.2.4.1 f.) sowie die übrigen Angehörigen (Mitarbeitende ohne Organ- bzw. Vertreterstellung, vgl.

Ziff. 5.2.4.3) zu nennen. Diese Frage stellt sich vorab bei Unternehmen in Form von juristischen Personen sowie bei Kollektiv- und Kommanditgesellschaften.

Von der verfahrensrechtlichen Stellung hängt ab, welche Verfahrensrechte die genannten Personen geltend machen können (namentlich Aussageverweigerungsrechte) bzw. welche Verfahrenspflichten bestehen.

5.2.4.1

Aktive Vertreterinnen und Vertreter des Unternehmens

Je nach Rechtsform des untersuchungsbetroffenen Unternehmens gestaltet sich die Vertretung unterschiedlich. Handelt es sich um eine juristische Person, wird sie in Verwaltungsverfahren durch ihre aktiven formellen252 Organe verkörpert und handelt durch diese (Art. 55 ZGB).253 Ob dies auch für faktische254 Organe gilt, er-

252

Als formelle Organe gelten bei der Aktiengesellschaft regelmässig Verwaltungsrat, Generalversammlung, und Revisionsstelle sowie im Rahmen der Übertragung der Geschäftsführung die Geschäftsleitung (Art. 698 ff., Art. 716b OR, vgl.

BGE 114 V 213 E. 4.).

253 BGE 147 II 144 E. 4.6 m.w.H. ­ Boykott Apple Pay.

254 Als faktische Organe gelten natürliche Personen, die tatsächlich Organen vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgen und so die Willensbildung der Gesellschaft massgeblich bestimmen, vgl. statt vieler BGE 141 III 159 E. 1.2.2 m.w.H.

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scheint demgegenüber noch nicht abschliessend geklärt.255 Natürliche Personen mit Organfunktion verfügen zwar nicht aus eigenem Recht über die Parteistellung (vgl.

Art. 6 i.V.m. Art. 48 VwVG), sie sind aber gemäss Rechtsprechung grundsätzlich als Partei zu behandeln.256 Daraus folgt, dass sie nicht als Dritte gelten und somit auch nicht als Zeugin oder Zeuge mit der Pflicht zur wahrheitsmässigen Aussage befragt werden können.257 Werden aktive Organe befragt, können sie alle Verteidigungsrechte geltend machen, welche der juristischen Person zustehen.

Handelt es sich um eine Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft, die kraft Gesetz parteifähig ist (Art. 562 bzw. Art. 602 OR), treten im Prozess die Gesellschafter für die Gesellschaft auf.258 Soweit ersichtlich ist die Frage bislang ungeklärt, ob die Gesellschafter Parteistellung aus eigenem Recht oder abgeleitet wie die Organe einer juristischen Person haben. In der zivilrechtlichen Literatur wird die damit zusammenhängende Frage kontrovers diskutiert, ob den Gesellschaftern oder Dritten, denen die Geschäftsführung übertragen ist, ein Aussageverweigerungsrecht zukommt oder ob sie als Zeugen einvernommen werden können.259 Das geltende Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes enthält keine ausdrückliche Regelung der verfahrensrechtlichen Stellung der aktiven Vertreterinnen und Vertreter von untersuchungsbetroffenen Unternehmen. Im Verwaltungsverfahren besteht mit der zitierten Rechtsprechung, jedenfalls für kartellrechtliche Sanktionsverfahren gegen juristische Personen, eine richterrechtliche Grundlage, die auch für andere Rechtsbereiche wegleitend sein dürfte. Insofern besteht kein unmittelbarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

255

256 257

258 259

Vgl. einerseits das obiter dictum im BGE 147 II 144 E. 4.6 ­ Boykott Apple Pay, wobei sich die dort referenzierten Bundesgerichtsurteile allerdings nicht auf faktische Organe beziehen; andererseits BGE 141 III 159 E. 2.3 ff., wonach faktische Organe jedenfalls im Schlichtungsverfahren nicht als Vertreter der juristischen Person auftreten können. In der strafrechtlichen Literatur wird die Unternehmensvertretung gemäss Art. 112 StPO durch ein faktisches Organ verneint, ENGLER, BSK-StPO, N 22 zu Art. 112; NIGGLI MARCEL ALEXANDER/MAEDER STEFAN, Wirtschaftsstrafrecht der Schweiz ­ Hand- und Studienbuch, Bern 2013, Rz. 100.

BGE 147 II 144 E. 4.6 ­ Boykott Apple Pay.

BGE 147 II 144 E. 4.3 ­ Boykott Apple Pay sowie BVGE 2018 IV/12 E. 3.2.4 m.w.H. auf die Doktrin. In Strafverfahren gegen Unternehmen wird gemäss Art. 178 Bst. g StPO als Auskunftsperson einvernommen, wer als Vertreterin oder Vertreter des Unternehmens bezeichnet worden ist oder bezeichnet werden könnte, sowie ihre oder seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

PESTALOZZI/VOGT, BSK OR II, N 6 zu Art 562, PESTALOZZI/VOGT, BSK OR II, N 1 zu Art 602.

Ein Teil der Lehre vertritt die Auffassung, dass Gesellschafter unabhängig von ihrer Vertretungsberechtigung nicht als Zeugen einvernommen werden dürfen, PESTALOZZI/VOGT, BSK OR II, N 6 zu Art 562; LEU, ZPO-Kommentar, N 22 ff. zu Art. 159. Teils wird mit unterschiedlichen Begründungen den geschäftsführenden Gesellschafter und Drittgeschäftsführern Parteistellung zugesprochen, siehe JUNG PETER, Die Stellung der Gesellschafter im Zivilprozess der Gesellschaft, BJM 2009 S. 121­132, S. 125 f.; BRÖNNIMANN, BK-ZPO, N 5 zu Art. 159; CHABLOZ, PC-CPC, N 7 zu Art. 159.

Es wird auch die Meinung vertreten, Art. 159 ZPO finde auf Kollektiv- und Kommanditgesellschaften keine Anwendung, GUYAN PETER, in: Spühler/Tencio/Infanger, Basler Kommentar ­ Schweizerische Zivilprozessordnung, 3. Aufl., Basel 2017, N 3 zu Art. 159.

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5.2.4.2

Ehemalige Vertreterinnen und Vertreter

Die Frage des Status von ehemaligen Vertreterinnen und Vertretern eines untersuchungsbetroffenen Unternehmens war Bestandteil verschiedener kartellrechtlicher Beschwerdeverfahren.260 Das Bundesgericht hat entschieden, dass ehemalige Organe nicht als Partei, sondern als Dritte gelten und somit als Zeugen zu befragen sind.261 Mit dem Ende der Organstellung in einem Unternehmen habe die natürliche Person kein unmittelbares Interesse mehr am Verfahrensausgang. Dies gelte auch dann, wenn sie Aussagen zu Begebenheiten machen müsse, die sich im Zeitraum ihrer Organstellung zugetragen haben und aus denen ihr im Verhältnis zu ihrer ehemaligen Arbeitgeberin ggf. zivilrechtliche Nachteile entstehen können.262 Für die Unterscheidung zwischen aktiven und ehemaligen Organen ist die Frage nach dem massgebenden Zeitpunkt von zentraler Bedeutung. Gemäss Rechtsprechung ist der Zeitpunkt der Befragung durch die Sanktionsbehörde und nicht jener der Einleitung des Sanktionsverfahrens entscheidend.263 Bei Kollektiv- und Kommanditgesellschaften ist davon auszugehen, dass für ausgeschiedene Gesellschafter das Gleiche gilt wie bei ehemaligen Organen juristischer Personen, sofern der Gesellschafterwechsel vertraglich vorgesehen ist. Ausgeschiedene Mitglieder können entsprechend als Zeugen befragt werden.264 Wie es sich bei einem Wechsel der Geschäftsführung durch Dritte verhält, ist soweit ersichtlich nicht geklärt.

Das geltende Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes enthält keine ausdrückliche Regelung der verfahrensrechtlichen Stellung der ehemaligen Vertreterinnen und Vertreter von untersuchungsbetroffenen Unternehmen. Jedenfalls für kartellrechtliche Sanktionsverfahren besteht mit der zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichts eine richterrechtliche Klärung der Frage, die auch für andere Rechtsbereiche wegleitend sein dürfte.

5.2.4.3

Übrige Unternehmensangehörige

Den übrigen Angehörigen von untersuchungsbetroffenen Unternehmen (z. B. Mitarbeitende) fehlt es regelmässig an der Parteistellung, weshalb sie als Dritte gelten und damit grundsätzlich der Zeugnispflicht unterstehen (Art. 15 VwVG).265 Zeugen sind im Rahmen ihrer Einvernahme grundsätzlich zur wahrheitsgemässen Aussage verpflichtet (Art. 307 StGB).266 In pekuniären Verwaltungssanktionsver260 261 262 263

Siehe BGE 147 II 144 ­ Boykott Apple Pay, siehe auch BGVE 2018 IV/12.

BGE 147 II 144 E. 4.7.2 ­ Boykott Apple Pay; siehe auch BGVE 2018 IV/12 E. 3.2.4.

BGE 147 II 144 E. 4.7.2 ­ Boykott Apple Pay.

BVGE 2018 IV/12 E. 3.4 m.w.H. auf die Doktrin; bestätigt mit BGE 147 II 144 E. 4.7.1 f. ­ Boykott Apple Pay.

264 Zur Einvernahme als Zeugen im Zivilprozess, siehe HASENBÖHLER FRANZ/ YAÑEZ SONIA, Das Beweisrecht der ZPO ­ Bd. 2, Die Beweismittel, Zürich/Basel/Genf 2019, Rz. 4.50; PESTALOZZI/VOGT, BSK OR II, N 6 zu Art 562.

265 BGE 147 II 144 E. 4.6 ­ Boykott Apple Pay. siehe auch BGVE 2018 IV/12 E. 3.2.4.

Zum Kartellrecht, vgl. auch ROTH, CR-Concurrence, N 29 zu Rem. art. 49a-53 LCart.

266 BGE 147 II 144 E. 4.3 ­ Boykott Apple Pay.

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fahren gegen ein Unternehmen kann sich gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts die zum Zeugnis verpflichtete Person nicht auf die Verteidigungsrechte berufen, die dem Unternehmen selber als Partei zustehen. Insbesondere kommt ihr kein Verweigerungsrecht gestützt auf die Selbstbelastungsfreiheit der Partei zu.267 Vorbehalten bleibt jedoch ein Zeugnisverweigerungsrecht in eigener Sache, namentlich wenn dem Zeugen durch die Beantwortung einer Frage eine persönliche Strafverfolgung drohen oder die Fragebeantwortung ihm einen unmittelbaren vermögensrechtlichen Schaden verursachen würde (Art. 16 VwVG i.V.m. Art. 42 Abs. 1 Bundeszivilprozessordnung [BZP]).268 Dies wäre etwa der Fall, wenn der Zeuge im Rahmen seiner Tätigkeit beim Unternehmen, über die er aussagen soll, eine Urkundenfälschung i.S.d. StGB begangen hätte ­ dazu kann er die Aussage verweigern.

5.2.5

Zwischenfazit

Die Mehrzahl der pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren richten sich gegen juristische Personen, deren Parteistellung aufgrund der ihnen zukommenden Rechtsfähigkeit gegeben ist. Die Sacherlasse adressieren aber oftmals auch Subjekte, die nicht rechts- bzw. parteifähig sind (z. B. Konzerne oder Einzelunternehmen) und denen daher keine Parteistellung im pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren zukommen kann. In diesen Fällen sind praxisgemäss die einzelnen Gruppengesellschaften bzw. die Unternehmensträger Partei des Verfahrens. Auf gesetzlicher Ebene haben sich keine Probleme hinsichtlich der Parteistellung gezeigt.

Ein verfahrensbetroffenes Unternehmen kann sich der Belastung zu entziehen versuchen, indem es die sanktionierte Gesellschaft untergehen lässt und gleichzeitig die wirtschaftliche Tätigkeit durch eine andere Gesellschaft fortführt. Das geltende Verfahrensrecht kennt keine expliziten Vorschriften, um der daraus resultierenden Vereitelungsgefahr zu begegnen. Daher sollten die verfahrens- und haftungsrechtlichen Wirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf das pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren in Form einer allgemeinen Bestimmung gesetzlich geregelt werden. Dabei bietet sich die Orientierung am Prinzip der Unternehmenskontinuität im Sinn der kartellrechtlichen Praxis an.

Regelungsbedarf zeigt sich auch hinsichtlich der Vertretung des Unternehmens im Verwaltungssanktionsverfahren. Nach geltendem Recht können mehrere natürliche Personen das Unternehmen im Sanktionsverfahren vertreten. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte die prozessuale Vertretungsbefugnis auf eine einzige natürliche Person beschränkt werden. Zudem sollte die Befugnis zur amtlichen Bestellung eines Vertreters oder einer Vertreterin geschaffen werden für den Fall von Interessenkonflikten zwischen der Partei und deren Organen. Hierzu empfiehlt sich die 267

Das Bundesgericht erwog im BGE 147 II 144 E. 5.2.3 ­ Boykott Apple Pay, dass der nemo tenetur-Grundsatz für Unternehmen einzig die Gewährleistung eines effektiven Verteidigungsrechts der Untersuchungsbetroffenen bezweckt. Inwiefern die Möglichkeit zu einer wirksamen Verteidigung für das betroffene Unternehmen durch die Einvernahme ehemaliger Organe beschnitten würde, sei nicht ersichtlich, zumal die Aussagen nicht dem Unternehmen zugerechnet werden können.

268 Vgl. BGE 147 II 144 E. 5.2 am Ende, ­ Boykott Apple Pay.

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Einführung einer allgemeinen Bestimmung, wobei sich die Orientierung an der strafprozessualen Parallelnorm (Art. 112 StPO) anbietet.

Die verfahrensrechtliche Stellung von Angehörigen von verfahrensbetroffenen Unternehmen (Organe, Mitarbeitende etc.) ist gesetzlich zwar nicht ausdrücklich geregelt, jedoch hat die kartellrechtliche Rechtsprechung bereits zahlreiche Anwendungsfragen gelöst, die auch für andere Rechtsbereiche wegleitend sein dürfte. Auf normativer Ebene haben sich keine Probleme hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Stellung der Unternehmensangehörigen gezeigt.

5.3

Mitwirkung der Partei bei der Feststellung des Sachverhalts

5.3.1

Ausgangslage

Das Verwaltungsverfahren ist von der Untersuchungsmaxime geprägt (Art. 12 VwVG). Demnach ist es Sache der Behörde, den rechtserheblichen Sachverhalt festzustellen. Dieser Grundsatz wird durch die Mitwirkungspflicht der Partei begrenzt269 bzw. je nach Sichtweise ergänzt.270 Die Behörde und die Parteien haben aufgrund unterschiedlicher Verantwortungsbereiche je ihren Beitrag zur Sachverhaltsfeststellung zu leisten.271 Die allgemeine Pflicht der Parteien, bei der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken, fliesst aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV).272 Für Verwaltungsverfahren ist die Mitwirkungspflicht in Artikel 13 VwVG sowie in einer Vielzahl von Spezialerlassen verankert. Die Mitwirkungspflicht nach Artikel 13 VwVG erstreckt sich auf sämtliche im VwVG erwähnten Beweismittel, so dass die Partei verpflichtet ist, Urkunden vorzulegen, Auskünfte zu erteilen oder Augenscheine zu dulden.273 Im Einzelfall werden die Mitwirkungspflichten von der Verwaltungsbehörde konkretisiert, indem sie die Partei über deren Bestand und Tragweite informieren muss.274 Zur Durchsetzung der Mitwirkungspflicht kann die Behörde verwaltungs- und strafrechtliche Zwangsmittel einsetzen.

Umgekehrt gilt im Strafverfahren der Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selber zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare vel prodere, Selbstbelastungs- oder Mitwirkungsfreiheit). Diese beiden Prozessmaximen können in Konflikt geraten, wenn ein Sachverhalt sowohl eine verwaltungsrechtliche als auch eine strafrechtliche Komponente aufweist, wie dies für pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren in der Regel der Fall ist.

269 270

271 272 273 274

Vgl. BGE 125 V 193 E. 2; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 23. März 1999, in: BVR 2000 S. 428 E. 4a.

Vgl. Urteil des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 5.3.2 ­ Swiss International Airlines Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 30. Juli 2018, in: BVR 2019 S. 122 E. 3.3.2. Zum Ganzen DAUM, VPRG/BE-Kommentar, N 5 zu Art. 18 VRPG/BE; AUER/BINDER, VwVG-Kommentar, N 1 zu Art. 13 VwVG.

DAUM, VPRG/BE-Kommentar, N 5 zu Art. 18 VRPG/BE.

AUER/BINDER, VwVG-Kommentar, N 18, 30 zu Art. 13 VwVG; Urteil des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 5.3.2 ­ Swiss International Airlines.

AUER/BINDER, VwVG-Kommentar, N 3 zu Art. 13 VwVG.

AUER/BINDER, VwVG-Kommentar, N 7 zu Art. 13 VwVG; BGE 132 II 113 E. 3.2.

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Im Folgenden werden die Mitwirkungspflichten näher beschrieben (Ziff. 5.3.2), der Inhalt und die Tragweite des nemo tenetur-Grundsatzes skizziert (Ziff. 5.3.3) sowie die Konfliktbereiche zwischen den beiden Prozessmaximen dargestellt (Ziff. 5.3.4).

Anschliessend werden die bisherigen Lösungsansätze der Judikatur, Legislative und Lehre beschrieben (Ziff. 5.3.5). Abschliessend werden drei Optionen zur Klärung des Konflikts dargestellt, welche im Bereich von pekuniären Verwaltungssanktionen näher in Betracht kommen (Ziff. 5.3.6).

5.3.2

Verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflichten

5.3.2.1

Allgemeines

Bei Verwaltungssanktionsverfahren, die von Amtes wegen eingeleitet werden, besteht die Mitwirkungspflicht der Partei primär im Rahmen von spezialgesetzlich vorgeschriebenen Auskunfts- und Offenbarungspflichten (vgl. Art. 13 Abs. 1 Bst. c VwVG). Beispiele hierfür finden sich etwa in Artikel 40 KG, Artikel 98 Buchstabe a und 108 Buchstabe a BGS sowie Artikel 59 FMG. Auskunfts- und Offenbarungspflichten können sich auch aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergeben, wie dies das Bundesverwaltungsgericht beispielsweise für Luftfahrtunternehmen im Zusammenhang mit Artikel 122a AIG aufgrund der Interessenlage und Sachkenntnisse des Unternehmens bejaht hat.275 Spezialerlasse können darüber hinaus besondere Mitwirkungshandlungen wie Meldepflichten oder Dokumentationspflichten vorschreiben. Diese im Gegensatz zu Auskunfts- und Offenbarungspflichten weitergehenden Mitwirkungspflichten sind typisch für regulierte Wirtschaftsbereiche, die eine besondere Aufsicht über Unternehmen festlegen.276 Meldepflichten bezwecken die (spontane) Übermittlung relevanter Informationen im Einzelfall. Dokumentationspflichten verpflichten die beaufsichtige Partei zur Führung und Aufbereitung von Dokumentationen über ihre ­ mitunter strafrechtlich relevanten ­ Tätigkeiten, sowie deren Übermittlung an die Aufsichtsbehörde, sei es periodisch oder auf Anfrage. Beispiele hierfür finden sich etwa in Artikel 6 f. ALBAG, Artikel 43 BGS, Artikel 104 AIG, Artikel 43 LwG, Artikel 23 Absatz 1 PG, Artikel 9 KG, Artikel 7 Absatz 2 EntsG, Artikel 15 ff.

RTVG.

Die verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflicht verfolgt verschiedene Zwecke. Zunächst dient sie der optimalen Erforschung der materiellen Wahrheit.277 Die Mitwirkungspflicht kommt vorab für jene Tatsachen in Frage, die eine Partei besser kennt als die Behörde und welche ohne die Mitwirkung der Partei nicht oder nicht mit

275

Urteil des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 5.3.2., 5.3.6 ­ Swiss International Airlines; zu beurteilen waren hier Mitwirkungspflichten im Kontext der gesetzlichen Vermutung gemäss Art. 122a Abs. 3 Bst. a ­ b AIG. Siehe auch AUER/BINDER, VwVGKommentar, N 30 zu Art. 13 VwVG; KRAUSKOPF/EMMENEGGER/BABEY, Praxiskommentar VwVG, N 35 ff. zu Art. 13 VwVG.

276 MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 39 f.

277 MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 36; RHINOW RENÉ A. U. A., Öffentliches Prozessrecht, 3. Aufl., Basel 2014.Rz. 1208.

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vernünftigem Aufwand erhoben werden können.278 Die Mitwirkungspflicht ermöglicht die Beweiserhebung bei der Partei und stellt ­ aus Sicht der Verwaltungsbehörde ­ ein effizientes Instrument zur Informationsgewinnung dar. Weil die Partei im Verwaltungsverfahren mitwirken muss, ist die Verwaltungsbehörde nicht auf Zwangsmassnahmen wie namentlich die dem Strafprozessrecht bekannte Hausdurchsuchung angewiesen. Ohne die Kooperation der Partei wäre die Durchsetzung des materiellen Verwaltungsrechts ernsthaft in Frage gestellt.279

5.3.2.2

Aufklärung über die konkreten Mitwirkungspflichten

Die Verwaltungsbehörden informieren praxisgemäss die Parteien über ihre Mitwirkungspflichten im konkreten Verfahren und über die Folgen unterlassener Mitwirkung.280 Die Aufklärungspflicht bildet insofern das Gegenstück zu den Mitwirkungspflichten. Die Verwaltungsbehörde soll die Verfahrensbeteiligten in geeigneter Weise auf die zu beweisenden Tatsachen hinweisen (bspw. in der Form von Instruktionsmassnahmen)281 und aufzeigen, welche Ergänzungen oder Erklärungen sowie allenfalls konkreten Beweismittel sie erwartet. Das Verwaltungsverfahrensgesetz kennt keine ausdrückliche Regelung der Aufklärung der Partei im Zusammenhang mit Mitwirkungspflichten. Die Information kann zusammen mit der Kundgabe über die Einleitung des Verwaltungssanktionsverfahrens (Ziff. 5.1.2) erfolgen.

5.3.2.3

Freiwillige und erzwungene Mitwirkung

Der Partei, die von der Verwaltungsbehörde eine Aufforderung zur Mitwirkung bei der Abklärung des sanktionsbedrohten Sachverhalts erhält, steht die Möglichkeit der freiwilligen Erfüllung der Mitwirkungspflicht offen. Kooperiert die Partei von sich aus, verzichtet sie gleichzeitig auf ein allfällig bestehendes Recht zur Verweigerung der Mitwirkung.282 Insofern besteht in diesem Fall von Beginn weg auch kein Konflikt mit dem nemo tenetur-Grundsatz. Die Kooperation kann sich für die Partei mit Blick auf die Reputation als vorteilhaft erweisen.283 Sie kann damit auch weitergehende Beweiserhebungsmassnahmen wie eine Zeugenbefragung oder ­ soweit spezialgesetzlich vorgesehen ­ eine Hausdurchsuchung abwenden, welche sich negativ auf den Betrieb auswirken könnten. Schliesslich kann die Kooperation auch mit Blick auf eine erhoffte Reduktion der Sanktionshöhe erfolgen.

Kommt die zur Mitwirkung verpflichtete Partei ihren Pflichten nicht freiwillig nach, so kann die Verwaltungsbehörde die im Verwaltungsverfahrensgesetz sowie die im 278 279 280 281

Statt vieler etwa BGE 143 II 425 E. 5.1.

In diesem Sinn MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 36 f.; SEILER, Missverhältnis, S. 14.

Vgl. dazu Urteil des Bundesgerichts 2C_165/2018 vom 19. September 2018 E. 2.2.2 Von dieser Information über die Mitwirkungspflicht ist die Beweisverfügung abzugrenzen, siehe dazu AUER/BINDER, VwVG-Kommentar, N 24 f. zu Art. 12 VwVG.

282 Vgl. Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 125 ­ Swisscom ADSL.

283 Zu den Motiven vgl. ausführlich Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 126 f. ­ Swisscom ADSL.

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jeweiligen Sacherlass vorgesehenen Zwangsmittel ergreifen. Die Freiwilligkeit entfällt gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts nur, wenn die Anwendung des Zwangsmittels im Einzelfall ausdrücklich angedroht wird.284 Das Verwaltungsverfahrensgesetz sieht in allgemeiner Weise vor, die verweigerte Kooperation im Rahmen der freien Beweiswürdigung zulasten der nicht kooperativen Partei zu berücksichtigen (Art. 19 VwVG i.V.m. Art. 40 BZP).285 Möglich sind zudem ein Verweis oder eine Ordnungsbusse bis 500 Franken (Art. 19 i.V.m.

Art. 60 VwVG). Unkooperatives Verhalten kann auch bei der Kostenverlegung zu Ungunsten der Partei berücksichtigt werden (vgl. Art. 63 Abs. 3 VwVG).286 Eine weitere Möglichkeit besteht in der Strafverfolgung wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung nach Artikel 292 StGB. Ob auch exekutorische Massnahmen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten angeordnet werden dürfen, ist in der Lehre umstritten.287 Zu den spezialgesetzlich vorgesehenen Zwangsmitteln gehören beispielsweise die Anordnung eines administrativen Rechtsnachteils wegen Pflichtverletzung,288 die Anordnung einer pekuniären Verwaltungssanktion,289 die Strafverfolgung290 oder die im Kartellrecht vorgesehene Möglichkeit, die Partei zur Beweisaussage und Straffolge bei Falschaussage zu verpflichten.291 Der Vollständigkeit halber ist anzufügen, dass das Kartellgesetz auch die Möglichkeit der Hausdurchsuchung sowie der 284

285

286 287

288

289

290 291

Vgl. BGE 142 IV 207 E. 8.3.1 ­ Bankunterlagen; 140 II 384 E. 3.3.4 ­ Spielbank. Das Zusatzerfordernis einer konkreten Androhung findet sich auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Steuerrecht (vgl. BGE 138 IV 53 E. 2.6.2) sowie in neueren Regelungen in diesem Bereich wieder (vgl. Art. 183 Abs. 1bis DBG, Art. 57a Abs. 2 und Art. 72g StHG). In der Literatur wird diese Praxis teilweise kritisiert, siehe bejahend FELLMANN/VETTERLI, Nemo tenetur, S. 48; HEINEMANN ANDREAS/HEIZMANN RETO, Kartellrechtliche Vorgaben für die Unternehmenskommunikation, in: Sethe Rolf, Kommunikation, Festschrift für Rolf H. Weber zum 60. Geburtstag, Bern 2011, S. 63­82, S. 79; verneinend MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 47, 73; ROTH, Zum Zweiten, Rz. 34 f.

Ein Teil der Lehre spricht sich zudem für die Zulässigkeit einer Beweislastumkehr als prozessuale Sanktion für gravierende Verletzungen verwaltungsrechtlicher Mitwirkungspflichten aus, SUTTER PETER, Die Beweislastregeln unter besonderer Berücksichtigung des verwaltungsrechtlichen Streitverfahrens, Diss. St. Gallen 1988, S. 192 f.; CANDRIAN JÉRÔME, Introduction à la procédure administrative fédérale, Bâle 2013, N. 64 m.w.H., zum Ganzen MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 43.

AUER/BINDER, VwVG-Kommentar, N 43 zu Art. 13 VwVG.

Bejahend KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Verwaltungsverfahren, Rz. 467, mit Hinweis auf VPB 1987 Nr. 54 E. 2.1 (BJ); HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 995, restriktiv AUER/BINDER, VwVG-Kommentar, N 41 zu Art. 13 VwVG; MEYER, Mitwirkungsmaxime, Rz. 785; verneinend KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Verfahrensrecht, Rz. 714; KRAUSKOPF/EMMENEGGER/BABEY, Praxiskommentar VwVG, N 70 f. zu Art. 13 VwVG.

Beispielsweise sieht Art. 15 BGS die Möglichkeit des Entzugs, der Einschränkung oder der Suspendierung der Konzession im Fall eines (schwerwiegenden) Verstosses gegen das Geldspielgesetz, gegen die Ausführungsvorschriften oder gegen die Konzession vor.

Z.B. Art. 52 KG (Verletzung der Auskunftspflicht); zur Möglichkeit, die verweigerte Mitwirkung mit einer pekuniären Verwaltungssanktion zu belegen vgl. ferner den Entscheid der PostCom 16 / 2015 vom 25. Juni 2015.

Z.B. Art. 48 FINMAG, Art. 55 KG oder Art. 12 Abs. 1 Bst. a EntsG.

Art. 42 Abs. 1 KG i.V.m. Art. 64 BZP (wird in der Praxis der Wettbewerbsbehörde nicht angewendet). Anzufügen ist, dass die Grundordnung des VwVG die Beweisaussage der Partei unter Straffolge nicht vorsieht (vgl. Art. 19 VwVG).

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Sicherstellung von Beweisgegenständen vorsieht (vgl. Art. 42 Abs. 2 KG). Diese Massnahmen stellen Alternativen zur Beweiserhebung unter Mitwirkung der Partei dar.

Aus dem Gesagten folgt, dass die Verwaltungsbehörde über eine ganze Palette an allgemeinen sowie spezialgesetzlichen Zwangsmitteln verfügt, um die Mitwirkungspflichten zwangsweise durchzusetzen. Ausserhalb des Anwendungsbereichs der strafprozessualen Garantien ist die zwangsweise Durchsetzung von Mitwirkungspflichten aus einer konventions- und verfassungsrechtlichen Sicht unproblematisch.

Unklar ist jedoch, inwieweit sich diese Zwangsmittel im Rahmen von pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren bzw. im Fall von parallelen Verwaltungs- und Strafbzw. Verwaltungssanktionsverfahren mit dem nemo tenetur-Grundsatz vereinbaren lassen (vgl. Ziff. 5.3.3 ff.).

5.3.3

Strafrechtliche Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur-Grundsatz)

Der strafrechtliche Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare vel prodere statuiert das Recht des Beschuldigten, nicht aktiv an seiner Überführung mitwirken zu müssen («niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten oder anzuklagen»). Der nemo tenetur-Grundsatz, auch als Selbstbelastungs- oder Mitwirkungsfreiheit oder als Verbot des Selbstbelastungszwangs bezeichnet, ist weder in der EMRK noch der Bundesverfassung ausdrücklich statuiert.292 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts gewährleisten Artikel 6 EMRK sowie Artikel 29 und 32 BV ein (ungeschriebenes) Schweigerecht und ein Recht, nicht zu seiner eigenen Verurteilung beitragen zu müssen.293 Auf Gesetzesstufe wird der nemo tenetur-Grundsatz in Artikel 113 Absatz 1 StPO konkretisiert.

