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22.045 Botschaft zur Genehmigung des Übereinkommens Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt und Bericht über die Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation für die Zukunft der Arbeit vom 18. Mai 2022

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Übereinkommens Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt.

Wir unterbreiten Ihnen ebenfalls, zur Kenntnisnahme, den Bericht über die Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation für die Zukunft der Arbeit.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

18. Mai 2022

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ignazio Cassis Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Übersicht Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) verabschiedete 2019 anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens das Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Es enthält die erste international vereinbarte Definition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt und ist ein wichtiger Schritt für die zukünftige Arbeitswelt. Im gleichen Jahr verabschiedete die IAO auch eine bedeutende Jahrhunderterklärung.

Ausgangslage Die Förderung der menschenwürdigen Arbeit für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist Bestandteil des Verfassungsauftrags der IAO. Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt sind inakzeptabel und mit menschenwürdiger Arbeit unvereinbar.

Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt stellen eine Verletzung oder einen Missbrauch der Menschenrechte dar und gefährden die Chancengleichheit im Erwerbsleben. Das Phänomen ist nach wie vor weltweit verbreitet, unabhängig von Sektoren, Berufen und Anstellungsverhältnissen.

Im Oktober 2016 organisierte die IAO eine Sitzung, an der zahlreiche Expertinnen und Experten von Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite teilnahmen. Die Expertinnen und Experten verwiesen auf Gouvernanzlücken in der Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, insbesondere das Fehlen einer international vereinbarten Definition. Im Anschluss beschloss der Verwaltungsrat der IAO, die Erarbeitung einer internationalen Arbeitsnorm zur Bekämpfung von Gewalt und Belästigung auf die Agenda der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) zu setzen.

Auch in der Schweiz ist die Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ein wichtiges und aktuelles Thema. Die Schweizer Gesetzgebung konkretisiert das Recht auf eine Arbeit frei von Gewalt und Belästigung in verschiedenen Gesetzen und bietet einen hohen und wirksamen Schutz, auch im internationalen Vergleich.

Laut Artikel 19 Absatz 5 Buchstabe b der Verfassung der IAO ist der Bundesrat verpflichtet, das IAO-Übereinkommen dem Parlament zu unterbreiten.

Mit der Verabschiedung der Jahrhunderterklärung der IAO über die Zukunft der Arbeit wollte die IAO ihr 100-jähriges Bestehen feiern und sich gleichzeitig auf die künftigen Herausforderungen in der Arbeitswelt vorbereiten. Die Erklärung wurde an der 108. Tagung, der Jubiläumstagung der IAK, einstimmig verabschiedet.
Inhalt der Vorlage Das von der IAO 2019 verabschiedete Übereinkommen Nr. 190 bezweckt den Schutz aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und anderer Personen in der Arbeitswelt vor Gewalt und Belästigung. Das Übereinkommen anerkennt das Recht jeder Person auf eine Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung und verpflichtet die Mitgliedstaaten der IAO, dieses Recht zu achten, zu fördern und zu verwirklichen. Es handelt sich um den ersten völkerrechtlichen Vertrag, welcher einen gemeinsamen Rahmen für die Prävention und die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt bietet. Das Übereinkommen enthält die erste international vereinbarte Definition von

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Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, einschliesslich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung.

Die geltende Ratifikationspolitik bezüglich der IAO-Normen erlaubt es der Schweiz, ein IAO-Übereinkommen zu ratifizieren, sofern es nicht grundlegend von der Schweizer Rechtsordnung abweicht. Diese Praxis des Bundesrates gilt im Prinzip für alle internationalen Übereinkommen. Geringfügige Differenzen sollten einer Ratifikation nicht entgegenstehen. Darüber hinaus kann ein Übereinkommen, das nicht vollumfänglich mit dem innerstaatlichen Recht übereinstimmt, ratifiziert werden, wenn seine Prüfung ergibt, dass sich die bestehenden Lücken entweder durch unmittelbar anwendbare Bestimmungen des Übereinkommens oder durch gesetzgeberische Massnahmen schliessen lassen.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Schweiz das Übereinkommen Nr. 190 ratifizieren kann. Die schweizerische Gesetzgebung und Praxis konkretisiert das Recht auf eine Arbeit frei von Gewalt und Belästigung und bietet einen hohen und wirksamen Schutz, auch im internationalen Vergleich. Im Hinblick auf die Ratifikation müssen daher keine neuen Gesetze oder Verordnungen verabschiedet oder bestehende Bestimmungen geändert werden.

Mit der Jahrhunderterklärung fördert die IAO ihren am Menschen orientierten Ansatz für die Zukunft der Arbeit, der sich auf drei prioritäre Handlungsfelder stützt, nämlich zusätzliche Investitionen in das Humankapital, in die Institutionen der Arbeitswelt und in menschenwürdige und nachhaltige Arbeit.

Diese zentrale Erklärung zieht keine neuen Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten nach sich; darüber hinaus gehört sie nicht zu den Instrumenten, die dem Parlament gemäss Artikel 19 Absätze 5 und 6 der Verfassung der IAO unterbreitet werden müssen. Der Bundesrat hält es jedoch für zweckmässig, dem Parlament allgemeine Informationen über die Erklärung mitzuteilen, da diese ein wichtiger Schritt ist zur Stärkung des Mandats und der Tätigkeit der IAO im Zusammenhang mit der Förderung menschenwürdiger Arbeit bei der Weiterentwicklung ihres am Menschen orientierten Ansatzes für die Zukunft der Arbeit. In diesem Bereich hatte die IAO bereits 1998 und 2008 Erklärungen über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit angenommen, die der Bundesrat in seinen Botschaften und Berichten über die 85., 86., 87. und
97. Tagung der IAK vorgestellt hatte.

Die vorliegende Botschaft und der vorliegende Bericht wurden der tripartiten eidgenössischen Kommission für Angelegenheiten der IAO unterbreitet, einer ausserparlamentarischen Kommission, die sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Bundesverwaltung und der schweizerischen Sozialpartner zusammensetzt. Die Kommission hat von der Botschaft und dem Bericht Kenntnis genommen. Die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerorganisationen unterstützen die Ratifikation des Übereinkommens Nr. 190. Die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitgeberorganisationen tragen die Ratifikation des Übereinkommens mit.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

2

1

Ausgangslage 1.1 Handlungsbedarf und Ziele 1.2 Verlauf der Verhandlungen und Verhandlungsergebnis 1.3 Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

5 5 6

2

Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren

6

3

Grundzüge des Übereinkommens

4

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Übereinkommens

11

5

Auswirkungen des Übereinkommens

42

6

Rechtliche Aspekte 6.1 Verfassungsmässigkeit 6.2 Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen der Schweiz 6.3 Erlassform 6.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 6.5 Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

42 42

6 7

Bericht über die Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation für die Zukunft der Arbeit

42 43 43 44 45

Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt (Entwurf)

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Übereinkommen Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Handlungsbedarf und Ziele

Das Übereinkommen Nr. 190 vom 21. Juni 20191 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt (im Folgenden: «Übereinkommen Nr. 190») bezweckt den Schutz aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und anderen Personen in der Arbeitswelt vor Gewalt und Belästigung. Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt stellen eine Verletzung oder einen Missbrauch der Menschenrechte dar und gefährden die Chancengleichheit im Erwerbsleben. Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt sind inakzeptabel und mit menschenwürdiger Arbeit unvereinbar. Das Phänomen ist nach wie vor weltweit verbreitet, unabhängig von Sektoren, Berufen und Anstellungsverhältnissen. Auch in der Schweiz ist die Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ein wichtiges und aktuelles Thema. Die Schweizer Gesetzgebung konkretisiert das Recht auf eine Arbeit frei von Gewalt und Belästigung in verschiedenen Gesetzen und bietet einen hohen und wirksamen Schutz, auch im internationalen Vergleich.

Darüber hinaus erlaubt das Übereinkommen Nr. 190 eine gewisse Flexibilität bei seiner Anwendung. Flexibilitätsklauseln wie die Formulierungen «soweit dies angemessen und praktisch durchführbar ist» und «geeignete und dem Grad ihrer Kontrolle angemessene Schritte» (Art. 9 und 10 Bst. f) lassen den Mitgliedstaaten einen gewissen Handlungsspielraum. In diesem Sinne ermöglichen sie es der Schweiz, das Übereinkommen Nr. 190 zu ratifizieren.

Die Schweiz muss sich auf internationaler Ebene kohärent für die Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt engagieren. Die Schweizer Rechtsprechung und Praxis stehen im Einklang mit dem Übereinkommen Nr. 190. Der Bundesrat ist gemäss Artikel 19 Absätze 5 und 6 der Verfassung vom 28. Juni 19192 der Internationalen Arbeitsorganisation zudem verpflichtet, das Übereinkommen Nr. 190 den zuständigen innerstaatlichen Behörden zu unterbreiten.

Gemäss Artikel 14 Absatz 2 des Übereinkommens tritt es zwölf Monate nach der Eintragung der Ratifikation zweier Mitgliedstaaten durch den Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in Kraft. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung dieser Botschaft wurde das Übereinkommen Nr. 190 von vierzehn Ländern3 ratifiziert. Es trat am 25. Juni 2021 in Kraft. Für die Schweiz würde das Übereinkommen zwölf Monate nach der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde in Kraft treten.

1 2 3

SR ...; BBl 2022 1381 SR 0.820.1 Uruguay (12.6.2020), Fidschi (25.6.2020), Namibia (9.12.2020), Argentinien (23.2.2021), Somalia (8.3.2021), Ecuador (19.5.2021), Mauritius (1.7.2021), Griechenland (30.8.2021), Italien (29.10.2021), Südafrika (29.11.2021), Vereinigtes Königreich (7.3.22), San Marino (14.4.2022), Albanien (6.5.2022), Antigua und Barbuda (9.5.2022).

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1.2

Verlauf der Verhandlungen und Verhandlungsergebnis

Im Oktober 2016 organisierte die IAO eine Sitzung, an der zahlreiche Expertinnen und Experten von Regierungs-, Arbeitgeber und Arbeitnehmerseite teilnahmen. Diese empfahlen die dringende Verabschiedung zusätzlicher Massnahmen, um Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu verhindern und zu bekämpfen und um Opfer zu schützen und zu entschädigen. Sie verwiesen auf Gouvernanzlücken in der Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, insbesondere auf das Fehlen einer international vereinbarten Definition. Um das gemeinsame Verständnis dafür zu schärfen, was Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt umfassen und was es zu bekämpfen gilt, empfahlen sie die Verabschiedung einer neuen internationalen Arbeitsnorm.

Die Internationale Arbeitskonferenz (IAK) hat das Übereinkommen Nr. 190 zusammen mit der ergänzenden Empfehlung Nr. 206 am 21. Juni 2019 an ihrer 108. Tagung, der Jubiläumstagung zum hundertjährigen Bestehen der IAO, mit Unterstützung der Schweiz verabschiedet.

1.3

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung sowie zu Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 29. Januar 20204 zur Legislaturplanung 2019­2023 noch im Bundesbeschluss vom 21. September 20205 über die Legislaturplanung 2019­2023 angekündigt, da die Entscheidung der IAK zur Verabschiedung des Übereinkommens Nr. 190 nicht vorlag. Die Botschaft zur Legislaturplanung 2019­2023 erwähnt als achtes Ziel die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Bundesrat am 28. April 2021 eine nationale Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern verabschiedet. Die Bekämpfung von Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt ist der Fokus von zwei der vier Handlungsfelder der Strategie.

2

Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren

Es handelt sich beim Übereinkommen Nr. 190 um einen völkerrechtlichen Vertrag, der wichtige rechtssetzende Bestimmungen enthält und somit dem fakultativen Referendum unterliegt (vgl. Ziff. 6.3).

Gemäss Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c des Vernehmlassungsgesetzes vom 18. März 20056 (VlG) ist das vorliegende Geschäft grundsätzlich Gegenstand eines Vernehm-

4 5 6

BBl 2020 1777 BBl 2020 8385 SR 172.061

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lassungsverfahrens. Die völkerrechtlichen Verträge der IAO haben aufgrund der tripartiten Struktur der Organisationen jedoch einen speziellen Charakter. Die Sozialpartner waren an der Erarbeitung des Übereinkommens beteiligt. Es kann darum davon ausgegangen werden, dass von einer Vernehmlassung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind, weil die Positionen der interessierten Kreise bereits bekannt sind (Art. 3a Abs. 1 Bst. b VlG). Daher wurde vorliegend auf die Durchführung eines Vernehmlassungsverfahrens verzichtet. Die Übereinkommen der IAO werden im Rahmen der sogenannten «doppelten Diskussion» an zwei aufeinanderfolgenden Sessionen der IAK diskutiert und verabschiedet. Die Ratifikation selbst kann erst nach der Genehmigung durch die Bundesversammlung geschehen.

Die vorliegende Botschaft und der vorliegende Bericht sind der tripartiten eidgenössischen Kommission für Angelegenheiten der IAO (TPK-IAO), einer ausserparlamentarischen Kommission, welche sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Verwaltung und der Schweizer Sozialpartner zusammensetzt, vorgelegt worden. Die Kommission hat von der Botschaft und vom Bericht Kenntnis genommen. Die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerorganisationen unterstützen die Ratifikation des Übereinkommens Nr. 190. Die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitgeberorganisationen tragen die Ratifikation mit.

3

Grundzüge des Übereinkommens

Das Übereinkommen anerkennt das Recht jeder Person auf eine Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung, einschliesslich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung, und verpflichtet die Mitgliedstaaten, dieses Recht zu achten, zu fördern und zu verwirklichen. Es handelt sich um den ersten völkerrechtlichen Vertrag, welcher einen gemeinsamen Rahmen für die Prävention und Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt und die erste international vereinbarte Definition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, einschliesslich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung, bietet.

Das Übereinkommen bezweckt den Schutz von Arbeitnehmenden und anderen Personen in der Arbeitswelt vor Gewalt und Belästigung. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht es insbesondere folgende Massnahmen vor: ­

ein gesetzliches Verbot von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt;

­

Prävention von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, insbesondere für Bevölkerungsgruppen, die unverhältnismässig stark von der Problematik betroffen sind;

­

Abhilfemassnahmen für Opfer von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz und gegebenenfalls Sanktionen.

Beim Übereinkommen Nr. 190 handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, welcher der Ratifikation bedarf. Alle Mitgliedstaaten der IAO, welche das Übereinkommen ratifizierten, verpflichten sich zu dessen Einhaltung und zur Umsetzung der entsprechenden Bestimmungen. Das Übereinkommen Nr. 190 beinhaltet insgesamt 20 Artikel. Bei 12 Artikeln handelt es sich um inhaltliche Bestimmungen, während es

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sich bei den Artikeln 13­20 um die üblichen Schlussbestimmungen aller Übereinkommen der IAO handelt. Letztere erfordern keine besonderen inhaltlichen Erläuterungen.

Eine Betrachtung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz muss vor der inhaltlichen Prüfung des Übereinkommens vorgenommen werden.

Die Präambel des Übereinkommens Nr. 190 bekräftigt die Bedeutung folgender Instrumente der IAO: Die Erklärung über die Ziele und Zwecke der IAO vom 10. Mai 1944, welche ein integraler Bestandteil der abgeänderten Verfassung der IAO vom 28. Juni 1919 ist, und die acht Kernübereinkommen der IAO. Die Kernübereinkommen stellen die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit dar und gelten somit als international anerkannte minimale Sozialstandards, zu deren Einhaltung sich alle Mitgliedstaaten der IAO verpflichten, auch wenn sie gewisse Kernübereinkommen nicht ratifiziert haben. Als Kernübereinkommen gelten: das Übereinkommen Nr. 29 vom 28. Juni 19307 über Zwangs- oder Pflichtarbeit und das dazugehörige Protokoll vom 11. Juni 20148 zum Übereinkommen über Zwangsarbeit, 1930, das Übereinkommen Nr. 87 vom 9. Juli 19489 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, das Übereinkommen Nr. 98 vom 1. Juli 194910 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen, das Übereinkommen Nr. 100 vom 29. Juni 195111 über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit, das Übereinkommen Nr. 105 vom 25. Juni 195712 über die Abschaffung der Zwangsarbeit, das Übereinkommen Nr. 111 vom 25. Juni 195813 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, das Übereinkommen Nr. 138 vom 26. Juni 197314 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung und das Übereinkommen Nr. 182 vom 17. Juni 199915 über das Verbot und unverzügliche Massnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Die Schweiz hat alle erwähnten Übereinkommen der IAO ratifiziert.