Durch die Mitwirkungsfreiheit soll der Beschuldigte vor Zwang seitens der Behörden geschützt und damit ein faires Verfahren sichergestellt werden. Der Beschuldigte soll namentlich vor der unzumutbaren Konfliktsituation bewahrt werden, sich den Strafverfolgungsbehörden selbst ausliefern zu müssen. Die Mitwirkungsfreiheit räumt in strafrechtlichen Verfahren ein Schweigerecht und ein Recht ein, nicht an der eigenen Überführung aktiv mitwirken zu müssen.294 Der Beschuldigte entscheidet, ob er Auskunft erteilt,295 Dokumente herausgibt296 oder aber auf die Mitwirkung verzichtet und schweigt. Geschützt werden sowohl unmittelbar belastenden Informationen als auch solche, die auf den ersten Blick nicht als belastend erschei292 293 294

295 296

Eine ausdrückliche völkerrechtliche Verankerung findet sich in Art. 14 Abs. 3 Bst. g UNO-Pakt II.

Vgl. BGE 140 II 384 E. 3.3.2 ­ Spielbank; 142 IV 207 E. 8.3 ­ Bankunterlagen.

Vgl. Urteil des EGMR Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 68; auch zitiert in BGE 140 II 384 E. 3.3.2 ­ Spielbank; LIEBER, StPO-Kommentar, N 1, 19 zu Art. 113.

Vgl. Urteile des EMGR Marttinen gegen Finnland vom 21. April 2009, Nr. 19235/03 § 73; Shannon gegen Vereinigtes Königreich vom 4. Oktober 2005, Nr. 6563/03 § 39 f.

Vgl. Urteil J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III § 65; RIEDO CHRISTOF/FIOLKA GERHARD/NIGGLI MARCEL ALEXANDER, Schweizerisches Strafprozessrecht, Basel 2011, Rn. 834.

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nen.297 Aus dem nemo tenetur-Grundsatz folgt, dass Behörden strafrechtliche Anklagen ohne Rückgriff auf Beweismittel führen müssen, die durch Zwang oder Druck gegenüber dem Beschuldigten in Missachtung von dessen Willen erlangt wurden.298 In dieser Absolutheit gilt der nemo tenetur-Grundsatz gemäss der Rechtsprechung des EGMR sowie des Bundesgerichts aber nicht.299 Er verbietet nicht jede Pflicht, Informationen herauszugeben; er untersagt vielmehr unzumutbaren Zwang zur Durchsetzung einer aktiven Mitwirkung in einem Strafverfahren («improper compulsion» / «coercition abusive»).300 Bei der Qualifizierung der Zumutbarkeit sind die Art und Schwere des Zwanges, die Verwendung des damit erlangten Beweismittels sowie anderer Beweismittel und schliesslich die Verteidigungsmöglichkeiten zu berücksichtigen, die der betroffenen Person zur Verfügung stehen (verfahrensrechtliche Absicherung).301 Ein weiterer Aspekt bei dieser Beurteilung ist die Art und das Ausmass der eingeforderten Auskunft (z. B. Einforderung von klar umschriebenen und beschränkten Informationen).302 Sodann können bei der Beurteilung, ob das Verfahren insgesamt fair ist, auch die betroffenen öffentlichen Interessen (insbesondere an der Wahrheitsfindung und Strafverfolgung) gewichtet werden.303 Die Vereinbarkeit unterschiedlicher Zwangsmittel zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten (vgl. Ziff. 5.3.2.3) mit der Selbstbelastungsfreiheit ist folglich im Grundsatz anhand dieser Kriterien zu beurteilen. Dabei ist festzuhalten, dass jedenfalls in Strafverfahren gegen natürliche Personen die Androhung einer strafrechtli297

298

299

300

301

302

303

Vgl. Urteile des EGMR Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 268; Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 71.

Vgl. Urteile des EGMR Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 68; J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III § 64; vgl. auch BGE 140 II 384 E. 3.3.2 ­ Spielbank m.w.H.

Vgl. Urteile des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29.

Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 53; Weh gegen Österreich vom 8. April 2004, Nr. 38544/97 § 46; Heaney & McGuinness gegen Irland vom 21. Dezember 2000, Nr. 347/97, Recueil CourEDH 2000-XII § 47; Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 269. BGE 142 IV 207 E. 8.4 ­ Bankunterlagen; 140 II 384 E. 3.3.5 ­ Spielbank.

BGE 142 II 243 E. 3.3; 140 II 384 E. 3.3.2 ­ Spielbank; Urteil des EGMR Marttinen gegen Finnland vom 21. April 2009, Nr. 19235/03 § 60, mit Verweis auf Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 68; Murray gegen Vereinigtes Königreich vom 8. Februar 1996, Nr. 18731/91, Recueil CourEDH 1996-I § 45 f.

Urteile des EGMR Jalloh gegen Deutschland vom 11. Juli 2006 [Grosse Kammer], Nr. 54810/00, Recueil CourEDH 2006-IX § 101 ff.; O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 55 ff.; vgl. auch OTT, nemo tenetur, S. 153 ff.

Urteil des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 58 m.w.H.

Urteil des EGMR Jalloh gegen Deutschland vom 11. Juli 2006 [Grosse Kammer], Nr. 54810/00, Recueil CourEDH 2006-IX § 97; vgl. auch PABEL KATHARINA, in: Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz ­ Enzyklopädie Europarecht, Bd. II, 1. Aufl., Zürich/St. Gallen 2014, § 19 Rz. 94; BGE 142 IV 207 E. 8.4 ­ Bankunterlagen.

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chen Sanktion im Sinn von Artikel 6 EMRK für den Fall der Mitwirkungsverweigerung unzulässiger Zwang darstellt.304 Hinsichtlich der Berücksichtigung der Mitwirkungsverweigerung im Rahmen der freien Beweiswürdigung geht die Rechtsprechung des EGMR von der Zulässigkeit aus, sofern andere Beweismittel bestehen und die einzige vernünftige Schlussfolgerung aus dem Schweigen der Partei darin besteht, dass sie keine Antwort auf die erhobenen Vorwürfe hat.305 Ausgeklammert bleiben schliesslich die gesetzlich vorgesehenen Zwangsmittel wie z. B. die Hausdurchsuchung.

In persönlicher Hinsicht ist der nemo tenetur-Grundsatz zunächst in Strafverfahren gegen natürliche Personen anwendbar. In Strafverfahren gegen Unternehmen gelangt er ebenfalls mit Artikel 265 Absatz 2 Buchstabe c StPO und mit Artikel 178 Buchstabe g StPO ausdrücklich zur Anwendung. Die Tragweite der Selbstbelastungsfreiheit in Unternehmensstrafverfahren ist im Übrigen umstritten.306 Der EGMR hat die Anwendung von Artikel 6 EMRK auf juristische Personen in allgemeiner Weise implizit bejaht.307 Soweit ersichtlich hat er sich dabei jedoch noch nicht zur Tragweite des nemo tenetur-Grundsatzes bei juristischen Personen äussern müssen.308 Das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes enthält keine Bestimmung zur Selbstbelastungsfreiheit. In pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen, die als strafrechtliche Anklagen im Sinn von Artikel 6 EMRK gelten, ist der nemo tenetur-Grundsatz aus dem übergeordneten Recht gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts direkt anwendbar.309 Für juristische Personen bezweckt der nemo tenetur-Grundsatz jedoch nicht den mit der Menschenwürde verknüpften Schutz der Willensfreiheit, sondern einzig die Gewährleistung eines effektiven

304 305

306 307

308

309

WOHLERS/GODENZI, Strafbewehrte Verhaltenspflichten, S. 1057.

Urteile des EGMR Telfner gegen Österreich vom 20. März 2001, Nr. 33501/96 § 17 f.; Condron gegen Vereinigtes Königreich vom 2. Mai 2000, Nr. 35718/97, Recueil CourEDH 2000-V § 56 ff.; Murray gegen Vereinigtes Königreich vom 8. Februar 1996, Nr. 18731/91, Recueil CourEDH 1996-I § 47 ff. Siehe auch Urteil des Bundesgerichts 1P.641/2000 vom 24. April 2001 E. 3. Gemäss dem Urteil des BStrG SK.2019.13 vom 17. Juni 2020 E. 1.1.14 (noch nicht rechtskräftig) ist die Vereinbarkeit mit Art. 6 EMRK einzelfallabhängig und gemäss den Gesamtumständen zu beurteilen.

GLESS SABINE in: Niggli/Heer/Wiprächtiger, Basler Kommentar ­ Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014, N 24 zu Art. 140.

Vgl. Urteile des EGMR Grande Stevens u. a. gegen Italien vom 4. März 2014, Nr. 18640/10 u. a; SA-Capital Oy gegen Finnland vom 14. Februar 2019, Nr. 5556/10; Menarini Diagnostics S.R.L. gegen Italien vom 27. September 2011, Nr. 43509/08.

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 95 ­ Swisscom ADSL; siehe auch MEYER, Mitwirkungsmaxime, Rz. 463; MEYER-LADEWIG/HARRENDORF/KÖNIG, EMRK-Handkommentar, N 4, 137 zu Art. 6 EMRK mit widersprechenden Nachweisen; ROTH, Zum Zweiten, Rz. 43 ff.; MEYER, EMRK-Kommentar, N 6, 133 zu Art. 6 EMRK.

Vgl. BGE 147 II 144 E. 5.2.1 ­ Boykott Apple Pay; BGE 140 II 384 E. 3.3.2 ff. ­ Spielbank; Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 100 ­ Swisscom ADSL; Vgl. aus der Literatur MEYER, Mitwirkungsmaxime, Rz. 466; kritisch zur Anwendbarkeit des nemo tenetur-Grundsatzes in Verwaltungssanktionsverfahren SEILER, Missverhältnis, S. 18 f.; sowie aus der kartellrechtlichen Literatur vgl. BOVET CHRISTIAN/SABRY YASMINE, in: Martenet/Bovet/Tercier (Hrsg.) Commentaire romand ­ Droit de la concurrence, 2. Aufl.., Basel 2013, N 29 f. zu Art. 42 KG; SPITZ, Problemstellungen, S. 557.

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Verteidigungsrechts.310 Dieser eingeschränkte Schutzzweck ist für den Anwendungsbereich des nemo tenetur-Grundsatzes bei Verfahren gegen Unternehmen von Bedeutung, da er eine im Vergleich zu Verfahren gegen natürliche Personen eingeschränkte Handhabung verlangt.311 In der Literatur wird diese Rechtsprechung kontrovers diskutiert.312

5.3.4

Typische Konfliktkonstellationen zwischen Mitwirkungspflichten und Selbstbelastungsfreiheit

In einem pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren, das als strafrechtliche Anklage im Sinn von Artikel 6 EMRK gilt, entsteht ein Spannungsfeld mit der Selbstbelastungsfreiheit, wenn die Partei der Aufforderung zur Mitwirkung nicht freiwillig nachgekommen ist und die Behörde in der Folge Zwangsmittel androht oder vollzieht. In dieser Konstellation stellt sich die Frage, ob der Partei ein Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht zukommt. Ferner ist zu klären, ob die Verwaltungssanktionsbehörde die Partei über ein allfälliges Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht aufklären muss. Das geltende Verwaltungsverfahrensgesetz regelt diese Fragen nicht. Zu den Lösungsansätzen der Rechtsprechung und der Lehre vgl. Ziffer 5.3.5.

Eine zweite Konfliktkonstellation entsteht im Fall von Verwaltungs- und pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren, die (zeitlich) getrennt aber zum gleichen Sachverhalt und gegen dieselbe Partei geführt werden (im Folgenden werden diese als parallele Verfahren bezeichnet). Diese Konstellation kann beispielsweise eintreten, wenn die Verwaltungsbehörde zunächst ein Aufsichtsverfahren zum Zweck der Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes durchführt, und zu einem späteren Zeitpunkt ein pekuniäres Verwaltungssanktionsverfahren einleitet. Fliessen die im vorgelagerten «normalen» Verwaltungsverfahren erhobenen Beweismittel in das Verwaltungssanktionsverfahren ein, entsteht ein Spannungsfeld mit der Selbstbelastungsfreiheit, sofern die Partei ihrer Mitwirkungspflicht nicht freiwillig nachgekommen ist und dies derart sanktioniert ist, dass im Lichte des nemo teneturGrundsatzes von unzumutbarem Zwang auszugehen ist. Es stellt sich daher die Frage, ob diese im Rahmen des «normalen» Verwaltungsverfahrens rechtmässig erhobenen Beweismittel im pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren verwertet werden dürfen. Ferner ist zu klären, ob die Verwaltungsbehörde die Partei bereits im vorgelagerten normalen Verwaltungsverfahren über eine allfällige spätere Verwertung in einem Verwaltungssanktionsverfahren aufklären muss. Schliesslich fragt sich, ob die Partei bereits im normalen Verwaltungsverfahren ein Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht geltend machen kann, wenn ein (paralleles) pekuniäres Verwaltungssanktionsverfahren droht. Das Verwaltungsverfahrensgesetz regelt diese Fragen bisher nicht.

310

BGE 147 II 144 E. 5.2.2 f. ­ Boykott Apple Pay; siehe auch BGE 140 II 384 E. 3.3.4 ­ Spielbank; 142 IV 207 E. 8.3.3 ­ Bankunterlagen.

311 BGE 147 II 144 E. 5.2.2 f. ­ Boykott Apple Pay; vgl. auch Meyer, Mitwirkungsmaxime, Rz. 466.

312 Vgl. die Übersicht über den Meinungsstand bei MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 20.

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Ebenfalls ein Fall von parallelen Verfahren liegt vor, wenn Verwaltungs- und Strafverfahren (zeitlich) getrennt zum gleichen Sachverhalt und gegen dieselbe Partei geführt werden.313 Fliessen zwangsweise erhobene Beweismittel aus dem Verwaltungsverfahren in ein Strafverfahren ein, so wirft dies vergleichbare Rechtsfragen auf, wie sie bereits betreffend paralleler Verwaltungs- und Verwaltungssanktionsverfahren formuliert wurden. Anzufügen ist, dass die Strafprozessordnung keine spezifische Bestimmung zur Verwertung der so erlangten Beweismittel enthält.

Diese Konstellation kommt in der Praxis oft vor, insbesondere im Strassenverkehrs-, Steuer- und Finanzmarktrecht.314 Der Grund liegt darin, dass zahlreiche Gesetze die Verpflichtung zur Rechts- und Amtshilfe zwischen Verwaltungs- und Strafverfolgungsbehörden enthalten. Somit muss die Partei des Verwaltungsverfahrens damit rechnen, dass die Verwaltungsbehörde Informationen an die Strafbehörden weiterleitet, unter denen auch solche sein können, welche im Rahmen der Mitwirkungspflichten erzwungen wurden.

5.3.5

Bisherige Lösungsansätze der Judikatur, Legislative und Lehre

5.3.5.1

Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte

Das Bundesgericht hat sich verschiedentlich zur Frage der Vereinbarkeit von verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten mit dem nemo tenetur-Grundsatz im Kontext von Sanktionsverfahren geäussert. Je nach Konstellation ging es dabei um die Verwertung der Beweismittel in einem Verwaltungssanktionsverfahren oder aber in einem Strafverfahren.

Im Fall Spielbank betreffend eine pekuniäre Verwaltungssanktion gegen ein konzessioniertes Unternehmen hat das Bundesgericht festgehalten, dass der nemo teneturGrundsatz nicht absolut gelte. Vielmehr sei im Einzelfall ein sachgerechter Ausgleich anzustreben, wobei die Selbstbelastungsfreiheit eingeschränkt werden dürfe.315 Es wies darauf hin, dass die Rechtsprechung des EGMR, welche primär im strafrechtlichen Kontext entwickelt wurde, in aufsichtsrechtlichen Fällen zu weit gehe und an die Besonderheiten des Verwaltungsverfahrens anzupassen sei.316 Dabei hob das Bundesgericht hervor, dass das Unternehmen im Vorfeld des Sanktionsverfahrens um eine Betriebsbewilligung für seine Spielbank ersucht habe; dies in Kenntnis der damit zusammenhängenden gesetzlichen Mitwirkungspflichten. Mithin habe es sich in ein besonderes Rechtsverhältnis begeben und sich den entsprechenden Mitwirkungspflichten unterworfen.317 Als weitere Argumente für den Vorrang der verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten nennt das Bundesgericht prakti313

314 315 316 317

Werden parallel ein Verwaltungssanktions- und ein Strafverfahren geführt, stellen sich aufgrund der Geltung des nemo tenetur-Grundsatzes in beiden Verfahren keine über die erste Konstellation hinausgehenden Fragen. Für Fragen bezüglich des Doppelbestrafungsverbots siehe Ziff. 5.9.5.

LIEBER, StPO-Kommentar, N 56 zu Art. 113.

BGE 140 II 384 E. 3.3.5 ­ Spielbank.

BGE 140 II 384 E. 3.3.2 ­ Spielbank.

BGE 140 II 384 E. 3.3.4 ­ Spielbank.

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sche Beweisschwierigkeiten, überwiegende Strafverfolgungsinteressen und die Durchsetzbarkeit des materiellen Verwaltungsrechts. Insgesamt habe somit kein Aussageverweigerungsrecht der Partei bestanden.318 In einem weiteren Urteil des Bundesgerichts ging es um die strafprozessuale Entsiegelung eines sichergestellten internen Memorandums einer Bank, welches zuvor Gegenstand eines bankenaufsichtsrechtlichen Vorabklärungs- bzw. Auskunftsverfahrens gebildet hatte.319 Das Bundesgericht erlaubte die Entsiegelung des Beweismittels in einem Strafverfahren gegen die Bank, da die Aufsichtsbehörde die Bank nicht zur Erstellung des Memorandums gezwungen, sondern sie lediglich um eine Auskunft gebeten habe.320 Das Bundesgericht ging davon aus, dass die aufgrund gesetzlicher Zwangsmassnahmen (auch gegen den Willen des Beschuldigten) erfolgte Erhebung von Beweismitteln, die bereits vorliegen, bevor strafprozessualer Zwang ausgeübt wird, zulässig ist.321 Schliesslich hielt das Gericht fest, dass die Selbstbelastungsfreiheit bei Banken als Unternehmen restriktiver zu handhaben sei, da der Zugriff auf Unterlagen, zu deren Erstellung die Banken gesetzlich verpflichtet seien, nicht untergraben werden dürfe.322 In einem weiteren Urteil des Bundesgerichts ging es um die strassenverkehrsrechtliche Mitwirkungspflicht. Das Gericht bejahte die Mitwirkungspflicht mit Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR damit, dass sich für Halter und Lenker von Motorfahrzeugen aus ihrer Akzeptanz der Strassenverkehrsgesetzgebung und aus ihrer Fahrberechtigung gewisse besondere, sachlich gerechtfertigte Obliegenheiten ergeben.323 Die dargestellten Fälle haben gemeinsam, dass sich die Parteien jeweils in einem auf Gesuch der Partei begründeten (besonderen) Verwaltungsrechtsverhältnis befunden (Konzession, Bewilligung, mit gewissen Abstrichen gilt dies auch für den Führerausweis) und sich insofern einer speziellen Regulierung unterstellt haben. Hiervon abzugrenzen ist namentlich die Fallkategorie des Steuerrechts. Die Steuerpflicht trifft grundsätzlich jedermann; das Element der Freiwilligkeit fehlt. In diesem Bereich hat das Bundesgericht, im Nachgang zur Verurteilung der Schweiz im Fall J.B.

durch den EGMR324 (vgl. Ziff. 5.3.5.2) festgestellt, es sei unzulässig, einen Steuerpflichtigen im Hinterziehungsverfahren (d. h. einem Strafverfahren) mit Busse zu 318

319 320 321 322

323

324

BGE 140 II 384 E. 3.3.5 ff. ­ Spielbank. Ablehnend DONATSCH/SMOKVINA, Nemo tenetur-Grundsatz, S. 872 f.; FELLMANN/VETTERLI, Nemo tenetur, S. 47; ROTH, Zum Zweiten, Rz. 27 ff., im Ergebnis wohl bejahend MACULA, Mitwirkungspflichten, passim.

BGE 142 IV 207 ­ Bankunterlagen.

BGE 142 IV 207 E. 8 ­ Bankunterlagen.

BGE 142 IV 207 E. 8.3.2, 8.18.1­ Bankunterlagen; siehe auch BGE 138 IV 47 E. 2.6.1.

BGE 142 IV 207 E. 8.3.3, 8.18.3 ­ Bankunterlagen. Für eine ausführliche Besprechung vgl. MACULA, Erzwungene Selbstbelastung. Die Autorin stimmt im Ergebnis der mit der Entsiegelung einhergehenden Einschränkung des nemo tenetur-Grundsatzes zu, widerspricht jedoch teilweise der Begründung des Bundesgerichts, vgl. S. 53. Das Bundesstrafgericht hat diese Rechtsprechung in seinen Urteilen SK.2016.19 vom 19. September 2018 E. 6.4.1.1 und SK.2019.13 vom 17. Juni 2020 E. 1.1.3 bestätigt.

Vgl. Urteile des Bundesgerichts 6B_439/2010 vom 29. Juni 2010 E. 5.3 f.; 6B_571/2009 vom 28. Dezember 2009 E 3.2, je m.w.H.; vgl. zu früheren Urteilen zur strassenverkehrsrechtlichen Mitwirkungspflicht MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 53.

Urteil des EGMR J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III.

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zwingen, Dokumente bezüglich hinterzogener Beiträge herauszugeben bzw. solche im Nachsteuerverfahren zwangsweise erlangten Beweismittel im Hinterziehungsverfahren zu verwerten.325 Die kartellrechtliche Rechtsprechung hat sich ebenfalls zur Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes hinsichtlich Mitwirkungspflichten geäussert. Im Fall Swisscom ADSL hat das Bundesverwaltungsgericht erwogen, dass bestimmte Dokumente bzw.

Informationen von vornherein keinem Verwertungsverbot unterstehen.326 Dazu gehörten Angaben rein tatsächlicher Art, Daten aus einer vorgängigen Rechtssache, Daten aufgrund von Informationspflichten einer ordnungsgemässen Geschäftsführung, Daten aufgrund von Dokumentationspflichten in konzessionierten Bereichen sowie selbst eingebrachte Informationen.

Zusammenfassend scheint bei den schweizerischen Gerichten die Tendenz vorzuherrschen, dass verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten Vorrang gegenüber einer Schutzwirkung des nemo tenetur-Grundsatzes zukommt, insbesondere bei gesetzlichen Informations- und Dokumentationspflichten. Ausgenommen ist jedoch der Steuerbereich. Diese Rechtsprechung ist in der Lehre auf Kritik gestossen, insbesondere weil der nationale Gesetzgeber die konventionsrechtlichen Garantien nicht durch gesetzliche Ausnahmen beschränken könne.327

5.3.5.2

Rechtsprechung des EGMR

Der EGMR hat sich verschiedentlich mit dem Konflikt zwischen verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz auseinandergesetzt.

Dabei ging es jeweils um die Verwertung von Beweismitteln in Strafverfahren gegen natürliche Personen. Entscheide betreffend die Mitwirkungspflichten von Unternehmen in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren liegen, soweit ersichtlich, keine vor.

Im Fall J.B. gegen die Schweiz stellte der EGMR eine Verletzung des nemo teneturGrundsatzes gemäss Artikel 6 EMRK fest.328 In diesem Fall wurde eine steuerpflichtige Person wegen Steuerhinterziehung verfolgt, weil auf Grund von Beweisstücken der Verdacht bestand, dass sie für bestimmte Steuerperioden Anlageerträge nicht versteuert hatte. Die steuerpflichtige Person gestand zwar die Steuerhinterziehung, weigerte sich aber, der kantonalen Steuerverwaltung die angeforderten Unterlagen herauszugeben. Infolge verweigerter Mitwirkung wurde sie von der Steuerbehörde mehrfach gebüsst. Der EGMR erwog, dass das Verfahren insgesamt als strafrechtliche Anklage gelte, selbst wenn es auch anderen Zielen als der Sanktionie325

BGE 138 IV 47 E. 2.6.2. Zur älteren steuerrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichts vgl. MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 52.

326 Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 104 ­ Swisscom ADSL.

Ablehnend TSCHUDIN MICHAEL, Mitwirkungspflicht an der eigenen Sanktionierung, AJP 2016 S. 323­334, S. 331 ff.

327 So OTT, nemo tenetur, S. 180 f.; zustimmend ENGLER, BSK-StPO, N 7a zu Art. 113; relativierend MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 55.

328 Urteil des EGMR J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III.

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rung der Steuerhinterziehung diene.329 Da die steuerpflichtige Person nicht ausschliessen konnte, dass weitere Einkünfte aus nicht besteuerten Quellen aus diesen Unterlagen hervorgehen könnten, welche den Tatbestand der Steuerhinterziehung begründen würden, stellte der EGMR eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit gemäss Artikel 6 EMRK fest.330 Die Verurteilung der Schweiz bildete den Anstoss für eine Anpassung des Steuerrechts (vgl. Ziff. 5.3.5.3), wozu sich der EGMR im Fall Chambaz gegen die Schweiz positiv äusserte.331 Im Fall Saunders gegen UK hielt der EGMR fest, dass Beweismittel, die mittels Zwangsmassnahmen beschafft wurden und die unabhängig vom Willen der beschuldigten Person existieren, vom Schutz des nemo tenetur-Grundsatzes ausgenommen sind.332 In diesem Fall ging es um die Verwertung von Beweismitteln in einem Strafverfahren wegen Betrugs, die aufgrund einer strafbewehrten Aussagepflicht in einem vorgelagerten Verwaltungsverfahren bei der beschuldigten Person erhoben worden sind. Der EGMR berücksichtigte unter anderem, ob sich die Anklage über weite Teile auf die unter Zwang erhaltenen Beweise abstützte oder ob die Beweise nur einzelne Elemente der Anklage untermauerten.333 Er kam zum Schluss, dass die Beweisverwertung im nachgelagerten Strafverfahren unzulässig war.334 In späteren Urteilen prüfte der Gerichtshof die Ausnahme betreffend Beweismittel, die unabhängig vom Willen der betroffenen Person bestanden, jedoch gelangte die Ausnahme regelmässig nicht zur Anwendung.335 Das Bundesverwaltungsgericht bezog sich in seiner kartellrechtlichen Rechtsprechung zu pekuniären Verwaltungssanktionen ebenfalls auf diese Einschränkung336 und erachtete die Informationen im entschiedenen Fall als verwertbar.337 329 330 331 332

333

334

335

336 337

Urteil des EGMR J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III § 44 ff.

Urteil des EGMR J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III § 65 ff.

Urteil des EGMR Chambaz gegen Schweiz vom 5. April 2012, Nr. 11663/04 § 56.

Urteil des EGMR Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 69, wobei als Beispiele hierfür Dokumente angeführt werden, die anlässlich einer Durchsuchung erlangt wurden, ferner Atem-, Blutund Urinproben sowie Körpergewebe für DNA Proben, siehe auch Urteil des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 47.

Vgl. Urteile des EGMR Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 72; O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 60.

Im konkreten Fall hat der Gerichtshof zudem das Recht, sich nicht selber belasten zu müssen, höher gewichtet als das öffentliche Interesse an einer Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Betrugs, vgl. Urteil des EGMR Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 74.

Siehe Urteile des EGMR Jalloh gegen Deutschland vom 11. Juli 2006 [Grosse Kammer], Nr. 54810/00, Recueil CourEDH 2006-IX § 112 f.; J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III § 68; Shannon gegen Vereinigtes Königreich vom 4. Oktober 2005, Nr. 6563/03 § 36. Marttinen gegen Finnland vom 21. April 2009, Nr. 19235/03 § 69; Entscheid des EGMR H. and J. gegen Niederlande vom 13. November 2014, Nr. 978/09, 992/09, Recueil CourEDH 2014 § 69 f.

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 102 f., 114, 117, 120 ­ Swisscom ADSL.

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 123 f. ­ Swisscom ADSL.

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Im Fall Jalloh gegen Deutschland, in dem es um die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln wegen des Verdachts von geschluckten Betäubungsmitteln ging, postulierte der EGMR Abgrenzungskriterien: Demnach sind die Art und Schwere des Zwangs, das Gewicht des öffentlichen Interesses, das Vorliegen angemessener Verfahrensgarantien und die Verwendung der erlangten Beweismittel zu berücksichtigen.338 Der angewendete Zwang führt dann zu einer Verletzung von Artikel 6 EMRK, wenn er von solcher Art und Schwere ist, dass er den Kerngehalt des Verbots des Selbstbelastungszwangs verletzt.339 Dies ist jedoch nicht bei jedem direkten Zwang zur Aussage oder Mitwirkung der Fall. Zu beachten ist beispielsweise, ob die eingeforderten Informationen klar umschrieben und beschränkt sind.340 Bei der Gewichtung des öffentlichen Interessens spielen in Strafverfahren jenes an der Verfolgung der Straftat und der Bestrafung des Täters oder der Täterin eine Rolle.

Sie können insbesondere zur Beurteilung, ob das Verfahren als Ganzes fair war, berücksichtigt werden. Die Interessenabwägung kann jedoch keine Massnahmen rechtfertigen, welche den Kerngehalt des Verbots des Selbstbelastungszwangs verletzen würden.341 In der Folge wandte der EGMR die mit der Jalloh-Rechtsprechung etablierten Kriterien mit unterschiedlicher Strenge an.342 Im Fall O'Halloran and Francis, in welchem es um die strassenverkehrsrechtliche Pflicht zur Nennung des Lenkers nach einer Geschwindigkeitsüberschreitung ging, erwog der EGMR, dass sich der Beschuldigte vorgängig bewusst dem strassenverkehrsrechtlichen Regulierungssystem unterworfen habe. Dies sei bei der Beurteilung der Art des Zwangs zu berücksichtigen.343 Das Regulierungssystem existiere aufgrund der Gefahren des Strassenverkehrs. Es könne daher angenommen werden, dass Personen, die sich für das Halten und Fahren von Fahrzeugen entscheiden, eine gewisse Verantwortung und auch Pflichten, so auch die oben genannte, akzeptiert haben. Weiter berücksichtigte der EGMR, ob die beschuldigte Person im konkreten Verfahren ausreichend Möglichkeit hatte, die Beweismittelerhebung sowie die Verwertbarkeit der erhobenen

338

339 340

341

342 343

Vgl. Urteile des EGMR Jalloh gegen Deutschland vom 11. Juli 2006 [Grosse Kammer], Nr. 54810/00, Recueil CourEDH 2006-IX § 101, 117; O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 55.

Vgl. Urteil des EGMR Ibrahim u. a. gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u. a., Recueil CourEDH 2016 § 269.

Als Beispiele kann die Verpflichtung zur Bekanntgabe der Identität des Fahrzeugführers dienen, vgl. Urteile des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 58 mit weiteren Hinweisen; Weh gegen Österreich vom 8. April 2004, Nr. 38544/97 § 24.

Urteil des EGMR Jalloh gegen Deutschland vom 11. Juli 2006 [Grosse Kammer], Nr. 54810/00, Recueil CourEDH 2006-IX § 97. Vgl. auch Urteil des EGMR Ibrahim u. a.

gegen Vereinigtes Königreich vom 13. September 2016 [Grosse Kammer], Nr. 50541/08 u a., Recueil CourEDH 2016 § 269.

Vgl. ROTH, Mitwirkungspflichten, S. 319; MACULA, Erzwungene Selbstbelastung, S. 50.

Vgl. Urteil des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 57.