Die Präambel verweist zudem auf die folgenden einschlägigen völkerrechtlichen Instrumente: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), den Internationalen Pakt vom 16. Dezember 196616 über bürgerliche und politische Rechte, den Internationalen Pakt vom 16. Dezember 196617 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte,
das Internationale Übereinkommen vom 21. Dezember 196518 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, das Übereinkommen vom 18. Dezember 197919 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, die Internationale Konvention vom 18. Dezember 1990 zum Schutz der Rechte aller 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

SR 0.822.713.9 SR 0.822.713.91 SR 0.822.719.7 SR 0.822.719.9 SR 0.822.720.0 SR 0.822.720.5 SR 0.822.721.1 SR 0.822.723.8 SR 0.822.728.2 SR 0.103.2 SR 0.103.1 SR 0.104 SR 0.108

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Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen und das Übereinkommen vom 13. Dezember 200620 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Abgesehen von der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen hat die Schweiz alle erwähnten internationalen Instrumente ratifiziert.

Des Weiteren muss die inhaltliche Prüfung des Übereinkommens hinsichtlich der in der Schweiz geltenden Gesetze und Verordnungen erfolgen, insbesondere im Hinblick auf das Obligationenrecht (OR)21, das Strafgesetzbuch (StGB)22, das Zivilgesetzbuch (ZGB)23, die Zivilprozessordnung(ZPO)24, die Strafprozessordnung (StPO)25, das Arbeitsgesetz vom 13. März 196426 (ArG) und die dazugehörigen Verordnungen, das Bundesgesetz vom 20. März 198127 über die Unfallversicherung (UVG), das Mitwirkungsgesetz vom 17. Dezember 199328, die Verordnung vom 19. Dezember 198329 über die Unfallverhütung (VUV), das Opferhilfegesetz vom 23. März 200730 (OHG), das Gleichstellungsgesetz vom 24. März 199531 (GlG), das Behindertengleichstellungsgesetz vom 13. Dezember 200232 (BehiG), das Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 25. Juni 198233 (AVIG), das Entsendegesetz vom 8. Oktober 199934 (EntsG), das Bundesgesetz vom 17. Juni 200535 gegen die Schwarzarbeit (BGSA), das Arbeitsvermittlungsgesetz vom 6. Oktober 198936 (AVG), das Ausländer- und Integrationsgesetz vom 16. Dezember 200537 (AIG), der NAV Hauswirtschaft vom 20. Oktober 201038, das Bundespersonalgesetz vom 24. März 200039 (BPG) sowie das Bundesgesetz vom 23. Dezember 201140 über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG).

Der Schutz vor Gewalt und Belästigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird in der Schweiz durch ein umfassendes System von mehreren Gesetzen sichergestellt, welches das Recht jeder Person auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung, einschliesslich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung, anerkennt.

20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

SR 0.109 SR 220 SR 311.0 SR 210 SR 272 SR 312.0 SR 822.11 SR 832.20 SR 822.14 SR 832.30 SR 312.5 SR 151.1 SR 151.3 SR 837.0 SR 823.20 SR 822.41 SR 823.11 SR 142.20 SR 221.215.329.4 SR 172.220.1 SR 312.2

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Die Rechtsgleichheit und das Diskriminierungsverbot sind in Artikel 8 der Bundesverfassung(BV)41 verankert. Artikel 8 Absatz 2 BV hält fest, dass niemand diskriminiert werden darf, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Das GlG konkretisiert Artikel 8 BV hinsichtlich der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann und bezweckt die Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Frau und Mann im Erwerbsleben.

Die Artikel 28­28c ZGB schützen die Persönlichkeit jeglicher Personen gegen widerrechtliche Verletzung. Strafrechtlich relevant sind gegebenenfalls namentlich Körperverletzungsdelikte (Art. 122­126 StGB), Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB), Ehrverletzungen (Art. 173­178 StGB), Drohung und Nötigung (Art. 180 und 181 StGB), sowie strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität (Art. 187­194 StGB).

Das Arbeitsrecht ist in verschiedenen Rechtsquellen verankert. Das private Arbeitsvertragsrecht wird vorwiegend im OR in den Artikeln 319­362 OR geregelt. Nach Artikel 328 OR hat der Arbeitgeber zum Schutz von Leben, Gesundheit und persönlicher Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes oder Haushaltes angemessen sind, soweit es ihm mit Rücksicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis und die Natur der Arbeitsleistung billigerweise zugemutet werden kann.

Zum öffentlichen Arbeitsrecht gehört das Arbeitnehmerschutzrecht. Dies beinhaltet u. a. das ArG und dessen Verordnungen, insbesondere die Verordnungen 3 und 4 zum ArG (ArGV 342 und ArGV 443), und das UVG und dessen Verordnungen, insbesondere die VUV. Im öffentlichen Recht ist der Schutz der persönlichen Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Artikel 6 ArG verankert und verfolgt primär den Zweck der Prävention, sieht aber auch die Durchsetzung der notwendigen Massnahmen beim Arbeitgeber durch die Vollzugsorgane vor. Artikel 6 ArG bekräftigt die Verpflichtung des Arbeitgebers, alle Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmenden zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem
Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind. Artikel 2 ArGV 3 führt aus, dass der Arbeitgeber alle Anordnungen erteilen und Massnahmen treffen muss, die nötig sind, um den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit der Arbeitnehmenden zu wahren und zu verbessern.

Die Empfehlung Nr. 206 betreffend die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ergänzt das Übereinkommen Nr. 190. Die IAK hat diese Empfehlung, mit der Unterstützung der Schweiz, gleichzeitig mit dem Übereinkommen verabschiedet.

Die Empfehlung ist ein nicht verbindliches Instrument, welche nicht der Ratifikation unterliegt und als Orientierungshilfe für politisches Handeln dient. Sie enthält konkrete Anleitungen zur Umsetzung von Massnahmen zur Prävention vor Gewalt und 41 42 43

SR 101 SR 822.113 SR 822.114

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Belästigung in der Arbeitswelt, zum Schutz von Opfern und deren Zugang zu Abhilfemassnahmen und Unterstützung sowie zur Umsetzung von Schulungs- und Sensibilisierungsinstrumenten betreffend Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt.

Die Empfehlung Nr. 206 wird der Bundesversammlung zur Information vorgelegt.

4

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Übereinkommens

Art. 1 Artikel 1 Absatz 1 definiert die relevanten Begriffsbestimmungen, die im Übereinkommen zur Anwendung kommen. Im Sinne dieses Übereinkommens a) bezieht sich der Begriff «Gewalt und Belästigung» in der Arbeitswelt auf eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung; b) bedeutet der Begriff «geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung» Gewalt und Belästigung, die gegen Personen aufgrund ihres Geschlechts gerichtet sind oder von denen Personen eines bestimmten biologischen oder sozialen Geschlechts unverhältnismässig stark betroffen sind, und umfasst auch sexuelle Belästigung.

Die schweizerische Gesetzgebung und Praxis kennt keine einheitliche Definition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt (Bst. a). Die Verhaltensweisen und Praktiken, welche das Übereinkommen als Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt definiert, werden jedoch in verschiedenen Schweizer Gesetzen geregelt, verboten und bestraft.

Die Definition von Gewalt und Belästigung wird im schweizerischen Zivilrecht unter dem Aspekt des Persönlichkeitsschutzes und des Gesundheitsschutzes angegangen.

Gemäss Artikel 28 ZGB hat jede Person das Recht, eine widerrechtliche Verletzung ihrer Persönlichkeit vor Gericht anzurufen. Eine Verletzung der Persönlichkeit ist dementsprechend widerrechtlich, wenn sie nicht durch Einwilligung der verletzen Person, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse, oder durch ein Gesetz gerechtfertigt ist. Verletzungen der persönlichen Integrität sind Angriffe auf eine Person als Ganzes. Damit sind Verhaltensweisen gemeint, welche Grenzen überschreiten und den Selbstwert einer Person schädigen.

Der Schutz der Persönlichkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist in Artikel 328 OR geregelt. Zu den geschützten Persönlichkeitsgütern gehören insbesondere Leben und Gesundheit, körperliche und geistige Integrität, persönliche und berufliche Ehre, Stellung und Ansehen im Betrieb und Privatsphäre. In Bezug auf den Schutz der physischen und psychischen Integrität stellt Artikel 6 ArG das Gegenstück zu Artikel 328 OR im öffentlichen Arbeitsrecht dar und hat einen ähnlichen Inhalt.

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Mobbing gehört auch zu diesen inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken. Dabei handelt es sich nach einer vom Bundesgericht verwendeten Definition um ein systematisches, feindliches, über einen längeren Zeitraum anhaltendes Verhalten, mit dem eine Person an ihrem Arbeitsplatz isoliert, ausgegrenzt oder gar von ihrem Arbeitsplatz entfernt werden soll (Urteile des Bundesgerichts 4C_590/2020 vom 8. Juli 2021 und 4A_439/2016 vom 5. Dezember 2016). Diese Definition wird sowohl in öffentlich-rechtlichen als auch in privatrechtlichen Beziehungen angewandt.

Der Arbeitgeber ist aufgrund der rechtlichen Grundlagen zum Schutz der physischen und psychischen Gesundheit der Arbeitnehmenden verpflichtet. Gewalt und Belästigung gelten in der schweizerischen Präventionspraxis als psychosoziale Risiken, das heisst als potentielle Gesundheitsbeeinträchtigungen, die aufgrund von Einflüssen aus dem beruflichen Umfeld auf die Psyche entstehen. Gemäss der Wegleitung des Staatsekretariats für Wirtschaft (SECO) gelten Mobbing, Diskriminierung und sexuelle Belästigung als bekannte Beispiele für problematische Verhaltensweisen. Dabei handelt es sich nicht um eine abschliessende Aufzählung von Verhaltensweisen, welche die persönliche Integrität verletzen können44.

Spezifische Bestimmungen zur geschlechtsspezifischen Gewalt und Belästigung, inklusive der sexuellen Belästigung (Bst. b), sind im GlG aufgeführt. Artikel 4 GlG konkretisiert Artikel 8 BV und verbietet die Diskriminierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch sexuelle Belästigung. Die sexuelle Belästigung ist damit eine schwerwiegende Form der Geschlechterdiskriminierung. Als diskriminierend gilt dabei jedes belästigende Verhalten sexueller Natur oder ein anderes Verhalten aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, dass die Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz beeinträchtigt. Damit gemeint sind insbesondere Drohungen, das Versprechen von Vorteilen, das Auferlegen von Zwang und das Ausüben von Druck zum Erlangen eines Entgegenkommens sexueller Art.

Artikel 4 GlG schliesst sich dem geschlechtsspezifischen Ansatz des Übereinkommens an. Der Artikel bezieht sich auf die Würde der Person und umfasst auch sexistische Bemerkungen, die auf Geschlechterstereotypen beruhen (BGE 126 III 385).

Solche Verletzungen fallen auch unter Artikel 328 OR und Artikel
6 ArG. Diese Bestimmungen decken zudem auch Verletzungen am Arbeitsplatz im Zusammenhang mit sexuellen Merkmalen, dem sexuellen Verhalten oder der sexuellen Orientierung ab45.

Absatz 2 überlässt es den Mitgliedstaaten, die im Übereinkommen definierten Begriffsbestimmungen in innerstaatlichen Rechtsvorschriften getrennt oder in ein einem einheitlichen Konzept zu definieren. So können Mitgliedstaaten auch festlegen, welche spezifischen Verhaltensweisen und Praktiken Gewalt und Belästigung darstellen.

Absatz 2 lässt den Mitgliedstaaten einen gewissen Handlungsspielraum. Entscheidend sind die wirksame Prävention und ein wirksamer Schutz gegen die in Paragraph 1 definierten Verhaltensweisen und Praktiken. Die Schweizerische Gesetzgebung nutzt 44

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Schutz der persönlichen Integrität am Arbeitsplatz www.seco.admin.ch > Arbeit > Arbeitsbedingungen > Arbeitsgesetz und Verordnungen > Wegleitungen zum Arbeitsgesetz und seinen Verordnungen > Wegleitung zur ArGV 3 > Anhang zu Art. 2 ArGV3: Grundsatz

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diesen Handlungsspielraum in dem Sinne, dass die in der nationalen Gesetzgebung enthaltenen Definitionen getrennte Begriffe festlegen.

Die Begriffsbestimmungen gemäss schweizerischem Recht und Praxis umfassen die vom Übereinkommen definierten inakzeptablen Verhaltensweisen und erlauben daher die Annahme von Artikel 1 des Übereinkommens.

Art. 2 Gemäss Artikel 2 Absatz 1 schützt dieses Übereinkommen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie andere Personen in der Arbeitswelt, darunter abhängig Beschäftigte im Sinne der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Praxis, sowie erwerbstätige Personen ungeachtet ihres Vertragsstatus, in Ausbildung befindliche Personen, einschliesslich Praktikantinnen und Praktikanten und Lernende, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis beendet wurde, Freiwillige, Arbeitsuchende und Stellenbewerberinnen und Stellenbewerber sowie natürliche Personen, die die Befugnisse, Pflichten oder Verantwortlichkeiten einer Arbeitgeberin oder eines Arbeitgebers ausüben.

Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Schweiz sind in ihrer persönlichen Integrität gemäss Artikel 328 OR geschützt. Voraussetzung dafür ist, dass sie nach den Artikeln 319­362 OR über einen Arbeitsvertrag verfügen. Darunter fallen sowohl unbefristete Verträge als auch befristete Anstellungen, Anstellungen im Stundenlohn und Anstellungen auf Abruf. Als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemäss OR gelten auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die einem Gesamtarbeitsvertrag (Art. 356­458 OR) (GAV) oder einem Normalarbeitsvertrag (Art. 359­360 OR) (NAV) unterstehen. Das schweizerische Recht macht keinen grundlegenden Unterschied zwischen vermittelten und anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Aufgrund des besonderen Schutzbedürfnisses von vermittelten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schreibt Artikel 19 AVG in der Regel jedoch den Abschluss eines schriftlichen Arbeitsvertrags vor. Der Schutz der persönlichen Integrität im Sinne des Gesundheitsschutzes gemäss Artikel 6 ArG ist auf alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anwendbar, die über einen Arbeitsvertrag gemäss den obigen Bestimmungen verfügen. Der betriebliche und persönliche Geltungsbereich gemäss Artikel 1 ArG ist jedoch breiter gefasst. Ein Arbeitsvertrag oder öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis ist nicht vorausgesetzt. Abhängig
Beschäftigte im Sinne der schweizerischen Rechtsvorschriften und Praxis sind daher unabhängig von ihrem Vertragsstatus geschützt.

Personen, die sich in der Ausbildung befinden, einschliesslich Praktikantinnen und Praktikanten und Lernende, sowie Personen, die freiwillig arbeiten, sind ebenfalls durch das OR oder das ArG geschützt. Lehrverträge müssen gemäss Artikel 344 OR schriftlich abgeschlossen werden, um dem besonderen Schutzbedürfnis von Lernenden Rechnung zu tragen. Wie zuvor erwähnt ist der Begriff des Arbeitnehmers im ArG breiter gefasst als im Arbeitsvertragsrecht. Laut ArG gilt eine Person als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer, wenn sie sich bei der Ausübung einer Tätigkeit in eine fremde Arbeitsorganisation einordnen muss und wenn die Arbeitsleistung in persönlicher Unterordnung erfolgt, das heisst, auf eine klare Weisung des Arbeitgebers ausgeübt wird. Das ArG verlangt nicht das Ausbezahlen eines Lohns als Gegenleistung 13 / 48

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für die Arbeit. Damit ist es anwendbar auf Personen, die gemäss dem Geltungsbereich von Artikel 1 ArG freiwillig Arbeit leisten, wie zum Beispiel im Rahmen einer Ausbildung oder für wohltätige Zwecke. Gemäss Artikel 1 Absatz 2 der Verordnung 1 vom 10. Mai 200046 zum Arbeitsgesetz (ArGV 1) gelten auch Lernende, Praktikantinnen und Praktikanten, Volontärinnen und Volontäre und andere Personen, die hauptsächlich zur Ausbildung oder zur Vorbereitung der Berufswahl im Betrieb sind, als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Gemäss den obigen Bestimmungen profitieren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis beendet wurde, vor Auslaufen der Kündigungsfrist weiterhin von der Anwendung von Artikel 328 OR. Die Kündigungsfristen sind in Artikel 335 OR und bei unbefristeten, ununterbrochenen Einsätzen im Personalverleih in Artikel 19 AVG geregelt, beziehungsweise in den entsprechenden GAV und NAV und für das Bundespersonal in Artikel 12 BPG.

Arbeitssuchende und Stellenbewerberinnen und Stellenbewerber gelten in der Schweiz nicht als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der Schutz ihrer persönlichen Integrität im Sinne des öffentlichen oder privaten Arbeitsrechts ist dadurch im Prinzip nicht gegeben. Im Hinblick auf Verletzungen der physischen und psychischen Integrität schützt Artikel 28 ZGB die Persönlichkeit im Allgemeinen. Bei einem Vorstellungsgespräch befinden sich Arbeitssuchende in einer vorvertraglichen Phase.

Während dieser Vorstellungsgespräche sind Arbeitsuchende durch Artikel 28 ZGB geschützt. Der Arbeitgeber verletzt die persönliche Integrität, wenn er Fragen stellt, die in keinem Zusammenhang mit der zu besetzenden Stelle stehen. Zusätzlich zu Artikel 28 ZGB hat die in Artikel 328 OR verankerte allgemeine Fürsorgepflicht nach einem Urteil des Bundesgerichts durch analoge Anwendung auch bereits Vorwirkungen in die Zeit der Bewerbung hinein (Urteil des Bundesgerichts 2C_103/2008 vom 30. Juni 2008). Arbeitssuchende, die gemäss AVIG versichert sind und eine Stelle aufgrund eines Verstosses gegen Artikel 328 OR gekündigt haben oder nicht annehmen, werden von der Arbeitslosenkasse nicht sanktioniert, da es sich in einem solchen Fall nach Artikel 16 AVIG um eine unzumutbare Arbeit handelt.

Natürliche Personen, die die Befugnisse, Pflichten oder Verantwortlichkeiten einer Arbeitgeberin
oder eines Arbeitgebers im Sinne einer höheren leitenden Tätigkeit ausüben sind auch durch die Vorschriften über den Gesundheitsschutz gemäss ArG geschützt (Art. 3a ArG).

Laut Artikel 3 Absatz 2 GlG gilt das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts insbesondere für die Anstellung, Aufgabenzuteilung, Gestaltung der Arbeitsbedingungen, Entlöhnung, Aus- und Weiterbildung, Beförderung und Entlassung.

Alle in Artikel 2 genannten Personen werden auch strafrechtlich geschützt. Einschlägig sind Körperverletzungsdelikte (Art. 122­126 StGB), Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB), Ehrverletzungen (Art. 173­178 StGB), Drohung und Nötigung (Art. 180 und 181 StGB), sowie strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität (Art. 187­194 StGB).

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SR 822.111

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Artikel 2 Absatz 2 hält fest, dass das Übereinkommen für alle Sektoren, gleich ob privat oder öffentlich, sowohl in der formellen als auch in der informellen Wirtschaft, und gleich ob in städtischen oder ländlichen Gebieten gilt.

Der Schutz der Persönlichkeit und der Gesundheit vor Gewalt und Belästigung ist durch das StGB, ZGB, OR und GlG unabhängig vom wirtschaftlichen Sektor, der formellen oder informellen Wirtschaft, oder dem Gebiet gewährleistet. Das Arbeitsgesetz umfasst die ihm unterstellten Betriebe und Sektoren. Artikel 2 ArG schliesst gewisse Betriebsarten vom Anwendungsbereich des Arbeitsgesetzes aus. Die Vorschriften dieses Gesetzes über den Gesundheitsschutz (Art. 6, 35 und 36a ArG) sind jedoch für bestimmte Betriebsarten, die nicht im Anwendungsbereich des Arbeitsgesetzes sind, anwendbar (Art. 3a ArG).

Unter diesen Umständen kann Artikel 2 des Übereinkommens angenommen werden.

Art. 3 Artikel 3 definiert den Anwendungsbereich des Übereinkommens.

Im Allgemeinen ist der Schutz aller Personen in der Schweiz, inklusive der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor Gewalt und Belästigung durch das ZGB und das StGB ortsunabhängig gewährleistet. Im Zusammenhang mit den Anforderungen des OR und des ArG an den Arbeitgeber ist auf die Flexibilitätsklauseln in Artikel 9 zu verweisen. Dieser fordert die Annahme von Rechtsvorschriften, welche die Arbeitgeber verpflichten, Massnahmen zur Verhinderung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu ergreifen, die «dem Grad der Kontrolle angemessen» sind, «soweit dies angemessen und praktisch durchführbar ist». Diese Flexibilitätsklauseln wurden im Laufe der Verhandlungen eingeführt und basieren auf der Absicht der IAK, die Verantwortung des Arbeitgebers angesichts des extensiven Anwendungsbereichs in den Artikeln 2 und 3 des Übereinkommens zu beschränken. Diese Absicht wurde von der Schweizer Regierungsvertretung während den Verhandlungen aktiv unterstützt.

Aufgrund der Bedeutung dieser Frage, sowohl im Rahmen der Verhandlungen, als auch hinsichtlich einer möglichen Ratifikation durch die Schweiz, bat das SECO das Internationale Arbeitsamt (IAA) um eine informelle Rechtsmeinung in dieser Frage.

Hinsichtlich der Anforderungen an den Arbeitgeber mit Blick auf den breiten Anwendungsbereich des Übereinkommens übermittelte das IAA folgende Erklärung:
«Es sollte auch beachtet werden, dass die Verantwortung des Arbeitgebers bei einer kombinierten Lektüre der Artikel 3 und 9 unbestreitbar ist, diese Verantwortung nichtsdestotrotz in zweierlei Hinsicht qualifiziert ist. Die vorgeschriebenen Massnahmen müssen dem des Arbeitgebers entsprechen und getroffen werden, .

Zusammenfassend und hervorgehend aus den Vorbereitungsarbeiten lässt sich sagen, dass der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften erlassen sollten über die Pflichten und Verantwortungen der Arbeitgeber zur Ergreifung von Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung, nie in Frage gestellt wurde. Es wurde jedoch weitgehend anerkannt, dass von den Arbeitgebern nur Massnahmen verlangt werden können, die vernünftigerweise durchführbar sind.»

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Die Verpflichtung des Arbeitgebers, geeignete Massnahmen zur Verhinderung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu treffen, die während, im Zusammenhang mit oder infolge der Arbeit an den in den Buchstaben a­f beschriebenen Orten auftritt, ist im Sinne der erwähnten Flexibilitätsklauseln und der Rechtsmeinung des IAA zu verstehen. Daraus ergibt sich klar, dass der Arbeitgeber nicht für Situationen, Umstände oder Personen verantwortlich sein kann, die sich seiner Kontrolle entziehen. Damit decken sich die Anforderungen des Übereinkommens trotz des extensiven Anwendungsbereichs mit den Anforderungen zum Schutz der physischen und psychischen Integrität der Arbeitnehmenden gemäss Artikel 328 OR und Artikel 6 ArG. Das Schweizer Recht sieht vor, das die vom Arbeitgeber zu treffenden Massnahmen nach der Erfahrung notwendig, dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind, soweit es ihm billigerweise zugemutet werden kann.

Der Arbeitgeber muss gemäss der geltenden Gesetzgebung vorweisen können, dass er entsprechende Massnahmen getroffen hat. Die Anforderungen des Übereinkommens verpflichten den Arbeitgeber nicht dazu, den Arbeitsweg oder externe Veranstaltungsorte auf mögliche Gewalt und Belästigung zu kontrollieren.

Gemäss Artikel 3 gilt das Übereinkommen für Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, die während, im Zusammenhang mit oder infolge der Arbeit auftreten. Dieser ausdrückliche Zusammenhang zwischen dem Anwendungsbereich und der Ausführung der Arbeit gilt für alle der folgenden Buchstaben (Bst. a­f): Bst. a: in der Arbeitsstätte, einschliesslich öffentlicher und privater Räume, bei denen es sich um einen Arbeitsplatz handelt; Falls es sich bei Tätern von Gewalt und Belästigung um Vorgesetzte oder Arbeitskolleginnen, beziehungsweise Arbeitskollegen handelt, fallen gemäss Artikel 4 GlG auch externe Räumlichkeiten, in denen Treffen mit Kunden, Seminare oder Mahlzeiten für das Personal organisiert werden, unter den Begriff Arbeitsplatz.

Die Vorgaben zum Gesundheitsschutz im Arbeitsgesetz sind gemäss Artikel 1 Absatz 1 ArG auf alle öffentlichen und privaten Betriebe anwendbar, unter Vorbehalt der Ausnahmen in den Artikeln 2­4 ArG. Nach Artikel 1 Absatz 2 ArG stellt jede Arbeitsorganisation, in der ein oder mehrere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
vorübergehend oder dauernd beschäftigt werden, einen Betrieb dar. Feste Betriebseinrichtungen werden mit Ausnahme der Vorschriften über industrielle Betriebe gemäss Artikel 5 ArG nicht zwingend vorausgesetzt. Wie unter Artikel 2 ausgeführt, erfasst das ArG tatsächliche Arbeitsverhältnisse, ein Arbeitsvertrag oder öffentlichrechtliches Dienstverhältnis wird nicht vorausgesetzt.

Die vollständige oder teilweise Verrichtung der Arbeit von zu Hause aus, im sogenannten Homeoffice, ist in der schweizerischen Gesetzgebung nicht explizit geregelt.

Dies entbindet den Arbeitgeber jedoch nicht von seiner Fürsorgepflicht und dem Ergreifen der nötigen Massnahmen zum Schutze der persönlichen Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gemäss Artikel 6 ArG und Artikel 2 Absatz 1 ArGV 3. Im Homeoffice entfällt jedoch die unmittelbare Aufsicht der Arbeitgeber, weshalb erstere auf eine aktive Beteiligung der Arbeitnehmenden angewiesen sind.

Gemäss Artikel 3 des Übereinkommens treten gewalttätige und belästigende Handlungen von Personen, die im gleichen Haushalt leben wie Arbeitnehmende, die ihre Arbeit von zuhause aus verrichten, nicht infolge der Arbeit auf und entziehen sich 16 / 48

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insbesondere der Kontrolle des Arbeitgebers. Die in Artikel 9 des Übereinkommens ausgeführten Flexibilitätsklauseln bedeuten, dass der Arbeitgeber keine Kontrolle über rein private Situationen hat.

Die Schweizerische Gesetzgebung definiert den Begriff des Arbeitsplatzes in Bezug auf Gewalt und Belästigung nicht restriktiv. Die Arbeitsbeziehung ist das entscheidende Kriterium gemäss der Schweizerischen Gesetzgebung und bestehenden Rechtsprechung. Unabhängig davon, ob sich der oder die Arbeitnehmende zu Hause, im Zug, oder bei einem geschäftlichen Anlass ausserhalb der Büroräumlichkeiten befindet, wird im Schweizer Recht danach unterschieden, ob es sich bei der Person, die Gewalt und Belästigung ausübt, um Vorgesetze oder Arbeitskolleginnen und -kollegen oder Kunden, oder um Personen mit einer privaten Beziehung zum allfälligen Opfer handelt, also beispielsweise Ehepartnerin oder Ehepartner, Familienmitglieder oder Freunde.

Bezüglich des Schutzes der Privatsphäre wird auf die Ausführungen zu Artikel 10 Buchstabe c verwiesen.

Die Arbeit im Homeoffice ist nicht mit Arbeitsleistungen in einem fremden Privathaushalt zu vergleichen. Hausangestellte in der Schweiz geniessen den gleichen allgemeinen Schutz vor Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt gemäss Artikel 328 OR. Neben den Bestimmungen im OR sind die Arbeitsbedingungen von Hausangestellten in der Schweiz über den NAV Hauswirtschaft oder den auf Kantonsebene geltenden NAV geregelt. Spezifische Bestimmungen zu Hausangestellten von diplomatischem Personal sind in der Verordnung vom 6. Juni 201147 über die privaten Hausangestellten (PHV) enthalten. Darüber hinaus hat die Schweiz das IAOÜbereinkommen Nr. 189 vom 16. Juni 201148 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte ratifiziert.

Bst. b: an Orten, wo die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer bezahlt wird, eine Ruhepause einlegt oder eine Mahlzeit einnimmt oder sanitäre Einrichtungen, Waschgelegenheiten und Umkleideeinrichtungen benutzt; Artikel 3 des Übereinkommens verlangt ausdrücklichen einen Zusammenhang zwischen der Ausführung der Arbeit und dem Anwendungsbereich. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass unter Artikel 3 Buchstabe b Räumlichkeiten gemeint sind, welche unter unmittelbarer Kontrolle oder im Einflussbereich der Arbeitgeber stehen.

ArGV 3 regelt die Massnahmen, welche
alle dem Arbeitsgesetz unterstehenden Betriebe für den Gesundheitsschutz zu treffen haben. Laut Artikel 29 ArGV 3 gelten die allgemeinen Bestimmungen zur Gestaltung und Benutzung der Arbeitsräume sinngemäss auch für Garderoben, Waschanlagen, Toiletten, Ess- und Aufenthaltsräume, sowie Sanitätsräume. Dabei handelt es sich in erster Linie um Anforderungen und Massnahmen organisatorischer und technischer Art. Der Gesundheitsschutz umfasst aber auch die physische und psychische Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und betrifft somit auch Massnahmen gegen Gewalt und Belästigung bei der Arbeit. Gemeinsam benutzte Garderoben, Waschanlagen und Toiletten stellen ein erhöhtes Risiko bezüglich Belästigungen, inklusive sexueller Natur, dar. Artikel 29 47 48

SR 192.126 SR 0.822.728.9

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Absatz 3 ArGV 3 fordert daher explizit, dass für Frauen und Männer getrennte Garderoben, Waschanlagen und Toiletten, oder zumindest eine getrennte Benutzung dieser Einrichtungen vorzusehen ist. Letztere ist nur in Ausnahmefällen zulässig, beispielsweise in Betrieben, welche nur bis zu 10 Personen gleichzeitig beschäftigen, oder auf Kleinbaustellen mit Sozialräumen in Baucontainern.

Bst. c: während arbeitsbezogener Fahrten, Reisen, Ausbildungen, Veranstaltungen oder gesellschaftlicher Aktivitäten; Belästigungen auf dem Weg zur Arbeit, in der Freizeit oder im Urlaub fallen unter Art. 4 GlG, sofern es sich beim Täter oder der Täterin um Vorgesetzte oder Arbeitskollegen handelt, mit welchen das Opfer beruflich zusammenarbeiten muss. Neuere Entscheide des Bundesgerichts folgen dieser Auslegeordnung. Davon betroffen sind beispielsweise Apéros oder Abschiedsfeiern (Urteile des Bundesgerichts 4A_124/2017 vom 31. Jan. 2018 und 4A_18/2018 vom 21. Nov. 2018) oder das Versenden von Textnachrichten an Arbeitnehmende, die krankgeschrieben und somit zuhause sind (Urteil des Bundesgerichts 4A_544/2018 vom 29. Aug. 2018). Die Rechtsprechung anerkennt aber durchaus gewisse Einschränkungen aus der Tatsache, dass es sich nicht um das berufliche Umfeld im engeren Sinne handelt. So muss sich beispielsweise das Verhalten im privaten Umfeld auf die Fähigkeit des Opfers hinsichtlich seiner beruflichen Tätigkeit auswirken, was wiederum eine unmittelbare Zusammenarbeit des Opfers mit direkten Vorgesetzen oder Kollegen erfordern kann.

Die Artikel 328 OR und 6 ArG sehen eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers bezüglich dem Schutz der Persönlichkeit seiner Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor.