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Beweise zu bestreiten.344 In diesem Fall erachtete er die Verwertung des unter Zwang erhobenen Beweismittels im Strafverfahren für zulässig.

Insgesamt scheint der EGMR das Spannungsverhältnis zwischen verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz in einer einzelfallabhängigen Interessenabwägung zu lösen.345 In diversen Rechtsbereichen räumt der Gerichtshof dem nemo tenetur-Grundsatz den Vorrang gegenüber verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten ein.346 Hiervon scheint er jedoch im Strassenverkehrsrecht eine Ausnahme zu machen.347 Zuweilen anerkennt der EGMR auch im Bereich des Kernstrafrechts, dass öffentliche Interessen den nemo tenetur-Grundsatz einzuschränken vermögen. So hat er entschieden, dass die Verwertung von Informationen aus einem Asylverfahren in einem nachfolgenden Strafverfahren zu schwerwiegenden Delikten zulässig ist.348 Auch ist festzuhalten, dass zumeist die Verwertung von zwangsweise erhobenen Informationen im Rahmen eines Strafverfahrens und nicht in einem pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren zu beurteilen war.

Zudem ging es jeweils um Fälle betreffend natürliche Personen und nicht um juristische Personen. Offen ist somit, wie der EGMR in einem pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren gegen eine juristische Person, mithin also in einem Randbereich des Strafrechts, entscheiden würde.

5.3.5.3

Lösungen des Gesetzgebers im Steuerstrafrecht

Der Bundesgesetzgeber hat in jüngerer Zeit sektorielle Anpassungen im Steuerstrafrecht vorgenommen zwecks Lösung des Konflikts zwischen verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz. So hat er im Nachgang zur Verurteilung der Schweiz durch den EGMR im Fall J.B.349 die Artikel 183 Absatz 1bis des DBG sowie Artikel 57a Absatz 2 und Artikel 72g des StHG eingeführt.

Diese Bestimmungen verbieten eine strafrechtliche Verwertung von Auskünften des Steuerpflichtigen und von ihm eingereichter Unterlagen, sofern er zuvor gemahnt und ihm eine Ermessensveranlagung oder eine Verurteilung wegen Verletzung von Verfahrenspflichten angedroht wurde.350 Auf die Ausstattung der Steuerbehörde mit Zwangsmittelkompetenz zur Erlangung von Beweismitteln wurde verzichtet.

344

345 346

347 348 349

350

Vgl. Urteil des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 60.

In diesem Sinn MACULA, Erzwungene Mitwirkung, S. 34.

Vgl. namentlich Urteile des EGMR Chambaz gegen Schweiz vom 5. April 2012, Nr. 11663/04 § 43 ff.; J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III § 63 ff.; sowie Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI.

MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 64.

Entscheid des EGMR H. and J. gegen Niederlande vom 13. November 2014, Nr. 978/09, 992/09, Recueil CourEDH 2014 § 75 ff.

Urteil des EGMR J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III. Zu diesem Fall vgl. Ziff. 5.3.5.2. Siehe auch Bericht der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates vom 13. Februar 2006 zur Initiative des Kantons Jura «Aufhebung von Bundessteuerbestimmungen, die gegen Artikel 6 EMRK verstossen», BBl 2006 4021, 4022 ff.

Kritisch hierzu MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 73.

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Einen weitergehenden Schutz des nemo tenetur-Grundsatzes gewährleistet Artikel 104 Absatz 3 des MWSTG. Demnach dürfen Informationen, die in einem Verwaltungsverfahren nach MWSTG erlangt wurden, nur mit Zustimmung des Beschuldigten in einem Strafverfahren verwertet werden. Eine ähnliche Regelung wurde in Artikel 21 Absatz 3 des Bundesgesetzes über die internationale Amtshilfe in Steuersachen vom 28. September 2012 (Steueramtshilfegesetz, StAhiG)351 getroffen.352 Ein weiterer Lösungsansatz besteht in der Festlegung der zeitlichen Abfolge von parallelen Verwaltungs- und Strafverfahren. Im Bereich des Mehrwertsteuerrechts wird in der Regel zuerst das Strafverfahren durchgeführt, ehe sich daran das Verwaltungsverfahren zur Festlegung der steuerlichen Nachforderung anschliesst.353 Damit soll verhindert werden, dass die steuerpflichtige Person in einem Strafverfahren durch das vorgelagerte Steuerveranlagungsverfahren in ihren strafrechtlichen Verteidigungsrechten eingeschränkt wird.354 Anzufügen ist, dass dieser Ansatz für aufsichtsrechtliche Bereiche nicht adäquat erscheint, weil der raschen Gefahrenabwehr bzw. Wiederherstellung des ordnungsgemässen Zustandes im Rahmen eines Massnahmenverfahrens der Vorrang gebührt.

Somit lässt sich festhalten, dass im Steuerstrafrecht vereinzelte und uneinheitliche Regelungen bestehen. Die für das Steuerstrafrecht entwickelten Lösung (Beweisverwertungsverbot) sollte jedoch nicht unbesehen auf den Bereich der pekuniären Verwaltungssanktionen übertragen werden, da sich die beiden Konstellationen unterscheiden: Im Fall von parallelen Verwaltungs- und Strafverfahren sind die strafprozessualen Garantien in ihrem ursprünglichen Bereich betroffen. Im Zentrum steht die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegenüber jedermann. Demgegenüber steht bei pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren ­ nur, aber immerhin ­ ein Randbereich des Strafrechts in Frage. Im Zentrum von Verwaltungssanktionsverfahren steht die Durchsetzung des materiellen Rechts gegenüber Personen, die besonders beaufsichtigt sind. Dementsprechend besteht Raum für eine differenzierte Lösung, welche den Eigenheiten des Aufsichtsrechts besser gerecht wird.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren praktisch immer gegen Unternehmen in Form von juristischen Personen richten.
Deshalb ist der Zweck der Selbstbelastungsfreiheit gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung differenziert zu betrachten. Daraus folgt, dass die bestehenden Lösungen betreffend parallele Verwaltungs- und Steuerstrafverfahren sich nicht

351 352

SR 651.1 Auch in Art. 31 des Bundesgesetzes über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz, SprstG, SR 941.41) vom 25. März 1977 wird die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit gegenüber der verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht vorbehalten.

353 Vgl. Art. 103 Abs. 1 MwStG. Demnach wird die Anwendung von Art. 63 Abs. 1 und 2 VStrR für mehrwertsteuerrechtliche Strafverfahren ausgeschlossen. Die letztgenannte Bestimmung schreibt vor, dass im Anwendungsbereich des Verwaltungsstrafrechts zunächst das Verwaltungs- und erst anschliessend das Verwaltungsstrafverfahren durchzuführen ist. Diese Reihenfolge der Verfahren kann zu einem Spannungsfeld mit dem nemo tenetur-Grundsatz führen. Vgl. weiterführend MATTEOTTI, MehrwertsteuerStrafverfahren, Rz. 14 ff.

354 MATTEOTTI, Mehrwertsteuer-Strafverfahren, Rz. 12 f. m.H.

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ohne Weiteres auf aufsichtsrechtliche Verwaltungssanktionsverfahren übertragen lassen.355

5.3.5.4

In der Lehre erörterte Lösungsansätze

In der Lehre werden zur Lösung des Konflikts zwischen verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz vor allem drei Extrempositionen sowie verschiedene vermittelnde Lösungsansätze diskutiert.356 Am einen Pol ist der generelle Vorrang des nemo tenetur-Grundsatzes einzuordnen. Damit hätte die Partei bereits im Verwaltungsverfahren ein umfassendes Mitwirkungsverweigerungsrecht, sobald ein hinreichender Bezug zu einem Verfahren im Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK besteht.357 Auf weitere Einzelheiten dieses Lösungsansatzes wird in Ziffer 5.3.6.3 näher eingegangen.

Eine zweite Extremposition postuliert, Verwaltungssanktionen im Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK aus dem Verwaltungsrecht herauszulösen und in Strafbestimmungen zu verwandeln.358 In Folge dessen käme die jeweils einschlägige Prozessordnung (StPO bzw. VStrR) an Stelle des Verwaltungsverfahrensgesetzes zur Anwendung. Dieser Lösungsansatz entspricht nicht dem bisherigen Willen des Gesetzgebers. Mit dem Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion hat er ein aufsichtsrechtliches Instrument geschaffen, um eine wirksame und effiziente Durchsetzung von verwaltungsrechtlichen Pflichten gegenüber Unternehmen in regulierten und beaufsichtigten Wirtschaftsbereichen zu ermöglichen. Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, dass deren konventions- und verfassungskonformer Vollzug im Grundsatz nicht in Frage steht. Ein radikaler Systemwechsel erscheint daher nicht erforderlich.359 Hinzu kommt, dass die Umwandlung in Strafbestimmungen den Konflikt zwischen verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz nicht auf befriedigende Weise lösen würde, denn auch im Strafprozessrecht ist die Frage der Verwertbarkeit von Beweismitteln, die in parallelen Verwaltungsverfahren erhoben wurden, nicht abschliessend geklärt. Aus derselben Überlegung ist auch die in der Lehre diskutierte strikte Trennung der Verfahren abzulehnen.360 Schliesslich ist anzumerken, dass mit einer Umwandlung zu Strafbestimmungen eine starke Ausdehnung der Kriminalisierung von Tatbeständen einherginge, die rechtspolitisch nicht wünschbar erscheint.

355

356 357 358 359 360

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesversammlung im Zuge der Revision des Bundesgesetzes über die Börsen und den Effektenhandel den Antrag auf Einführung einer allgemeinen Regelung in Art. 13 VwVG deutlich abgelehnt hat, wonach verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflichten im Fall eines parallelen Strafverfahrens gegen den Pflichtigen entfallen sollten (siehe AB 2011 S 1229 f.).

Zum Ganzen ausführlich MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 66 ff.

Vgl. kritisch zu diesem Ansatz BECK, Enforcementverfahren, Rz. 776 m.w.H.

Zu diesem Ansatz BECK, Enforcementverfahren, Rz. 807 f. m.w.H.

Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Bericht des Bundesrates zur Abschreibung der Motion Schweiger [07.3856], S. 1844 f.

Vgl. zu diesem Ansatz BECK, Enforcementverfahren, Rz. 785.

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Die dritte Extremposition postuliert den generellen Vorrang der verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten.361 Folgt man dieser Ansicht, dann übersteuern die spezielleren Bestimmungen über die Mitwirkung die Selbstbelastungsfreiheit. Da jedoch der Selbstbelastungsfreiheit gemäss Artikel 6 EMRK Verfassungsrang zukommt, steht diese Position in einem Widerspruch mit dem übergeordneten Recht und entspricht auch nicht der differenzierenden Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR. Auf die Frage, ob in aufsichtsrechtlichen Bereichen ein punktueller Vorrang der verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht möglich ist, wird in Ziffer 5.3.6.2.

näher eingegangen.

Ein erster vermittelnder Lösungsansatz betont, dass der nemo tenetur-Grundsatz erst nach der Eröffnung eines Strafverfahrens gelte, nicht aber in vorgelagerten sonstigen Verfahren.362 Informationen, die ausserhalb des Strafverfahrens erlangt wurden, wären demzufolge verwertbar. Dieser Ansatz findet sich beispielsweise in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Fall Swisscom ADSL wieder, wo die Verwertung von vorbestehenden Informationen aus einer anderen Rechtssache (z. B. Steuerunterlagen, aufsichtsrechtliche Meldungen, Registeranmeldungen u.ä.) im Verwaltungssanktionsverfahren als zulässig bezeichnet wird.363 In der Lehre wird dieser Ansatz kritisiert, unter anderem weil damit die paradoxe Situation entstehe, dass die Partei zwar die Mitwirkung verweigern kann, die Verwaltungsbehörde die entsprechenden Unterlagen jedoch auf dem Weg der Amtshilfe von der vorbefassten Behörde einholen darf.364 Ein zweiter vermittelnder Lösungsansatz postuliert die Einführung eines Beweisverwertungsverbotes hinsichtlich von Informationen, die im Verwaltungsverfahren zwangsweise erhoben worden sind, ohne dass vorgängig eine Rechtsbelehrung stattgefunden hat.365 Dazu sei eine strikte Trennung der beiden Verfahren oder die

361

362

363 364 365

Vgl. AESCHLIMANN JÜRG, Einführung in das Strafprozessrecht, Bern 1997, Rz. 1242; HAUSER ROBERT/SCHWERI ERHARD/HARTMANN KARL, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, § 39 Rz. 14; dazu kritisch SEILER, Missverhältnis, S. 14.

m.w.H.

Zu diesem Ansatz SEILER, Missverhältnis, S. 13 m.w.H.; MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 69; BENEDICK, Aussagedilemma, S. 179. Diesbezüglich ist zu beachten, dass der EGMR berücksichtigt, ob ein Strafverfahren hängig oder vorgesehen ist, vgl. Urteil des EGMR Weh gegen Österreich vom 8. April 2004, Nr. 38544/97 § 45.

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 111 ff. ­ Swisscom ADSL.

SEILER, Missverhältnis, S. 13.

Vgl. AUER CHRISTOPH, Das Verhältnis zwischen Nachsteuerverfahren und Steuerstrafverfahren, insbesondere das Problem des Beweisverwertungsverbots, ASA 66 S. 1­20, S. 18; zum Bankenrecht BAUMGARTEN MARK-OLIVER/BURCKHARDT PETER/ROESCH ALEXANDER, Gewährsverfahren im Bankenrecht und Verhältnis zum Strafverfahren, AJP 2006 S. 169­180, S. 177 f.; BENEDICK, Aussagedilemma, S. 177 ff. mit Ausnahmen; DONATSCH ANDREAS/ARNOLD IRENE, Einflüsse von EMRK und Verfassungsrecht auf das schweizerische Steuerstrafrecht ­ Teil 2, StR 2012 pp. 82­91, S. 90; GETH CHRISTOPHER, Aufsichtsrechtliche Mitwirkungspflichten und nemo tenetur, in: Banken zwischen Strafrecht und Aufsichtsrecht, 2014, S. 141­164, S. 159;; WOHLERS/GODENZI, Strafbewehrte Verhaltenspflichten, S. 1060; FELLMANN/VETTERLI, Nemo tenetur, S. 49; KURZBEIN REGULA, Verletzung der börsenrechtlichen Meldepflichten (Art. 20 und 31 BEHG). Verwaltungs- und strafrechtliche Konsequenzen nach dem revidierten Börsengesetz (2013), Zürich / St. Gallen 2013, Rz. 701 ff. mit Ausnahmen; LIEBER, StPOKommentar, N 62 zu Art. 113.

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Sistierung des Verwaltungsverfahrens bis zum Abschluss des sanktionierenden Verfahrens erforderlich.366 Ein dritter vermittelnder Lösungsansatz geht davon aus, dass die Frage nach einem angemessenen Ausgleich der verschiedenen privaten und öffentlichen Interessenlagen nicht für alle Verwaltungsbereiche pauschal beantwortet werden kann.367 Insbesondere vermöge die Lösung über ein Beweisverwertungsverbot zwar in bestimmten Fällen, z. B. dem Steuerrecht, zu befriedigen. In aufsichtsrechtlichen Fallkonstellationen sei dies jedoch nicht der Fall. Dieser differenzierende Ansatz knüpft an der Rechtsprechung zur Unterstellung der Partei unter eine bestimmte Regulierung an, wie sie der EGMR im Strassenverkehrs-368 bzw. das Bundesgericht im Geldspielrecht369 entwickelt haben. Auf weitere Einzelheiten dieses Lösungsansatzes wird in Ziffer 5.3.6.2 näher eingegangen.

5.3.6

Optionen für den Gesetzgeber

Im Folgenden werden drei Optionen dargestellt, wie der Gesetzgeber das Spannungsfeld zwischen den verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz lösen kann. Die erste Option besteht darin, dass auf eine gesetzliche Regelung verzichtet wird, und damit ­ im Sinn der geltenden Ordnung ­ die Lösung des Konflikts im Einzelfall den zuständigen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden überlassen bleibt («Status quo», Ziff. 5.3.6.1). Die zweite Option sieht vor, dass Beweismittel, die aufgrund von spezialgesetzlich festgelegten Mitwirkungspflichten (insb. Herausgabe-, Melde-, Dokumentations- und Berichterstattungspflichten) erhoben werden, in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren verwertet werden dürfen, selbst wenn dabei übermässiger Zwang angewendet werden musste.

Diese Option kommt namentlich in Frage, soweit sich die Sanktionsadressaten in einem vorbestehenden Verwaltungsrechts- bzw. Aufsichtsverhältnis befinden (z. B.

Konzessions- oder Bewilligungsverhältnis) und sich insofern einer speziellen Regulierung unterstellt haben (vgl. Ziff. 5.3.6.2). Die dritte Option postuliert den Vorrang der Selbstbelastungsfreiheit. Dies liesse sich mit der Einführung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts der Partei und/oder einem Beweisverwertungsverbot für zwangsweise erhobene Beweismittel erreichen (Ziff. 5.3.6.3). Diese Option kommt namentlich für Sachbereiche ausserhalb des Aufsichtsrechts in Frage.370 Eine Kombination einzelner Elemente der verschiedenen Optionen ist bei der konkreten Umsetzung im jeweiligen Verwaltungsbereich grundsätzlich denkbar.

366 367

Zur Trennung der Verfahren vgl. BECK, Enforcementverfahren, Rz. 785 m.w.H.

Zu diesem von MACULA eingebrachten Lösungsansatz vgl. MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 74.

368 Urteil des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 57 ff., vgl. Ziff. 5.3.5.2.

369 BGE 140 II 384 E. 3.3.4 ff. ­ Spielbank.

370 Zu weiteren, hier jedoch nicht in Betracht zu ziehenden Lösungsvorschlägen, wie insbesondere die Umwandlung von pekuniären Verwaltungssanktionen zu Strafbestimmungen bzw. die Angleichung an das VStrR siehe Ziff. 5.3.5.4.

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5.3.6.1

Option 1: Status quo

Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die Verwaltungspraxis und Rechtsprechung die aus Artikel 6 und 7 EMRK sowie Artikel 32 BV abgeleiteten strafprozessualen Garantien in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren anwenden und auf diese Weise einzelfallgerechte Lösungen entwickelt haben. Es ist also möglich, die Lösung des Konflikts zwischen den verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz auf der Ebene von Einzelfallentscheiden durch die rechtsanwendenden Behörden zu belassen, so wie dies bereits nach geltendem Recht der Fall ist (im Folgenden: Status quo).

Die Fortführung des Status quo hat den Vorteil, dass für jeden Einzelfall eine sorgfältige Abwägung der entgegenstehenden Interessen möglich ist. Namentlich in Rechtsbereichen, in denen bereits Rechtsprechung zu Einzelfragen im Zusammenhang mit der Tragweite des nemo-tenetur-Grundsatzes vorliegt, erscheint der Bedarf für eine gesetzgeberische Klärung weniger hoch. Zu berücksichtigen ist auch, dass eine neue gesetzliche Regelung jedenfalls in der Phase nach deren Inkraftsetzung zu neuen Auslegungsfragen führen würde.

Gegen die Fortführung des Status quo spricht, dass damit wenig Rechtssicherheit für die Betroffenen wie auch die Behörden geschaffen wird.371 Auch scheint es fraglich, ob so auf lange Sicht die Durchsetzbarkeit aufsichtsrechtlicher Mitwirkungspflichten sowie die Verwertbarkeit der Beweise in einem pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren gesichert ist. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang auf die Gefahr hingewiesen, dass die von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung postulierte Einschränkung der Selbstbelastungsfreiheit im Rahmen aufsichtsrechtlicher Mitwirkungspflichten vom EGMR für konventionswidrig erklärt werden könnte.372 Eine ausdrückliche Regelung im Sinne der nachfolgend dargestellten Optionen 2 bzw. 3 hätte demgegenüber den Vorteil, dass die Interessenabwägung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorgenommen würde und die Rechtsfolge der Unterstellung unter die entsprechende Regulierung für die Privaten klargestellt wäre. In der Rechtsprechung und der Lehre wird denn auch auf die Verpflichtung des Gesetzgebers hingewiesen, das Spannungsverhältnis zwischen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz zu regeln.373

371 372 373

Vgl. DIEBOLD/RÜTSCHE/KELLER, Marktaufsicht, S. 73.

Vgl. MACULA, Erzwungene Selbstbelastung, S. 54.

Vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts B-3099/2016, B-3702/206 vom 17. September 2018 E. 4.5.5. Aus der Lehre vgl. BENEDICK, Aussagedilemma, S. 180; FELLMANN/VETTERLI, Nemo tenetur, S. 49; PFLAUM SONJA/WOHLERS WOLFGANG, Kurs- und Marktmanipulation, GesKR 04/2013 S. 523­540, S. 539.

Eine ausführliche Darstellung möglicher einfachgesetzlicher Lösungswege findet sich bei BÖSE, Wirtschaftsaufsicht. S. 544 ff.; zum Ganzen ausführlich MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 72 f.

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5.3.6.2

Option 2: Vorrang der Mitwirkungspflichten bei vorbestehenden Verwaltungsrechts- bzw.

Aufsichtsverhältnissen

Die Option 2 geht davon aus, dass den spezialgesetzlich festgelegten Mitwirkungspflichten (insbesondere Herausgabe-, Melde-, Dokumentations- und Berichterstattungspflichten) im Rahmen von pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren Vorrang gegenüber der Selbstbelastungsfreiheit zukommt, soweit ein vorbestehendes Verwaltungsrechtsverhältnis zur Partei besteht (z. B. Konzessions- oder Bewilligungsverhältnis) bzw. diese einer besonderen behördlichen Aufsicht untersteht (z. B.

aufgrund einer Meldepflicht374).

Dieser Ansatz knüpft an der Rechtsprechung des Bundesgerichts im Geldspielrecht an, welche ihrerseits auf die Rechtsprechung des EGMR Bezug nimmt. 375 Demnach kann, vereinfachend dargestellt, die Selbstbelastungsfreiheit zurücktreten, sofern sich die Partei einer bestimmten Regulierung unterstellt hat.376 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts gilt der nemo tenetur-Grundsatz nicht absolut. Es verstiesse gegen das Gebot der praktischen Konkordanz von Verfassungsinteressen, das Anliegen des Schutzes der Verfahrensparteien zu verabsolutieren.377 Das verfassungsrechtliche Anliegen der Wirksamkeit des materiellen Rechts (vgl. Art. 170 BV) würde damit vereitelt. Es sei ein angemessener Ausgleich der verschiedenen Interessen anzustreben, um auf eine faire Weise die materielle Wahrheit zu erforschen. Dazu bedürfe es einer sachgerechten Anpassung des grundsätzlich anwendbaren nemo tenetur-Grundsatzes an die jeweilige konkrete Situation (juristische oder natürliche Person, Auskunftspflicht über Sachverhaltselemente oder implizite Schuldanerkennung, Qualität der Sanktion bei Vereitelung der Mitwirkungspflicht usw.).378 Bei juristischen Personen gehe der nemo tenetur-Grundsatz nicht so weit, den Zugriff auf Unterlagen, welche die Partei aufgrund verwaltungsrechtlicher (insbesondere konzessionsrechtlicher) Gesetzesvorschriften erstellen, aufbewahren und dokumentieren muss, zu verunmöglichen.379 Dieser richterrechtliche Ansatz lässt sich für aufsichtsrechtliche Bereiche verallgemeinern, indem im jeweiligen Sacherlass der Umfang der Mitwirkungspflicht, deren grundsätzlicher Vorrang vor der Selbstbelastungsfreiheit in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren sowie die Zulässigkeit von Zwangsmitteln zu deren Durchsetzung festgelegt würde. Die gesetzliche Klarstellung des Vorrangs der Mitwirkungspflicht würde
der Rechtssicherheit dienen. Für die Rechtsadressaten wäre damit bereits zu Beginn des Aufsichtsverhältnisses bzw. bei Aufnahme der beaufsichtigten Tätigkeit vorhersehbar, dass sie in einem allfälligen pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren wegen Verletzung von Verhaltenspflichten mitwirken müssen. Die Überführung und Weiterentwicklung des bundesgerichtlichen Lösungsansatzes in geschriebenes Recht ermöglicht eine grundsätzliche Interessenabwägung 374 375 376 377 378 379

Vgl. beispielsweise die Meldepflicht nach Art. 4 PG.

Vgl. BGE 140 II 384 E. 3.3.2 ff. ­ Spielbank.

BGE 140 II 384 E. 3.3.6 ­ Spielbank.

BGE 140 II 384 E. 3.3.5 ­ Spielbank.

BGE 140 II 384 E. 3.3.5 ­ Spielbank.

BGE 140 II 384 E. 3.3.4 ­ Spielbank, bestätigt in BGE 142 IV 207 E. 8.3.3 ­ Bankunterlagen.

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durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Eine solche Regelung müsste aber Raum für Einzelfallbeurteilungen lassen.

Anzufügen ist, dass der EGMR im Strassenverkehrsrecht380 einen ähnlichen Begründungsansatz für den Vorrang der verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht entwickelt hat (vgl. Ziff. 5.3.5.2). Der EGMR stellt dabei auf die Akzeptanz eines Regelungsrahmens durch die betroffene Person ab. Anzumerken ist jedoch, dass der Umfang der eingeforderten Information begrenzt war. In den beurteilten Fällen deckten die fraglichen Informationen jeweils nur ein Element des Straftatbestandes ab.381 Zudem ist festzuhalten, dass der EGMR diesen Begründungsansatz nicht auf Konstellationen ausserhalb des Strassenverkehrsrechts übertragen hat. In einzelnen Entscheiden hat der Gerichtshof die Zulässigkeit der Interessenabwägung im Kontext des nemo tenetur-Grundsatzes bejaht, in anderen jedoch relativiert.382 Der EGMR lehnt es überdies ab, die zwangsweise Durchsetzung von Herausgabepflichten nur deshalb zuzulassen, weil der Behörde die Befugnis für andere Zwangsmittel fehlen und sie so ihre Beweiserhebungsschwierigkeiten zu kompensieren versuchen.383 Eine Prognose für zukünftige Entscheide des EGMR ist insofern schwierig.384 Es bleibt daher offen, wie der EGMR in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren gegen Unternehmen entscheiden würde.

Bemerkenswert erscheint, dass das Bundesgericht und der EGMR ­ unter Hinweis auf die freiwillige Unterstellung unter eine spezifische Regulierung ­ von einem konkludenten Verzicht auf die Geltendmachung der aus dem nemo tenetur-Grundsatz fliessenden Verteidigungsrechte auszugehen scheinen.385 Nach dieser Rechtsprechung akzeptiert die Partei mit der Aufnahme der beaufsichtigten Tätigkeit die entsprechende Regulierung, einschliesslich der darin vorgesehenen Mitwirkungspflichten, in einem möglichen pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren. In der 380

381

382

383 384 385

Urteil des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 57 ff.; vgl. Ziff. 5.3.5.2.

Urteil des EGMR Urteil des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 60, 62. In der Literatur wurde dazu bemerkt, dass diese Information für die Beweisführung zentral ist, vgl. DONATSCH/SMOKVINA, Nemo tenetur-Grundsatz, S. 867.

REISER NINA, Durchsetzung heterogener börsengesellschaftlicher Normen, Zürich/ St. Gallen 2017, § 5 N 240 ff.; OTT, nemo tenetur, S. 134 ff.; ROTH SIMON, Die Geltung von nemo tenetur im Verwaltungsverfahren, Jusletter 17. Februar 2014., Rz. 30 ff.

Vgl. Urteil des EGMR J.B. gegen Schweiz vom 3. Mai 2001, Nr. 31827/96, Recueil CourEDH 2001-III.

MACULA, Erzwungene Selbstbelastung, S. 34.

BGE 140 II 384 E. 3.3.4, 3.3.6 ­ Spielbank; Urteil des EGMR O'Halloran and Francis gegen Vereinigtes Königreich vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809/02 und 25624/02, Recueil CourEDH 2007-III § 57 ff. Zur Kritik an diesem Begründungsansatz vgl. MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 76 f.; OTT, nemo tenetur, S. 145 ff. In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass der Verzicht auf Verteidigungsrechte wie die Selbstbelastungsfreiheit zwar möglich ist, allerdings nur unter strengen Voraussetzungen. Die Partei muss im Wissen um die Tragweite des Verzichts diesen in unmissverständlicher Weise erklären, vgl. MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 76 f; vgl. ferner TRECHSEL STEFAN, Bankgeheimnis ­ Steuerstrafverfahren ­ Menschenrechte: Nemo tenetur bei Steuerhinterziehung, ZStrR 2005 S. 256­276, S. 273 m.w.H. u. a. auf Urteil des EGMR Pfeifer und Plankl gegen Österreich vom 24. Februar 1992, Nr. 10802/84, Serie A Bd. 227 § 37.

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Literatur wird darauf hingewiesen, dass die beaufsichtigten Parteien im Gegenzug besondere Rechte geniessen, weshalb sich in prozessualer Hinsicht auch bestimmte Sonderpflichten rechtfertigen lassen.386 Mithin erscheint es gerechtfertigt, dass in diesem engen Rahmen die Grundrechte der Parteien stärker eingeschränkt werden.

Aufsichtsrechtlich festgelegte Mitwirkungspflichten (insbesondere Herausgabe-, Dokumentations-, Berichterstattungs- und Meldepflichten) dienen der Überwachung der Einhaltung der aufsichtsrechtlichen Verhaltenspflichten sowie der Abwehr von Gefahren für besonders gewichtige öffentliche Interessen (z. B. Verhinderung sozialschädlichen Verhaltens, Funktionieren der Finanzmärkte, öffentliche Gesundheit).

Damit geht regelmässig auch ein erhöhtes öffentliches Interesse an der wirksamen Verhinderung von Pflichtverletzungen einher. Das aufsichtsrechtliche Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion dient der Sicherstellung der «guten» Ordnung, indem damit gleichzeitig unrechtmässige Vorteile entzogen (z. B. Abschöpfung von Umsätzen) und pönale Sanktionen verhängt werden können, die mit der beaufsichtigten Tätigkeit verbunden sind. Mit anderen Worten besteht ein enger Sachzusammenhang zwischen der pekuniären Verwaltungssanktion und der beaufsichtigten Tätigkeit.

Die Option 2 geht davon aus, dass die Mitwirkungspflicht auf Dokumente begrenzt ist, zu deren Erstellung und Offenbarung eine spezialgesetzliche Grundlage besteht.

Diese Herausgabe-, Dokumentations-, Berichterstattungs- oder Meldepflichten dienen der Rechenschaftsablegung über die Art und Weise der beaufsichtigten Geschäftstätigkeit (z. B. Einhaltung von Sorgfaltspflichten). Die entsprechenden Unterlagen enthalten somit sachverhaltsbezogene Informationen, die der Aufsichtsbehörde ermöglichen, die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben (insbesondere der Bewilligungs- bzw. Konzessionsanforderungen) zu prüfen.387 Diese Dokumente datieren regelmässig vor der Einleitung des Aufsichts- bzw. Verwaltungssanktionsverfahrens und sind insofern als vorbestehend zu bezeichnen.388 Unter diesen inhaltlichen bzw. zeitlichen Einschränkungen erscheint es nicht ausgeschlossen, dass auch spezialgesetzlich festgelegte Auskunftspflichten von geringfügigem Umfang mit eingeschlossen werden könnten.

386 387 388

MACULA, Mitwirkungspflichten, S. 75.

Vgl. BGE 140 II 384 E. 3.3.6 ­ Spielbank.

Vgl. dazu Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 118 ff. ­ Swisscom ADSL, mit Hinweis auf die Saunders-Doktrin des EGMR (Urteil des EGMR Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 69). Auch das Bundesgericht geht davon aus, dass die aufgrund gesetzlicher Zwangsmassnahmen (auch gegen den Willen des Beschuldigten) erfolgte Erhebung von Beweismitteln, die bereits vorliegen, bevor strafprozessualer Zwang ausgeübt wird, zulässig ist (BGE 142 IV 207 E. 8.3.2, 8.18.1, 8.18.3 ­ Bankunterlagen; BGE 138 IV 47 E. 2.6.1). Das Bundesstrafgericht hat diese Rechtsprechung sodann auch in seinem Urteil SK.2019.13 vom 17. Juni 2020 E. 1.1.3 bestätigt; vgl. zudem Urteil SK.2016.19 vom 19. September 2018 E. 6.4.1.1.

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Der Vorrang der spezialgesetzlichen Mitwirkungspflichten kommt vor allem im Rahmen der Aufsicht über juristische Personen389 in Betracht, da gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts in diesem Bereich die Tragweite des Schweigerechts eingeschränkt gilt. Demnach muss ­ nur, aber immerhin ­ die wirksame Verteidigung der juristischen Person gewährleistet sein. Hingegen bezweckt der nemo tenetur-Grundsatz in Verfahren gegen juristische Personen nicht den Schutz der Willensfreiheit, welcher aus der Menschenwürde fliesst390 und folglich grundsätzlich nur bei natürlichen Personen gilt. Für die vorliegend betroffenen Informationen und Dokumente ist dies bedeutsam, da sie keine rechtliche Selbsteinschätzung durch das Unternehmen im Sinn eines «Geständnisses» enthalten müssen, sondern inhaltlich auf Sachverhaltselemente beschränkt sind.391 Dem Unternehmen steht es folglich frei, die rechtliche Würdigung der offenbarten Informationen im weiteren Verfahrensverlauf in Frage zu stellen oder gegebenenfalls mit anderen Beweismitteln zu widerlegen, ohne damit Gefahr zu laufen, sich selber widersprechen zu müssen. Die wirksame Verteidigung ist somit gewährleistet. Von einem Geständnisdruck oder einem unmenschlichen Selbstbelastungsdilemma kann nicht die Rede sein.392 Anzufügen ist, dass sich die Option 2 auf die Verwertung von Beweismitteln in einem pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren beschränkt, das sich direkt gegen das beaufsichtigte Unternehmen richtet. Die Verwertbarkeit von derart gewonnenen Informationen in einem parallelen Strafverfahren gegen die Partei oder gegen Dritte (z. B. Organe oder Mitarbeitende) ist hiervon nicht betroffen; sie richtet sich nach den strengeren Vorgaben des anwendbaren Strafverfahrensrechts (namentlich der StPO).

Wird der Option 2 gefolgt, so wäre die Durchsetzung von spezialgesetzlichen Mitwirkungspflichten unter Anwendung der spezialgesetzlichen bzw. der allgemeinen Zwangsmittel (vgl. Ziff. 5.3.2.3) zulässig, soweit sich diese gegen die Partei selbst richten.393 Die Verwertung der unter Zwang gegen die beaufsichtigte Partei erhobenen Beweismittel in einem pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren wäre grund389

390

391

392 393

Ungeklärt erscheint, ob die Option 2 auch für pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren in Frage kommt, die sich gegen beaufsichtigte natürliche Personen richten (z.B. Inhaber eines Einzelunternehmens). Die Rechtsprechung musste sich, soweit ersichtlich, noch nicht zu dieser Konstellation äussern. Es ist davon auszugehen, dass die Tragweite des nemo tenetur-Grundsatzes in diesem Anwendungsfall weiterreicht als bei juristischen Personen. Die Rechtsprechung des EGMR, auf welcher die Option 2 u. a. fusst, betrifft indessen die Mitwirkungspflicht einer natürlichen Person. Die Einführung der Option 2 für pekuniäre Verwaltungssanktionen, die sich nicht an ein Unternehmen, sondern an eine natürliche Person richten, bedürfte noch einer näheren Prüfung.

Vgl. BGE 147 II 144 E. 5.2.2 f. ­ Boykott Apple Pay. In rechtsvergleichender Hinsicht ist anzumerken, dass auch der EuGH festgehalten hat, dass die Tragweite der aus dem nemo tenetur-Grundsatz fliessenden Schutzrechte bei Unternehmen im Kontext von Verwaltungssanktionsverfahren anders zu beurteilen ist als bei natürlichen Personen, vgl. Urteil des EuGH C-481/19 vom 2. Februar 2021 § 48.

Diese Unterscheidung scheint in der Praxis freilich nicht einfach zu bewerkstelligen, vgl. auch BGE 147 II 144 E. 5.2 ­ Boykott Apple Pay und Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 105 ­ Swisscom ADSL.

MACULA, Erzwungene Selbstbelastung, S. 49, in diesem Sinn auch BGE 147 II 144 E. 5.2.2 f. ­ Boykott Apple Pay.

Demgegenüber erscheint es fraglich, ob auch Zwangsmittel gegenüber den natürlichen Personen, die eine Partei vertreten, zulässig wären (insb. Strafdrohung gegenüber Organen einer juristischen Person).

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sätzlich erlaubt. Dies würde auch entsprechende Beweismittel umfassen, die in einem vorgelagerten Verwaltungsverfahren gegen dieselbe Partei erhoben wurden.

In diesem engen Rahmen hätten somit die spezialgesetzlichen Mitwirkungspflichten Vorrang vor dem nemo tenetur-Grundsatz. Die Partei könnte im pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren kein Mitwirkungsverweigerungsrecht geltend machen bzw.

es bestünde kein Verwertungsverbot für Beweismittel aus einem parallelen Aufsichtsverfahren.

Für Mitwirkungspflichten, die nicht spezialgesetzlich festgelegte Melde-, Dokumentations- und Berichterstattungspflichten umfassen (z. B. allgemeine Auskunftspflichten), erscheint die Option 2 als zu weitgehend. Es besteht ein Unterschied, ob die Partei Auskunft zur Bedeutung von Vorkommnissen erteilen muss, oder ob sie ­ nur, aber immerhin ­ für die Aufsicht erforderliche Sachverhaltselemente und Dokumente betreffend diese Vorkommnisse offenbaren muss, ohne auf deren Inhalt einzugehen. Die Option 2 sollte auf im Voraus bestimmbare Unterlagen und dergleichen beschränkt bleiben, die im Zuge der Geschäftstätigkeit erstellt wurden oder hätten erstellt werden müssen. Eine Ausdehnung auf weitergehende Inhalte ginge dagegen mit Blick auf den nemo tenetur-Grundsatz zu weit. Mit der vorgeschlagenen Differenzierung zwischen spezifischen und allgemeinen Mitwirkungspflichten lässt sich eine Ausbalancierung der entgegenstehenden Interessen erreichen. Die beaufsichtigten Parteien könnten ihre Tätigkeit im Wissen ausüben, welche Informationen sie im Fall eines Sanktionsverfahrens offenbaren müssten, stünden aber gleichzeitig im Schutz der verfassungs- und konventionsrechtlichen Selbstbelastungsfreiheit, soweit allgemeine Mitwirkungspflichten in Frage stehen.

Eine Herausforderung bei der Umsetzung dieser Option besteht darin, die spezialgesetzlichen Mitwirkungspflichten im Sinne von Melde-, Berichterstattungs- oder Herausgabepflichten genügend klar zu umschreiben und sie von allgemeinen Auskunftspflichten trennscharf abzugrenzen. Die Umsetzung von Option 2 sollte sodann nicht dazu führen, dass sämtliche Auskunftspflichten gegenüber einer Verwaltungsbehörde, die in einem Aufsichtsverfahren zu befolgen sind, neu in einem Gesetz oder Ausführungserlass konkretisiert werden und der Verwaltungsbehörde im Einzelfall kein Ermessen mehr
zukommt, welche Informationen für die Überwachung eines Unternehmens konkret notwendig und einzuholen sind. Ein weitgehender Ausschluss von Auskünften auch bezogen auf Sachverhaltselemente, welche eine Aufsichtsbehörde mit Bezug auf einen bestimmten Vorfall verlangt, hätte sodann wohl zur Folge, dass die pekuniäre Verwaltungssanktion als Massnahme für die Aufsichtsbehörde an Bedeutung verlieren würde.

Auch für pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren gegenüber einer Partei, die sich in einem gewöhnlichen Hoheitsverhältnis zum Staat befindet, erscheint die Option 2 nicht angemessen. Dies würde beispielsweise für Sachbereiche zutreffen, die mit dem Steuerrecht zu vergleichen sind («Jedermannspflichten»).394 Hier fehlt das Element der «freiwilligen» Unterstellung unter eine spezifische Regulierung. Das

394

Das war mitunter ein Grund, weshalb der Bundesrat die Einführung von Sanktionen im neuen Datenschutzgesetz nach dem Vorbild der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union abgelehnt hat, vgl. Botschaft zum Bundesgesetz über die Totalrevision des Bundesgesetzes über den Datenschutz, S. 6974.

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geltende Recht sieht das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion für derartige Sachbereiche ­ mit Ausnahme des Sonderfalls des Kartellrechts ­ auch nicht vor.

5.3.6.3

Option 3: Einführung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts und/oder eines Beweisverwertungsverbotes

Die Option 3 postuliert den Vorrang der Selbstbelastungsfreiheit in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren. Die Mitwirkungspflicht der Partei würde damit aufgehoben. Das Schutzniveau im pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren wäre hinsichtlich der Mitwirkung der Partei auf dasjenige der Strafprozessordnung bzw.

des Strafrechts angehoben, sobald ein hinreichender Bezug zu einem Verfahren im Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK besteht.395 Auf gesetzlicher Ebene liesse sich die Option 3 umsetzen, indem in den betreffenden Sacherlassen ein Mitwirkungsverweigerungsrecht der Partei im Rahmen des pekuniären Verwaltungssanktionsverfahrens eingeführt wird. Alternativ oder kumulativ müsste ein Verwertungsverbot für Beweismittel396 eingeführt werden, die in einem parallel oder gleichzeitig durchgeführten «normalen» Verwaltungsverfahren im Rahmen von zwangsbewehrten Mitwirkungspflichten397 erhoben wurden. Für diesen Ansatz sprechen folgende Argumente: ­

Umfassender Schutz der Partei: Ein Mitwirkungsverweigerungsrecht bzw.

ein Beweisverwertungsverbot würde die aus dem nemo tenetur-Grundsatz abzuleitenden Verfahrensrechte der Partei in umfassender Weise gewährleisten. Der nemo tenetur-Grundsatz würde die verwaltungsrechtlich festgelegten Mitwirkungspflichten übersteuern (Art. 190 BV).398

­

Anknüpfung an das Steuerstrafrecht: Der Gesetzgeber hat im Bereich des Steuerstrafrechts den Konflikt zwischen verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo tenetur-Grundsatz mit der sektoriellen Einführung von Beweisverwertungsverboten gelöst (vgl. etwa Art. 183 Abs. 1bis DBG). Die Weiterentwicklung dieses Ansatzes wäre im Sinne einer einheitlichen Rechtsordnung, soweit sich die betreffenden Sachbereiche vergleichen lassen.

395 396

Vgl. kritisch zu diesem Ansatz BECK, Enforcementverfahren, Rz. 776 m.w.H.

Zu regeln wäre dabei namentlich, ob Angaben rein tatsächlicher Art, vorbestehende Dokumente, Daten aus einer vorgängigen Rechtssache sowie Daten aufgrund von Informationspflichten einer ordnungsgemässen Geschäftsführung vom Beweisverwertungsverbot ein- oder ausgeschlossen sind. Zur Rechtsprechung betreffend vorbestehende Dokumente vgl. die Hinweise in Fussnote 388 hiervor.

397 Zu regeln wäre dabei, welche Arten von Zwangsmassnahmen ein Verwertungsverbot auslösen (vgl. beispielhaft Art. 183 Abs. 1bis DBG). Zu entscheiden wäre zudem, ob erst die konkrete Androhung von (verwaltungsrechtlichen oder strafprozessualen) Zwangsmitteln ein Verwertungsverbot auslösen, oder aber bereits die abstrakte Möglichkeit einer Sanktionierung der Mitwirkungsverweigerung hierfür ausreicht.

398 SPITZ, Problemstellungen, S. 557, jedoch unschlüssig, ob dies auch bei Unternehmen uneingeschränkt gelten sollte.

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­

Verwirklichung der verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten: Die zwangsweise Durchsetzung von Mitwirkungspflichten im exekutorischen oder restitutorischen Verwaltungsverfahren bliebe von einem Aussageverweigerungsrecht bzw. einem Beweisverwertungsverbot grundsätzlich unberührt. Der nemo tenetur-Grundsatz steht ­ nur, aber immerhin ­ der zwangsweisen Erhebung von Beweismitteln sowie deren Verwertung in einem sanktionierenden Verfahren entgegen. Die Durchsetzung des materiellen Verwaltungsrechts im Rahmen von exekutorischen oder restitutorischen Massnahmen wäre somit nach wie vor gewährleistet.

Die Einführung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts und/oder eines Beweisverwertungsverbotes hätte freilich zur Folge, dass in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren mit erheblichen Beweisschwierigkeiten zu rechnen ist. Damit verbunden wäre eine einseitige Gewichtung der Interessen der Partei, während das ­ verfassungsrechtlich gleichermassen verankerte ­ Interesse an einer effizienten und wirksamen Rechtsdurchsetzung erheblich erschwert würde. Alternative Mittel zur Beweiserhebung bei der Partei, wie namentlich die Hausdurchsuchung, sind der Verwaltungssanktionsbehörde ­ anders als den Strafbehörden ­ in der Regel399 verwehrt. Auch die Zeugenbefragung, mit welcher Beweismittel bei Dritten erhoben werden können, ist nach geltendem Verwaltungsverfahrensrecht nur unter einschränkenden Vorgaben vorgesehen. Insbesondere steht die Befugnis zur Anordnung einer Zeugenbefragung nicht allen Verwaltungssanktionsbehörden zu, sondern nur den in Artikel 14 Absatz 1 VwVG genannten Verwaltungsstellen. Ein generelles Mitwirkungsverweigerungsrecht und/oder ein Beweisverwertungsverbot würden sich daher wesentlich einschneidender auswirken und die Durchsetzung des Verwaltungsrechts ungleich mehr erschweren, als dies im Strafverfahren der Fall ist. Die pauschale Einführung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts und/oder Beweisverwertungsverbots für sämtliche Rechtsbereiche und Anwendungsfälle, in denen pekuniäre Verwaltungssanktionen vorkommen, erscheint daher nicht sachgerecht.

Denkbar erscheint die Option 3, soweit kein vorbestehendes Verwaltungsrechtsverhältnis zur Partei besteht bzw. diese keiner besonderen behördlichen Aufsicht untersteht und insofern keiner spezifischen Regulierung unterstellt ist.

Für den Fall, dass Option 3 eingeführt würde, müsste der Wegfall der Mitwirkungspflicht der Partei zwangsläufig kompensiert werden durch alternative Beweiserhebungsbefugnisse zugunsten der Sachverhaltsermittlung, um die absehbaren Beweisschwierigkeiten auszugleichen.400 In Frage kommen namentlich die Zeugenbefragung sowie die Hausdurchsuchung.401 Der Vollzug von Hausdurchsuchungen ist freilich zeit- und ressourcenintensiv. Mit Blick auf den nemo tenetur-Grundsatz erweisen sich gesetzlich vorgesehene Beweiserhebungsmassnahmen, die sich wie die Zeugenbefragung nicht gegen die Partei richten oder im Fall der Hausdurchsu399 400

Die kartellrechtliche Hausdurchsuchung (Art. 42 KG) bildet eine Ausnahme.

Würde der Wegfall der Mitwirkungspflicht nicht kompensiert werden durch alternative Beweiserhebungsbefugnisse, hätte dies zur Folge, dass sich pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren kaum mehr durchführen liessen.

401 Zur Hausdurchsuchung im Kontext des nemo tenetur-Grundsatzes siehe Urteil des EGMR Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996, Nr. 19187/91, Recueil CourEDH 1996-VI § 69; Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 103 ­ Swisscom ADSL.

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chung nur eine Duldungspflicht der Partei voraussetzen, nicht aber ein aktives Tun, als grundsätzlich zulässig.402 Anzufügen ist, dass es gemäss der Rechtsprechung der Strassburger Organe bei der Beurteilung von Eingriffen in Artikel 8 EMRK eine wesentliche Rolle spielt, ob Hausdurchsuchungen richterlich genehmigt werden (Richtervorbehalt) bzw. eine dem Richtervorbehalt gleichwertige Regelung vorgesehen ist oder nicht.403 Im Fall der Einführung von Option 3 wäre zudem zu prüfen, ob die Belehrung der Partei über ihr Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht gesetzlich geregelt werden muss. Ob die Verwaltungssanktionsbehörde eine Belehrungspflicht hat, ist in der kartellrechtlichen Lehre umstritten.404 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren nach Artikel 49a KG keine generelle Pflicht, auf das Aussageverweigerungsrecht hinzuweisen.405 Wenn die Behörden demgegenüber unangekündigte Massnahmen vornehmen (z. B. Zeugeneinvernahmen, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen), sind die unmittelbar involvierten natürlichen Personen grundsätzlich auf das Auskunftsverweigerungsrecht ausdrücklich hinzuweisen.406

5.3.7

Zwischenfazit

Verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflichten stehen im Konflikt mit dem strafprozessualen nemo tenetur-Grundsatz, sofern diese zwangsweise durchgesetzt und in einem pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren als Beweismittel verwendet werden. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Verwaltungspraxis und Rechtsprechung einzelfallgerechte Lösungen entwickelt haben. Es ist also möglich, das Austarieren zwischen den verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem nemo teneturPrinzip grundsätzlich auf der Ebene von Einzelfallentscheiden durch die rechtsanwendenden Behörden zu belassen (Option 1 «Status quo»).

Eine ausdrückliche Regelung im Sinn der Optionen 2 oder 3 hätte demgegenüber den Vorteil, dass die zugrundeliegende Interessenabwägung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorgenommen würde und die Rechtsfolge klargestellt wäre. Eine Lösung, die für alle Verwaltungsbereiche gleichermassen sachgerecht ist, lässt sich jedoch kaum finden.

Für Sanktionsadressaten, die sich einer spezifischen Regulierung unterstellt haben und in einem vorbestehenden Verwaltungsrechtsverhältnis stehen bzw. die beson402 403

BGE 142 IV 207 E. 8.3.2 ­ Bankunterlagen; 140 II 384 E. 3.3.2 ­ Spielbank.

Vgl. Urteile EGMR Miailhe gegen Frankreich vom 25. Februar 1993, Nr. 12661/87, Serie A Bd. 256-C; Crémieux gegen Frankreich vom 25. Februar 1993, Nr. 11471/85, Serie A Bd. 256-C; Camenzind gegen Schweiz vom 16. Dezember 1997, Nr. 21353/93, Recueil CourEDH1997-VIII.

404 Bejahend SPITZ, Problemstellungen, S. 558; SCHAAD THOMAS, Verhältnis zwischen der ausländerrechtlichen Mitwirkungspflicht und den strafprozessualen Verweigerungsrechten, Jusletter 20. März 2017, Rz. 86; TAGMANN, Sanktionen, S. 119 f.; ablehnend SEILER, Missverhältnis, S. 19 f.; HAURI KURT, Verwaltungsstrafrecht, Bern 1998, Art. 39 Rn. 4.

405 Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 5.3.2 ­ Nikon, mit Verweis auf BGE 140 II 384 E. 3.3.6, 3.4 ­ Spielbank.

406 Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 136 ­ Swisscom ADSL.

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ders beaufsichtigt sind, erscheint der Vorrang der spezialgesetzlichen Mitwirkungspflichten denkbar (Option 2). Zur Umsetzung dieses Lösungsansatzes empfiehlt sich aus Gründen der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit, im jeweiligen Sacherlass den Umfang der Mitwirkungspflicht (insb. Melde-, Dokumentations- und Berichterstattungspflichten) sowie deren Vorrang vor der Selbstbelastungsfreiheit in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren ausdrücklich festzulegen. Von einer derartigen Vorrangregel wären hingegen die allgemeinen Mitwirkungspflichten (z. B. allgemeine Auskunftspflichten) nicht erfasst. Dieser vermittelnde Lösungsansatz lehnt sich an die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts im Spielbankenfall an. Wie der EGMR diesen Lösungsansatz letztlich beurteilen würde, lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen.

Der Vorrang der Selbstbelastungsfreiheit und die damit einhergehende Aufhebung der Mitwirkungspflicht in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren (Option 3) für sämtliche Anwendungsbereiche von pekuniären Verwaltungssanktionen erscheint nicht sachgerecht. Dieser Ansatz ist höchstens für jene Bereiche denkbar, in denen sich die Sanktionsadressaten in einem gewöhnlichen Hoheitsverhältnis zum Staat befinden. Dies würde beispielsweise für Sachbereiche zutreffen, die mit dem Steuerrecht zu vergleichen sind («Jedermannspflichten»). Das geltende Recht sieht das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion für derartige Sachbereiche ­ mit Ausnahme des Kartellrechts ­ nicht vor. Für den Fall, dass Option 3 in Zukunft eingeführt werden sollte, müssten ­ wie im Kartellrecht ­ alternative Beweiserhebungsbefugnisse zugunsten der Sachverhaltsermittlung eingeführt werden (insb.

Zeugenbefragung sowie die Hausdurchsuchung), um die absehbaren Beweisschwierigkeiten auszugleichen.

5.4

Ausgewählte Fragen des Beweisrechts

5.4.1

Ausgangslage

Im Zusammenhang mit pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren im Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien stellt sich die Frage, ob das verwaltungsrechtliche Beweisrecht mit der strafprozessual garantierten Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV) in Einklang steht. Gemäss dieser gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld bzw. zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig (Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV). Die wichtigste Konkretisierung von Artikel 32 Absatz 1 BV findet sich in Artikel 10 StPO.407 Die Unschuldsvermutung kommt gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts im pekuni-

407

Vgl. hierzu TOPHINKE ESTHER in: Niggli/Heer/Wiprächtiger, Basler Kommentar ­ Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014, N 1 ff. zu Art. 10 StPO; JEANNERET/KUHN, procédure pénale, Rz. 4060 ff.

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ären Verwaltungssanktionsverfahren auch gegenüber Unternehmen zur Anwendung.408 Näher einzugehen ist im Folgenden auf die in einzelnen Sacherlassen vorgesehenen Tatsachen- oder Rechtsvermutungen zulasten der Partei (Ziff. 5.4.2), auf die Beweismassreduktion zulasten der Partei (Ziff. 5.4.3) sowie auf die Frage, ob das Verhalten der Partei im Sanktionsverfahren bei der Beweiswürdigung zu ihren Ungunsten berücksichtigt werden darf (Ziff. 5.4.4).

5.4.2

Gesetzliche Tatsachen- und Rechtsvermutungen

In verschiedenen Sacherlassen, die pekuniäre Verwaltungssanktionen vorsehen, bestehen gesetzliche Tatsachen- und Rechtsvermutungen zulasten der Partei (Art. 122a Abs. 2 und Art. 122b Abs. 2 AIG, Art. 5 Abs. 3 und 4 KG sowie 171a Abs. 2 LwG). Die Beweislast für die Vermutungsbasis, von der anschliessend auf eine unbekannte Tatsache oder Rechtsfolge geschlossen wird, liegt unverändert bei der Verwaltungsbehörde. Ist die Vermutungsbasis erstellt, entsteht eine Obliegenheit zulasten der Partei, Beweise zur Widerlegung der Vermutungsfolge vorzubringen.

Andernfalls gilt die Vermutungsfolge. In diesem Fall trägt die Partei die Folgen der Beweislosigkeit.

Fällt das fragliche Verfahren in den Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK, steht dies in einem Spannungsverhältnis mit der Unschuldsvermutung. Die Unschuldsvermutung verlangt im Sinn einer Beweislastregel, dass im Fall der Beweislosigkeit die Behörde und nicht der Beschuldigte die Folgen trägt.409 Gemäss der Rechtsprechung des EGMR können Vermutungen zulasten der Partei ausnahmsweise mit Artikel 6 Absatz 2 EMRK vereinbar sein, wenn sie sich innerhalb vernünftiger Grenzen bewegen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Bedeutung der Sache sowie die bestehenden Verfahrens- und Verteidigungsrechte (z. B. Möglichkeit zur Widerlegung der Vermutung).410 Mit anderen Worten müssen die eingesetzten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten legitimen Ziel stehen.411 408

BGE 140 II 384 E. 3.4 ­ Spielbank; Urteil des BVGer B-807/2012 vom 25. Juni 2018 E. 6.3 ­ Strassen- und Tiefbau im Kt. Aargau/Erne, ferner das Urteil des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020, E. 5.3.3 ­ Swiss International Airlines betreffend eine pekuniäre Verwaltungssanktion nach Art. 122a AIG sowie Urteil des BVGer B-6592/2010 vom 18. März 2011 E. 3.2 betreffend eine pekuniäre Verwaltungssanktion nach Art. 169 LwG. Aus der Literatur vgl. KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Verfahrensrecht, Rz. 728; KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Verwaltungsverfahren, Rz. 486.

409 Vgl. Urteil des BVGer B-807/2012 vom 25. Juni 2018, E. 6.3 m.w.H.­ Strassen- und Tiefbau im Kt. Aargau/Erne.

410 Urteile des EGMR Kangers gegen Lettland vom 14. März 2019, Nr. 35726/10 § 56; Krumpholz gegen Österreich vom 18. März 2010, Nr. 13201/05 § 34; Busuttil gegen Malta vom 3. Juni 2021, Nr. 48431/18 § 46 ff.; Salabiaku gegen Frankreich vom 7. Oktober 1998, Nr. 10519/83, Serie A Bd. 141-A § 28. Siehe auch BGE 142 IV 137 E. 9.2.

411 Urteil des EGMR Busuttil gegen Malta vom 3. Juni 2021, Nr. 48431/18 § 47, mit Verweis auf Urteile des EGMR Janosevic gegen Schweden vom 23. Juli 2002, Nr. 34619/97, Recueil CourEDH 2002-VII § 101; Entscheid des EGMR; Falk gegen Niederlande vom 19. Oktober 2004, Nr. 66273/01.

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Gemäss der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Artikel 122a und Artikel 122b AIG sind Tatsachen- und Rechtsvermutungen in Verwaltungssanktionsverfahren erlaubt, soweit sie nicht absolut verstanden werden, einem zulässigen Ziel dienen, sich in vernünftigen Grenzen halten und eine Würdigung des Gerichts im Einzelfall zulassen.412 In jedem Fall müsse die betroffene Person die Möglichkeit zur Widerlegung der Vermutung haben. Dies kann beispielsweise durch Exkulpationstatbestände sichergestellt werden, wie sie in Artikel 122a Absatz 3 und Artikel 122b Absatz 3 AIG vorgesehen sind. Deren Vereinbarkeit mit Artikel 6 Absatz 2 EMRK hat das Bundesverwaltungsgericht in mehreren Fällen bestätigt.413 Auch die in Artikel 5 Absatz 3 und 4 KG enthaltenen gesetzlichen Vermutungen sind gemäss Rechtsprechung mit der Unschuldsvermutung vereinbar, da es sich um widerlegbare Vermutungen handelt.414 Die eingangs erwähnte gesetzliche Vermutung in Artikel 171a Absatz 2 LwG ist ebenfalls widerlegbar,415 weshalb davon ausgegangen werden kann, dass diese nicht in einem grundsätzlichen Konflikt mit der Unschuldsvermutung steht.

5.4.3

Beweismassreduktion

Im Verwaltungsverfahren gilt gemäss der schweizerischen Rechtsprechung und Praxis grundsätzlich das Regelbeweismass der «vollen Überzeugung» (Überzeugungsbeweis, frz. certitude).416 Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Beweismass in Verwaltungssanktionsverfahren jedoch auf eine «überwiegende Wahrscheinlichkeit» reduziert sein. Gemäss diesem gilt ein Beweis als erbracht, wenn für die Richtigkeit der Sachbehauptung nach objektiven Gesichtspunkten derart gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht massgeblich in Betracht fallen.417 Wo ein strikter Beweis nicht nur im Einzelfall, sondern der Natur der Sache nach nicht möglich oder zumutbar ist und insofern 412 413

414

415 416

417

Urteile des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 4.4.2 ff.; 5.3.3 ­ Swiss International Airlines; A-1384/2019 vom 27. April 2020 E. 7.3.3.

Urteile des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 4.4.2 ff.; 5.3.3 ­ Swiss International Airlines; A-597/2020 vom 23. Februar 2021 E. 4; A-1384/2019 vom 27. April 2020 E. 7.3.3 ff.

Urteile des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 5.5.3 ­ Nikon; B-8399/2010 vom 23.9.2014 E. 6.4.5. Vgl. dazu auch BGE 143 II 297 E. 9.4.2; ZIRLICK BEAT/BANGERTER SIMON, in: Zäch u. a., Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen Kommentar, 1. Aufl., Zürich/St. Gallen 2018, N 359 ff. zu Art. 5 KG. In ihrer Praxis stützen sich die Wettbewerbsbehörden indessen nicht einfach auf die Vermutung ab, sondern prüfen stets von Amtes wegen, ob sich die Vermutung umstossen lässt.

Vgl. dazu auch WASSERFALLEN ANDREAS, Landwirtschaftsgesetz (LwG) Handkommentar, Bern 2019, N 32 ff. zu Art. 171a.

Vgl. Urteil des BVGer B-581/2012 vom 16. September 2016 E. 5.5.1 ­ Nikon, mit Hinweis auf BGE 130 III 321 E. 3.2; aus der verfahrensrechtlichen Literatur vgl. etwa KIENER/RÜTSCHE/KUHN, Verfahrensrecht, Rz. 727; DAUM, VRPG/BE-Kommentar, N 19 zu Art. 19. Das verwaltungsrechtliche Regelbeweismass steht in Übereinstimmung mit der Unschuldsvermutung, vgl. Urteil des BVGer B-880/2012 vom 25. Juni 2018 E. 8.4.4.1.

Urteil des BVGer B-807/2012 vom 25. Juni 2018 E. 8.4.4.2 ­ Strassen- und Tiefbau im Kt. Aargau/Erne, mit Hinweis auf BGE 140 II I 610 E. 4.1; 132 III 715 E. 3.1.