Diese in der schweizerischen Gesetzgebung vorgesehene Sorgfaltspflicht steht im Einklang mit Artikel 9 des Übereinkommens. Die Verpflichtungen des Arbeitgebers im schweizerischen Recht müssen verhältnismässig sein und dem Grad seiner unmittelbaren Kontrolle über deren Umsetzung und Einhaltung entsprechen. Dieses Verhältnismässigkeitsprinzip entspricht der Flexibilitätsklausel in Artikel 9 des Übereinkommens. Der Grad der Kontrolle der Arbeitgeber auf arbeitsbezogene Aktivitäten, welche ausserhalb des Betriebes stattfinden, ist dementsprechend eingeschränkt.

Während dies den Arbeitgeber nicht von seiner Informationspflicht zu möglichen
Gefährdungen bezüglich Gewalt und Belästigung im Rahmen von Artikel 5 Absatz 1 ArGV 3 entbindet, kann er die Einhaltung entsprechender Massnahmen, wie in Artikel 5 Absatz 2 ArGV 3 vorgesehen, im Sinne der Verhältnismässigkeit nicht überwachen. Bei einer von einem Unternehmen organisierten Schulung oder Reise reicht es beispielsweise aus, wenn der Arbeitgeber nachweisen kann, dass er Regeln oder Verhaltensvorschriften aufgestellt hat, um jegliche Belästigung zu verhindern.

Im Rahmen der allgemeinen Fürsorgepflicht ist der Arbeitgeber dennoch verpflichtet, im Falle ausserbetrieblicher, arbeitsbezogener Aktivitäten Gewalt und Belästigung, inklusive sexueller Belästigung, zu unterlassen und bei konkreten Vorfällen gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzuschreiten. Erneut sei darauf hingewiesen, dass die Anforderungen des Übereinkommens Arbeitgeber nicht für Situationen, Umstände oder Personen verantwortlich machen, die sich ihrer Kontrolle entziehen.

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Bst. d: im Zuge arbeitsbezogener Kommunikation, einschliesslich derjenigen, die durch Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglicht wird; Traditionelle und moderne Kommunikationskanäle können dazu missbraucht werden, bestimmte Personen am Arbeitsplatz zu belästigen. Darunter fallen namentlich auch Mobbing und sexuelle Belästigung. Bezüglich arbeitsbezogener Kommunikation, die eine sexuelle Belästigung darstellt, wird auf die entsprechenden expliziten Bestimmungen in Artikel 328 Absatz 1 OR, Artikel 4 GlG und Artikel 198 StGB verwiesen.

In Bezug auf Informations- und Kommunikationstechnologien ist hinzuzufügen, dass nach Artikel 26 Absatz 1 ArGV 3 Überwachungs- und Kontrollsysteme, die das Verhalten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am Arbeitsplatz überwachen, nicht eingesetzt werden dürfen. Da Überwachungssysteme als belästigend empfunden werden können, ist deren Einrichtung nur unter den folgenden Umständen zulässig: Vorliegen eines klar überwiegenden anderen Interesses, wie zum Beispiel Sicherheit des Personals oder des Betriebs; Verhältnismässigkeit zwischen dem Interesse des Arbeitgebers an einer Überwachung und demjenigen der Arbeitnehmenden, nicht überwacht zu werden; Mitwirkung der Arbeitnehmenden bezüglich Planung, Einrichtung und Einsatzzeiten der Überwachungs- und Kontrollsysteme, sowie bezüglich Speicherungsdauer der mit solchen erfassten Daten.

Belästigung über das Internet kann auch strafrechtlich verfolgt werden. Der Tatbestand nach Artikel 179septies StGB (Missbrauch einer Fernmeldeanlage zur Beunruhigung oder Belästigung einer Person) ist auch bei Cyberstalking anwendbar, da die Bestimmung nebst Telefonanrufen auch E-Mails, Text- oder Bildnachrichten via Telefonnetz, soziale Medien oder Internet umfasst. Aufgrund des offensichtlichen Missbrauchspotenzials mit neuen Telekommunikationsmitteln plant der Bundesrat, die Strafandrohung dieses Delikts anzuheben. Dazu kommen weitere Tatbestände, die in Fällen von Cyberstalking relevant sein können: Unbefugtes Eindringen in ein Datenverarbeitungssystem (Art. 143bis StGB, sog. «Hacking-Strafnorm»), Datenbeschädigung (Art. 144bis StGB) und der vom Bundesrat im Rahmen der Totalrevision des Datenschutzgesetzes vorgeschlagene neue Straftatbestand des Identitätsmissbrauchs49. Diese Bestimmung kommt zum Beispiel zur Anwendung,
wenn stalkende Personen im Namen des Opfers Waren bestellen oder kompromittierende Äusserungen auf sozialen Medien abgeben50.

Bst. e: in von der Arbeitgeberin oder vom Arbeitgeber bereitgestellten Unterkünften; Handelt es sich bei den Unterkünften um einen Teil des Betriebs, wird auf die Ausführungen unter Artikel 3 Buchstabe b verwiesen. Abgesehen davon sind die allgemeinen Bestimmungen des OR anwendbar. Der Arbeitgeber hat in diesem Sinne nach Artikel 328 OR im Arbeitsverhältnis die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu achten und zu schützen. Die Unterkunft für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen gemäss Artikel 3 EntsG dem üblichen Standard am Einsatzort genügen.

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BBl 2017 6941 S. 7127 Bericht des Bundesamts für Justiz vom 12. April 2019 zur Frage der Kodifizierung eines Straftatbestands Stalking zuhanden der Mitglieder der RK-N. Bern.

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Private Haushalte sind vom Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes ausgenommen (Art. 2 Abs. 1 Bst. g ArG). Lebt die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer in Hausgemeinschaft mit dem Arbeitgeber, so hat dieser nach Artikel 328a OR für ausreichende Verpflegung und einwandfreie Unterkunft zu sorgen. Dies bedeutet, dass die Unterkunft ausreichend gross, sauber, frei von Gesundheitsgefahren sein und den Schutz der Privatsphäre erlauben muss. Falls es sich beim Arbeitgeber von privaten Hausangestellten um eine Person mit Vorrechten, Immunitäten und Erleichterungen handelt, regelt Artikel 30 PHV die Anforderungen an die Unterkunft. Diese mit der eidgenössischen Rechtsordnung wenig vertraute Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern unterliegt damit einer spezifischen Gesetzgebung.

Betreffend Unterkünften auf Baustellen wird darauf verwiesen, dass es zwischen den Sozialpartnern vereinbarte und allgemein verbindlich erklärte Vorgaben zur Ausstattung der Unterkünfte und der Hausordnung gibt51.

Bst. f: auf dem Weg zur und von der Arbeit.

Belästigungen auf dem Weg zur Arbeit, in der Freizeit oder im Urlaub fallen unter Artikel 4 GlG, sofern es sich beim Täter oder der Täterin um Vorgesetzte oder Arbeitskollegen handelt, mit welchen das Opfer beruflich zusammenarbeiten muss.

Die schweizerische Gesetzgebung definiert den Arbeitsweg nicht im Detail. Gemäss Artikel 13 Absatz 1 ArGV 1 gilt der Weg zu und von der Arbeit jedoch grundsätzlich nicht als Arbeitszeit sofern die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer sich nicht zur Verfügung des Arbeitgebers hält. Wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht, wird dies unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsort als Arbeitszeit betrachtet. Es spielt somit keine Rolle, ob sich die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer im Betrieb, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder anderswo zur Verfügung zu halten hat. Aus privatrechtlicher Sicht ist das Weisungsrecht des Arbeitgebers im Sinne von Artikel 321d OR, aber auch die Fürsorgepflicht gemäss Artikel 328 OR somit beschränkt, es sei denn, der Arbeitgeber organisiert den Transport der Arbeitnehmenden selbst und behält somit die unmittelbare Kontrolle über den Arbeitsweg. Da die oben erwähnten Flexibilitätsklauseln des Artikel 9 des Übereinkommens es der Schweiz ermöglichen, den Arbeitgebern keine
Massnahmen aufzuerlegen, die unangemessen oder praktisch nicht durchführbar wären, ist die Tatsache, dass Artikel 328 OR nicht auf dem Weg zur und von der Arbeit anwendbar ist, kein Hindernis für die Ratifikation. Die eingeholte Rechtsmeinung des IAA lautet in dieser Frage folgendermassen: «Was die spezifische Frage der Gewalt und Belästigung auf Weg zur Arbeit betrifft, so ist klar, dass eine Reihe von Massnahmen, einschliesslich präventive Massnahmen, ergriffen werden können, um das Risiko von Gewalt und Belästigung auf dem Weg zur Arbeit zu verringern oder zu beseitigen, natürlich abhängig von einer Reihe von Faktoren wie der Grösse und Finanzkraft des betroffenen Unternehmens oder den örtlichen Gegebenheiten. Beispiele hierfür (nur zur Veranschaulichung) wären die Organisation der Arbeitszeit, so dass öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung ste-

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Landesmantelvertrag Bauhauptgewerbe 2019­2022, Anhang 6.

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hen, wenn die Arbeitnehmer ihre Arbeit aufnehmen oder verlassen, oder die Aufrechterhaltung der Parkplatzbeleuchtung, bis die Mitarbeiter das Betriebsgelände verlassen haben».

Grundsätzlich verlangt das Arbeitsgesetz eine Vermeidung jeder Gesundheitsbeeinträchtigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Diese Verantwortung liegt primär beim Arbeitgeber und unterliegt dem Verhältnismässigkeitsprinzip. Falls der Arbeitsweg aufgrund der vom Arbeitgeber vorgegebenen Arbeitsorganisation ein überdurchschnittliches Gefahrenpotential aufweist, können spezifische Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angebracht sein. Gemäss der informellen Rechtsmeinung des IAA obliegt es der Regierung, alle möglichen Situationen sorgfältig zu prüfen und die Art der Massnahmen festzulegen, die von den Arbeitgebern zu ergreifen sind. Solche Massnahmen können wie erwähnt zum Beispiel eine angemessene Beleuchtung des Firmengeländes, beziehungsweise der Parkplätze für Arbeitnehmende, beinhalten. Des Weiteren kann der Arbeitgeber die Arbeitszeiten so gestalten, dass Randzeiten vermieden und ein Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel gewährleistet werden kann, falls dadurch allfällige Risiken von Gewalt und Belästigung gemindert werden können. Der Aufwand für die Umsetzung solcher Massnahmen muss im Verhältnis zum Nutzen jedoch in einem zumutbaren und wirtschaftlichen Verhältnis stehen. Das Gesundheitsrisiko ist dabei gegen die Art und Grösse und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Betriebs abzuwägen. Der Arbeitgeber muss aufzeigen, dass er seine Verpflichtungen zum Schutz der physischen und psychischen Integrität gemäss der geltenden Gesetzgebung getroffen hat.

Nach den Flexibilitätsklauseln in Artikel 9 ist aber ersichtlich, dass der Arbeitgeber keine unmittelbare Kontrolle über allfällige Fälle von Gewalt und Belästigung seiner Arbeitnehmenden durch Dritte auf dem Arbeitsweg in öffentlichen Verkehrsmitteln hat. Wird eine Arbeitnehmende beispielsweise auf ihrem Arbeitsweg in öffentlichen Verkehrsmitteln belästigt, entzieht sich dieser Vorfall der Kontrolle des Arbeitgebers.

Er hat jedoch den Arbeitsablauf so zu gestalten, dass Gesundheitsgefährdungen der Arbeitnehmenden nach Möglichkeit vermieden werden (Art. 6 Abs. 2 ArG).

Ein Arbeitgeber, der regelmässig Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in der Nacht beschäftigt, ist gemäss Artikel 17e ArG auch verpflichtet, soweit nach den Umständen erforderlich weitere geeignete Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmenden vorzusehen, namentlich im Hinblick auf die Sicherheit des Arbeitsweges und die Organisation des Transportes. Diese Bestimmung trägt den speziellen Arbeitsantritt- und Arbeitsendzeiten, sowie den infrastrukturellen Herausforderungen Rechnung. Daher ist der Arbeitgeber bei regelmässiger Anwendung von Nachtarbeit verpflichtet, zusätzliche Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu prüfen, soweit dies erforderlich ist. Dazu gehört das Abklären des entsprechenden Bedürfnisses. Der Arbeitgeber hat die Pflicht dafür zu sorgen, dass der Arbeitsweg in diesem Fall gefahrlos zurückgelegt werden kann und geeignete Massnahmen zu treffen für Arbeitszeiten, in denen keine öffentlichen Transportmittel verkehren. Dabei hat der Arbeitgeber beispielsweise sicherzustellen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihr eigenes Verkehrsmittel benutzen oder den Arbeitsweg in Fahrgemeinschaften zurücklegen können. Frauen geniessen einen besonderen Schutzanspruch auf ihrem Weg zur Arbeit. Zudem hat der Arbeitgeber dafür zu sorgen, dass alle in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einschliesslich der dort tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern anderer Betriebe, 21 / 48

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ausreichend und angemessen informiert werden über vorgesehene Massnahmen bei Nachtarbeit (Art. 70 ArGV 1).

Angesichts der obigen Erläuterungen kann Artikel 3 des Übereinkommens angenommen werden.

Art. 4 Artikel 4 Absatz 1 verpflichtet jeden Staat, der das Übereinkommen ratifiziert hat, das Recht einer jeden Person auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung zu achten, fördern und verwirklichen.

Der Schutz der Persönlichkeit in den zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Bestimmungen im Bereich des Arbeitnehmerschutzes achtet das Recht jeder Person in der Schweiz auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung. Die schweizerische Gesetzgebung und Praxis sehen entsprechend diesem umfassenden Ansatz Massnahmen in den Bereichen Prävention, Schutz, Durchsetzung, Rechtsbeihilfe, sowie Ausbildung und Sensibilisierung vor.

Laut Artikel 4 Absatz 2 soll jedes Mitglied im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Gegebenheiten und in Beratung mit den repräsentativen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden einen inklusiven, integrierten und geschlechterorientierten Ansatz zur Verhinderung und Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt annehmen. Ein solcher Ansatz sollte gegebenenfalls Gewalt und Belästigung, bei der Dritte beteiligt sind, berücksichtigen und umfasst: a) ein gesetzliches Verbot von Gewalt und Belästigung; b) die Sicherstellung, dass einschlägige Politiken Gewalt und Belästigung angehen; c) die Annahme einer umfassenden Strategie, um Massnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung umzusetzen; d) die Einrichtung von oder Stärkung bestehender Durchsetzungsund Überwachungsmechanismen; e) die Sicherstellung, dass Opfer Zugang zu Abhilfemassnahmen und zur Unterstützung haben; f) Sanktionen; g) die Entwicklung von Instrumenten, Leitlinien sowie Bildungs- und Schulungsangeboten und Sensibilisierung, gegebenenfalls in zugänglichen Formaten; und h) die Sicherstellung wirksamer Vorkehrungen für die Aufsicht und Untersuchung in Fällen von Gewalt und Belästigung, einschliesslich durch Arbeitsaufsichtsbehörden oder andere zuständige Stellen.

In ihrer Praxis und in Übereinstimmung mit der nationalen Gesetzgebung verfolgt die Schweiz einen umfassenden und integrativen Ansatz, der darauf abzielt, die persönliche Integrität aller Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern zu schützen. Der Schutz der persönlichen Integrität vor Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt wird durch eine Reihe von Gesetzen, Richtlinien und Strategien umgesetzt.

Dieser Ansatz wird durch explizite geschlechterspezifische Bestimmungen komplementiert, insbesondere im Falle sexueller Belästigung (Art. 328 Abs. 2 OR, Art. 4 GlG).

Gemäss Artikel 328 OR hat der Arbeitgeber auch die Pflicht, seine Angestellten während der Arbeit vor Übergriffen Dritter zu schützen. Der Schutz der physischen und psychischen Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Artikel 6 ArG und Artikel 2 ArGV 3 verpflichtet den Arbeitgeber ebenfalls dazu, seine Angestellten

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vor Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und allenfalls vor Kundeninnen und Kunden zu schützen.

In Gesetzesrevisionen im Rahmen der Bekämpfung von Gewalt und Belästigung werden alle interessierten Kreise und Dachverbände konsultiert. In Vernehmlassungen stellt das SECO die Koordination mit den Sozialpartnern gemäss den Vorgaben des Übereinkommens durch die ihm unterstellte TPK-IAO sicher.

Bst. a Gemäss schweizerischem Strafrecht ist Gewalt in verschiedenen Ausprägungen sowie sexuelle Belästigung strafbar. Die Bestimmungen, die Gewalt und Belästigung verbieten, sind im Kommentar zu Artikel 2 Absatz 1 des Übereinkommens aufgeführt.

Bst. b Die Bekämpfung von Gewalt und Belästigung ist ein wiederkehrendes Thema in der nationalen Politik der Schweiz. Das SECO und die kantonalen Arbeitsinspektorate führten zudem mit Unterstützung der Sozialpartner zwischen 2014 und 2018 einen Vollzugsschwerpunkt zu psychosozialen Risiken durch. Für mehr Informationen zur innerstaatlichen Politiken gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ist auf den Kommentar zu Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a und Artikel 6 bezüglich Politiken, die das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf gewährleisten, zu verweisen.

Bst. c Darüber hinaus hat der Bundesrat am 28. April 2021 die Gleichstellungsstrategie 2030 verabschiedet. In dieser Strategie ist die Bekämpfung von Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt der Fokus von zwei der vier Handlungsfelder. Ein Entwurf der Strategie wurde den Sozialpartnern zur Konsultation vorgelegt. Es ist zu betonen, dass Buchstabe c nicht die Annahme einer spezifischen Strategie, sondern einen umfassenden Ansatz verlangt. Dies entspricht der Gesetzgebung und Praxis in der Schweiz.

Bst. d Die Durchsetzungsmechanismen des öffentlich-rechtlichen Arbeitsgesetzes und seinen Verordnungen obliegen in erster Linie den Kantonen. Nach Artikel 41 Absatz 1 ArG bezeichnen die Kantone die zuständigen Vollzugsbehörden, im vorliegenden Fall die kantonalen Arbeitsinspektorate. Auf der anderen Seite übt der Bund die Oberaufsicht über den Vollzug aus und kann den kantonalen Vollzugsbehörden Weisungen erteilen (Art. 42 ArG). Für detaillierte Hinweise ist auf die Ausführungen zu Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a zu verweisen.

Bst. e Das OHG, die StPO sowie das ZeugSG schützen
Opfer und stellen sicher, dass sie Zugang zu Abhilfemassnahmen und Unterstützung haben. Der Schutz vor Vergeltungsmassnahmen im privatrechtlichen Sinne wird einerseits durch den Schutz vor missbräuchlicher Kündigung (Art. 336 OR) und im Allgemeinen auch durch den Schutz der Persönlichkeit nach Artikel 328 OR gewährleistet. Für detaillierte Hinweise ist auf den Kommentar zu Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe b zu verweisen.

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Bst. f Fälle von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt können in der Schweiz unterschiedliche privatrechtliche, öffentlich-rechtliche und strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Das StGB, das ZGB, das OR, das GlG und das ArG sehen bestimmte Sanktionen in Fällen von Gewalt und Belästigung. Für detaillierte Hinweise ist auf den Kommentar zu Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe d zu verweisen.

Bst. g Betreffend sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz stellen das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) und das SECO spezifische Informationsmaterialen aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmersicht zur Verfügung. Das SECO bietet diverse Tools und Materialien zur Information, Unterstützung und Sensibilisierung im Bereich von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt an. Für detaillierte Hinweise ist auf den Kommentar zu Artikel 11 Buchstabe b zu verweisen.

Bst. h Die kantonalen Arbeitsinspektorate haben die Aufgabe zu überprüfen, ob der Arbeitgeber die Pflichten des Arbeitsgesetzes korrekt umgesetzt hat. Es handelt sich dabei in der Regel um Systemkontrollen und nicht um Ermittlungen betreffend einen konkreten Einzelfall. So ist es nicht in erster Linie Aufgabe der Arbeitsinspektoren, Befragungen durchzuführen, um beispielsweise zu eruieren, ob es in einem konkreten Fall zu sexueller Belästigung oder Gewaltausübung kam. Ihre Aufgabe besteht darin zu überprüfen, ob der Arbeitgeber die ihm zumutbaren Massnahmen getroffen hat und ob beispielsweise ein innerbetriebliches Verfahren besteht, um solche Vorfälle zu melden. Zur Umsetzung und Durchsetzung der nationalen Gesetzgebung zu Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt und den Arbeitsaufsichtssystemen ist auf die Kommentare zu Artikel 10 Buchstabe a und h zu verweisen.

Artikel 4 Absatz 3 verpflichtet die Mitgliedstaaten bei der Annahme und Umsetzung des in Artikel 4 Absatz 2 genannten Ansatzes dazu, die verschiedenen und komplementären Rollen und Aufgaben von Regierungen sowie von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren jeweiligen Verbänden anzuerkennen und dem unterschiedlichen Charakter und Ausmass ihrer jeweiligen Verantwortlichkeiten Rechnung zu tragen. Mit diesem Absatz hebt das Übereinkommen hervor, dass die Mitgliedstaaten in erster Linie für die Umsetzung des Übereinkommens zuständig
sind, dabei jedoch die wichtige Rolle der Sozialpartner bei dessen Umsetzung anerkennen.

Dieser Grundsatz widerspiegelt die qualifizierte Verantwortung des Arbeitgebers gemäss dem Kommentar und der zitierten Rechtsmeinung des IAA zu Artikel 9, welcher entsprechende Flexibilitätsklauseln enthält. Diese Vorgabe entspricht somit der Gesetzgebung und Praxis in der Schweiz.

Der Ausdruck «im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Gegebenheiten» stellt eine Flexibilitätsklausel dar, die der Schweiz eine Umsetzung der Verpflichtung im Einklang mit der bestehenden Gesetzgebung erlaubt. Aus den oben dargelegten Gründen und aufgrund der durch Artikel 4 Absatz 2 ermöglichten Flexibilität kann Artikel 4 des Übereinkommens angenommen werden.

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Art. 5 Gemäss Artikel 5 sollen im Hinblick auf die Prävention und Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit geachtet, gefördert und verwirklicht werden.

Die Schweiz hat die Erklärung der IAO von 1998 über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit angenommen52. Diese Rechte umfassen die Vereinigungsfreiheit, und die effektive Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen, die Beseitigung aller Formen von Zwangs- oder Pflichtarbeit, die effektive Abschaffung der Kinderarbeit und die Beseitigung der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf.

Die Schweiz hat die acht Kernübereinkommen der IAO, welche diese Rechte garantieren, ratifiziert. Diese grundlegenden Rechte gelten ausnahmslos für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie sind in der Bundesverfassung und verschiedenen schweizerischen Gesetzen zum Arbeitsrecht und weiteren von der Schweiz ratifizierten Übereinkommen der IAO verankert.

Artikel 5 des Übereinkommens kann daher angenommen werden.

Art. 6 Artikel 6 sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat, welcher das Übereinkommen ratifiziert, Rechtsvorschriften und Politiken annimmt, welche das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung in Beschäftigung und Beruf gewährleisten. Dies gilt insbesondere für Arbeitnehmerinnen und anderen Personen, welche unverhältnismässig stark von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt betroffen sind.

Der Grundsatz der Rechtsgleichheit und des Diskriminierungsverbots sind in Artikel 8 der BV verankert. Laut Artikel 8 Absatz 3 BV sind Mann und Frau gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.

Das GlG konkretisiert Artikel 8 Absatz 3 BV und sieht, unter anderem, das Verbot der direkten oder indirekten Diskriminierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufgrund ihres Geschlechts vor. In der Legislaturplanung 2019­2023 hat der Bundesrat konkrete Massnahmen zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter vorgesehen. Zentral ist hierbei die verabschiedete Gleichstellungsstrategie 2030.

Inhaltlich stehen die folgenden Handlungsfelder im Vordergrund: Berufliches und öffentliches Leben Vereinbarkeit und Familie;
geschlechtsspezifische Gewalt sowie Diskriminierung. Ziel ist es, die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern (Art. 8 Abs. 3 BV) umzusetzen.

Menschen mit Behinderungen gehören zu einer besonders gefährdeten Gruppe von Menschen, welche unverhältnismässig stark von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt betroffen sind. Das BehiG hat zum Zweck, Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, denen erstere ausgesetzt sind (Art. 1 Abs. 1 BehiG). Es setzt laut Artikel 1 Absatz 2 Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen unter anderem erleichtern, sich aus- und weiterzubilden und eine 52

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Erwerbstätigkeit auszuüben. Während sich das BehiG auf die öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnisse des Bundes beschränkt, sind die allgemeinen Schutzbestimmungen nach Artikel 28 ZGB und Artikel 328 OR anwendbar. In seinem Bericht zur Behindertenpolitik vom 9. Mai 201853 hat der Bundesrat das Thema Gleichstellung und Arbeit als behindertenpolitischen Schwerpunkt für den Zeitraum 2018­2021 gewählt. Im Vordergrund des Schwerpunktprogramms stand die Verbesserung der Kenntnisse relevanter Akteure und die Sensibilisierung, es richtete sich neben Bund und Kantonen insbesondere auch an Unternehmen sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter. Die Sozialpartner waren in der Begleitgruppe des Schwerpunktprogramms vertreten.

Aufgrund der erläuterten innerstaatlichen Bestimmungen und Politiken in der Schweiz kann Artikel 6 des Übereinkommens angenommen werden.

Art. 7 Artikel 7 fordert von jedem Mitgliedstaat, der das Übereinkommen ratifiziert hat, dass er Rechtsvorschriften zur Definition und zum Verbot von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt annimmt, einschliesslich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung.

In diesem Kontext wird auf die Erläuterungen zu den Artikeln 1­3 zu den Begriffsbestimmungen und zum Geltungsbereich verwiesen. Der umfassende und integrierte Schutz der Persönlichkeit im Allgemeinen und von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Besonderen in der schweizerischen Gesetzgebung und Praxis deckt auch ein Verbot von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ab. Gewalt und Belästigung, sowie geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, sind in der Schweiz gemäss den obigen Ausführungen in verschiedenen Gesetzen definiert und verboten. Eine spezifische Definition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt erachtet der Bundesrat aus diesem Grund daher nicht als nötig.

In Kombination mit den unter Artikel 1 erwähnten, geschlechtsspezifischen Gesetzestexten zu Gewalt und Belästigung, erlaubt das schweizerische Recht die Annahme von Artikel 7.

Art. 8 Artikel 8 verlangt geeignete Massnahmen zur Prävention von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt von allen Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen ratifiziert haben.

Wie der Bundesrat in seinem Kommentar zu Artikel 4 Absatz 1 ausführt, verfolgt die Schweiz einen systematischen Ansatz im Bereich der
Prävention psychosozialer Risiken bei der Arbeit.

Die Prävention von psychosozialen Risiken und die Kontrolle der Anforderungen an die Unternehmen zum Schutz der physischen und psychischen Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehören zu den Kernaufgaben der eidgenössischen und kantonalen Vollzugsorgane. Das SECO und die kantonalen Arbeitsinspektorate 53

www.edi.admin.ch > EBGB > Behindertenpolitik

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führten mit Unterstützung der Sozialpartner zwischen 2014 und 2018 einen Vollzugsschwerpunkt zu psychosozialen Risiken durch. Das Hauptziel der getroffenen Massnahmen stellte die verstärkte Prävention psychosozialer Risiken am Arbeitsplatz, darunter Gewalt und Belästigung, dar. Der Schutz der persönlichen Integrität war dabei eine Priorität. Zur Unterstützung der Arbeitsinspektorinnen und Arbeitsinspektoren führte das SECO Weiterbildungen durch und erstellte einen Leitfaden, um die Behandlung psychosozialer Risiken in der Inspektionstätigkeit zu vereinfachen. Die Inspektoren sprachen psychosoziale Risiken bei ihren Inspektionsbesuchen systematisch an und sensibilisierten, informierten und berieten Arbeitgeber betreffend ihrer Verantwortung gemäss den geltenden Bestimmungen des Gesundheitsschutzes. Für die Arbeitgeber wurden zudem verschiedene Informationsmaterialien und Tools zur Verfügung gestellt, welche im Kommentar zu Artikel 11 Buchstabe b des Übereinkommens ausgeführt sind.

Artikel 8 Buchstabe a verlangt die Anerkennung der wichtigen Rolle der Behörden im Fall von Beschäftigten in der informellen Wirtschaft.

Die relevanten innerstaatlichen Bestimmungen zur Prävention von Gewalt und Belästigung gelten für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Schweiz. Es gelten die gleichen rechtlichen Grundlagen. Beschäftigte in der informellen Wirtschaft haben die gleichen Rechte bezüglich der Anerkennung ihrer zivilrechtlichen Ansprüche und können auch Beratungen zu arbeitsrechtlichen Fragen in Anspruch nehmen.

Die arbeitsmarktlichen Aufsichtsdispositive gemäss ArG, BGSA und EntsG gelten in der gesamten Wirtschaft. In diesem Sinne sieht die Schweiz keine spezifischen Massnahmen zur Prävention von Gewalt und Belästigung im informellen Sektor vor.

Artikel 8 Buchstaben b und c verlangen zudem, dass in Beratung mit den betreffenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden und durch andere Mittel festgestellt wird, in welchen Sektoren oder Berufen und Arbeitssituationen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und andere betroffene Personen Gewalt und Belästigung stärker ausgesetzt sind. Schliesslich sind Massnahmen zu ergreifen, um solche Personen wirksam zu schützen.

Die TPK-IAO prüft gemäss ihrem Mandat die Ratifizierung von Übereinkommen der IAO und wird zu Massnahmen zur Förderung der Umsetzung
ratifizierter Übereinkommen der IAO beigezogen. Die TPK-IAO wird in regelmässigen Abständen zur Umsetzung von Artikel 8 Buchstaben b und c konsultiert werden. Je nach Bedarf werden weitere fachspezifische, tripartite Kommissionen des Bundes und Spezialistinnen und Spezialisten der Bundesverwaltung in die Beratungen einbezogen.

Unter diesen Umständen kann Artikel 8 des Übereinkommens angenommen werden.

Art. 9 Artikel 9 legt fest, dass alle Mitgliedstaaten, welche das Übereinkommen ratifiziert haben, Rechtsvorschriften annehmen, die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber dazu verpflichten, geeignete und dem Grad ihrer Kontrolle angemessene Schritte zu unternehmen, um Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, einschliesslich geschlechtsspezifischer Gewalt, zu verhindern.

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Dieser Artikel enthält die Flexibilitätsklauseln «geeignete und dem Grad ihrer Kontrolle angemessene Schritte» und «soweit dies angemessen und praktisch durchführbar ist». Diese Flexibilitätsklauseln lassen den Mitgliedstaaten einen gewissen Handlungsspielraum in der Umsetzung des Artikels. An dieser Stelle ist erneut auf die Rechtsmeinung des IAA zu den Anforderungen des Übereinkommens gemäss Artikel 9 zu verweisen: «Die Vorarbeiten zum Übereinkommen Nr. 190, insbesondere die Vorgeschichte der Verhandlungen über den ersten Satz oder die Überschrift des Artikels 9, liefern eine Reihe von Aufschlüssen über die Bedeutung und Tragweite der beiden oben genannten Einschränkungen, insbesondere über die Absicht der Konferenz, die Verantwortung der Arbeitgeber im Hinblick auf den breiten Anwendungsbereich des Übereinkommens zu begrenzen.

Der Aspekt der Kontrolle wurde ebenfalls in das Übereinkommen aufgenommen, um klarzustellen, dass von Arbeitgebern nicht erwartet werden kann, dass sie für Örtlichkeiten verantwortlich gemacht werden, über die sie keine Kontrolle haben.

Das Amt hatte ausserdem klargestellt, dass sich dieser Satzteil auf bezieht. Unbestreitbar hängt die Frage, was ist, zum Teil davon ab, wie viel Kontrolle ein Arbeitgeber über eine bestimmte Situation hat.