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regelmässig eine «Beweisnot» besteht, betrachtet die schweizerische Rechtsprechung eine Beweismassreduktion auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit als zulässig.418 Pekuniäre Verwaltungssanktionen betreffen zuweilen komplexe Sachverhalte, welche die Verwaltungsbehörde vor erhebliche Beweisschwierigkeiten stellen können. So wird im Kartellrecht von «multiplen Wirkungszusammenhängen» gesprochen, wenn zahlreiche Akteure und Faktoren im Rahmen von ökonomischen Analysen oder Prognosen zu berücksichtigen sind. Dies kann beispielsweise beim Nachweis der Marktbeherrschung gemäss Artikel 7 KG der Fall sein.419 Das Bundesgericht führte im Kontext von kartellrechtlichen Verwaltungssanktionen aus, dass in spezifischen Konstellationen die Anforderungen an den Nachweis nicht übertrieben werden dürfen, da eine strikte Beweisführung ab einer gewissen Komplexität kaum mehr möglich erscheint.420 Zudem hielt das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich fest, dass sich aus der blossen Anwendung eines reduzierten Beweismasses kein Verstoss gegen die Unschuldsvermutung (in dubio pro reo421) ergibt.422 Anzufügen ist, dass es gemäss der Rechtsprechung des EGMR Sache der nationalen Behörden ist, das für die Feststellung der Schuld erforderliche Beweismass festzulegen.423

5.4.4

Freie Beweiswürdigung

Im Verwaltungsverfahren würdigt die Verwaltungsbehörde die Beweise frei und kann dabei beispielsweise die Verweigerung der Beantwortung von Fragen oder das Vorenthalten angeforderter Beweismittel durch die Partei berücksichtigen (Art. 19 VwVG i.V.m. Art. 40 BZP). Fällt das Verfahren in den Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK, kann dadurch ein Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung entstehen.

Die Unschuldsvermutung gebietet als Beweiswürdigungsregel, auf eine verwaltungsrechtliche Sanktion zu verzichten, wenn unüberwindbare Zweifel verblei418

419

420 421

422 423

Urteil des BVGer B-807/2012 vom 25. Juni 2018 E. 8.4.4.2 ­ Strassen- und Tiefbau im Kt. Aargau/Erne, mit Hinweis auf BGE 132 III 715 E. 3.1; 130 III 321 E.3.2; 128 III 271 E.2b/aa.

Diese Einschätzung gilt gemäss Bundesverwaltungsgericht nicht nur in Bezug auf die Feststellung der Marktbeherrschung bei Art. 7 KG-Fällen, sondern letztlich für alle Tatbestandsmerkmale, soweit im Einzelfall multiple Wirkungszusammenhänge bestehen.

Das reduzierte Beweismass kann auch bei Art. 5 KG-Fällen zur Anwendung gelangen, namentlich bei der Beurteilung künftiger oder alternativer Marktentwicklungen, von möglichen Auswirkungen kartellrechtlicher Sachverhalte auf den Wettbewerb oder von allfälligen Effizienzgründen (vgl. Urteil des BVGer B-807/2012 vom 25. Juni 2018 E. 8.4.4.4 ­ Strassen- und Tiefbau im Kt. Aargau/Erne).

BGE 139 I 72 E. 8.3.2 ­ Publigroupe; Urteil des BVGer B-807/2012 vom 25. Juni 2018 E. 8.4.4.2 ­ Strassen- und Tiefbau im Kt. Aargau/Erne.

Gemäss dem Grundsatz in dubio pro reo wirken sich unüberwindliche Zweifel an der Begehung der angeklagten Tat zu Gunsten der beschuldigten Person aus, vgl. Urteil des EGMR SA-Capital Oy gegen Finnland vom 14. Februar 2019, Nr. 5556/10 § 107; Urteil des Bundesgerichts 6B_804/2017 vom 23. Mai 2018 E. 2.1.

Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 582 ­ Swisscom ADSL.

Vgl. EGMR-Urteil Bikas gegen Deutschland vom 25. Januar 2018, Nr. 76607/13 § 59.

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ben.424 Gemäss der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt die Unschuldsvermutung in Verwaltungsverfahren mit strafrechtlichem Charakter, weshalb die Berücksichtigung des Verhaltens zu Ungunsten der Partei an strengere Voraussetzungen geknüpft ist.425 Daraus folgt, dass sich die beweisrechtliche Berücksichtigung des Verhaltens der Partei in erster Linie am Einzelfall orientiert. Ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf hinsichtlich der Vorgaben an die Beweiswürdigung besteht folglich nicht.

5.4.5

Zwischenfazit

In pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren ist in beweisrechtlicher Hinsicht die strafprozessual garantierte Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV) zu berücksichtigen. Gemäss Rechtsprechung sind die im Ausländer- und Kartellrecht vorgesehenen Tatsachen- und Rechtsvermutungen zulasten der Partei mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Wichtig ist, dass die Partei die Vermutung widerlegen kann.

Die Rechtsprechung hält eine Reduktion des Beweismasses zulasten der Partei (Wahrscheinlichkeitsbeweis) für zulässig, wenn ein strikter Beweis nicht nur im Einzelfall, sondern der Natur der Sache nach nicht möglich oder nicht zumutbar ist und insofern eine «Beweisnot» besteht. Dies gilt beispielsweise für sog. «multiple Wirkungszusammenhänge», wenn zahlreiche Akteure und Faktoren im Spiel stehen oder Prognosen erforderlich sind. In dieser Konstellation ist die Reduktion des Beweismasses mit der Unschuldsvermutung vereinbar.

Schliesslich billigt die Rechtsprechung, dass die Verwaltungssanktionsbehörde das unkooperative Verhalten der Partei zu deren Ungunsten berücksichtigt. Allerdings ist im Rahmen der freien Beweiswürdigung die Unschuldsvermutung zu beachten.

Massgebend ist dabei der jeweilige Einzelfall.

5.5

Rechtliches Gehör sowie Recht auf öffentliche und mündliche Verhandlung

Der Anspruch der Verfahrenspartei auf rechtliches Gehör bildet einen wesentlichen Aspekt der prozeduralen Fairness. Er ist in Artikel 29 Absatz 2 BV für alle Gerichtsund Verwaltungsinstanzen garantiert. Für Verfahren im Anwendungsbereich von Artikel 6 EMRK ist der Anspruch auf rechtliches Gehör ebenfalls zu beachten. Der Gesetzgeber hat die aus der Bundesverfassung abgeleiteten Elemente des rechtlichen 424

Urteile des BVGer B-6592/2010 vom 18. März 2011 E. 3.2; B-8399/2010 vom 23. September 2014 E. 6.4.4; WALDMANN BERNHARD, in: Waldmann/Weissenberger, Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., Zürich 2016, N 20 zu Art. 19, mit Verweis auf KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Verwaltungsverfahren, Rz. 486; vgl. auch HÄNER ISABELLE, Die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes, in: Häner/Waldmann, Das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren, Zürich 2008, pp. 33­53.

S. 49 f.

425 Urteil des BVGer A-597/2019 vom 27. Januar 2020 E. 5.3.3 ­ Swiss International Airlines mit Verweis auf AUER/BINDER, VwVG-Kommentar, N 40 zu Art. 13.

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Gehörs im VwVG ausdrücklich konkretisiert (vgl. Art. 26 ff. VwVG). Der gesetzliche Gehörsanspruch deckt sich weitgehend mit dem grundrechtlichen Gehörsanspruch nach Artikel 29 Absatz 2 BV426 und nach Artikel 6 EMRK.427 Anzufügen ist, dass einzelne Sacherlasse wie namentlich das Kartellgesetz ergänzende Bestimmungen zum Gehörsanspruch enthalten, welche über das konventions- und verfassungsrechtlich vorgeschriebene Minimum hinausgehen.428 Der Gehörsanspruch verlangt, dass die Partei über das Verfahren in Kenntnis zu setzen ist. Sie muss sich zudem zu allen erheblichen Tatsachen- und Rechtsfragen äussern können und die Möglichkeit haben, Beweise anzubieten. Die Untersuchung der Praxis und der Rechtsprechung zu den bestehenden pekuniären Verwaltungssanktionen im Bundesverwaltungsrecht hat ergeben, dass dem Gehörsanspruch zwar eine grosse praktische Bedeutung zukommt, jedoch auf gesetzlicher Ebene grundsätzlich kein Handlungsbedarf besteht.

Artikel 6 Absatz 1 EMRK garantiert des Weiteren das Recht auf eine öffentliche Verhandlung in Gerichtsverfahren. Gemäss EGMR ist der Anspruch auf eine mündliche Verhandlung in demjenigen auf eine öffentliche Verhandlung nach Artikel 6 Absatz 1 EMRK enthalten.429 Die beschuldigte Person kann ausdrücklich oder stillschweigend auf eine öffentliche Verhandlung verzichten. Der Anspruch auf mündliche Verhandlung gilt weniger strikt bei Entscheiden, die nicht dem Kernbereich des Strafrechts zuzuordnen sind.430 So kann gemäss der Praxis des EGMR von einer mündlichen Verhandlung ausnahmsweise abgesehen werden, wenn dies die Natur der zu beurteilenden Fragen erlaubt. Von Bedeutung ist diesbezüglich, ob die sich stellenden Tatsachen- und Rechtsfragen gestützt auf die Akten beantwortet werden können, die beschuldigte Person ihren Standpunkt schriftlich hinreichend darlegen konnte und die Glaubwürdigkeit nicht in Frage steht.431 In diesem Zusammenhang können nationale Behörden Überlegungen der Effizienz und Wirtschaftlichkeit berücksichtigen.432 Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung obliegt es primär der ersten gerichtlichen Instanz, den Anspruch auf öffentliche Verhandlung zu gewährleisten.433 426 427

428

429 430 431 432 433

Eine Ausnahme bildet Art. 30 Abs. 2 Bst. e VwVG, der über die Minimalgarantie von Art. 29 Abs. 2 BV hinausgeht, vgl. BGE 126 II 11 E. 6b/aa.

Eine Ausnahme bildet das Replikrecht, welches gemäss Praxis des EGMR weitergeht als die Garantien des Landesrechts, siehe dazu BGE 133 I 100 E. 4.6, ferner KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Verwaltungsverfahren, Rz. 490.

Gemäss Art. 30 Abs. 2 KG ist das instruierende Sekretariat der WEKO verpflichtet, den am Verfahren Beteiligten den Antrag an die WEKO vorab integral zur Stellungnahme vorzulegen. Die Beteiligten haben das Recht, sich zum Antrag des Sekretariats sowie spezifisch auch zu den ökonomischen und rechtlichen Erwägungen sowie zu den Schlussfolgerungen, den beantragten Massnahmen und den beantragten Sanktionen äussern zu können; vgl. dazu Botschaft zu einem Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen, S. 605; ferner beispielhaft BGE 129 II 497 E. 2.2.

Urteil des EGMR Döry gegen Schweden vom 12. November 2002, Nr. 28394/95 § 37.

Urteil des EGMR Jussila gegen Finnland vom 23. November 2006, Nr. 73053/01, Recueil CourEDH 2006-XIV § 43.

Vgl. Urteil des EGMR Jussila gegen Finnland vom 23. November 2006, Nr. 73053/01, Recueil CourEDH 2006-XIV § 41.

Vgl. Urteil des EGMR Jussila gegen Finnland vom 23. November 2006, Nr. 73053/01, Recueil CourEDH 2006-XIV § 42.

BGE 136 I 279 E. 1.

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Soweit Verwaltungssanktionsverfahren zunächst vor Verwaltungsbehörden stattfinden, ist somit davon auszugehen, dass der Anspruch in dieser Phase noch nicht gilt.

Indem Artikel 40 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz)434 für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vorsieht, dass die Partei das Recht hat, eine öffentliche und mündliche Parteiverhandlung zu verlangen, soweit zivilrechtliche Ansprüche oder strafrechtliche Anklagen im Sinn von Artikel 6 Absatz 1 EMRK zu beurteilen sind, ist diesem Anspruch Genüge getan.435

5.6

Verfahrensabschluss

5.6.1

Entscheid in der Sache

Kommt die Verwaltungsbehörde zum Ergebnis, dass alle Verfahrensvoraussetzungen vorliegen, der Sachverhalt vollständig erhoben und der Tatbestand erfüllt ist, legt sie die Rechtsfolgen in Form einer materiellen Verfügung fest. Darin werden die Rechtsfolgen gestaltend festgelegt. Konkret ist der Betrag zu bestimmen, mit welchem die Partei belastet wird. Je nach Sachlage kann die Verwaltungsbehörde zudem weitere Massnahmen verfügen, um den rechtmässigen Zustand wiederherzustellen (zur Wahl der Sanktionsart und der Sanktionsbemessung vgl. Ziff. 4.4.1 f.).

5.6.2

Verzicht auf die Sanktionierung

Die Verwaltungsbehörde kann zum Schluss gelangen, dass es trotz einer schuldhaften Pflichtverletzung durch das Rechtssubjekt gerechtfertigt ist, auf die Anordnung einer Sanktion zu verzichten, sofern hinsichtlich der Rechtsfolge ein Entschliessungsermessen besteht.436 Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Anordnung einer Sanktion angesichts der Schwere der Verletzung, der Verfahrenskosten oder des Zeitaufwands für das Verfahren unverhältnismässig erscheint.437 In Bagatellfällen kann ebenfalls auf eine Sanktionierung verzichtet werden. Diese Möglichkeit ist zum Beispiel in Artikel 122a Absatz 1 und 122b Absatz 1 AIG438 ausdrücklich vorgesehen. Diese Möglichkeit besteht in Anwendung des Verhältnis-

434 435

SR 173.32 Gemäss BGE 134 I 229, E. 4.4 ist zudem ein (stillschweigender) Verzicht auf den Anspruch auf mündliche Verhandlung zulässig. Erfolgt das Verfahren üblicherweise schriftlich, kann ein stillschweigender Verzicht angenommen werden, wenn die Partei nicht rechtzeitig einen entsprechenden Antrag stellt. Vgl. zum Ganzen auch KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Verwaltungsverfahren, Rz. 224 ff.

436 Vgl. beispielsweise die «kann»-Formulierung in Art. 60 FMG. Kein Entschliessungsermessen besteht etwa bei Art. 49a KG, vgl. TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 17 zu Art. 49a KG, m.H. auf das Urteil des Bundesgerichts 2C_149/2018 vom 4. Februar 2021, E. 8.5.1 f. ­ Hors-Liste Medikamente (Preisempfehlungen).

437 TANQUEREL, droit administratif, N 1229.

438 Im Kartellbereich sieht Art. 49a Abs. 2 KG die Möglichkeit vor, auf die Anordnung einer Sanktion zu verzichten, wenn das betreffende Unternehmen mitwirkt.

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mässigkeitsprinzips und unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebotes auch ohne ausdrückliche Gesetzesgrundlage.

5.6.3

Einstellung des Verwaltungssanktionsverfahrens

Kommt die Verwaltungsbehörde zum Ergebnis, dass sich der Tatbestand nicht nachweisen lässt, so stellt sie das Verwaltungssanktionsverfahren ein. In diesem Fall wird das Verfahren ohne materiellen Entscheid beendet (vgl. dazu Ziff. 5.6.1). Das Verwaltungsverfahrensgesetz regelt die Einstellung des Verfahrens nicht ausdrücklich. Die Untersuchung der Verwaltungspraxis und der Rechtsprechung zu den bestehenden pekuniären Verwaltungssanktionen im Bundesverwaltungsrecht hat in dieser Hinsicht jedoch keinen Regelungsbedarf gezeigt.

Ob ein eingestelltes Verwaltungssanktionsverfahren zu einem späteren Zeitpunkt voraussetzungslos wieder aufgenommen werden darf, ohne dass sich der Sachverhalt geändert hätte, erscheint mit Blick auf das Doppelbestrafungsverbot fraglich, da der entsprechende Sachverhalt bereits einmal Gegenstand eines Sanktionsverfahrens bildete.439

5.6.4

Entscheidung innerhalb angemessener Frist

Das in Artikel 6 Absatz 1 EMRK verankerte Beschleunigungsgebot verlangt von den Behörden eine Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist. Der für die Beurteilung der Verfahrenslänge relevante Fristenlauf beginnt mit der Einleitung des Verfahrens440 und endet mit dem rechtskräftigen Verfahrensabschluss.441 Bei der Prüfung der Verfahrenslänge sind beispielsweise die Komplexität des Falles sowie das Verhalten der beschuldigten Person und der zuständigen Verwaltungs- und Justizbehörden zu berücksichtigen.442 Die Untersuchung der Praxis und der Rechtsprechung zu den bestehenden pekuniären Verwaltungssanktionen im Bundesverwaltungsrecht hat ergeben, dass das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren in aller Regel zwischen 3 und 9 Monaten dauert.

Im Allgemeinen besteht denn auch kein Handlungsbedarf hinsichtlich der Verfahrensdauer.

Eine Ausnahme bildet jedoch das Kartellrecht, bei dem wesentlich längere Verfahrensdauern vorkommen. Der Grund liegt in der vergleichsweise hohen Komplexität von kartellrechtlichen Sachverhalten (sachlicher Umfang, erforderliche Abklärungstiefe, Anzahl der beteiligten Akteure).443 Als zeitintensiv erweisen sich namentlich 439 440

TAGMANN, Sanktionen, S. 213 f.; TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 39 zu Art. 49a KG.

Praxisgemäss zeigt die Verwaltungsbehörde den Parteien die Einleitung des Sanktionsverfahrens an, vgl. Ziff. 5.1.2.

441 Vgl. Urteil des EGMR Neumeister gegen Österreich vom 27 Juni 1968, Nr. 1936/63, Serie A Bd. 8 § 18 f.

442 Vgl. Urteil des EGMR Neumeister gegen Österreich vom 27 Juni 1968, Nr. 1936/63, Serie A Bd. 8 § 21.

443 Vgl. BGE 139 I 72 E. 8.3.2 ­ Publigroupe.

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Instruktionshandlungen wie die kartellrechtlich vorgesehene Hausdurchsuchung oder die Befragung von Parteien und Zeugen.444 Daraus ergeben sich lange dauernde erstinstanzliche Verfahren (2­4 Jahre). Die Dauer verlängert sich für die Beteiligten anschliessend noch um die Rechtsmittelverfahren, welche in Einzelfällen bis zu 8 Jahren dauern können.

Das Bundesverwaltungs- und das Bundesgericht haben bislang, soweit ersichtlich, keine pekuniäre Verwaltungssanktion wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots reduziert oder gar aufgehoben. Das Bundesverwaltungsgericht hat die in kartellrechtlichen Verfahren von den betroffenen Unternehmen zuweilen als übermässig lang gerügten Verfahrensdauern jeweils als konventionsrechtlich zulässig eingestuft.

Es hat dabei festgestellt, dass die Bearbeitung von komplexen Kartellverfahren regelmässig einen grossen Aufwand erfordere, der ohne Weiteres auch zu einer langjährigen Bearbeitungsdauer auf Seiten der Wettbewerbsbehörden und der Rechtsmittelgerichte führen könne. Dies werde auch durch vergleichbare Verfahren in anderen Ländern und in der Europäischen Union bestätigt.445 Die Dauer von kartellrechtlichen Gerichtsverfahren bildet Gegenstand der vom Parlament überwiesenen Motion Fournier 16.4094 vom 15.12.2016 («Verbesserung der Situation der KMU in Wettbewerbsverfahren»). Demnach sind Gerichtsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, indem Fristen in die Gesetzgebung aufgenommen werden. In Beantwortung des Vorstosses schlägt der Bundesrat im Rahmen seiner Vernehmlassungsvorlage über die Teilrevision des KG vom 24.

November 2021 vor, dass die Obergrenze für die gesamte Verfahrensdauer über alle Instanzen in der Regel nicht mehr als fünf Jahre betragen sollte.446 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass mit der Einführung von Fristen die Gefahr einhergeht, dass die Qualität der Ermittlungen und Entscheidungen beeinträchtigt wird. Zudem wirft eine solche Regelung Fragen hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz sowie der Gleichbehandlung auf. Für eine Priorisierung kartellrechtlicher Verfahren zulasten der Verfahrensdauer anderer (verwaltungsrechtlicher) Verfahren bestehen soweit ersichtlich keine sachlichen Gründe.447

5.6.5

Verfahrenskosten

In der Phase des Abschlusses des Verfahrens stellt sich die Frage, welche Regelung für die Verfahrenskosten anwendbar ist und ob für die pekuniären Verwaltungssanktionen gegebenenfalls eine solche Regelung eingeführt werden muss. Das VwVG umfasst keine generelle Regelung betreffend die Verfahrenskosten für erstinstanzli444

Hinzu kommt, dass viele Unternehmen ihre Mitwirkungs- und Verteidigungsrechte intensiv wahrnehmen (Beweisanträge, Verfahrensanträge, zahlreiche Eingaben, wiederholtes Aktenstudium, Fristverlängerungen, verlangte und unaufgeforderte Stellungnahmen sowie private ökonomische und juristische Gutachten etc.).

445 Urteil des BVGer B-831/2011 vom 18. Dezember 2018 E. 1651 ­ SIX/DCC (noch nicht rechtskräftig); vgl. auch Urteil des BVGer B-7633/2009 vom 14. September 2015 E. 248 ­ Swisscom ADSL.

446 Vgl. Art. 44a der Vernehmlassungsvorlage zum KG vom 24. November 2021.

447 Vgl. Erläuternder Bericht des Bundesrates vom 24. November 2021 über die Teilrevision des Kartellgesetzes, Ziff. 2.1.4.

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che Verfahren. Bei Beschwerdeverfahren regelt Artikel 63 VwVG die Verfahrenskosten, bestehend aus Spruchgebühr, Schreibgebühren und Barauslagen; sie werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt.448 Im Bereich der pekuniären Verwaltungssanktionen enthalten einige Sacherlasse eine Rechtsgrundlage für die Auferlegung von Verfahrenskosten. Das trifft namentlich zu auf das Postgesetz, das Geldspielgesetz, das Fernmeldegesetz, das Bundesgesetz über Radio und Fernsehen, die Verwaltungssanktionen gemäss dem Ausländer- und Integrationsgesetz sowie das Kartellgesetz.449 Nach Artikel 53a Absatz 3 KG kann der Bundesrat ausserdem vorsehen, dass für bestimmte Verfahren oder Dienstleistungen, namentlich bei der Einstellung der Verfahren, keine Gebühren erhoben werden. 450 In anderen Sacherlassen, die pekuniäre Verwaltungssanktionen enthalten, wird die Auferlegung von Verfahrenskosten für erstinstanzliche Verfahren nicht geregelt (z. B. Art. 9 EntsG).

Im Strafverfahren werden die Verfahrenskosten durch Artikel 422 ff. StPO geregelt.

Artikel 426 StPO hält diesbezüglich fest, dass die beschuldigte Person die Verfahrenskosten trägt, wenn sie verurteilt wird.451 Wird die beschuldigte Person freigesprochen oder das Verfahren eingestellt, so werden die Kosten nach Artikel 423 StPO vom Staat getragen. Diese Lösung ist aufgrund des Grundsatzes der Unschuldsvermutung gerechtfertigt, der durch Artikel 6 Absatz 2 EMRK und 32 Absatz 1 BV gewährleistet ist. Würde das Gericht die Verfahrenskosten der freigesprochenen Person auferlegen, könnte dies als Verurteilung für eine Straftat ausgelegt werden, welche die beschuldigte Person nicht begangen hat.452 In pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren im Anwendungsbereich von Artikel 6 Absatz 1 EMRK können sich die verfahrensbetroffenen Unternehmen auf die Unschuldsvermutung stützen. Dieser Grundsatz kann herangezogen werden, auch wenn keine besondere Rechtsgrundlage für den Verzicht auf die Auferlegung der Verfahrenskosten bei der Verfahrenseinstellung besteht. Sofern ein Verwaltungssanktionsverfahren eingestellt wird, folgt daraus, dass die untersuchungsbetroffene Partei grundsätzlich keine Verfahrenskosten tragen muss, sofern sich die Anhaltspunkte, 448

449

450

451 452

Die Verordnung vom 10. September 1969 über Kosten und Entschädigungen im Verwaltungsverfahren (SR 172.041.0) ergänzt die gemäss Art. 63 VwVG anwendbaren Grundsätze, belässt diesbezüglich jedoch noch einen Ermessensspielraum. Vgl. namentlich Art. 13 der Verordnung. Auf die Bestimmungen dieser Verordnung kann verwiesen werden, wenn ein Sacherlass in erster Instanz Verfahrenskosten vorsieht. Die Verordnung darf jedoch nicht als Rechtsgrundlage betrachtet werden, gestützt auf die generell Verfahrenskosten auferlegt werden können, wenn keine sektorielle Rechtsgrundlage für solche Kosten besteht. Vgl. ferner: BOVAY, Procédure administrative, S. 634.

Vgl. Art. 30 Abs. 1 PG und 77 Abs. 1 Bst. d der Postverordnung (SR 783.01, VPG), 99 Abs. 1 BGS, 40 Abs. 1 Bst. a FMG, 100 Abs. 1 Bst. b und c RTVG und 78 ff. der Radio- und Fernsehverordnung (SR 784.401, RTVV), 123 Abs. 1 AIG und 53a KG.

Art. 3 Abs. 2 der Verordnung vom 25. Februar 1998 über die Gebühren zum Kartellgesetz (GebV-KG; SR 251.2) hält fest, in welchen Fällen auf die Auferlegung von Verfahrenskosten verzichtet wird. Vgl. ferner TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 10 ff. zu Art. 53a KG.

FONTANA, CR-CPP, N 1 ff. zu Art. 426 StPO.

Vgl. Urteil des EGMR Minelli gegen die Schweiz vom 25. März 1983, Nr. 8660/79, Serie A Bd. 62. Für einen detaillierten Kommentar zur Praxis des Bundesgerichts nach dem Urteil Minelli gegen die Schweiz vgl. DOMEISEN, BSK-StPO, N 24 ff. zu Art. 426 StPO (m.w.H.). Vgl. ferner BGE 109 Ia 166; 114 Ia 299; 116 Ia 162.

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die zur Verfahrenseinleitung geführt haben, nicht erhärten lassen. Diese Regelung findet sich beispielsweise in Artikel 53a Absatz 3 KG i.V.m. Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe c der Verordnung vom 25. Februar 1998 über die Gebühren zum Kartellgesetz (SR 251.2).453 Für die anderen untersuchten Sacherlasse bestehen keine entsprechenden Vorgaben. Da sich aber die Möglichkeit, bei einer Verfahrenseinstellung auf die Auferlegung der Verfahrenskosten zu verzichten, unmittelbar aus dem Grundsatz der Unschuldsvermutung ableiten lässt, ist es nicht erforderlich, diese Frage in anderen Sacherlassen zu regeln.

5.6.6

Parteientschädigung

Das VwVG sieht keine Parteientschädigung in erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren vor. Solche Entschädigungen können erst in Beschwerdeverfahren vor Gericht beantragt werden (Art. 64 VwVG), es sei denn, in einem Sacherlass ist ausdrücklich vorgesehen, dass eine Parteikostenentschädigung gewährt werden kann.454 Denn gemäss dem Bundesgericht handelt es sich bei der Entrichtung der Parteientschädigung nach Artikel 64 VwVG nicht um einen «allgemeinen prozessualen Grundsatz»; sie gelte ausschliesslich für Beschwerdeverfahren.455 Beim Erlass des VwVG hat der Gesetzgeber bewusst darauf verzichtet, die Möglichkeit der Zusprechung einer Parteientschädigung auch für das erstinstanzliche Verfahren vorzusehen (qualifiziertes Schweigen).456 Im Beschwerdeverfahren kann nach Artikel 64 VwVG der ganz oder teilweise obsiegenden Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung zugesprochen werden.

In den sektoriellen Regelungen im Bereich der pekuniären Verwaltungssanktionen ist die Möglichkeit einer Parteientschädigung nicht vorgesehen. In einem Urteil zum Fernmeldewesen hat das Bundesgericht den Begriff «Beschwerdeverfahren» eng ausgelegt und darauf hingewiesen, dass Artikel 64 VwVG nicht analog auf das erstinstanzliche Verfahren angewandt werden kann. Darüber hinaus enthält das Fernmeldegesetz keine besondere Bestimmung zur Parteientschädigung. Nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens vor der ComCom konnte den Parteien folglich keine Entschädigung entrichtet werden.457 Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Rechtsprechung in einem Urteil des Jahres 2017 zum Kartellbereich bestä453

454

455 456 457

Vgl. dazu z.B.: Urteil des BVGer B-3975/2013 vom 30. Oktober 2019 E. 21.3; Verfügungen der WEKO Vertriebspartnerschaften der AEW Energie AG u. a. vom 19. Dezember 2005, in: RPW 2006/2 S. 227 ff., Rz. 125 ff.; Teleclub AG/Cablecom GmbH/Swisscable vom 4. Juni 2007, in: RPW 2007/3 S. 400 ff., Rz. 98 ff.; Swisscom ADSL vom 7. Mai 2007, in: RPW 2007/3 S. 410 ff., Rz. 29 ff.; Neue EisenbahnAlpintransversale (NEAT) vom 18. Juni 2007, in: RPW 2007/3 415 Rz. 122 f. Vgl.

ebenfalls: TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 11 zu Art. 53a KG; DURRER, KGHandkommentar, N 7 zu Art. 53a KG.

BEUSCH, VwVG-Kommentar, N 2 zu Art. 64 VwVG. Zu den wenigen Ausnahmen gehören 11a VwVG sowie Art. 115 Abs. 1 des Bundesgesetzes über Enteignung (EntG), SR 711.

BGE 132 II 47 E. 5.2; Urteil des BVGer B-844/2015 vom 19. Dezember 2017 E. 11.2.

BGE 132 II 47 E. 5.2.

BGE 132 II 47 E. 5.2.

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tigt.458 Es ist somit davon auszugehen, dass diese Rechtsprechung generalisierbar ist. Anzufügen ist, dass juristische Personen in aller Regel auch keine unentgeltliche Rechtspflege gemäss Artikel 29 Absatz 3 BV beanspruchen können.459 Eine besondere Rechtsgrundlage zur Entrichtung einer Parteientschädigung erscheint im Bereich der pekuniären Verwaltungssanktionen daher grundsätzlich nicht angebracht.

Anzufügen ist, dass diese Frage Gegenstand der in Ziffer 5.6.4 bereits erwähnten Motion Fournier 16.4094 vom 15.12.2016 («Verbesserung der Situation der KMU in Wettbewerbsverfahren») bildet, in der unter anderem die Einführung der Parteientschädigung für das erstinstanzliche kartellrechtliche Verwaltungsverfahren verlangt wird.460 Aus Sicht der Motion 16.4094 Fournier seien kartellrechtliche Verwaltungsverfahren besonders komplex, lang und aufwendig und würden insbesondere KMU erheblich belasten. Dies rechtfertige vorliegend eine besondere Regelung. In Beantwortung des Vorstosses schlägt der Bundesrat im Rahmen seiner Vernehmlassungsvorlage über die Teilrevision des KG vom 24. November 2021 die Einführung einer Parteientschädigung für das erstinstanzliche kartellrechtliche Verwaltungsverfahren vor, sofern das Verfahren ohne Folgen ganz oder teilweise eingestellt wurde.461 Freilich ist festzuhalten, dass auch andere Verwaltungs(sanktions)verfahren (z.B. im Geldspielbereich, Fernmeldebereich oder Finanzmärkte) lang, komplex und kostspielig sein können. Sachliche Gründe für eine Privilegierung von Unternehmen, die von kartellrechtlichen Verwaltungsverfahren betroffen sind, sind nicht ersichtlich.462 Im Strafverfahren schliesslich wird die Parteientschädigung in Artikel 429 StPO geregelt:463 Gemäss dieser Bestimmung hat die beschuldigte Person Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte, wenn sie ganz oder teilweise freigesprochen wird oder das Verfahren gegen sie eingestellt wird.464 Die Bestimmung gilt allerdings für natürliche Personen

458 459

460 461 462 463

464

Urteil des BVGer B-844/2015 vom 19. Dezember 2017 E. 11.2.