Die sich aus Artikel 9 ergebende Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, den Arbeitgebern vorzuschreiben, Massnahmen zu ergreifen, gilt in dem in diesem Artikel vorgesehenen Umfang für alle möglichen Vorfälle von Gewalt und Belästigung, wie sie in Artikel 1 definiert sind, gegen Personen, die nach Artikel 2 als gefährdet gelten, an allen Orten oder in allen Situationen, die in Artikel 3 vorgesehen sind.

Es sollte auch beachtet werden, dass die Verantwortung des Arbeitgebers bei einer kombinierten Lektüre der Artikel 3 und 9 unbestreitbar ist, diese Verantwortung nichtsdestotrotz in zweierlei Hinsicht qualifiziert ist. Die vorgeschriebenen Massnahmen müssen dem des Arbeitgebers entsprechen und getroffen werden, . Diese beiden Einschränkungen spiegeln den allgemeinen Grundsatz in Artikel 4 Absatz 3 des
Übereinkommens wider, der besagt, jeder Mitgliedstaat erkennt Das Amt erläuterte, dass dies bedeute, dass Arbeitgeber, Zusammenfassend und hervorgehend aus den Vorbereitungsarbeiten lässt sich sagen, dass der Grundsatz, dass die Vertragsstaaten Rechtsvorschriften erlassen sollten über die Pflichten und Verantwortungen der Arbeitgeber zur Ergreifung von Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung, nie in Frage gestellt

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wurde. Es wurde jedoch weitgehend anerkannt, dass von den Arbeitgebern nur Massnahmen verlangt werden können, die vernünftigerweise durchführbar sind.» Artikel 4 GlG präzisiert die Präventionspflicht des Arbeitgebers in Bezug auf sexuelle Belästigungen bei der Arbeit. Aus privatrechtlicher Sicht ist der Arbeitgeber nach Artikel 328 OR dazu verpflichtet, die Persönlichkeit der Arbeitnehmenden zu achten und zu schützen, und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insbesondere vor sexueller Belästigung zu schützen. Er hat zum Schutz von Leben, Gesundheit und persönlicher Integrität seiner Angestellten die notwendigen Massnahmen zu treffen, die ihm verhältnismässig zugemutet werden können.

Aus öffentlich-rechtlicher Sicht verlangt das Arbeitsgesetz, dass jede Gesundheitsbeeinträchtigung zu vermeiden ist. Diese Verantwortung liegt primär beim Arbeitgeber.

Artikel 6 Absatz 1 ArG und Artikel 2 ArGV 3 beinhalten die Verpflichtung, alle erforderlichen Massnahmen zum Schutz der persönlichen Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorzusehen. Wie mehrfach erwähnt wurde, beinhaltet diese Verantwortung auch die Verpflichtung, Massnahmen gegen Mobbing, Gewalt, und andere Formen von Belästigung zu ergreifen.

Soweit dies angemessen und praktisch durchführbar ist, sollen diese Schritte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber insbesondere dazu verpflichten: Bst. a: in Beratung mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie ihren Vertretungen eine Arbeitsplatzpolitik zu Gewalt und Belästigung anzunehmen und umzusetzen; Das schweizerische Recht enthält keine spezifischen Verpflichtungen bezüglich einer Arbeitsplatzpolitik zu Gewalt und Belästigung. Diese Verpflichtung fällt jedoch unter die allgemeinen Fürsorgepflichten des Arbeitgebers zum Schutze der persönlichen Integrität. Im Rahmen der allgemeinen Fürsorgepflicht im Bereich des Gesundheitsschutzes ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über getroffene Massnahmen zu informieren (Art. 5 ArGV 3). Der Arbeitgeber muss nach Artikel 5 Absatz 2 ArGV 3 auch dafür sorgen, dass die angeordneten Massnahmen eingehalten werden. Neben klaren Anweisungen gehört dazu auch das Wahrnehmen einer verantwortungsvollen Vorbildrolle und die konsequente Durchsetzung der angeordneten Massnahmen. Zudem werden die besonderen Mitwirkungsrechte der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Fragen des Arbeitnehmerschutzes nach Artikel 10 Mitwirkungsgesetz in Sachen Gesundheitsschutz im schweizerischen Recht weiter konkretisiert. Gemäss Artikel 48 ArG und Artikel 6 Absatz 1 ArGV 3 haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Mitspracherecht in allen Angelegenheiten des Gesundheitsschutzes. Dieses Recht auf Information und Mitsprache umfasst einen Anspruch auf Anhörung, Beratung und Begründung gemäss Artikel 48 Absatz 2 ArG. Vor einem entsprechenden Entscheid hat der Arbeitgeber seine Angestellten anzuhören und ihnen die Möglichkeit zu gewähren, Vorschläge einzubringen.

Ausführungen zu entsprechenden Informationen und Schulungen, sowie Rechten und Pflichten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind unter Artikel 9 Buchstabe d ausgeführt. Betriebliche Streitbeilegungsmechanismen in Fällen von Gewalt und Belästigung werden unter den Ausführungen zu Artikel 10 Buchstabe b kommentiert.

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Bst. b: Gewalt und Belästigung und damit verbundene psychosoziale Risiken beim Arbeitsschutzmanagement zu berücksichtigen; Eine mangelhafte Arbeitsorganisation oder ein mangelhafter Arbeitsprozess kann zu psychosozialen Beeinträchtigungen führen und das Risiko von Gewalt und Belästigung bei der Arbeit erhöhen. Der Arbeitgeber hat den Arbeitsablauf laut Artikel 6 Absatz 2 ArG daher so zu gestalten, dass Gesundheitsgefährdungen vermieden werden. Eine geeignete Arbeitsorganisation ist nach ArgV 3 weit gefasst. Die zu treffenden Massnahmen sind dabei in erster Linie organisatorischer Natur und müssen dem Prinzip der Verhältnismässigkeit entsprechen. Darunter fallen Aspekte im Zusammenhang mit Mängeln in der Arbeitsorganisation, einem Arbeitsklima oder einer Kultur innerhalb des Betriebs, die psychosoziale Risiken begünstigen, aber auch unregelmässige Arbeitseinsätze und ungünstige Stundenpläne. Artikel 3 Absatz 2 GlG präzisiert, dass das Verbot von belästigendem Verhalten aufgrund sexueller Natur oder der Geschlechtszugehörigkeit insbesondere auch für die Aufgabenzuteilung und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen gilt. Ausführungen zum Vollzugsschwerpunkt zu psychosozialen Risiken von 2014 bis 2018 sind im Kommentar zu Artikel 8 enthalten.

Bst. c: unter Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihrer Vertretungen Gefahren zu ermitteln und die Risiken von Gewalt und Belästigung zu bewerten sowie Massnahmen zu ihrer Verhinderung und Kontrolle zu ergreifen; Die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bezug auf Massnahmen zu Gewalt und Belästigung, bzw. dem Schutz der persönlichen Integrität im Allgemeinen, sind unter Artikel 9 Buchstabe a ausgeführt. Die Anordnungen und Massnahmen, welche der Arbeitgeber nach Artikel 2 ArGV 3 zu treffen hat, haben die Einhaltung diverser Grundprinzipien einer geeigneten Organisation einzuhalten.

Darunter fallen das Vermeiden von Risiken, das Abschätzen und Minimieren unvermeidbarer Risiken, und das Bekämpfen von Risiken an der Wurzel. Gemäss dem Prinzip der Verhältnismässigkeit müssen Schutzmassnahmen entsprechend den Gefahren und dem Schädigungspotential getroffen werden.

Bst. d: den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie anderen betroffenen Personen Informationen und Schulungen über die ermittelten Gefahren und Risiken von Gewalt
und Belästigung und die damit verbundenen Präventions- und Schutzmassnahmen bereitzustellen, einschliesslich über ihre Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit der in Buchstabe a) dieses Artikels genannten Politik, gegebenenfalls in zugänglichen Formaten.

Nach Artikel 5 Absatz 1 ArGV 3 hat der Arbeitgeber dafür zu sorgen, dass alle in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einschliesslich der dort tätigen Arbeitnehmenden eines anderen Betriebes, ausreichend und angemessen informiert und angeleitet werden über die bei ihren Tätigkeiten möglichen physischen und psychischen Gefährdungen sowie über die Massnahmen des Gesundheitsschutzes. Diese Information und Anleitung haben zum Zeitpunkt des Stellenantritts und bei jeder wesentlichen Änderung der Arbeitsbedingungen zu erfolgen und sind nötigenfalls zu wiederholen. In Bezug auf eine Gefährdung der persönlichen Integrität, wie zum Beispiel im Fall von Mobbing und sexueller Belästigung, ist auf eine 30 / 48

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neutrale Ansprechperson hinzuweisen, soweit dies angemessen und praktisch durchführbar ist (Urteil des Bundesgerichts 2C_462/2011 E. 4.2 vom 9. Mai 2012). Der Arbeitgeber muss Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch darauf hinweisen, dass sie die angeordneten Massnahmen gemäss Artikel 10 ArGV 3 zu befolgen haben. Eine Abgabe schriftlicher Dokumente zur Instruktion ist nicht ausreichend. Zudem muss der Information von fremdsprachigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besondere Beachtung geschenkt werden. Die Wegleitung zur Verordnung 3 des Arbeitsgesetzes des SECO empfiehlt zudem ein Betriebsreglement, welches die Bestimmungen und Einstellungen der Unternehmensführung gegenüber physischen und psychischen Gefährdungen explizit erwähnt. Gemäss Artikel 5 Absatz 3 ArGV 3 gehen Kosten für solche Informationen und Schulungen zulasten des Arbeitgebers. Sie haben bei vollem Lohn und während der üblichen Arbeitszeiten zu erfolgen.

Unter Berücksichtigung der flexiblen einleitenden Formulierung betreffend die Verantwortung des Arbeitgebers ist Artikel 9 des Übereinkommens mit der schweizerischen Rechtsprechung und Praxis vereinbar und kann angenommen werden.

Art. 10 Artikel 10 erfordert von allen Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen ratifiziert haben, dass sie angemessene Massnahmen treffen, um: Bst. a: die innerstaatlichen Rechtsvorschriften gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu überwachen und durchzusetzen; Der Vollzug des öffentlich-rechtlichen Arbeitsgesetzes und seinen Verordnungen obliegt in erster Linie den Kantonen. Nach Artikel 41 Absatz 1 ArG bezeichnen die Kantone die zuständigen Vollzugsbehörden, im vorliegenden Fall die kantonalen Arbeitsinspektorate. Auf der anderen Seite übt der Bund die Oberaufsicht über den Vollzug aus und kann den kantonalen Vollzugsbehörden Weisungen erteilen (Art. 42 ArG). Zudem überprüft die eidgenössische Arbeitsinspektion die Bestimmungen des Gesundheitsschutzes in der Bundesverwaltung und den Betrieben des Bundes. Während die Behörden zum Schutz der persönlichen Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor allem durch Information, Beratung und Sensibilisierung der Unternehmen vorbeugend tätig sind, können sie bei Problemfällen auch eingreifen.

Aufgrund des Verhältnismässigkeitsprinzips wird bei Verstössen gegen das Arbeitsgesetz zunächst
eine Verwarnung ausgesprochen und eine angemessene Frist gesetzt, bis zu deren Ablauf der Missstand behoben werden muss. Leistet der Arbeitgeber dieser Aufforderung keine Folge, kann die zuständige Behörde eine entsprechende Verfügung in Verbindung mit einer Strafandrohung nach Artikel 292 StGB erlassen (Art. 51 Abs. 2 ArG). Gemäss Artikel 54 ArG sind die zuständigen Behörden verpflichtet, Anzeigen wegen Nichtbefolgung des Gesetzes, einer Verordnung oder einer Verfügung zu prüfen und, falls die Anzeigen begründet sind, Massnahmen gemäss den Artikeln 51­53 ArG zu treffen.

Für die Durchsetzung des Diskriminierungsverbots gemäss GlG sind primär die kantonalen Gerichte und Verwaltungsbehörden zuständig, die auf eingereichte Klagen hin tätig werden. Einschlägige Bestimmungen werden unter den Ausführungen zu Artikel 10 Buchstabe b ausgeführt.

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Im Schweizer Strafrecht werden Nötigung (Art. 181 StGB), schwere Körperverletzung (Art. 122 StGB) sowie sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (Art. 189 und 190 StGB) von Amtes wegen verfolgt. Bei den übrigen oben aufgeführten Straftatbeständen handelt es sich um Antragsdelikte, das heisst für die Eröffnung des Strafverfahrens braucht es einen Strafantrag des Opfers.

Bst. b: sicherzustellen, dass in Fällen von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt leichter Zugang zu geeigneten und wirksamen Abhilfemassnahmen sowie zu sicheren, fairen und wirksamen Melde- und Streitbeilegungsmechanismen und -verfahren besteht; Die schweizerische Gesetzgebung sieht mehrere Mittel vor, um einen leichteren Zugang zu geeigneten und wirksamen Abhilfemassnahmen, sowie zu sicheren, fairen und wirksamen Melde- und Streitbeilegungsmechanismen und -verfahren im Zusammenhang mit Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu gewährleisten. Opfer von Gewalt und Belästigung können sich an ein Zivilgericht wenden, wenn ihr Persönlichkeitsrecht unter Verletzung der Bestimmungen des ZGB oder des OR beeinträchtigt wird und an ein Strafgericht, wenn sie Opfer eines Verstosses gegen das StGB wurden. Darüber hinaus gibt es verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe und Verfahren bei Nichteinhaltung von relevanten Gesundheitsschutzbestimmungen im Arbeitsgesetz und dem GlG. Schliesslich sieht das Schweizer Recht mehrere Möglichkeiten einer aussergerichtlichen Mediation vor (Art. 197 ZPO; Art. 213­218 ZPO).

Der unter Artikel 10 Buchstabe b ausgeführte Zugang kann zum Beispiel durch folgende Massnahmen umgesetzt werden: i) Beschwerde- und Untersuchungsverfahren sowie dort, wo es angemessen ist, betriebliche Streitbeilegungsmechanismen; Das Schweizer Recht sieht Beschwerde- und Untersuchungsverfahren im Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht vor.

Im schweizerischen Zivilrecht kann jede Person wegen einer widerrechtlichen Verletzung ihrer Persönlichkeit gestützt auf Artikel 28 ZGB das Gericht anrufen. Ein Opfer von Gewalt oder Belästigung kann auch auf der Grundlage von Artikel 328 OR beziehungsweise der Artikel 41­49 OR auch vor einem Zivilgericht klagen. Der Verhandlungsgrundsatz ist im Zivilverfahren anwendbar. Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben (Art. 55
Abs. 1 ZPO). Die Untersuchungsmaxime gilt hingegen in Streitigkeiten nach dem GlG und in anderen arbeitsrechtlichen Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken (Art. 247 Abs. 2 ZPO).

Anzeigen bezüglich der Nichteinhaltung der relevanten Gesundheitsschutzbestimmungen im Arbeitsgesetz können bei den kantonalen Arbeitsinspektoraten eingereicht werden (Art. 54 ArG). Wer von einer Diskriminierung im Sinne der Artikel 3 und 4 GlG betroffen ist, kann das Gericht oder eine Verwaltungsbehörde anrufen (Art. 5 Abs. 1 GlG). Das GlG gilt für Arbeitsverhältnisse nach OR sowie für alle öffentlichrechtlichen Arbeitsverhältnisse beim Bund, den Kantonen und Gemeinden (Art. 2 GlG). Wenn das potenzielle Opfer von Gewalt und Belästigung bei einer öffentlichen Verwaltung beschäftigt ist, kann es eine Klage bei einem Verwaltungsgericht einreichen.

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Hinsichtlich der relevanten Bestimmungen im schweizerischen Strafrecht ist auf die Ausführungen unter Artikel 10 Buchstabe a zu verweisen. Im Strafrechtsverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Die Strafbehörden klären von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab und untersuchen die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt (Art. 6 StPO).

Betreffend die betrieblichen Streitbeilegungsmechanismen sieht Artikel 10 Buchstabe a des Übereinkommens eine Flexibilitätsklausel vor, im Sinne, dass ein betrieblicher Streitbeilegungsmechanismus eingerichtet werden sollte, «wo es angemessen ist». Das Übereinkommen verlangt somit keinen gesetzlich verankerten Zugang zu betrieblichen Streitbeilegungsmechanismen. Arbeitgeber haben aufgrund ihrer Fürsorgepflicht die Verantwortung, Verletzung gegen die persönliche Integrität im Zusammenhang mit Gewalt und Belästigung in ihrem Unternehmen zu untersuchen.

Soweit dies angemessen und praktisch durchführbar ist, gehört die Einsetzung einer unabhängigen Vertrauensstelle bei Konflikten am Arbeitsplatz zu dieser Verantwortung (BGE 2C_462/2011). Das SECO empfiehlt Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern das Einrichten einer internen Vertrauensstelle zur Behandlung von entsprechenden Vorfällen.

ii) Ausserbetriebliche Streitbeilegungsmechanismen; Das zivilrechtliche Verfahren für Arbeitsstreitigkeiten sieht einen obligatorischen vorausgehenden Schlichtungsversuch vor der Anrufung eines Gerichts vor, welcher in den Artikeln 197­212 ZPO geregelt ist. Jedoch entfällt das Schlichtungsverfahren bei Klagen wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB oder betreffend einer elektronischen Überwachung nach Artikel 28c ZGB (Art. 198 ZPO). Das Schlichtungsverfahren ist gemäss Artikel 113 ZPO kostenlos in Streitigkeiten nach dem GlG und bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken in Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis, sowie nach dem AVG. Eine Mediation ist ebenfalls möglich (Art. 213­218 ZPO).

Bei Verdacht auf eine Verletzung des GlG ist das Schlichtungsverfahren gemäss ZPO anwendbar und das Verfahren ist kostenlos. Die Kantone haben eine bestimmte paritätische Schlichtungsbehörde einzusetzen (Art. 200 Abs. 2 ZPO). Die Klägerin oder der Kläger hat jedoch die Möglichkeit, auf eine Schlichtung
zu verzichten und sich direkt an das Gericht zu wenden (Art. 199 Abs. 2 Bst. c ZPO). Kann im Schlichtungsverfahren keine Einigung erreicht werden, muss die klagende Partei ihre Ansprüche innert drei Monaten vor Gericht einklagen (Art. 209 Abs. 3 ZPO). Die Schlichtungsbehörde besteht aus einer vorsitzenden Person und einer paritätischen Vertretung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite und des öffentlichen und privaten Bereichs; die Geschlechter müssen paritätisch vertreten sein (Art. 200 ZPO).

Angestellte der Bundesverwaltung können sich in Fällen von geschlechtsspezifischer Diskriminierung bei der Arbeit, inklusive sexueller Belästigung und geschlechtsspezifischem Mobbing, an die Schlichtungskommission für das Bundespersonal wenden, welche kostenlose Schlichtungsverfahren anbietet (Art. 13 Abs. 3 GlG).

Zivil- und Strafgerichte sowie Verwaltungsbehörden, deren Beschwerdeverfahren unter Punkt i) beschrieben wurde, stellen ebenfalls ausserbetriebliche Streitbeilegungsmechanismen.

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iii) Gerichte; In der Schweiz ist der Zugang zu Gerichten im Allgemeinen durch Artikel 29 Buchstabe a BV garantiert. Um sicherzustellen, dass in Fällen von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ein leichter Zugang zu den Gerichten gewährleistet ist, werden im Entscheidverfahren keine Gerichtskosten gesprochen bei Streitigkeiten nach dem GlG, aus dem Arbeitsverhältnis sowie nach dem AVG bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken oder wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB oder betreffend die elektronische Überwachung nach Artikel 28c ZGB (Art. 114 Bst. a, c und f ZPO). Gemäss Artikel 243 ZPO gilt das vereinfachte Verfahren für vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken und ohne Rücksicht auf den Streitwert bei Streitigkeiten: a) nach dem GlG oder b) wegen Gewalt, Drohungen oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB oder betreffend eine elektronische Überwachung nach Artikel 28c ZGB.

Darüber hinaus sieht das GlG bezüglich der Aufgabenzuteilung, Gestaltung der Arbeitsbedingungen, Entlöhnung, Aus- und Weiterbildung, Beförderung und Entlassung eine Beweislasterleichterung bei einer vermuteten Diskriminierung vor (Art. 6 GlG). Zudem können Organisationen, die nach ihren Statuten die Gleichstellung von Frau und Mann fördern oder die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahren und seit mindestens zwei Jahren bestehen, im eigenen Namen feststellenlassen, dass eine Diskriminierung vorliegt, wenn sich der Ausgang eines Verfahrens voraussichtlich auf eine grössere Zahl von Arbeitsverhältnissen auswirken wird (Art. 7 GlG).

Opfer von Straftaten können auf Grundlage der einschlägigen Bestimmungen des StGB vor Gericht ebenfalls Entschädigung und Leistung von Genugtuung verlangen.

Im Falle von strafrechtlichen Vergehen im Zusammenhang mit Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt hat jede Person das Recht, Strafanzeige zu erstatten. Die Verfahrenskosten werden vom Bund oder dem Kanton getragen, der das Verfahren geführt hat, abweichende Bestimmungen dieses Gesetzes bleiben vorbehalten (Art. 423 StPO).

iv) Schutz von beschwerdeführenden Personen, Opfern, Zeuginnen und Zeugen sowie Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern vor Viktimisierung oder Vergeltungsmassnahmen; Laut OHG und StPO stehen Opfern von Straftaten, die als Zeuginnen und Zeugen
aussagen, eine Reihe von prozessualen Opfer- und Zeugenschutzrechten zu. Zeuginnen und Zeugen, die an Strafverfahren des Bundes beteiligt sind, können gemäss ZeugSG nötigenfalls auch ausserhalb der Verfahrenshandlung und nach deren Abschluss geschützt werden. Der Schutz vor Vergeltungsmassnahmen im privatrechtlichen Sinne wird einerseits durch den Schutz vor missbräuchlicher (Art. 336, 336a, 336b und 336c OR) oder ungerechtfertigter (Art. 337c OR) Kündigung und im Allgemeinen auch durch den Schutz der Persönlichkeit nach Artikel 328 OR gewährleistet.

v) rechtliche, soziale, medizinische und administrative Unterstützungsmassnahmen für beschwerdeführende Personen und Opfer; In der Schweiz hat laut Artikel 1 OHG jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität beeinträchtig worden ist, ein Recht auf Unterstützung. Das OHG setzt diesbezüglich jedoch eine Straftat voraus.

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Die Leistungen der Opferhilfe beinhalten im Wesentlichen das Recht auf Beratung sowie medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe (Art. 2 OHG).

Hinsichtlich rechtlicher Unterstützungsmassnahmen wird auf die Ausführungen über den Erlass von Gerichtskosten im Entscheidverfahren in Artikel 10 Buchstabe b verwiesen. Dazu gehört bei unentgeltlicher Rechtspflege insbesondere die Bereitstellung einer Rechtsbeiständin oder eines Rechtsbeistandes sowie deren Vergütung (Art. 118 und 122 ZPO). Artikel 156 ZPO ermöglicht zudem den Schutz der Intim- und Privatsphäre in der Beweisabnahme für Opfer von Gewalt oder Belästigung. Gerichte haben auch die Möglichkeit, die Öffentlichkeit ganz oder teilweise aus Verfahren auszuschliessen (Art. 54 Abs. 3 ZPO).

Bst. c: die Privatsphäre der betroffenen Personen zu schützen und Vertraulichkeit zu wahren, soweit dies möglich und angemessen ist, und sicherzustellen, dass die Anforderungen in Bezug auf die Privatsphäre und Vertraulichkeit nicht missbräuchlich angewandt werden; Gemäss Artikel 13 BV ist sowohl der Schutz der Privatsphäre als auch vor Missbrauch persönlicher Daten jeder Person gewährleistet. Eine Verletzung der Privatsphäre einer Arbeitnehmerin oder eines Arbeitnehmers seitens des Arbeitgebers kann eine Verletzung der Fürsorgepflicht nach Artikel 328 OR darstellen. Schliesslich darf der Arbeitgeber gemäss Artikel 328b OR Daten über die Arbeitnehmerin oder den Arbeitnehmer nur bearbeiten, soweit sie dessen Eignung für das Arbeitsverhältnis betreffen oder zur Durchführung des Arbeitsvertrags erforderlich sind.

Aufgrund der einschlägigen Bestimmungen zum Schutz der persönlichen Integrität sind Arbeitgeber gezwungen einzugreifen, sofern sie Kenntnis über einen betriebsinternen Vorfall haben. Eine Meldung an Führungspersonen und Personalstellen kann daher eine formelle Behandlung oder eine Beschwerde auslösen. Das SECO empfiehlt Arbeitgebern in seiner Broschüre «Mobbing und andere Belästigungen. Schutz der persönlichen Integrität am Arbeitsplatz»54 daher die Einrichtung einer internen Vertrauensstelle, soweit dies angemessen und durchführbar ist. Sie können auch öffentliche Ausbildungsangebote nutzen, oder sich an externe Fachleute wenden. Der Bund führt eine öffentlich zugängliche Liste mit Adressen von externen Fachpersonen.
Die Vertraulichkeit der Identität von Auskunftspersonen ist auch gemäss dem Arbeitsgesetz gewährleistet. Nach Artikel 44 ArG sind die mit dem Vollzug des Arbeitsgesetzes betrauten Personen verpflichtet, über Tatsachen, die ihnen bei ihrer Tätigkeit zur Kenntnis gelangen, gegenüber Dritten Stillschweigen zu bewahren.

Bst. d: in Fällen von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt dort, wo es angemessen ist, Sanktionen vorzusehen; Fälle von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt können in der Schweiz unterschiedliche privatrechtliche, öffentlich-rechtliche und strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Grundsätzlich kann nach Artikel 28 ZGB jede Person, die in ihrer Persönlichkeit verletzt wird, zu ihrem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen. Ein Schadenersatzanspruch kann in diesem Sinne auch 54

vgl. Fussnote 48.

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gegen Dritte und Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen wahrgenommen werden (Art. 41­49 OR, Art. 28a ZGB).

Verletzt ein Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht hinsichtlich dem Schutz der Persönlichkeit seiner Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach Artikel 328 OR haben Arbeitnehmende auch ein Recht auf Schadensersatz (Art. 97­101 OR) und Leistungsverweigerung nach entsprechender Abmahnung (Art. 324 Abs. 1 OR). Ein Anspruch auf Genugtuung ist in Artikel 49 OR geregelt. Arbeitgeber, die den Vorschriften über den Gesundheitsschutz nach dem ArG vorsätzlich oder fahrlässig zuwiderhandeln, machen sich gemäss Artikel 59 Absatz 1 ArG ebenfalls strafbar und können mit Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen bestraft werden (Art. 61 Abs. 1 ArG).

Verstossen Arbeitnehmende gegen ihre Befolgungspflicht nach Artikel 321d OR, indem sie Weisungen zur Unterlassung von belästigendem oder gewalttätigem Verhalten missachten, kann der Arbeitgeber Verweise erlassen, beziehungsweise Verwarnungen aussprechen. Werden diese nicht beachtet, kann der Arbeitgeber zu Sanktionen greifen. Ordnungsstrafen sind zulässig, falls diese in der genehmigten Betriebsordnung nach Artikel 38 Absatz 1 ArG geregelt sind. Liegen gewichtige Gründe vor, die die Vertrauensbasis im Arbeitsverhältnis zerstören, ist die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung gegeben (Art. 337 OR; BGE 127 III 351 E. 4 S. 353).

Darunter fallen beispielsweise begangene Straftaten am Arbeitsplatz und unangemessenes Verhalten gegenüber Kunden und Arbeitskollegen. Arbeitnehmende machen sich gemäss Artikel 60 ArG auch strafbar, wenn sie den Vorschriften über den Gesundheitsschutz im Betrieb vorsätzlich zuwiderhandeln oder andere Personen, darunter auch Dritte, ernstlich gefährden. Es sei darauf hingewiesen, dass die kantonalen Vollzugsbehörden des Arbeitsgesetzes die in den Artikeln 51­61 ArG aufgeführten Strafen nicht selber vollziehen können. Dafür sind die Strafverfolgungsbehörden der Kantone zuständig (Art. 62 Abs. 2 ArG).

Bei schwerwiegenden Fällen von Gewalt und Belästigung bleiben die einschlägigen Bestimmungen des StGB vorbehalten. Das StGB sanktioniert die einschlägigen Tathandlungen entsprechend ihrer Schwere.

Bst. e: vorzusehen, dass Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt effektiven Zugang zu geschlechterorientierten, sicheren
und wirksamen Beschwerde- und Streitbeilegungsmechanismen, Unterstützungsangeboten, Diensten und Abhilfemassnahmen haben; Die unter Artikel 10 Buchstabe b erläuterten Bestimmungen schützen Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Laut Artikel 5 Absatz 3 GlG kann das Gericht oder eine Verwaltungsbehörde bei einer Diskriminierung durch sexuelle Belästigung auch eine Entschädigung zusprechen, wenn der Arbeitgeber nicht beweist, dass er Massnahmen getroffen hat, die zur Verhinderung sexueller Belästigungen nach der Erfahrung notwendig und angemessen sind und die ihm billigerweise zugemutet werden können. Die Entschädigung ist unter Würdigung aller Umstände festzusetzen und wird auf der Grundlage des schweizerischen Durchschnittslohns errechnet. Falls Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Folge einer Beschwerde im Zusammenhang mit einer Diskriminierung nach dem GlG gekündigt wird, enthält Artikel 10 GlG strengere Bestimmungen über den Kündigungsschutz.

Letzter gilt für die Dauer des innerbetrieblichen Verfahrens, oder eines Verfahrens, 36 / 48

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welches bei einer Schlichtungsstelle oder vor Gericht hängig ist, und geht sechs Monate darüber hinaus.

Bst. f: die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Arbeitswelt anzuerkennen und, soweit dies angemessen und praktisch durchführbar ist, ihre Auswirkungen in der Arbeitswelt zu mindern; Artikel 10 Buchstabe f enthält eine Flexibilitätsklausel, gemäss welcher Massnahmen zur Minderung der Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Arbeitswelt zu treffen sind, «soweit dies angemessen und praktisch durchführbar» ist. Der Bundesrat misst der Bekämpfung häuslicher Gewalt eine hohe Bedeutung zu. Der zivilrechtliche Gewaltschutz ist in der Schweiz durch Artikel 28b ZGB erfasst. Massnahmen zum Schutz der persönlichen Integrität betreffen in erster Linie die Privatsphäre. Ein in diesem Sinne ausgesprochenes gerichtliches Kontakt- oder Annäherungsverbot kann sich aber gegebenenfalls auch auf den Arbeitsplatz erstrecken, wobei das Gericht gemäss Artikel 28b Absatz 3bis ZGB die Möglichkeit hat, Arbeitgeber über die getroffenen Massnahmen zu informieren. Gewalttätige Handlungen sind in einschlägigen Bestimmungen des StGB enthalten. Die innerstaatlichen Bestimmungen der Schweiz zur Verhinderung und Bekämpfung von häuslicher Gewalt wurden in den letzten Jahren verschiedentlich revidiert. Das Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 201155 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ist für die Schweiz am 1. April 2018 in Kraft getreten. In Übereinstimmung mit der Istanbul-Konvention hat der Bundesrat die Verordnung vom 13. November 201956 gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt verabschiedet, welche am 1. Januar 2020 in Kraft trat und im Rahmen des Budgets 2021 einen Kredit von 3 Millionen Franken erhielt. Mit diesen zusätzlichen Mitteln zur Unterstützung entsprechender Massnahmen kann die Prävention von häuslicher Gewalt verbessert werden. Zu erwähnen ist hier auch der nationale Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul Konvention (NAP IK), dessen Verabschiedung durch den Bundesrat in der ersten Hälfte 2022 vorgesehen ist. Zudem wurde zur Verbesserung des Schutzes vor häuslicher Gewalt aus zivil- und strafrechtlicher Sicht das Bundesgesetz vom 14. Dezember 201857 über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen verabschiedet. Es ist am
1. Juli 2020 in Kraft getreten. Seit dem 1. Januar 2022 besteht die Möglichkeit, zur Durchsetzung eines Kontakt- oder Annäherungsverbots gemäss Artikel 28c ZGB ein elektronisches Überwachungsgerät anzuordnen, was ebenfalls mildernde Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben kann.