Vgl. namentlich: BGE 143 I 328 E. 3.1 (m.w.H.); 131 II 306 E. 5.2.1 (m.w.H.); 126 V 42 E. 4; 119 Ia 337 E. 4b (m.w.H.). Siehe ferner: KAYSER MARTIN/ALTMANN RAHEL, in: Auer/Müller/Schindler (Hrsg.), VwVG ­ Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2019, zu Art. 65 VwVG. In der Rechtsprechung wird präzisiert, dass eine juristische Person ausnahmsweise Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege haben kann, wenn das einzige Aktivum der juristischen Person im Streit liegt und neben ihr auch die wirtschaftlich Beteiligten mittellos sind.

Motion Fournier 16.4094 vom 15. Dezember 2016 «Verbesserung der Situation der KMU in Wettbewerbsverfahren», Ziff. 4.

Vgl. Art. 53b der Vernehmlassungsvorlage vom 24. November 2021 über die Teilrevision des Kartellgesetzes.

Vgl. Erläuternder Bericht des Bundesrates vom 24. November 2021 über die Teilrevision des Kartellgesetzes, Ziff. 2.1.5.

Zum Geltungsbereich und zur Tragweite dieser strafverfahrensrechtlichen Bestimmung, vgl. namentlich WEHRENBERG/FRANK, BSK-StPO, zu Art. 429 StPO; MIZEL CÉDRIC/RÉTORNAZ VALENTIN, in: Jeanneret/Kuhn/Perrier Depeursinge, Commentaire romand ­ Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl., Basel 2019, zu Art. 429 CPP.

Denn gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung würde die Verweigerung einer Parteientschädigung gegen die Unschuldsvermutung verstossen, wenn die beschuldigte Person nach Abschluss des Verfahrens freigesprochen wird oder wenn das Verfahren einstellt wird. Vgl. dazu: Urteil des BGer 6B_241/2015 vom 26. Januar 2016 E. 1.3.1 (m.w.H.).

Vgl. ebenfalls: WEHRENBERG/FRANK, BSK-StPO, N 5 zu Art. 429 StPO.

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und nicht für juristische Personen und Unternehmen. Sie kann folglich nicht auf die pekuniären Verwaltungssanktionen übertragen werden.

5.6.7

Änderung von pekuniären Verwaltungssanktionsverfügungen

Erstinstanzliche Verfügungen von Verwaltungsbehörden werden gemeinhin mit Eintritt der Rechtswirksamkeit für die Behörde und im weiteren Verlauf aufgrund der formellen Rechtskraft auch für die Partei verbindlich.465 Ergibt sich nachträglich, dass die Verfügung fehlerhaft war, stellt sich die Frage, ob die ursprüngliche Verfügung geändert werden darf, sei es zu Gunsten oder zu Ungunsten der Partei.

Das Verwaltungsverfahrensgesetz regelt die Änderung von erstinstanzlichen Verfügungen nicht ausdrücklich.466 Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts ist ein Rückkommen auf eine fehlerhafte erstinstanzliche Verfügung jedenfalls dann zulässig, wenn Gründe vorliegen, welche auch die Revision eines Beschwerdeentscheids rechtfertigen würden (Art. 66 VwVG).467 Dies ist etwa der Fall, wenn sich neue erhebliche Tatsachen oder Beweismittel ergeben, die im Verfügungszeitpunkt zwar schon bestanden, aber unbekannt waren, oder wenn sich hinterher herausstellt, dass die Behörde seinerzeit aktenkundige erhebliche Tatsachen oder Beweismittel übersehen hatte.468 Im Licht dieser Rechtsprechung erscheint es nicht erforderlich, spezielle Vorgaben über die nachträgliche Änderung von pekuniären Verwaltungssanktionsverfügungen einzuführen. Anzufügen ist, dass das in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren anwendbare Verbot der doppelten Strafverfolgung (Art. 4 ZP 7 EMRK) unter den vorgenannten Voraussetzungen nicht verletzt erscheint.469 Dieses besagt, dass eine Person, die materiell rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen wurde, wegen

465 466

Vgl. zur Begrifflichkeit TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Verwaltungsrecht, § 31 Rz. 1.

Das Kartellrecht kennt mit Art. 30 Abs. 3 KG eine sektorielle Bestimmung, wonach die WEKO auf Antrag des Sekretariats oder der Betroffenen den erstinstanzlichen Entscheid widerrufen oder ändern kann, sofern sich die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse wesentlich geändert haben.

467 BGE 103 Ib 87 E. 2.

468 Ein Rückkommen wäre auch zulässig, wenn die ursprüngliche Verfügung durch Verbrechen oder Vergehen beeinflusst wurde. Zum Ganzen siehe TSCHANNEN/ZIMMERLI/ MÜLLER, Verwaltungsrecht, § 31 Rz. 38. Demgegenüber kommt ein Rückkommen wegen unrichtiger Rechtsanwendung im Fall von urteilsähnlichen Verfügungen (dazu gehören auch die vorliegend interessierenden Verwaltungssanktionsverfügungen) gemäss Rechtsprechung nur in extremen Ausnahmefällen in Frage, nämlich dann, wenn die unveränderte Aufrechterhaltung der Verfügung zu einem «stossenden und dem Gerechtigkeitsgefühl zuwiderlaufenden Ergebnis» führen würde, vgl. BGE 98 Ia 568 E. 5b.

469 Eine pekuniäre Verwaltungssanktionsverfügung kann auch zu Ungunsten der Partei geändert werden, da sich das Verbot der reformatio in peius gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung weder aus Art. 29 BV noch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK herleiten lässt, siehe BGE 139 IV 282 E. 2.3.1; Urteil des Bundesgerichts 6B_332/2009 vom 4. August 2009 E. 4.2. Ein weitergehendes, generelles Verbot der reformatio in peius wird in der Lehre für das Kartellsanktionsverfahren vereinzelt in Anlehnung an strafprozessuale Grundsätze postuliert (NIGGLI/RIEDO, Quasi-Strafrecht, S. 110 f.).

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derselben Tat grundsätzlich nicht erneut strafrechtlich verfolgt werden darf (sog.

Strafklagenverbrauch). Vorbehalten bleibt dabei die Revision des Urteils.

5.6.8

Zwischenfazit

Das erstinstanzliche Verwaltungssanktionsverfahren wird mittels Verfügung abgeschlossen. Dabei ist der Betrag zu bestimmen, mit welchem die Partei belastet wird.

Je nach Sachlage kann die Verwaltungsbehörde zudem weitere Massnahmen verfügen, um den rechtmässigen Zustand wiederherzustellen. Die Verwaltungssanktionsbehörde kann aber auch zum Schluss kommen, dass auf eine Sanktionierung zu verzichten ist.

Das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren dauert in aller Regel zwischen 3 und 9 Monate. Eine Ausnahme bildet jedoch das Kartellrecht, bei dem wesentlich längere Verfahrensdauern vorkommen. Zur Umsetzung einer der beiden vom Parlament überwiesenen Forderungen der Motion Fournier 16.4094 vom 15.12.2016 («Verbesserung der Situation der KMU in Wettbewerbsverfahren») schlägt der Bundesrat vor, dass die Obergrenze für die gesamte Verfahrensdauer über alle Instanzen in der Regel nicht mehr als fünf Jahre betragen sollte.

Nach geltendem Recht trägt die Partei die Kosten des erstinstanzlichen Verwaltungssanktionsverfahrens, sofern dies im Sacherlass vorgesehen ist. Keine entsprechenden Regelungen finden sich namentlich im Entsendegesetz. Anzufügen ist, dass im Fall der Verfahrenseinstellung in der Regel davon auszugehen ist, dass in Anwendung der Unschuldsvermutung auf eine Kostenüberwälzung auf die Partei verzichtet wird.

Im VwVG ist keine Parteikostenentschädigung für erstinstanzliche Verwaltungsverfahren vorgesehen. Im Kartellrecht bildet diese Frage Gegenstand der vorerwähnten Motion Fournier 16.4094 vom 15.12.2016 («Verbesserung der Situation der KMU in Wettbewerbsverfahren»). Der entsprechende Umsetzungsvorschlag des Bundesrates sieht die Einführung einer Parteientschädigung für das erstinstanzliche kartellrechtliche Verwaltungsverfahren vor, sofern dieses ohne Folgen ganz oder teilweise eingestellt wurde.

Die nachträgliche Änderung von pekuniären Verwaltungssanktionsverfügungen ist gemäss Rechtsprechung zulässig, wenn Gründe vorliegen, welche auch die Revision eines Beschwerdeentscheids rechtfertigen würden (Art. 66 VwVG).

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5.7

Information der Öffentlichkeit

5.7.1

Orientierung der Öffentlichkeit über hängige Verfahren

Das VwVG regelt die Orientierung der Öffentlichkeit über hängige Verwaltungsverfahren nicht ausdrücklich. Das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren ist denn auch grundsätzlich vom Prinzip der Parteiöffentlichkeit beherrscht.470 Einige Sacherlasse mit pekuniären Verwaltungssanktionen enthalten hingegen eine Rechtsgrundlage zur allgemeinen Orientierung der Öffentlichkeit über die Tätigkeit der Behörden und gegebenenfalls über hängige Verfahren, soweit dem keine überwiegenden Interessen entgegenstehen.471 In anderen Fällen hat die Rechtsprechung eine solche Möglichkeit anerkannt.472 So befand das Bundesgericht im Kartellbereich, dass es den Verwaltungsbehörden trotz der Unschuldsvermutung nicht verboten ist, die Öffentlichkeit über laufende Untersuchungen und Verfahren zu informieren.473 Es ist den Behörden jedoch untersagt, die betroffenen Unternehmen als schuldig zu behandeln, z. B. indem sie der Presse den Sanktionsentscheid mitteilen, bevor der Entscheid tatsächlich gefällt wurde.474 Die Erfahrung hat gezeigt, dass im Einzelfall ein öffentliches Interesse an einer Orientierung des Publikums über hängige pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren bestehen kann (insbesondere, wenn die Mitwirkung Dritter für die Aufklärung von Straftaten erforderlich ist, wenn falsche Informationen oder Gerüchte richtiggestellt werden müssen oder wenn es die besondere Bedeutung eines Falls erfordert). Angesichts der Tragweite der Publikumsorientierung für die betroffenen Parteien sollte hierfür eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, soweit eine solche im jeweiligen Sacherlass noch nicht besteht. Eine entsprechende Regelung kann sich an den Vorgaben gemäss Artikel 74 Absatz 1 StPO betreffend die Orientierung der Öffentlichkeit über hängige Strafverfahren durch die Staatsanwaltschaft orientieren. Bei einer Orientierung der Öffentlichkeit über ein hängiges Verfahren müssen der Grundsatz der Unschuldsvermutung sowie die Persönlichkeitsrechte der beteiligten Parteien gewahrt werden.

Es empfiehlt sich, die Voraussetzungen für die Orientierung des Publikums über hängige Verwaltungssanktionsverfahren durch die Verwaltungsbehörde aus Gründen der Rechtssicherheit spezialgesetzlich festzulegen. Die Regelung könnte sich an die Vorgaben gemäss Artikel 74 Absatz 1 StPO anlehnen und sollte festhalten, dass 470 471 472

Vgl. ebenfalls BGE 142 II 268 E. 4.2.4.

Art. 22 Abs. 3 PG, Art. 87 RTVG, Art. 13 Abs. 1 und 3 FMG.

Das ist z.B. im Kartellrecht in Bezug auf die Möglichkeiten der Information über ein hängiges Verfahren durch die Behörden der Fall; vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_1065/2014 vom 26. Mai 2016 E. 8.3.

473 Urteil des Bundesgerichts 2C_1065/2014 vom 26. Mai 2016 E. 8.3. Vgl. ebenfalls TOPHINKE ESTHER, Das Grundrecht der Unschuldsvermutung, Diss. Bern 2000, S. 394 f.

Im Kartellbereich forderte die Motion Fournier 16.4094 vom 15. Dezember 2016 ausserdem, die Veröffentlichung von Informationen über hängige Verfahren zu regeln und nur die rechtskräftigen Entscheide der Wettbewerbsbehörden veröffentlichen zu lassen. Dieser Punkt der Motion wurde vom Nationalrat abgelehnt (AB 2018 N 189).

474 Urteil des Bundesgerichts 2C_1065/2014 vom 26. Mai 2016 E. 8.2 und 8.4.2. Vgl.

ebenfalls NIGGLI/RIEDO, BSK-KG, N 253 vor Art. 49a­53 KG.

105 / 140

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der Veröffentlichung von Informationen keine überwiegenden Interessen entgegenstehen dürfen.

5.7.2

Publikation von Verwaltungssanktionsverfügungen

Gemäss Artikel 6 Absatz 1 EMRK sind Urteile öffentlich zu verkünden. Neben der öffentlichen Verkündung sind auch andere Methoden der Veröffentlichung wie namentlich die Einsichtnahme in ein Urteil oder die Veröffentlichung der wichtigsten Urteile in einer amtlichen Sammlung zulässig.475 Die Art und Weise der Veröffentlichung ist im Lichte der Besonderheiten des betroffenen Verfahrens und unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Artikel 6 Absatz 1 EMRK zu beurteilen.

Bei dieser Beurteilung ist auf das Verfahren insgesamt abzustellen.476 Der Anspruch auf öffentliche Verkündung ergibt sich ebenfalls aus Artikel 30 Absatz 3 BV; er bezieht sich auf Sach- oder Prozessentscheide sämtlicher Instanzen, mit denen ein Verfahren mit Bezug auf die betreffende Instanz abgeschlossen wird.477 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sind auch Strafentscheide gemäss Artikel 65 VStrR öffentlich zu verkünden.478 Da pekuniäre Verwaltungssanktionen als «strafrechtliche Anklagen» im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 EMRK gelten, dürfte sich die Praxis des Bundesgerichts übertragen lassen.

Das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes sieht grundsätzlich keine Veröffentlichung von erstinstanzlichen Verfügungen vor. Hingegen enthalten einige der untersuchten Sacherlasse Regelungen über die Entscheidveröffentlichung.479 Die Untersuchung der Praxis zu den bestehenden pekuniären Verwaltungssanktionen im Bundesverwaltungsrecht hat ergeben, dass die meisten Verwaltungsbehörden die erstinstanzlichen Sanktionsentscheide mit dem Ziel veröffentlichen, das Publikum über die behördliche Rechtsauslegung und Sanktionsbemessung zu informieren.

In diesen Bereichen werden die von den Behörden veröffentlichten Entscheide in der Regel nicht anonymisiert, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse der Veröffentlichung eines Sanktionsentscheids und der Begründung sowie des Namens der sanktionierten Partei besteht.480 Informationen zu Geschäftsgeheimnissen werden jedoch eingeschwärzt.481

475 476 477

478 479 480 481

Vgl. Urteil des EGMR Sutter gegen Schweiz vom 22. Februar 1984, Nr. 8209/78, Serie A Bd. 74 § 33 f.

Urteil des EGMR Welke und Bialek gegen Polen vom 1. März 2011, Nr. 15924/05 § 83.

So erstreckt sich die Garantie im Strafverfahren auch über die Entscheide der Staatsanwaltschaft, namentlich die Einstellungsverfügungen (vgl. z.B.: BGE 137 I 16 E. 2.3; BGE 134 I 286 E. 6.3), sowie auf die Strafbescheide der Verwaltungsbehörden in Anwendung des VStrR (BGE 124 IV 234 E. 3). Vgl. ebenfalls: REICH, BSK-BV, N 52 zu Art. 30 BV.

BGE 124 IV 234 E. 3c, 3e.

Vgl. namentlich Art. 48 Abs. 1 KG, Art. 24 Abs. 2 Bst. b PG, Art. 87 Abs. 1 RTVG, Art. 13 Abs. 2 FMG.

Vgl. z.B. Verfügung der PostCom Epsilon SA 2/2020 vom 30. Januar 2020, N 28 m.w.H.

Vgl. z.B. Art. 25 Abs. 4 KG oder Art. 87 Abs. 2 RTVG. Anschaulich BGE 142 II 268 E. 5. Siehe ferner: Verfügung der WEKO Nikon AG vom 4. Juni 2012, in: DPC 2016/2 S. 536 ff., N 14 ff.

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Durch die Veröffentlichung der Entscheide kann die Transparenz bezüglich der korrekten Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften durch die Behörden sichergestellt und es kann gewährleistet werden, dass ihre Sanktionspraxis der Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangt. Zudem können die Öffentlichkeit und die Medien eine Kontrolle über die behördliche Tätigkeit ausüben und davon Kenntnis erhalten, dass eine Sanktion ausgesprochen wurde, aus welchen Gründen sie verhängt wird und welche Verhaltensweisen zur Sanktionierung führen können.482 Aus dem Gesagten folgt, dass die Publikation von erstinstanzlichen Verfügungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen im öffentlichen Interesse liegt. In einigen Sachgebieten stellt die Publikation denn auch eine gängige behördliche Praxis dar.

Für jene Sacherlasse, die noch keine diesbezügliche Regelung enthalten, empfiehlt sich daher aus Transparenzgründen die Einführung einer Befugnis zur Publikation.

Dies betrifft namentlich das BGS, das EntsG und das AIG. Eine gesetzliche Grundlage erscheint nicht zuletzt mit Blick auf die Tragweite für die betroffenen Parteien angezeigt. Zu regeln wäre dabei namentlich, in welchem Mass die Verwaltungsbehörde nach pflichtgemässem Ermessen über die Publikation entscheidet (z. B.

Art. 48 Abs. 1 KG) oder ob sie dazu verpflichtet ist, ob die Sanktionsverfügung Angaben zur Partei enthalten darf483 und ob die Publikation auch unabhängig von einem allfälligen Beschwerdeverfahren erfolgen soll (Publikation nicht rechtskräftiger Verfügungen). Entsprechende Vorgaben zur Publikation der pekuniären Verwaltungssanktion wären mit allfälligen anderen Bestimmungen, welche die Veröffentlichung von Verfügungen im Sinne einer eigenständigen Verwaltungssanktion vorsehen, abzustimmen.

5.8

Rechtsmittel gegen Verfügungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen

5.8.1

Rechtsmittel an das Bundesverwaltungsgericht (Rechtsweggarantie)

In Verwaltungssanktionsverfahren, die als strafrechtliche Anklagen im Sinn von Artikel 6 EMRK zu qualifizieren sind, gelten die verfassungsrechtliche Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) und der konventionsrechtlich garantierte Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Dabei besteht ein Anspruch auf eine Beurteilung durch ein Gericht mit voller Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.

482

Zu den Zwecken der Veröffentlichung im Sinne von Art. 48 Abs. 1 KG vgl.

BGE 142 II 268 E. 4.

483 Die kartellrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts erachten in konstanter Praxis die nicht anonymisierte Publikation von pekuniären Verwaltungssanktionsverfügungen durch die WEKO als zulässig, vgl. Urteil des BVGer B-108/2019 vom 1. September 2020 E. 4.3; BGE 142 II 268 E. 5.1, 6.4.3. Insbesondere ordnet das Bundesgericht eine nicht anonymisierte Version dem Zweck der Transparenz zu, indem dem Publikum die Kontrolle über die Stichhaltigkeit der faktisch mit der Publikation gemäss Art. 28 KG erfolgten Vorwürfe ermöglicht wird.

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Bei pekuniären Verwaltungssanktionen ist die erstverfügende Behörde jedoch eine Verwaltungsbehörde ohne Gerichtsqualität.484 Die erste gerichtliche Instanz für Vollzugsmaterien, die in die Zuständigkeit des Bundes fallen, bildet in der Regel das Bundesverwaltungsgericht im Rechtsmittelverfahren. Das Bundesverwaltungsgericht verfügt über volle Kognitionsbefugnisse in Rechts- und Tatsachenfragen (vgl.

Art. 49 VwVG). Es muss die rechtserheblichen Tatsachen selbst ermitteln, den festgestellten Sachverhalt unter die einschlägigen Rechtsvorschriften subsumieren und die Rechtsfolge ­ die pekuniäre Verwaltungssanktion ­ auf ihre Rechtmässigkeit überprüfen.485 Insofern genügt das Rechtsmittel an das Bundesverwaltungsgericht den einleitend genannten Anforderungen von Artikel 29a BV bzw. Artikel 6 EMRK. Gemäss Rechtsprechung ist damit auch die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden für die erstinstanzliche Sanktionsverfügung konventions- und verfassungsrechtlich zulässig.486 In Bereichen, die ein hohes Mass an Sachverständigenermessen voraussetzen, nimmt das Bundesverwaltungsgericht zuweilen seine Kognition zurück. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann dies, in Anlehnung an die EGMRRechtsprechung, unter dem Aspekt von Artikel 29a BV bzw. Artikel 6 EMRK im Einzelfall zulässig sein. Insbesondere wird berücksichtigt, ob es um eine spezialisierte Angelegenheit geht, die Fachwissen erfordert, ob Ermessensspielraum besteht und welche Verfahrensgarantien vor der Verwaltungsbehörde angewandt wurden.

Weiter muss das überprüfende Gericht sich «point by point» mit den Argumenten bzw. Rügen des Beschwerdeführers auseinandersetzten.487 Gerade in Verwaltungsverfahren darf sich ein Gericht eine gewisse Zurückhaltung in ausgesprochenen Fachfragen auferlegen, solange dabei noch eine effektive Überprüfung der Angelegenheit erfolgt. Auch in diesen Fällen ist Artikel 29a BV bzw. Artikel 6 EMRK gewahrt.

Der im geltenden Verwaltungsverfahrensrecht vorgesehene Anspruch auf Beschwerde gegen pekuniäre Verwaltungssanktionsverfügungen an das Bundesverwaltungsgericht erfüllt die konventions- und verfassungsrechtlichen Anforderungen der Rechtsweggarantie. Gemäss Rechtsprechung ist es unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, dass die Beschwerdeinstanz ihre Kognition (Prüfungsdichte) zurücknehmen darf.

5.8.2

Rechtsmittel an das Bundesgericht (Rechtsmittelgarantie)

Über die Rechtsweggarantie hinaus gilt in Strafsachen die Rechtsmittelgarantie (Art. 2 ZP 7 zur EMRK, Art. 32 Abs. 3 BV und Art. 14 Abs. 5 UNO-Pakt II). Ge484

Zur fehlenden Gerichtsqualität der WEKO vgl. beispielsweise BGE 139 I 72 E. 4.3 ­ Publigroupe.

485 Vgl. BGE 139 I 72 E. 4.5 ­ Publigroupe.

486 BGE 139 I 72 E. 4.4 ­ Publigroupe; Urteil des EGMR, Menarini Diagnostics S.R.L.

gegen Italien vom 27. September 2011, Nr. 43509/08 § 57 ff.

487 Urteil des EGMR Sigma Radio Television Ltd. gegen Zypern vom 21. Juli 2011, Nr. 32181/04, 35122/05 § 147 ff.; vgl. auch BGE 139 I 72 E. 4.5 f. ­ Publigroupe.

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mäss diesem sog. Double-Instance-Prinzip hat jede verurteilte Person das Recht, eine gerichtliche Entscheidung von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen.488 Vom Anwendungsbereich erfasst werden Verfügungen mit Strafrechtscharakter im Sinn von Artikel 6 EMRK.489 Gemäss dem Bundesgericht können sich in persönlicher Hinsicht nicht nur natürliche, sondern auch juristische Personen auf die verfassungs- und konventionsrechtliche Rechtsmittelgarantie berufen.490 Für die Anforderungen an das Gericht gelten Artikel 30 Absatz 1 BV und der entsprechende Teilgehalt von Artikel 6 Absatz 1 EMRK.491 Die Modalitäten des Rechtsmittels bestimmt gemäss Artikel 2 Absatz 1 ZP 7 zur EMRK der nationale Gesetzgeber. Beschränkungen müssen ein rechtmässiges Ziel verfolgen und dürfen den Kerngehalt des Rechts nicht beeinträchtigen.492 Den Vertragsstaaten kommt aber bei der Ausgestaltung des Rechtsmittels ein weiter Ermessenspielraum zu.493 Auf verfassungsrechtlicher Stufe belässt Artikel 32 Absatz 3 BV dem Gesetzgeber unter Wahrung der Wirksamkeit der Rechtsmittelgarantie ebenfalls einen Spielraum.494 Verfügungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen, die Strafrechtscharakter im Sinn von Artikel 6 EMRK haben, fallen in den Anwendungsbereich der Rechtsmittelgarantie. In diesem Kontext ist die zentrale Frage, inwiefern die eingeschränkte Kognition des Bundesgerichts (Art. 95 ff. BGG) ­ als zweite gerichtliche Instanz für Vollzugsmaterien, die in die Zuständigkeit des Bundes fallen ­ der Rechtsmittelgarantie genügt. Der EGMR, das Bundesgericht und die überwiegende Mehrheit der Lehre sehen eine Einschränkung der Kognition auf die Rechtsüberprüfung als mit

488

489

490 491 492

493 494

MEYER-LADEWIG/HARRENDORF/KÖNIG, EMRK-Handkommentar, N 2 zu Art. 2 ZP 7 EMRK. Art. 2 Abs. 2 ZP 7 zur EMRK statuiert drei vorliegend nicht relevante Ausnahmefälle: 1) bei gesetzlich bestimmten Straftaten geringfügiger Art, 2) in Fällen, in denen das Verfahren gegen eine Person in erster Instanz vor dem obersten Gericht stattgefunden hat und 3) in Fällen, in denen eine Person nach einem Freispruch vor der höheren Instanz verurteilt wurde.

Urteil des EGMR Kamburov gegen Bulgarien vom 23. April 2009, Nr. 31001/02 § 22 f.

Siehe auch MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte, S. 918; BIAGGINI, OFK-BV, N 2 zu Art. 32; BGE 139 I 72 E. 2.2.2 ­ Publigroupe.

Urteil des Bundesgerichts 2C_484/2010 vom 29. Juni 2012 E. 5.4 (nicht publ. in: BGE 139 I 72) ­ Publigroupe.

BIAGGINI, OFK-BV, N 4 zu Art. 30 und N 13 zu Art. 32; Entscheid des EGMR Poulsen gegen Dänemark vom 29. Juni 2000, Nr. 32092/96.

Urteil des EGMR Poulsen gegen Dänemark vom 29. Juni 2000, Nr. 32092/96, S. 5; Urteil des EGMR Krombach gegen. Frankreich vom 13. Februar 2001, Nr. 29731/96, Recueil CourEDH 2001-II § 96.

BGE 128 I 237 E. 3; Urteil des EGMR Krombach gegen. Frankreich vom 13. Februar 2001, Nr. 29731/96, Recueil CourEDH 2001-II § 96.

BIAGGINI, OFK-BV, N 13 zu Art. 32.

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Artikel 2 Absatz 1 ZP 7 zur EMRK vereinbar.495 Auch verfassungsrechtlich hat eine verurteilte Person keinen Anspruch auf eine zweite Ermessens- und Sachverhaltskontrolle; eine Rechtskontrolle und Willkürprüfung des Sachverhalts durch die zweite Instanz genügen.496 Umso mehr muss dies auch bei pekuniären Verwaltungssanktionen mit Strafrechtscharakter im Sinn von Artikel 6 Absatz 1 EMRK genügen.

Die Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht genügt somit den Anforderungen der Rechtsmittelgarantie.497

5.9

Parallele Verfahren

5.9.1

Ausgangslage

Verfahren auf Erlass von pekuniären Verwaltungssanktionen haben regelmässig einen zeitlichen bzw. inhaltlichen Bezug zu anderen Verwaltungs- oder auch zu Strafverfahren (sog. parallele Verfahren). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Verwaltungsbehörde zum Zweck der Gefahrenabwehr bzw. der Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes exekutorische oder restitutorische Verwaltungsmassnahmen verfügt.498 An das Massnahmenverfahren kann sich zusätzlich ein Verwaltungssanktionsverfahren anschliessen (zur Wahl des Handlungsinstruments siehe Ziff. 4.4.4). Dabei wird das repressiv ausgerichtete Verwaltungssanktionsverfahren in zeitlicher Hinsicht zumeist nach dem Massnahmenverfahren abgeschlossen. Der Grund hierfür liegt in der vergleichsweise höheren Dringlichkeit der Abwehr unmittelbar drohender Gefahren bzw. der Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes.

495

Urteile des EGMR Pesti und Frodl gegen Österreich vom 18. Januar 2000, Nr. 27618/95, 27619/95, Recueil CourEDH 2000-I § 4; Krombach gegen Frankreich vom 13. Februar 2001, Nr. 29731/96, Recueil CourEDH 2001-II § 96; Müller gegen Österreich vom 5. Oktober 2006, Nr. 12555/03 § 25; Müller gegen Österreich (Nr. 2) vom 18. September 2008, Nr. 28034/04 § 36; Urteil des Bundesgerichts 2C_484/2010 vom 29. Juni 2012 E. 5.4 (nicht publ. in: BGE 139 I 72) ­ Publigroupe. Siehe für die Lehre: MEYER-LADEWIG/HARRENDORF/KÖNIG, EMRK-Handkommentar, N 4 zu Art. 2 ZP 7 EMRK; BIAGGINI, OFK-BV, N 13 zu Art. 32; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel, Rz. 1430; SEILER, SHK-BGG, N 3 zu Art. 97; a.A. GÖSKU, BSKBV, N 20 zu Art. 32. MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte, S. 918 sind der Auffassung, dass es noch ungeklärt sei, wie weit auch eine Sachverhaltskontrolle stattfinden muss. Für Art. 14 Abs. 5 UNO Pakt-II siehe Allgemeine Bemerkung Nr. 32 des UN Menschenrechtsausschusses vom 23. August 2007, Article 14. Droit à l'égalité devant les tribunaux et les cours de justice et à un procès équitable, U.N. Doc. CCPR/C/GC/32 § 48 m.w.H; BGE 124 I 92 E. 2, bestätigt in Urteil 6B_352/2018 vom 27. Juli 2018 E. 3.2.1; BIAGGINI, OFK-BV, N 13 zu Art. 32; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel, Rz. 1430; SEILER, SHK-BGG, N 3 zu Art. 97.

496 AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel, Rz. 1430; BIAGGINI, OFK-BV, N 13 zu Art. 32; KIENER REGINA/KÄLIN WALTER/WYTTENBACH JUDITH, Grundrechte, 3. Aufl., Bern 2018, Rz. 43; VEST HANS, in: Ehrenzeller u. a., Die schweizerische Bundesverfassung ­ St. Galler Kommentar, 3. Aufl., St. Gallen 2014, N 46 zu Art. 32; BGE 129 I 281 E. 4.3; Urteile des Bundesgerichts 6B_352/2018 vom 27. Juli 2018 E. 3.2.1; 6B_150/2017 vom 11. Januar 2018 E. 2.

497 Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 i.V.m. Art. 95 BGG. Siehe Urteil des Bundesgerichts 2C_484/2010 vom 29. Juni 2012 E. 5.4 (nicht publ. in: BGE 139 I 72) ­ Publigroupe.

498 Vgl. beispielhaft die Aufzählung der zulässigen Verwaltungsmassnahmen in Art. 98 BGS.

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An das Verwaltungssanktionsverfahren kann sich zudem ein Strafverfahren anschliessen.

5.9.2

Koordination der Verfahren

Werden zwei Verfahren in derselben Sache geführt, ist die Koordination der betreffenden Verfahren sicherzustellen. Damit soll vermieden werden, dass Handlungen betreffend das eine Verfahren die Untersuchung im anderen erschweren oder gar beeinträchtigen. Ist die Zuständigkeit für beide Verfahren bei derselben Behörde konzentriert, kann die Koordination als sichergestellt betrachtet werden. Fallen die Zuständigkeiten jedoch auseinander, sollen sich die Behörden darüber verständigen, in welchem Verfahren welche Verfahrenshandlungen vorgenommen werden sollen.499 Nach geltendem Recht sind Koordinationsbestimmungen nur sektoriell verankert.500 Die Einführung (bzw. die genauere Prüfung) allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen zur Koordinationspflicht der Verwaltungs- und Strafbehörden erscheint aus heutiger Sicht empfehlenswert.

5.9.3

Übermittlung von Beweismitteln an andere Behörden

Übermittelt eine Verwaltungsbehörde Beweismittel an eine andere Behörde, kann sich im Lichte des nemo tenetur-Grundsatzes die Frage der Zulässigkeit stellen, wenn die Beweismittel im Rahmen von zwangsbewehrten Mitwirkungspflichten erhoben worden sind. Das Bundesgericht hat bezüglich der Übermittlung von Beweismitteln aus einem aufsichtsrechtlichen Verwaltungsverfahren an die Strafbehörden erwogen, dass es grundsätzlich Sache der Strafbehörde ist, darüber zu entscheiden, ob derartige Beweismittel im Strafverfahren verwendet werden dürfen.501 Die betroffene Person kann die Verletzung des nemo tenetur-Grundsatzes erst im Strafverfahren geltend machen. Diese Rechtsprechung dürfte sich sinngemäss auf Verwaltungssanktionsverfahren übertragen lassen, bei denen Beweismittel im Rahmen der Amtshilfe bei einer anderen Verwaltungsbehörde erhoben werden.

5.9.4

Bindungswirkung des erstergangenen Entscheides

Werden zwei Verfahren in derselben Sache geführt, stellt sich die Frage, ob der im einen Verfahren rechtskräftig festgestellte Sachverhalt auch für das andere Verfahren verbindlich ist. An sich sollte die zweitverfügende Behörde im Interesse der 499

Für Verfahren, die in den Geltungsbereich des Doppelbestrafungsverbots fallen, siehe Ziff. 5.9.5.

500 Vgl. Art. 38 Abs. 2 FINMAG betreffend aufsichtsrechtliche Verfahren und Strafverfahren im Finanzmarktbereich; Botschaft zum Bundesgesetz über die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht, S. 2885.

501 Vgl. Urteile des Bundesgerichts 1B_268/2019 vom 15. November 2019 E. 2.2 f.; 1B_179/2012 vom 13. April 2012 E. 2.4 sowie die Beratungen im Rahmen des Bundesgesetzes über die Börsen und den Effektenhandel vom 14.06.2012, AB 2012 N 1134 f.

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Einheit der Rechtsordnung an die Feststellungen des ersten Entscheides gebunden sein.502 Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verlangt das Gebot der Rechtssicherheit grundsätzlich, dass keine widersprüchlichen Entscheide ergehen dürfen. Daraus folgt, dass im zweiten Verfahren nur aus triftigen Gründen vom Sachverhalt des ersten Verfahrens abgewichen werden darf (z. B. bei neuen Tatsachen, neuen Beweismitteln oder wenn nicht sämtliche Rechtsfragen abgeklärt worden sind).503 Für den Fall, dass Beweismittel aus dem ersten Verfahren im zweiten Verfahren einem Verwertungsverbot unterliegen sollten (zu diesem Lösungsansatz vgl.

Ziff. 5.4.6.3), ist eine strikte Bindung an den zuerst ergangenen Entscheid nicht möglich.504 Damit entsteht die Gefahr von inhaltlich nicht übereinstimmenden Entscheiden.505 Die Frage der Bindungswirkung ist letztlich einzelfallabhängig; eine gesetzliche Regelung erscheint nicht angezeigt.

5.9.5

Parallele Verfahren im Kontext des Doppelbestrafungsverbots

Verschiedene Sacherlasse sehen ein Nebeneinander von Verwaltungssanktionssowie Strafbestimmungen vor. So erlaubt beispielsweise das Kartellgesetz die parallele Verhängung einer pekuniären Verwaltungssanktion (Art. 50 KG) und einer strafrechtlichen Busse (Art. 54 KG). Ähnliche Beispiele finden sich etwa im Anwendungsbereich des Geldspielgesetzes506, des Entsendegesetzes,507 des ALBAG508 oder des Ausländer- und Integrationsgesetzes.509 Dies kann zu parallelen Verfahren führen, welche auf ihre Vereinbarkeit mit dem Verbot der doppelten Strafverfolgung geprüft werden müssen.

Das Verbot der doppelten Bestrafung (ne bis in idem) verbietet die erneute Verfolgung (bis) der gleichen strafbaren Handlung (idem). Die Garantie ist in Artikel 4 des 502 503

504

505

506 507 508 509

Vgl. in diesem Zusammenhang Art. 77 Abs. 4 VStrR, wonach das Strafgericht grundsätzlich an den Entscheid der Verwaltungsbehörde gebunden ist.

Vgl. BGE 137 I 363 E. 2.3.2; 136 II 447 E. 3.1 betreffend den strassenverkehrsrechtlichen Bewilligungsentzug im Nachgang zu einem Strafverfahren wegen Missachtung von Verkehrsregeln; BGE 119 Ib 158, E. 2c/bb; vgl. auch für eine Übersicht Urteil des Kantonsgerichts Baselland 810 09 79/DIE vom 26. August 2009 E. 5.2.

Diese Problematik ergibt sich auch im Steuerrecht, vgl. dazu ausführlich MATTEOTTI, Mehrwertsteuer-Strafverfahren, Rz. 14 ff. Der Autor postuliert unter anderem die Sistierung des verwaltungsrechtlichen Veranlagungsverfahrens bis zum Abschluss des Strafverfahrens, um dem vorrangig zu beachtenden nemo tenetur-Grundsatz Rechnung zu tragen.

Vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_1040/2018 vom 18. März 2021 E. 5.4.8.2 zum Verhältnis von Kartellverwaltungssanktionsverfahren und zivilrechtlichem Schadenersatzverfahren.

Vgl. Art. 100 BGS (pekuniäre Verwaltungssanktionen bei Verletzung des Gesetzes, des Ausführungsrechts oder der Konzession) und Art. 130 ff. BGS (Strafbestimmungen).

Vgl. Art. 9 und 12 EntsG.

Vgl. Art. 12 ALBAG (pekuniäre Verwaltungssanktion bei Säumnis des Rechtsträgers) und Art. 25 ff. ALBAG (Strafbestimmungen).

Vgl. Art. 122a und 122b AIG (pekuniäre Verwaltungssanktion bei Verletzung von Sorgfalts- oder Meldepflichten) und Art. 116 oder 118 AIG.

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Zusatzprotokolls Nr. 7 zur EMRK festgehalten.510 Bei der Verhängung mehrerer Sanktionen durch verschiedene Behörden stellt der EGMR darauf ab, ob ein ausreichend enger inhaltlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen den verschiedenen Sanktionen besteht.511 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung folgt das Doppelbestrafungsverbot direkt aus der BV (ohne ausdrückliche Zuordnung).512 Das Verbot ist für Strafverfahren in Artikel 11 Absatz 1 StPO festgehalten. Erforderlich ist danach die Identität von Täter bzw. Täterin und Tat. Demnach ist nicht nur die Identität des Lebenssachverhalts notwendig, sondern auch, dass die bereits abgeschlossene Strafsache und die dabei angewandte Strafbestimmung den Unrechtsgehalt des Delikts, das neu verfolgt werden soll, bereits umfasst.513 Im Bundesverwaltungsrecht ist das Doppelbestrafungsverbot nicht ausdrücklich kodifiziert.

In Bezug auf pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren, die als strafrechtliche Anklage im Sinn von Artikel 6 EMRK gelten, ist davon auszugehen, dass das konventions- und verfassungsrechtliche Verbot grundsätzlich anwendbar ist.514 Für parallele Verwaltungssanktions- und Strafverfahren wurde soweit ersichtlich die Frage der Vereinbarkeit mit dem Verbot der doppelten Strafverfolgung noch nicht gerichtlich entschieden.

Im Regelfall adressieren die Verwaltungssanktionsbestimmungen und die Strafbestimmungen unterschiedliche Personen, sodass im Vornherein kein Konflikt mit dem ne bis in idem-Grundsatz entsteht: Erstere betreffen Unternehmen, die jedenfalls im Fall von juristischen Personen aufgrund ihrer Rechtsfähigkeit direkt ins Recht gefasst werden. Die Strafbestimmungen richten sich demgegenüber in der Regel an natürliche Personen.515 Handelt es sich demgegenüber beim Adressaten der pekuniären Verwaltungssanktion um eine natürliche Person (z. B. Inhaber von Einzelunternehmen) und richtet sich das Strafverfahren ebenfalls gegen diese Person, so liegt ein Fall von Personenidentität vor. In Fällen der Unternehmensstrafbarkeit von Artikel 102 StGB sodann kann es zu einer Personenidentität bei juristischen Personen kommen.516 In diesen Fällen ist zu entscheiden, ob dem Verwaltungssanktions- oder dem Strafverfahren der Vorrang zu geben ist. Im Einzelfall müssen sich die Straf- und Verwaltungssankti-

510

511 512 513 514 515

516

Das Verbot ist auch in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18. Dezember 2000, ABl. C 364/1. enthalten und erlangt dort via Art. 54 SDÜ Geltung im zwischenstaatlichen Verhältnis.

Urteil des EGMR A. und B. gegen Norwegen vom 15. November 2016 [Grosse Kammer], Nr. 24130/11 und 29758/11, Recueil CourEDH 2016 § 130 ff.

BGE 137 I 363 E. 2.1; 128 II 355 E. 5.1 je mit weiteren Hinweisen.

JOSITSCH/SCHMID, StPO Praxiskommentar, N 2 zu Art. 11.

Vgl. für den Kartellrechtsbereich TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 35 zu Art. 49a KG.

Beispiel: Sanktionierung des Luftfahrtunternehmens nach Art. 122a und 122b AIG und gleichzeitiges Strafverfahren gegen die betreffenden Mitarbeiter wegen Verletzung von Art. 116 oder 118 AIG. Bei Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben, die sich nach Verwaltungsstrafrecht des Bundes richten, wird dieser Grundsatz in Art. 6 VStrR festgehalten.

Beispiele: Art. 67 bzw. 68 i.V.m. Art. 100 und Art. 131 Abs. 1 Bst. f. BGS; Art. 102 Abs. 2 i.V.m. Art. 305bis StGB. Vgl. ferner ROTH, CR-Concurrence, N 14 ff. zu Rem.

art. 49a-53 LCart.

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onsbehörden über die Zuständigkeit verständigen.517 In der Vollzugspraxis sind zu dieser Thematik bislang keine Anwendungsfälle bekannt geworden. Es besteht aus heutiger Sicht folglich kein Regelungsbedarf.

5.9.6

Verhältnis von in- und ausländischen Verwaltungssanktionsverfahren oder ausländischen Strafverfahren

Für grenzüberschreitende Sachverhalte, wie sie namentlich im Bereich des Kartellrechts vorkommen können, stellt sich die Frage, wie sich ein ausländisches Verwaltungssanktions- bzw. ein ausländisches Strafverfahren auf das im Inland geführte Verwaltungssanktionsverfahren auswirkt. Dabei gilt der Grundsatz, dass das Doppelbestrafungsverbot nur auf innerstaatlicher Ebene anwendbar ist. Im zwischenstaatlichen Bereich kommt die Anwendung dieses Grundsatzes demgegenüber nur in Betracht, wenn hierfür eine völkerrechtliche Grundlage besteht.

Gestützt auf Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ)518 kann das Doppelbestrafungsverbot in Strafverfahren gegen Unternehmen519, welche einen Bezug zu Sanktionsverfahren im Schengen-Raum aufweisen, grundsätzlich zur Anwendung kommen (zum EU-Recht vgl. auch Ziff. 3.6).520 Das zwischenstaatliche Doppelbestrafungsverbot im Schengen-Raum fusst letztlich auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens der Vertragsstaaten in ihre Strafrechtsordnungen.

Ob pönal wirkende Verwaltungssanktionsverfahren ebenfalls erfasst sind, ist von der Praxis, soweit erkennbar, zwar noch nicht eindeutig entschieden,521 doch ist davon auszugehen, dass der Anwendungsbereich von Artikel 54 SDÜ, gleich wie jener von Artikel 50 Grundrechtscharta der EU,522 entsprechend den Engel-Kriterien zu Artikel 6 EMRK festzulegen ist und somit eine Ausdehnung auf Verwaltungssanktionen 517

518 519

520

521 522

In rechtsvergleichender Sicht ist beispielhaft auf die im niederländischen Recht verankerte Pflicht der Verwaltungs- und Strafverfolgungsbehörden hinzuweisen, sich in entsprechenden Konstellationen auf die Durchführung eines Verfahrens zu verständigen (sog. una via-decision), vgl. dazu J. FOURNIER U.A, Strafbarkeit von Unternehmen, Stand 30.04.2019, E-Avis ISDC 2019-09, verfügbar unter www.isdc.ch., S. 68 m.w.H.

Das Schengener Durchführungsübereinkommen gilt für die Schweiz aufgrund des Verweises in Art. 2 SAA.

Artikel 54 SDÜ unterscheidet nicht nach der Art des Rechtssubjekts, weshalb sich grundsätzlich auch Unternehmen mit Geschäftstätigkeit im Binnenmarkt auf das Doppelbestrafungsverbot berufen können, vgl. dazu die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 8. September 2011, Rechtssache C-17/10, Toshiba Corporation u. a., Rn. 118.

Art. 54 SDÜ wird immer dann ausgelöst, wenn ein Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist («Verbrauch der Strafklage»). Zur Beurteilung der Endgültigkeit einer Entscheidung ist nach der Praxis des EuGH ausschlaggebend, ob die Entscheidung in dem betreffenden Mitgliedstaat endgültig ist und ob sie in diesem Mitgliedstaat zu dem durch den Grundsatz ne bis in idem gewährten Schutz führt.

Vgl. VILLARD, ne bis in idem, S. 307 f.

Gemäss der gefestigten Praxis des EuGH ist Art. 54 SDÜ im Lichte von Art. 50 der EU-Grundrechtscharta auszulegen, welcher das Doppelbestrafungsverbot für den Unionsrechtsraum festhält, vgl. Urteil des EuGH C-398/12 vom 5. Juni 2014 § 37. Der Anwendungsbereich von Art. 50 EU-Grundrechtscharta wiederum erstreckt sich auch auf repressive Verwaltungssanktionen entsprechend den Engel-Kriterien zu Art. 6 EMRK, vgl. Urteil des EuGH C489/10 vom 5. Juni 2012 § 37.

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mit Strafcharakter erfolgt.523 In der Literatur wird daher die Meinung vertreten, dass die Eröffnung eines Verwaltungssanktionsverfahrens durch eine Schweizer Behörde grundsätzlich unzulässig ist, sofern in einem anderen Schengen-Staat ein rechtskräftiger Entscheid ergangen ist, der den Engel-Kriterien entspricht.524 Die Durchführung eines zweiten Verwaltungsverfahrens mit repressiver Wirkung in der Schweiz könne somit nur ­ aber immerhin ­ unter den im Urteil des EGMR A. bzw. B. gegen Norwegen525 festgehaltenen Bedingungen erfolgen. Konkret bedeutet dies, dass eine Kumulierung gerechtfertigt sein kann, wenn entweder keine Tatidentität gegeben ist, weil die Schweizer Behörden einen Verstoss gegen Schweizer Recht mit Wirkungen auf die Schweiz beurteilen, oder wenn die Straf- und die Verwaltungssanktion komplementäre Zwecke verfolgen, die verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen.526 Dies zu beurteilen hängt vom jeweiligen Einzelfall ab.527 Da die Schweiz nicht vollständig in den europäischen Rechtsraum integriert ist, muss die Reichweite des Doppelbestrafungsverbots unter Berücksichtigung des auf einen konkreten Sachverhalt anwendbaren sektoriellen Rechtsbestandes im Einzelfall festgelegt werden. Klar ist, dass Artikel 54 SDÜ von den schweizerischen Behörden anzuwenden ist und das SAA bei der konkreten Anwendung dieser Bestimmung das Ziel einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung stipuliert und in diesem Zusammenhang die Verpflichtung zur Verfolgung der EuGHRechtsprechung aufgestellt wird. Unsicherheiten in der Praxis bestehen dahingehend, wie weit sich die schweizerischen Behörden darüber hinaus bei der Anwendung von Artikel 54 SDÜ am EU-Recht bzw. an der Rechtsprechung des EuGH zu orientieren haben. Im Hinblick auf das Verhältnis von in- und ausländischen Verwaltungssanktionsverfahren oder ausländischen Strafverfahren hat sich kein spezifischer Regelungsbedarf gezeigt.

5.9.7

Zwischenfazit

Pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren stehen häufig in Zusammenhang mit anderen Verwaltungs- oder Strafverfahren. Dabei ist seitens der Behörden auf die Koordination der Verfahren zu achten. Die Einführung (bzw. die genauere Prüfung) allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen zur Koordinationspflicht der Verwaltungsund Strafbehörden erscheint aus heutiger Sicht empfehlenswert.

Werden Beweismittel, die in einem aufsichtsrechtlichen Verfahren erhoben worden sind, an die Strafbehörden geleitet, ist es grundsätzlich Sache der Strafbehörde, über die Verwendbarkeit dieser Beweismittel im Strafverfahren zu entscheiden. Eine Anpassung der verwaltungsrechtlichen Grundlagen ist nicht erforderlich.

523 524 525

Vgl. VILLARD, ne bis in idem, S. 309.

VILLARD, ne bis in idem, S. 310.

Urteil des EGMR A. und B. gegen Norwegen vom 15. November 2016 [Grosse Kammer], Nr. 24130/11 und 29758/11, Recueil CourEDH 2016 § 107,130 ff.

526 Im Urteil des EuGH 524/15 vom 20. März 2018 § 44 ist der EuGH hinsichtlich Art. 50 EU-Grundrechtscharta zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt.

527 Vgl. zum Ganzen auch TAGMANN/ZIRLICK, BSK-KG, N 36a zu Art. 49a KG.

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Das Gebot der Rechtssicherheit verlangt, dass keine widersprüchlichen Entscheide ergehen. Gelangen zwei Verfahren nacheinander zum Abschluss, darf im zweiten Verfahren nur aus triftigen Gründen vom Sachverhalt des ersten Verfahrens abgewichen werden. Die Frage der Bindungswirkung ist letztlich einzelfallabhängig; eine gesetzliche Regelung erscheint nicht angezeigt.

Bestehen nebeneinander sowohl Verwaltungssanktions- wie auch Strafbestimmungen für dieselbe Handlung, kann sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Verbot der doppelten Bestrafung stellen. In der Vollzugspraxis sind zu dieser Thematik bislang keine Anwendungsfälle bekannt geworden. Es besteht folglich kein Regelungsbedarf.

6

Weiteres Vorgehen

Die Untersuchung hat ergeben, dass sich das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion grundsätzlich konventions- und verfassungskonform anwenden lässt.

Im Grossen und Ganzen hat sich das bestehende bundesrechtliche Regelungskonzept bewährt. Das Verwaltungsverfahrensgesetz und die jeweiligen Sacherlasse bieten unter Beizug der strafrechtlichen Garantien des übergeordneten Rechts eine tragfähige Grundlage für die pekuniären Verwaltungssanktionen. Insbesondere hat sich gezeigt, dass aus konventions- und verfassungsrechtlicher Optik die Bewehrung von verwaltungsrechtlichen Verhaltensvorschriften mit pekuniären Verwaltungssanktionen nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Die Verwaltungspraxis und die Rechtsprechung konnten gestützt auf das bestehende Regelungskonzept jeweils gangbare Lösungen entwickeln. Der Bundesrat ist daher der Auffassung, dass keine grundlegende Änderung der heutigen Regelung nötig ist.

Allerdings besteht zu Einzelfragen möglicher Klärungsbedarf auf gesetzlicher Ebene. Allfällige Anpassungen sollten in den jeweiligen Sacherlassen oder im VwVG erfolgen. Die Schaffung eines eigenen Bundesgesetzes wäre zwar theoretisch möglich, erscheint jedoch nicht vordringlich, da mit den bestehenden Erlassen bereits geeignete Regelungsgefässe vorliegen. Konkret wäre folgende Aufteilung denkbar: ­

Verwaltungsverfahrensgesetz: Betreffend die Umstrukturierung des Unternehmens (vgl. Ziff. 5.2.2), der Vertretung des Unternehmens im Sanktionsverfahren (Ziff. 5.2.3) und der Koordination von Verfahren (Ziff. 5.9.2) erscheinen sachbereichsübergreifende Regelungen empfehlenswert. Als Regelungsgefäss für diese verfahrensrechtlichen Materien bietet sich das VwVG an.

­

Sacherlasse: Die Regelung der Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung (Ziff. 4.5) wäre in den einzelnen Sacherlassen einzufügen. Dies gilt ebenfalls für die Information der Öffentlichkeit (Ziff. 5.7). Für den Fall, dass der Konflikt zwischen der Mitwirkungspflicht und der strafrechtlichen Selbstbelastungsfreiheit einer gesetzlichen Lösung zugeführt werden soll (Optionen 2 oder 3), wäre ebenfalls eine sektorspezifische Regelung erforderlich (Ziff. 5.3).

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Für eine zusammenfassende Änderung der betroffenen Erlasse wäre ein Mantelgesetz denkbar. Die Untersuchung hat indessen ergeben, dass die Verwaltungspraxis und die Rechtsprechung jeweils einzelfallgerechte Lösungen entwickeln konnten.

Nach Ansicht des Bundesrates erscheint es daher derzeit nicht erforderlich, eine sektorübergreifende Harmonisierung der bestehenden Rechtsgrundlagen an die Hand zu nehmen. Wo er Handlungsbedarf auf Gesetzesstufe festgestellt hat, die Auswirkungen auf laufende Gesetzgebungsverfahren haben, ist er dafür besorgt, dass die Ergebnisse des vorliegenden Berichts direkt in die laufenden Projekte einfliessen.

Die weitere Entwicklung in diesem Bereich wird weiterhin aufmerksam beobachtet.

Ob pekuniäre Verwaltungssanktionen in Zukunft in weiteren Sachbereichen eingeführt werden sollen, bildet nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Für diesen Fall zeigt der Bericht auf, welche Ausgestaltungen überhaupt möglich sind und welche Vorkehren zu ihrer Realisierung zu treffen wären.

7

Fazit

Der vorliegende Bericht zeigt auf, wie das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktionen im Schweizer Recht eingebettet ist. Dazu wurde die Verankerung des Instruments in den Sacherlassen sowie das Verfahren auf Erlass von pekuniären Verwaltungssanktionen im Hinblick auf die Garantien des übergeordneten Rechts umfassend untersucht.

Die pekuniäre Verwaltungssanktion ist vorwiegend ein Instrument des Wirtschaftsaufsichtsrechts zur Durchsetzung des Verwaltungsrechts im Umfeld von regulierten Märkten. Das Instrument dient hauptsächlich dazu, kommerziell erfolgreichen, aber rechtswidrigen Praktiken nachträglich den wirtschaftlichen Erfolg zu entziehen und damit einen Anreiz zu zielkonformem Verhalten zu schaffen.

Das Bundesrecht sieht pekuniäre Verwaltungssanktionen in insgesamt 13 Erlassen vor. Die Bestimmungen ermöglichen die Belastung mit einem teils hohen bis sehr hohen Betrag. Das Instrument soll präventiv und repressiv wirken und hat pönalen Charakter. Pekuniäre Verwaltungssanktionen werden in Anwendung des Verwaltungsverfahrensgesetzes in Form von anfechtbaren Verfügungen angeordnet. Im Regelfall ist davon auszugehen, dass zusätzlich die strafrechtlichen Garantien der Bundesverfassung sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention anzuwenden sind. Diese sehen an sich einen weitergehenden Schutz der Partei vor als das Verwaltungsrecht. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die strafrechtlichen Garantien in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren gemäss Rechtsprechung nicht mit derselben Strenge zur Anwendung gelangen müssen wie im Kernbereich des Strafrechts.

Pekuniäre Verwaltungssanktionen richten sich typischerweise an Unternehmen als solche, nicht jedoch an deren Organe oder Mitarbeitende. Je nach Geltungsbereich des Sacherlasses können ausnahmsweise auch natürliche Personen erfasst sein, die einer spezifisch regulierten Tätigkeit nachgehen. Hingegen werden Personen, die keine regulierte Tätigkeit im Sinn des jeweiligen Sacherlasses ausüben (z. B. Konsumentinnen und Konsumenten, Flugpassagiere, Arbeitnehmende usw.) generell nicht erfasst.

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Pekuniäre Verwaltungssanktionen im Anwendungsbereich der strafprozessualen Garantien setzen eine Verankerung im formellen Gesetz voraus. Die Verhaltenspflichten, die mit einer pekuniären Verwaltungssanktion durchgesetzt werden sollen, sind ebenfalls im jeweiligen Sachgesetz festzulegen. Sie sind in gesetzessystematischer Hinsicht von den Strafbestimmungen klar abzugrenzen.

Der Gesetzgeber hat die bestehenden pekuniären Verwaltungssanktionen verschuldensunabhänig konzipiert. Gemäss Rechtsprechung setzt die Sanktionierung seitens des Unternehmens indessen ein Verschulden im Sinn der Vorwerfbarkeit voraus.

Dabei genügt praxisgemäss bereits der Nachweis eines Organisationsverschuldens (objektiver Sorgfaltsmangel) des Unternehmens. Namentlich ist es gemäss Rechtsprechung für eine Sanktionierung bereits ausreichend, wenn die Sorgfaltspflichtverletzung, begangen durch im Einzelnen nicht bekannte Angehörige eines Unternehmens, dem Unternehmen als solchem zugeschrieben werden kann. Darin ist im Vergleich zum Individualstrafrecht eine bedeutende Erleichterung zu Gunsten der Verwaltungsbehörde zu erblicken. Die untersuchten Bestimmungen regeln die Verschuldensfrage zwar nicht ausdrücklich, jedoch erscheinen gesetzliche Anpassungen aufgrund der richterrechtlichen Rechtsfortbildung nicht dringend. Ob allenfalls bei neuen Bestimmungen über pekuniäre Verwaltungssanktionen bestimmte subjektive Aspekte einer Regelung zuzuführen sind, ist dannzumal und mit Blick auf die konkreten Sachumstände vertieft zu prüfen.

Die geltenden Verfahrensvorschriften im VwVG und in den Sacherlassen stehen einer konventions- und verfassungskonformen Anwendung des Instruments nicht entgegen. Dies zeigt sich beispielhaft hinsichtlich der Zuständigkeitsfrage: Gemäss Rechtsprechung ist es mit dem aus Artikel 6 Absatz 1 EMRK fliessenden Anspruch auf eine gerichtliche Beurteilung von strafrechtlichen Anklagen grundsätzlich zu vereinbaren, dass Verwaltungssanktionsverfahren erstinstanzlich von der für den Vollzug des entsprechenden Sacherlasses zuständigen Verwaltungsbehörde geführt werden. Vorausgesetzt ist, dass die erstinstanzliche Sanktionsverfügung im Beschwerdeverfahren entsprechend den konventionsrechtlichen Vorgaben überprüft werden kann. Dies ist für die im Bundesverwaltungsrecht vorgesehenen pekuniären Verwaltungssanktionen der Fall.
Des Weiteren hat sich gezeigt, dass die in verschiedenen Sacherlassen vorgesehenen Vermutungen zulasten der Partei mit der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK bzw. Art. 32 Abs. 1 BV) zu vereinbaren sind. Vermutungen können, je nach Sachgebiet, ein zweckmässiges Mittel sein, um Beweisschwierigkeiten zu begegnen. Auf normativer Ebene als unproblematisch erwiesen haben sich des Weiteren die Regelungen über die Parteistellung des verfahrensbetroffenen Unternehmens, der Stellung der Organe und deren Mitarbeitenden, des rechtlichen Gehörs und des Verfahrensabschlusses.

Zu Einzelfragen wurde gleichwohl möglicher Klärungsbedarf auf gesetzlicher Ebene erkannt: ­

Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung: Das geltende Recht enthält keine allgemeine Regelung zur Verjährung der Sanktionen. Soweit in den einzelnen Sacherlassen nicht bereits vorhanden, erscheint eine gesetzliche Festlegung der Verfolgungsverjährung für den Bereich der pekuniären Ver-

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waltungssanktionen aus Gründen der Vorhersehbarkeit und der Rechtssicherheit angebracht (vgl. Ziff. 4.5).

­

Umstrukturierung des Unternehmens: Das geltende Verfahrensrecht kennt keine Vorschriften, um der Vereitelungsgefahr durch Umstrukturierung des sanktionierten Unternehmens zu begegnen. Es empfiehlt sich, die verfahrens- und haftungsrechtliche Wirkung einer Unternehmensumstrukturierung auf das pekuniäre Verwaltungssanktionsverfahren in Form einer allgemeinen Bestimmung gesetzlich zu regeln. Dabei bietet sich die Orientierung am Prinzip der Unternehmenskontinuität im Sinn der kartellrechtlichen Praxis an (vgl. Ziff. 5.2.2).

­

Vertretung des Unternehmens: Ein verfahrensbetroffenes Unternehmen sollte von einer einzigen natürlichen Person prozessual vertreten werden. Im Fall von Interessenkonflikten zwischen der Partei und deren Organen sollte die Möglichkeit einer amtlichen Bestellung eines Vertreters oder einer Vertreterin geschaffen werden. Hierzu empfiehlt sich die Einführung einer allgemeinen Bestimmung, wobei sich die Orientierung an der strafprozessualen Parallelnorm (Art. 112 StPO) anbietet (vgl. Ziff. 5.2.3).

­

Mitwirkung der Partei: Die verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflicht steht mit der strafrechtlichen Selbstbelastungsfreiheit in Konflikt, sofern erstere zwangsweise durchgesetzt werden muss. Eine einheitliche gesetzliche Lösung für alle Rechtsbereiche konnte nicht gefunden werden. Die Verwaltungspraxis und Rechtsprechung haben bisher einzelfallgerechte Lösungen gefunden, weshalb es möglich ist, das Austarieren des vielschichtigen Problems weiterhin auf der Ebene von Einzelfallentscheiden zu belassen (Option 1). Für aufsichtsrechtliche Bereiche besteht die Möglichkeit, den Vorrang der spezialgesetzlich festgelegten Mitwirkungspflichten im Sinn der bundesgerichtlichen Rechtsprechung festzuschreiben (Option 2). Zur Umsetzung dieses Lösungsansatzes empfiehlt sich aus Gründen der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit, im jeweiligen Sacherlass den Umfang der Mitwirkungspflicht (insb. Melde-, Dokumentations- und Berichterstattungspflichten) sowie deren Vorrang vor der Selbstbelastungsfreiheit in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren ausdrücklich festzulegen. Der Vorrang der Selbstbelastungsfreiheit und die damit einhergehende Aufhebung der Mitwirkungspflicht in pekuniären Verwaltungssanktionsverfahren (Option 3) für sämtliche Anwendungsbereiche von pekuniären Verwaltungssanktionen erscheint nicht sachgerecht. Dieser Ansatz ist höchstens für jene Bereiche denkbar, in denen sich die Sanktionsadressaten in einem gewöhnlichen Hoheitsverhältnis zum Staat befinden (vgl. Ziff. 5.3.6).

­

Dauer von Verwaltungssanktionsverfahren sowie Übernahme der Parteikosten des erstinstanzlichen Verfahrens: Bezüglich der Dauer von Verwaltungssanktionsverfahren sowie der Parteikostenentschädigung hat sich kein allgemeiner Handlungsbedarf gezeigt. Ausgenommen ist das Kartellrecht. Für diesen Bereich bereitet der Bundesrat in Beantwortung der Motion Fournier 16.4094 vom 15.12.2016 eine separate Vorlage vor (vgl. Ziff. 5.6.5 f.).

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­

Information der Öffentlichkeit: Im Sinn der Transparenz und der Rechtssicherheit empfiehlt sich, Bestimmungen über die Orientierung der Öffentlichkeit über hängige Verwaltungssanktionsverfahren sowie die Publikation von Sanktionsverfügungen in die jeweiligen Sacherlasse aufzunehmen (vgl.

Ziff. 5.7). Die Bestimmungen können eine Pflicht zur Publikation der Verfügungen vorsehen oder den Behörden diesbezüglich einen Ermessensspielraum einräumen.

­

Koordination von Verfahren: Die Einführung (bzw. die genauere Prüfung) allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen zur Koordinationspflicht der Verwaltungs- und Strafbehörden erscheint aus heutiger Sicht empfehlenswert (vgl. 5.9.2).

Für eine zusammenfassende Änderung der betroffenen Erlasse wäre ein Mantelgesetz denkbar. Nach Ansicht des Bundesrates erscheint es jedoch derzeit nicht erforderlich, eine sektorübergreifende Harmonisierung der bestehenden Rechtsgrundlagen an die Hand zu nehmen. Wo er Handlungsbedarf auf Gesetzesstufe festgestellt hat, die Auswirkungen auf laufende Gesetzgebungsverfahren haben, ist er dafür besorgt, dass die Ergebnisse des vorliegenden Berichts direkt in die laufenden Projekte einfliessen.

Gesamthaft betrachtet hat sich gezeigt, dass sich die pekuniären Verwaltungssanktionen in das System des allgemeinen Verwaltungsrechts einbetten lassen. Nach Ansicht des Bundesrates erscheint es naheliegend, dass das bestehende Regelungskonzept fortgeführt wird, da es sich bewährt hat. Das bedeutet, dass allfällige Anpassungen in den jeweiligen Sacherlassen oder allenfalls im VwVG erfolgen sollten.

Die geltende Verwaltungsrechtsordnung bietet, unter Beizug der strafrechtlichen Garantien des übergeordneten Rechts, eine tragfähige Grundlage für das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion. Die Schaffung eines eigenen Bundesgesetzes wäre zwar theoretisch möglich, erscheint jedoch nicht vordringlich, da mit den bestehenden Erlassen bereits geeignete Regelungsgefässe vorliegen. Abzulehnen ist die Umwandlung der Verwaltungssanktionen zu Strafbestimmungen, da für einen derartig weitreichenden Systemwechsel keine stichhaltigen Gründe bestehen. Zudem würde dies zu einer starken Ausdehnung der Kriminalisierung von Tatbeständen führen, was nach Ansicht des Bundesrates rechtspolitisch nicht wünschbar erscheint.

Für den Fall, dass zukünftig neue pekuniäre Verwaltungssanktionen eingeführt werden sollten, zeigt der Bericht auf, welche Ausgestaltungen im Rahmen des bestehenden Regelungskonzepts überhaupt möglich sind und welche Vorkehren zu ihrer Realisierung zu treffen wären. Damit leistet der Bericht einen Beitrag zur Klärung der Frage, wie Recht und Praxis in der Schweiz in Richtung eines allgemeinen Systems der pekuniären Verwaltungssanktionen weiterentwickelt werden können. Der Bericht zeigt dabei auf, dass die rechtsatzmässige Verankerung eines allgemeinen Systems der pekuniären Verwaltungssanktionen im VwVG oder einem Mantelerlass materiell zwar nicht ausgeschlossen scheint. Für den Fall, dass dies gewünscht sein
sollte, werden im Bericht die auftretenden Fragen und zumindest teilweise auch Lösungsansätze dargestellt. Letztlich ist jedoch kein dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf zur Einführung eines allgemeinen Systems der pekuniären Verwaltungssanktionen im schweizerischen Recht mit einem einheitlichen Rechtsetzungsprojekt festzustellen.

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Botschaft zum Bundesgesetz über die Totalrevision des Bundesgesetzes über den Datenschutz und die Änderung weiterer Erlasse zum Datenschutz vom 15. September 2017, BBl 2017 6941.

Botschaft zur Genehmigung der Multilateralen Vereinbarung der zuständigen Behörden über den Austausch länderbezogener Berichte und zu ihrer Umsetzung (Bundesgesetz über den internationalen automatischen Austausch länderbezogener Berichte multinationaler Konzerne, ALBAG) vom 23. November 2016, BBl 2017 33.

Bericht des Bundesrates zur Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe für besonders schwere Straftaten vom 25. November 2020 in Erfüllung der Postulate 18.3530 Caroni Andrea und 18.3531 Rickli Natalie (Schwander Pirmin), abrufbar unter: https://parlament.ch > Ratsbetrieb > Curia Vista > Suche > Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe (Stand: 3.12.2021).

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Abkürzungen Abs.

ABl.

AG AHVG AIG ALBAG Art.

AS Aufl.

BAKOM BBl betr.

BG BGG BGS BJ BLW BSK Bst.

BV BZP CDPC CO2-Gesetz ComCom DBG E.

EBG EGMR EMRK

Absatz Amtsblatt der Europäischen Union Aktiengesellschaft Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (SR 831.10).

Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (SR 142.20; Ausländer- und Integrationsgesetz).

Bundesgesetz vom 16. Juni 2017 über den internationalen automatischen Austausch länderbezogener Berichte multinationaler Konzerne (SR 654.1).

Artikel Amtlich Sammlung des Bundesrechts Auflage Bundesamt für Kommunikation Bundesblatt betreffend Bundesgesetz Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (SR 173.110; Bundesgerichtsgesetz).

Bundesgesetz vom 29. September 2017 über Geldspiele (SR 935.51; Geldspielgesetz).

Bundesamt für Justiz Bundesamt für Landwirtschaft Basler Kommentar Buchstabe(n) Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101).

Bundesgesetz vom 4. Dezember 1947 über den Bundeszivilprozess (SR 273).

Comité européen pour les problèmes criminels Bundesgesetz vom 23. Dezember 2011 über die Reduktion der CO2-Emissionen (SR 641.71).

Eidgenössische Kommunikationskommission Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (SR 642.11).

Erwägung Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 1957 (SR 742.101).

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, in Kraft getreten für die Schweiz am 28. November 1974 (SR 0.101).

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EntsG

ESBK ESTV EuGH FINMA FINMAG FMG FZA

GS-EFD Hrsg.

KG KVG LwG MWSTG N NDB OR PG RTVG RTVV SAA

SchKG

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Bundesgesetz vom 8. Oktober 1999 über die flankierenden Massnahmen bei entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne (SR 823.20; Entsendegesetz).

Eidgenössische Spielbankenkommission Eidgenössische Steuerverwaltung Europäischer Gerichtshof Eidgenössische Finanzmarktaufsicht Bundesgesetz vom 22. Juni 2007 über die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (SR 956.1; Finanzmarktaufsichtsgesetz).

Fernmeldegesetz vom 30. April 1997 (SR 784.10; Fernmeldegesetz).

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (SR 0.142.112.681).

Generalsekretariat des Eidgenössischen Finanzdepartements Herausgeber Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (SR 251; Kartellgesetz).

Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (SR 832.10; Krankenversicherungsgesetz).

Bundesgesetz vom 29. April 1998 über die Landwirtschaft (SR 910.1; Landwirtschaftsgesetz).

Bundesgesetz vom 12. Juni 2009 über die Mehrwertsteuer (SR 641.20; Mehrwertsteuergesetz).

Note Bundesgesetz vom 3. Oktober 2003 über die die Schweizerische Nationalbank (SR 951.11; Nationalbankgesetz).

Bundesgesetz vom 30. März 1911 betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, Fünfter Teil: Obligationenrecht (SR 220).

Postgesetz vom 17. Dezember 2010 (SR 783.0; Postgesetz).

Bundesgesetz vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (SR 784.40).

Radio- und Fernsehverordnung vom 9. März 2007 (SR 784.401).

Abkommen zwischen der Schweiz, der EU und der EG über die Assoziierung der Schweiz bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands vom 26. Oktober 2004 (SR 0.362.31).

Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SR 281.1; SchKG).

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SDÜ

SECO SJZ SR StGB StHG StPO UNO-Pakt II VGE VGG VPG VPB VStrR VwVG WEKO ZBl ZGB Ziff.

ZP 7 EMRK ZPO

Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. L 239 vom 22/09/2000 S. 0019 ­ 0062; SDÜ). Dieser Text ist abrufbar unter: https://rhf.admin.ch/ > Strafrecht > Rechtliche Grundlage > Multilaterale Verträge > Schengener Durchführungsübereinkommen (Stand 07.07.2021).

Staatssekretariat für Wirtschaft Schweizerische Juristen-Zeitung Systematische Sammlung des Bundesrechts.

Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0, StGB).

Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (SR 642.14).

Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (SR 312.0; Strafprozessordnung).

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966, in Kraft getreten für die Schweiz am 18. September 1992 (SR 0.103.2; UNO-Pakt II).

Urteile Verwaltungsgerichtsbarkeit Bern.

Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (SR 173.32; Verwaltungsgerichtsgesetz).

Postverordnung vom 29. August 2012 (SR 783.01).

Verwaltungspraxis des Bundes.

Bundesgesetz vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (SR 313.0; VStrR).

Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (SR 172.021; Verwaltungsverfahrensgesetz).

Wettbewerbskommission Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht.

Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210).

Ziffer Protokoll Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22. November 1984, in Kraft getreten für die Schweiz am 1. November 1988 (SR 0.101.07).

Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (SR 272).

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Anhang

Rechtsvergleichende Hinweise Im Folgenden wird dargelegt, ob in drei Rechtsordnungen, die derjenigen in der Schweiz nahekommen (Deutschland, Europäische Union und Frankreich), pekuniäre Verwaltungssanktionen bestehen und wann sie angewendet werden. Diese Bestandesaufnahme stützt sich hauptsächlich auf die Arbeiten des Europäischen Ausschusses für Strafrechtsfragen (Comité européen pour les problèmes criminels, CDPC).

Dieser hat im November 2019 in einem Bericht die Regelungen und Verfahren zusammengefasst, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf Verwaltungssanktionen anwendbar sind.528 In erster Linie soll erörtert werden, ob der Begriff «pekuniäre Verwaltungssanktion» in den untersuchten Rechtsordnungen bekannt ist und ob und wie sich diese Sanktionen gegebenenfalls von den strafrechtlichen Sanktionen unterscheiden. In zweiter Linie soll bestimmt werden, inwiefern die spezifischen strafverfahrensrechtlichen Garantien (insbesondere diejenigen nach Art. 6 EMRK) beachtet werden müssen, wenn in der untersuchten Rechtsordnung eine Regelung mit Verwaltungssanktionen besteht.

Am Schluss bietet eine Tabelle einen Überblick über die Situation in den übrigen Mitgliedstaaten des Europäischen Ausschusses für Strafrechtsfragen.

1

Deutschland

In Deutschland gibt es den Begriff der Verwaltungssanktion in dieser Form nicht.

Das deutsche Recht unterscheidet zwischen strafrechtlichen Sanktionen im engeren Sinne (zu denen Freiheitsstrafen, Geldstrafen oder der Entzug des aktiven und passiven Wahlrechts gehören) und Sanktionen für Ordnungswidrigkeiten (zu denen beispielsweise Geldstrafen, die Einziehung von Vermögenswerten oder der Entzug des Führerscheins gehören), die unter das «Nebenstrafrecht» fallen.529 Anders als die strafrechtlichen Sanktionen im engeren Sinne können die Sanktionen für Ordnungswidrigkeiten von Verwaltungsbehörden verhängt werden.530 Sie unterliegen dem Verwaltungsstrafrecht (Ordnungswidrigkeitengesetz, OWiG) und können juristische Personen und Unternehmen betreffen (§ 30 OWiG).531 Während die verwaltungsrechtlichen Sanktionen in Deutschland nicht zuletzt aufgrund ihrer Anwendung im Recht der europäischen Union bekannt sind, wurden die Probleme, die diese Sanktionsform (insbesondere im Hinblick auf die Verfahrensgarantien)

528 529 530 531

Questionnaire CDPC.

Questionnaire CDPC, Pkt. 62.

Vgl. namentlich § 35 (1) OWiG.

Vgl. z.B. ebenfalls § 82 (2) GWB für das Wettbewerbsrecht. Dort wird für die Definition der «juristischen Personen», die mit einer Sanktion belegt werden können, auf § 30 OWiG verwiesen.

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aufwirft, dadurch gelöst, dass diese Sanktionen dem Verwaltungsstrafrecht unterstellt wurden.532 Das Hauptkriterium für die Unterscheidung zwischen strafrechtlichen Sanktionen im engeren Sinne und verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionen ist die Schwere des Verstosses und der damit verbundenen Folgen.533 Ist eine Handlung gleichzeitig Straftat und Ordnungswidrigkeit, so ist nach § 21 OWiG nur die strafrechtliche Sanktion im engeren Sinne zu verhängen.

Da die Sanktionen nach dem OWiG dem Verwaltungsstrafrecht zuzuordnen sind, gelten auch die strafverfahrensspezifischen Verfahrensgarantien, insbesondere das Erfordernis der Klarheit und Bestimmtheit der Rechtsgrundlage sowie die Grundsätze der Verhältnismässigkeit, der Unschuldsvermutung und der lex mitior (Beurteilung nach dem milderen Gesetz). Der Grundsatz «ne bis in idem» ist auf Sanktionen nach dem OWiG jedoch beschränkt anwendbar, da ein Gericht eine Sanktion für eine Ordnungswidrigkeit im Laufe des Verfahrens in eine strafrechtliche Sanktion im engeren Sinne umqualifizieren kann.534 So verweist das deutsche Wettbewerbsrecht beispielsweise bei Verfahrensfragen im Zusammenhang mit der Verhängung von Sanktionen auf das OWiG und die Anwendung des Strafverfahrens.535

2

Europäische Union

In der Europäischen Union stellt sich die Ausgangslage anders dar, da die EU keine Regelungskompetenz in Strafsachen im engeren Sinn hat. Sie ist jedoch für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zuständig.

Die einzige Möglichkeit, rechtswidriges Verhalten zu sanktionieren, wenn die europäischen Behörden für die Durchsetzung des europäischen Rechts zuständig sind, ist daher das Instrument der Verwaltungssanktion. Das Instrument der pekuniären Verwaltungssanktion ist somit in mehreren Bereichen des europäischen Rechts vorgesehen.

Im Bereich der Bekämpfung des Marktmissbrauchs hat die Europäische Union beispielsweise eine Richtlinie und eine Verordnung über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmissbrauch erlassen.536 Die Verordnung sieht bei Marktmissbrauch Verwaltungssanktionen vor, die erhebliche Beträge erreichen können.537 Ausserdem 532 533 534 535 536

Vgl. ferner: Questionnaire CDPC, Pkt. 62 und 63.2.

Questionnaire CDPC, Pkt. 64.

Questionnaire CDPC, Pkt. 67­68. Vgl. ebenfalls § 84 (1) OWiG.

Vgl. namentlich Art. 82 ff. GWB.

Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 179 und Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung), ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 1.

537 Siehe insbesondere Art. 30 Abs. 2 Bst. i und j der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung), ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 1.

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sind diese Sanktionen sowohl auf juristische als auch auf natürliche Personen anwendbar.538 Die Mitgliedstaaten sind dafür zuständig, in ihrem nationalen Recht festzulegen, welche Behörden für die Verhängung solcher Sanktionen zuständig sind und welche Verfahrensregeln gelten.

Im Wettbewerbsbereich hat die Europäische Union Exekutivbefugnisse. Die Europäische Kommission führt ab einer bestimmten Schwelle Untersuchungen durch und sanktioniert Unternehmen, die gegen die europäischen Wettbewerbsregeln verstossen (Art. 101 ff. AEUV). In diesem Zusammenhang wurden die Verfahrensrechte der Unternehmen (insbesondere die Verteidigungsrechte) im Sanktionsverfahren im Wesentlichen durch die Rechtsprechung und unter Bezugnahme auf die Texte zum Schutz der Menschenrechte, sei es die Charta der Grundrechte der Europäischen Union oder die EMRK, entwickelt.539 Bestimmte Parteirechte wurden später in einer europäischen Verordnung kodifiziert540, namentlich Fragen der Akteneinsicht und des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

An den wettbewerbsrechtlichen Sanktionsverfahren kann ein Anhörungsbeauftragter (Hearing Officer) der Generaldirektion Wettbewerb teilnehmen, der für den ordnungsgemässen Ablauf des Verfahrens und die Wahrung der Verteidigungsrechte zuständig ist.541 Die Parteien können sich während des Verfahrens an ihn wenden, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Rechte nicht gewahrt werden, etwa weil die Frist zu kurz ist oder weil ihnen der Zugang zu bestimmten Unterlagen verweigert wird. Die Hauptaufgabe des Anhörungsbeauftragten besteht daher darin, in allen Verfahrensfragen zu beraten und zu vermitteln.542 Auf diese Weise gewährleistet er, dass die Parteien ihre Verfahrensrechte effektiv wahrnehmen können.543 Die Befugnisse des Anhörungsbeauftragten sind relativ umfassend. Er organisiert die Anhörungen und moderiert die Gespräche zwischen den Unternehmen und der Generaldirektion Wettbewerb, berät den Kommissar in Verfahrensfragen, erstellt einen Abschlussbericht über das Verfahren und schlichtet verfahrensrechtliche Streitigkeiten zwischen den Parteien (einschliesslich Fragen der Akteneinsicht und der Vertraulichkeit sowie der Wahrung der Verteidigungsrechte im Allgemeinen).544 Die Entscheidungen des Anhörungsbeauftragten in Fragen der Verfahrensrechte der Parteien sind für die Verfolgungsbehörde bindend.

538

539 540

541

542 543

544

Art. 30 Abs. 2 Bst. i und j der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung), ABl. L 173 vom 12.6.2014, S. 1.

SOUDEER MATHIEU, Droit antitrust de l'Union européenne et droits fondamentaux des entreprises, Approche contentieuse, Bruxelles 2019, S. 90 ff.

Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag durch die Kommission, ABl. L 123 vom 27.4.2004, S. 18, regelmässig geändert, zuletzt 2015.

Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (2011/695/), ABl. L 275 vom 20.10.2011, S. 29.

PETIT/NEYRINCK, fonctions, S. 490 f.

Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (2011/695/), ABl. L 275 vom 20.10.2011, S. 29.

PETIT/NEYRINCK, fonctions, S. 491.

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Im Bereich der Entsendung von Arbeitnehmern verabschiedete die Europäische Union 1996 eine (2018 revidierte) Richtlinie545 sowie eine Durchführungsrichtlinie546, die vorsehen, dass «verwaltungsrechtliche Geldbussen» von einem Mitgliedstaat auferlegt bzw. in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden können, und zwar nach einem System der gegenseitigen Anerkennung von Sanktionen.547 Die rechtliche Qualifikation und Definition von Sanktionen als solche ist jedoch Sache des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten, deren Behörden für die Durchführung von Verfahren und die Verhängung von Sanktionen nach dem Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten zuständig sind.

Im Bereich der Migration schliesslich sieht Artikel 26 Absatz 2 des Schengener Durchführungsübereinkommens in Verbindung mit Artikel 4 der Richtlinie 2001/51/EG und Artikel 4 der Richtlinie 2004/82/EG vor, vor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, wirksame (pekuniäre) Sanktionen (Carrier Sanctions) gegen Verstösse gegen die Sorgfalts- und Meldepflicht durch Luftfahrtunternehmen im Schengen-Raum einzuführen. Die Umsetzung dieser Pflicht ­ insbesondere die rechtliche Einstufung der Sanktion und das anzuwendende Verfahren ­ obliegt den Vertragsstaaten des Schengener Übereinkommens und variiert je nach den Rechtssystemen der einzelnen Staaten.548

3

Frankreich

In Frankreich gibt es eine vom Strafrecht getrennte Kategorie von Sanktionen, die so genannten «Verwaltungssanktionen» (sanctions administratives). Diese Sanktionen sind in drei Unterkategorien unterteilt: sogenannt «moralische Sanktionen» (sanctions morales), «rechtsentziehende Sanktionen» (sanctions privatives de droits) und «pekuniäre Sanktionen» (sanctions pécuniaires).

Die «moralischen Sanktionen» umfassen die Verwarnung (avertissement) und den Verweis (blâme) und werden gegen natürliche Personen verhängt.549 In diesem Sinne ähneln sie den Disziplinarstrafen nach Schweizer Recht. Zu den «rechtsentziehenden Sanktionen» gehören insbesondere der Entzug von Bewilligungen und 545

546

547

548 549

Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 18 vom 21. Januar 1997, S. 1 ff. Vgl. ebenfalls Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 173 vom 9.7.2018, S. 16.

Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des BinnenmarktInformationssystems («IMI-Verordnung»), ABl. L 159 vom 28.5.2014, S. 11.

Art. 13 ff. der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems («IMI-Verordnung»), ABl. L 159 vom 28.5.2014, S. 11.

Für Beispiele vgl. Botschaft zur Änderung des Ausländergesetzes, S. 2574.

Questionnaire CDPC, Pkt. 51.

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das vorübergehende oder ständige Verbot von reglementierten Berufen und Tätigkeiten. Die «pekuniären Sanktionen» können in Form von Geldbussen ergriffen werden, die in bestimmten Bereichen (z. B. Wettbewerb, Rundfunk oder Finanzmärkte) von unabhängigen Verwaltungsbehörden verhängt werden können.550 Verwaltungssanktionen sind Entscheide von Verwaltungsbehörden, die im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Befugnisse handeln. Sie haben Strafcharakter und sanktionieren Verstösse gegen Verwaltungsgesetze und -vorschriften (im Gegensatz zu strafrechtlichen Vorschriften, die von den Strafbehörden nach den Regeln des Strafverfahrens verfolgt werden).551 Strafrechtliche Sanktionen werden in Form eines Gerichtsentscheids (décision juridictionnelle) und verwaltungsrechtliche Sanktionen in Form eines Verwaltungsentscheids (décision administrative) verhängt.552 In Anlehnung an die Unterscheidungskriterien gemäss dem EGMR-Urteil in der Rechtssache Engel ist Frankreich im Übrigen der Ansicht, dass pekuniäre Verwaltungssanktionen «strafrechtliche Anklagen» darstellen, auf die die Garantien von Artikel 6 Absatz 1 EMRK anwendbar sind.553 Die Verwaltungssanktionen in Frankreich beruhen weitgehend auf den für strafrechtliche Sanktionen geltenden Grundsätzen.554 Der französische Verfassungsrat ist insbesondere der Ansicht, dass sich die Anforderungen in Bezug auf die Wahrung des Grundsatzes der Legalität der Straftatbestände und der Strafen, des Grundsatzes der Erforderlichkeit und der Verhältnismässigkeit, des Verbots der Rückwirkung des verschärften Strafrechts und der Wahrung der Verteidigungsrechte auf jede Sanktion mit Strafcharakter erstrecken, auch wenn der Gesetzgeber ihre Verhängung einer nichtrichterlichen Behörde überlassen hat.555 Das entscheidende Kriterium ist dabei der Strafcharakter der Sanktionen.

Im französischen Recht gelten die für das Strafrecht charakteristischen Verfahrensgarantien auch für Verwaltungssanktionen: Der Grundsatz der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) und die Wahrung der Verteidigungsrechte (die als «allgemeiner Rechtsgrundsatz» für Verwaltungssanktionen gilt) sind somit auch auf Verfahren anwendbar, die zu pekuniären Verwaltungssanktionen führen.556 Im französischen Wettbewerbsrecht ist eine unabhängige Verwaltungsbehörde für die Sanktionierung der betreffenden Unternehmen
zuständig. Frankreich hat ebenfalls einen Anhörungsbeauftragten eingeführt, der auf Antrag der Parteien in das Verfahren eingreifen kann. Im Gegensatz zu seinem europäischen Pendant hat er

550 551 552 553

554 555 556

Questionnaire CDPC, Pkt. 51.

Conseil constitutionnel français, no 89­260 DC du 28 juillet 1989, Loi relative à la sécurité et à la transparence du marché financier.

Questionnaire CDPC, Pkt. 52.1.

Questionnaire CDPC, Pkt. 52.3 (m.w.H.). Dies gilt insbesondere für Sanktionen, die von der Bankenkommission, der Wettbewerbsbehörde, der Behörde zur Regulierung der elektronischen Kommunikation und der Post, der Behörde zur Regulierung der Online-Spiele, der Sanktionskommission der Finanzmarktaufsichtsbehörde und dem Amt für internationale Migration verhängt werden.

Questionnaire CDPC, Pkt. 59 und 13 (m.w.H.).

Questionnaire CDPC, Pkt. 59; Conseil constitutionnel français, no 88­248 DC du 17 janvier 1989 consid. 17-18.

Questionnaire CDPC, Pkt. 13 (m.w.H.).

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jedoch keine Entscheidungsbefugnis.557 Der Anhörungsbeauftragte fungiert insbesondere als «Verfahrensmediator» bei Schwierigkeiten in der Streitphase des Verfahrens. Er sammelt die Stellungnahmen der Parteien und des Generalberichterstatters zum Ablauf des Verfahrens, die dann in einem Bericht an die Wettbewerbsbehörde festgehalten werden.

Um die Vorhersehbarkeit der Sanktion sowie die Verteidigungsrechte rechtlich zu verankern,558 hat die Wettbewerbsbehörde interne Richtlinien erlassen, die durch die Rechtsprechung verbindlich geworden sind.559 Darüber hinaus können gegen Entscheide in Wettbewerbssachen Rechtsmittel bei den Zivilgerichten eingelegt werden.

Diese nehmen eine vollständige Überprüfung der verhängten Sanktionen vor und gewährleisten so die Einhaltung der Verfahrensgarantien.

4

Würdigung

Die Analyse der untersuchten Rechtsordnungen ergibt, dass unterschiedliche Ansätze bestehen. So ist der Begriff der «(pekuniären) Verwaltungssanktion» als solcher in Deutschland nicht bekannt. Sanktionen bei Verstössen gegen verwaltungsrechtliche Pflichten sind dem Verwaltungsstrafrecht zuzuordnen und unterliegen dem Verwaltungsstrafprozessrecht (insb. OWiG). Im Gegensatz dazu gibt es im französischen Recht eine Kategorie sogenannter «Verwaltungssanktionen», zu denen u. a.

pekuniäre Sanktionen gehören, d. h. Bussen, die in bestimmten Bereichen von Verwaltungsbehörden verhängt werden. Auch das EU-Recht sieht das Instrument der «Verwaltungssanktion» (einschliesslich der pekuniären Verwaltungssanktion) vor, insbesondere im Wettbewerbsrecht.

Darüber hinaus gelten die strafrechtsspezifischen Verfahrensgarantien, die sich insbesondere aus Artikel 6 EMRK ergeben, in allen drei untersuchten Rechtsordnungen auch für Verfahren, die zur Verhängung pekuniärer Verwaltungssanktionen führen. Da die Verfahren, die zu dieser Art von Sanktionen führen, als «strafrechtliche Anklage» im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 EMRK gelten, müssen insbesondere die Unschuldsvermutung und das Rückwirkungsverbot sowie die Verteidigungsrechte gewahrt werden.

In Anbetracht der unterschiedlichen Lösungen in den untersuchten Rechtsordnungen ist festzustellen, dass das Schweizer Recht bei der Kategorisierung der Verwaltungssanktionen und der Unterscheidung zwischen diesen und den strafrechtlichen Sanktionen bis zu einem gewissen Grad dem Ansatz des französischen Rechts gleicht.

557 558

Rapport annuel de l'Autorité de concurrence 2019, S. 160.

IDOT LAURENCE, La répression des pratiques anticoncurrentielles par les institutions de l'Union européennes, Revue de science criminelle et de droit pénal comparée, 2012, S. 315­341, S. 321; DAVID ERIC, Country report : France, in: Dannecker/Jansen, Competition Law Sanctioning in the European Union, The EU-Law influence on the National Law System of Sanctions in the European Area, The Hague/London/New York, 2004, S. 460 ff.

559 Rapport annuel de l'Autorité de concurrence 2018, S. 126.

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Tabellarische Länderübersicht

Verwaltungssanktionen in anderen Rechtsordnungen:560 Land

Kennt Wenn ja, gibt Es gibt Verwaltungs- es pekuniäre keine solchen sanktionen Sanktionen? Sanktionen

Andorra



Ja

Armenien



Ja

Belgien



Ja

Dänemark



Estland



Irland

(common law)

Kroatien

(nur für Wettbewerbsrecht)

Nicht klar

Lettland



Ja

Litauen



Ja

Luxemburg



Ja

Moldawien



Ja

Montenegro



Nordmazedonien Norwegen




Ja

Österreich



Polen



Ja

Portugal



Ja

Russland

560

Questionnaire CDPC.

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Nicht klar



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Land

Kennt Wenn ja, gibt Es gibt Verwaltungs- es pekuniäre keine solchen sanktionen Sanktionen? Sanktionen

Schweden



Nicht klar

Ja, aber Schweden hat auch beschlossen, Sanktionen, die die Engel-Kriterien erfüllen, in strafrechtliche Sanktionen umzuwandeln.

Serbien



Slowenien



Spanien



Ja

Tschechische Republik



Ja

Türkei



Ja

Zypern



Ja

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