Die Bekämpfung der häuslichen Gewalt und die Verbesserung des Schutzes von Opfern von häuslicher Gewalt sind wichtige Elemente der Gleichstellungsstrategie 2030.

Der Bundesrat anerkennt die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Arbeitswelt. Eine vom EBG 2013 in Auftrag gegebene Studie («Kosten von Gewalt in

55 56 57

SR 0.311.35 SR 311.039.7 AS 2019 2273

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Paarbeziehungen»58) kam zum Schluss, dass häusliche Gewalt in der Schweiz zu jährlichen Produktivitätsverlusten von ungefähr 40 Millionen Franken führt.

Opfer von häuslicher Gewalt haben gemäss OR unter bestimmten Bedingungen ein Anrecht auf eine Lohnfortzahlung. Falls eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer aus Gründen, die in ihrer Person liegen, ohne ihr Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert ist, so hat ihr der Arbeitgeber für eine beschränkte Zeit den darauf entfallenden Lohn zu entrichten, samt einer angemessenen Vergütung für ausfallenden Naturallohn, sofern das Arbeitsverhältnis mehr als drei Monate gedauert hat oder für mehr als drei Monate eingegangen wurde (Art. 324a Abs. 1 OR). Ausserdem sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mindestens 8 Wochenstunden für denselben Arbeitgeber arbeiten, automatisch gegen Nichtberufsunfälle versichert (Art. 8 UVG, Art. 13 UVV). Diese Bestimmung kann die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Arbeitswelt weiter mildern, ist jedoch nicht mit einer Charakterisierung von häuslicher Gewalt als Unfallfolge gleichzusetzen.

Häusliche Gewalt hat jedoch negative Auswirkungen, die über die Arbeitswelt hinausgehen und für deren Verhinderung und Bekämpfung die zentralen Akteure des schweizerischen Arbeitsmarktes nicht direkt verantwortlich sind. Der Bundesrat geht davon aus, dass das umfassende Engagement der Schweiz im Bereich der häuslichen Gewalt auf Ebene des Bundes, der Kantone und der Gemeinden auch deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt mindert und somit den angemessen und praktisch durchführbaren Massnahmen gemäss der Flexibilitätsklausel entspricht.

Bst. g: sicherzustellen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Recht haben, sich von einer Arbeitssituation zu entfernen, wenn sie hinreichenden Grund zu der Annahme haben, dass diese Situation aufgrund von Gewalt und Belästigung eine unmittelbare und ernste Gefahr für ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihre Sicherheit darstellt, ohne Vergeltungsmassnahmen oder andere ungerechtfertigte Folgen zu erleiden, und die Pflicht haben, die Geschäftsleitung zu informieren; Das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Arbeitsunterbrechung bei unmittelbarer Gefahr ist im OR verankert. Artikel 328 OR verpflichtet den Arbeitgeber zum Schutz der Persönlichkeit der Arbeitnehmerin oder des
Arbeitnehmers. Wenn die Arbeitsbedingungen der Achtung der Persönlichkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer widersprechen, haben sie das Recht, das Erbringen von Arbeitsleistungen zu verweigern.

Der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor ungerechtfertigten Folgen fällt unter die Bestimmungen des OR zum Kündigungsschutz (Art. 336 OR) wenn Erstere das Recht nutzen, sich bei einer unmittelbaren Gefahr in Sicherheit zu bringen.

Das Übereinkommen fordert allerdings keinen absoluten Schutz, namentlich was die Kündigung angeht.

Zudem umfasst die Treuepflicht (Art. 321a OR) für die Arbeitnehmerin oder den Arbeitnehmer die Pflicht, je nach den Umständen und ihren Verantwortlichkeiten, den Arbeitgeber zu informieren und in einer speziellen Situation geeignete Massnahmen 58

www.ebg.admin.ch > Dokumentation > Publikationen > Publikationen Gewalt > Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen

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zu ergreifen, um das Eintreten eines Schadens zu verhindern oder die entsprechenden Folgen zu begrenzen. Schliesslich halten die Artikel 11 Absatz 2 VUV und 10 Absatz 2 ArGV 3 fest, dass eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer, die oder der Mängel feststellt, welche die Arbeitssicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beeinträchtigen, diese sogleich beseitigen muss. Ist sie oder er dazu nicht befugt oder nicht in der Lage, so ist der Mangel unverzüglich dem Arbeitgeber zu melden. Wenn die Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf andere Weise nicht mehr gewährleistet ist, muss der Arbeitgeber die Arbeit in den betreffenden Gebäuden oder Räumen oder an den betreffenden Arbeitsstätten oder Betriebseinrichtungen bis zur Behebung des Schadens oder des Mangels einstellen lassen, es sei denn, dass dadurch die Gefahr erhöht würde (Art. 4 VUV).

Bst. h: sicherzustellen, dass je nach Fall Arbeitsaufsichtsbehörden und andere massgebliche Stellen befugt sind, gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt vorzugehen, einschliesslich durch den Erlass von Anordnungen sofort vollziehbarer Massnahmen sowie Anordnungen zur Einstellung der Arbeit in Fällen einer unmittelbaren Gefahr für Leben, Gesundheit oder Sicherheit, vorbehaltlich eines etwaigen gesetzlichen Rechts auf Einspruch bei einer Gerichts- oder Verwaltungsbehörde.

Die kantonalen Arbeitsinspektorate sind grundsätzlich für den Vollzug der gesetzlichen Vorgaben betreffend Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gemäss ArG zuständig. Falls eine Missachtung einer Verfügung einer kantonalen Vollzugsbehörde Leben oder Gesundheit von Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmern gefährdet, kann die kantonale Behörde nach vorheriger schriftlicher Androhung die Benützung von Räumen oder Einrichtungen verhindern und in besonders schweren Fällen den Betrieb für eine bestimme Zeit schliessen (Art. 52 Abs. 2 ArG). Es handelt sich hierbei um eine Massnahme, die nur im äussersten Fall und als ultima ratio getroffen wird. Zur Abwendung einer Gefahr für Leben oder Gesundheit von Arbeitnehmenden oder von Dritten kann die Schweigepflicht der Vollzugsbehörden nach Artikel 44 ArG ausnahmsweise aufgehoben gegeben werden (Art. 44a Abs. 3 ArG). Gegen arbeitsgesetzliche Verfügungen der kantonalen Vollzugsbehörden kann innert 30 Tagen ab deren
Eröffnung Beschwerde eingelegt werden bei den zuständigen kantonalen Rekursbehörden (Art. 56 ArG). Wie im Kommentar zu Artikel 4 Buchstabe h ausgeführt, handelt es sich bei den Kontrollen der Arbeitsinspektorate in der Regel um Systemkontrollen und nicht um Ermittlungen betreffend einen konkreten Einzelfall.

Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt kann je nach Fall über die Befugnisse der kantonalen Arbeitsinspektionen hinausgehen. Die Strafvollzugsbehörden sind befugt, gegen solche Fälle vorzugehen, sofern die einschlägigen Bestimmungen im Strafgesetzbuch betroffen sind.

Mit dem Verweis auf die vorhandenen Flexibilitätsklauseln kann Artikel 10 des Übereinkommens aufgrund der obigen Ausführungen angenommen werden.

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Art. 11 Artikel 11 hebt die Bemühungen hervor, die Mitgliedstaaten in Beratung mit den repräsentativen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sicherzustellen haben, sodass: Bst. a: Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt in den einschlägigen innerstaatlichen Politiken, wie jene zum Arbeitsschutz, zur Gleichheit und Nichtdiskriminierung sowie zur Migration, angegangen werden; Im Zusammenhang mit einschlägigen Politiken im Bereich des Arbeitsschutzes wird auf die ausführlichen Kommentare zum Arbeitsgesetz zu den obigen Artikeln des Übereinkommens verwiesen. Einschlägige Politiken zur Gleichheit und Nichtdiskriminierung werden in den Erläuterungen zu Artikel 6 erwähnt.

Mit Hinblick auf die Migration hält Artikel 22 AIG fest, dass Ausländerinnen und Ausländer zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz nur zugelassen werden, wenn die orts-, berufs- und branchenüblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen Arbeitgeber ebenfalls mindestens die Arbeits- und Lohnbedingungen garantieren, die in den einschlägigen innerstaatlichen Bestimmungen festgelegt sind.

Darunter fallen gemäss Artikel 2 EntsG auch der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und die Nichtdiskriminierung, namentlich die Gleichbehandlung von Frau und Mann.

Gemäss Artikel 7 EntsG werden diese Bestimmungen, sofern sie in Bundesgesetzen geregelt sind, durch die entsprechenden kantonalen Behörden kontrolliert. Für den Vollzug in Branchen, in welchen ein GAV oder allgemeinverbindlich erklärter GAV gilt, sind die paritätischen Kommissionen, bestehend aus Vertretern der Arbeitgeberund Arbeitnehmerverbänden, zuständig.

Bst. b: den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Verbänden und den massgeblichen Stellen Leitlinien, Ressourcen, Schulungen oder sonstige Instrumente zu Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, einschliesslich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung, bereitgestellt werden, gegebenenfalls in zugänglichen Formaten; Mit Hinblick auf sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz bieten das EBG und das SECO auf ihren Internetseiten zusätzliche spezifische Informationsmaterialen aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmersicht, sowie zum Vorgehen bei konkreten Vorfällen und Praxisbeispiele für unternehmensinterne Reglemente.
Das SECO bietet auf seiner Website diverse Tools und Materialien zur Unterstützung und Sensibilisierung im Bereich Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt an. Dazu gehören Broschüren zum Schutz der persönlichen Integrität und vor psychosozialen Risiken im Allgemeinen. Sie informieren über Faktoren bei der Arbeitsgestaltung, die das Betriebsklima positiv beeinflussen und Risiken minimieren, allgemeine Massnahmen zur Prävention, die besondere Rolle von Führungspersonen, sowie den Umgang mit konkreten Fällen im Unternehmen. Zudem verweisen sie auf Checklisten für Arbeitgeber zum Stand der Präventionsmassnahmen in ihrem Unternehmen und auf Textbausteine für eine schriftliche Weisung zur Haltung des Unternehmens bezüglich

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dem Schutz der persönlichen Integrität. Spezifische Informationsmaterialen mit relevanten Informationen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen ebenfalls zur Verfügung.

Anlässlich des Vollzugsschwerpunkts psychosoziale Risiken 2014­2018 organisierte das SECO Weiterbildungen für Arbeitsinspektorinnen und Inspektoren und erstellte einen Leitfaden für die Inspektion zum Thema psychosoziale Risiken, welche den Schutz der psychischen und physischen Integrität beinhalten.

Bst. c: Initiativen, einschliesslich Sensibilisierungskampagnen, durchgeführt werden.

Mit der Durchführung des Vollzugsschwerpunkts psychosoziale Risiken 2014­2018 wurden die kantonalen Vollzugsbehörden des Arbeitsgesetzes und kontrollierte Unternehmen auf die Thematik sensibilisiert und auf Unterstützungsangebote und Hilfsmaterialien aufmerksam gemacht. Durch das Instrument der Finanzhilfen gemäss dem GlG unterstützt das EBG unterschiedliche Projekte zum Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz59.

Artikel 11 ist vereinbar mit den schweizerischen Rechtsvorschriften und der Praxis und kann darum angenommen werden.

Art. 12 Artikel 12 schreibt vor, dass die Bestimmungen des Übereinkommens durch innerstaatliche Rechtsvorschriften, sowie durch Gesamtarbeitsverträge oder andere im Einklang mit der innerstaatlichen Praxis stehenden Massnahmen umgesetzt werden.

Darin eingeschlossen ist die Ausweitung bestehender Arbeitsschutzmassnahmen auf Gewalt und Belästigung oder deren diesbezügliche Anpassung und bei Bedarf die Entwicklung spezifischer Massnahmen.

Die Kommentare zu den Bestimmungen des Übereinkommens zeigen auf, dass die schweizerische Rechtsvorschrift und Praxis die Umsetzung des Übereinkommens im Einklang mit Artikel 12 und seinen übrigen Bestimmungen erlauben.

Art. 13 bis 20 Die Artikel 1320 enthalten die üblichen Schlussbestimmungen und geben zu keinem besonderen Kommentar Anlass.

Schlussfolgerungen Aufgrund der obigen Ausführungen geht der Bundesrat davon aus, dass die Bedingungen für eine Ratifikation des Übereinkommens durch die Schweiz erfüllt sind.

59

www.projektsammlung.ch

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5

Auswirkungen des Übereinkommens

Der vorliegende völkerrechtliche Vertrag erfordert bei der derzeitigen Rechtslage weder die Verabschiedung neuer Vorschriften, noch eine Änderung bestehender Bestimmungen. Daher hat die Ratifikation des Übereinkommens keine finanziellen oder personellen Auswirkungen auf den Bund oder die Kantone und Gemeinden. Die Bestimmungen des Übereinkommens betreffen Bereiche wie die menschliche Gesundheit und individuelle Sicherheit in der Arbeitswelt, die tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann im Erwerbsleben, sowie den Schutz von Personen, die besonders von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt betroffen sind, inklusive Menschen mit Behinderungen. Der Bundesrat geht jedoch davon aus, dass die Bestimmungen in der Schweiz bereits umgesetzt werden.

6

Rechtliche Aspekte

6.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 Parlamentsgesetz vom 13. Dez. 200260, ParlG, sowie Art. 7a Abs. 1 Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 199761).

6.2

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Es wird in erster Linie auf die von der Schweiz eingegangen internationalen Verpflichtungen hingewiesen, welche im Übereinkommen erwähnt sind (vgl. 3. Kapitel).

Die Bekämpfung von geschlechterspezifischer Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz deckt sich ausserdem mit internationalen Verpflichtungen, die die Schweiz mit der Ratifikation der Istanbul-Konvention eingegangen ist.

Die Bekämpfung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt trägt auch zu verschiedenen Zielen in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung bei. Ziel 5 fordert die Beendigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen und Mädchen, inklusive aller Formen von Gewalt im öffentlichen und privaten Bereich und deckt sich somit mit dem Ziel des Übereinkommens Nr. 190 zur Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Des Weiteren tragen die Massnahmen des Übereinkommens Nr. 190 zur Erreichung produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle Frauen und Männer, zu gleichem Entgelt für gleichwertige Arbeit 60 61

SR 171.10 SR 172.010

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und zu sicheren Arbeitsumgebungen gemäss Ziel 8 bei. Die Vorgaben des Übereinkommens decken sich zudem mit den Zielvorgaben 10 zur Verringerung der Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten und der Gewährleistung eines gesunden Lebens für alle Menschen jeden Alters und der Förderung ihres Wohlergehens gemäss Ziel 3.

6.3

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Der vorliegende völkerrechtliche Vertrag erfordert bei der derzeitigen Rechtslage weder die Verabschiedung neuer Vorschriften noch eine Änderung bereits bestehender Bestimmungen. Das Übereinkommen enthält jedoch wichtige rechtssetzende Bestimmungen gemäss Artikel 164 Absatz 1 BV in der Präambel (vgl. 3. Kapitel und Ziff. 6.2) und insbesondere in den Artikeln 1­12 (vgl. 4. Kapitel).

Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens ist deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen.

6.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor, dass Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen, die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkehrende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen.

Die Ratifikation des Übereinkommens hat keine finanziellen oder personellen Auswirkungen auf den Bund. Folglich muss auch keine Bestimmung der Ausgabenbremse unterstellt werden.

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6.5

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

Mit der Ratifikation des Übereinkommens werden keine neuen Subventionsbestimmungen geschaffen. Eine Prüfung zur Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes vom 5. Oktober 199062 ist daher nicht nötig.

62

SR 616.1

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Bericht über die Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation für die Zukunft der Arbeit 1

Entstehung

Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der IAO im Jahr 2019 beschloss der Verwaltungsrat der IAO im Oktober/November 2018, einen Punkt auf die Tagesordnung der 108. Tagung der Konferenz zu setzen, um ein Abschlussdokument zu erarbeiten, das der Konferenz 2019 zur Prüfung vorgelegt und als Erklärung verabschiedet werden sollte.

Die Arbeitswelt befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, der durch technologische Innovationen, den demografischen Wandel, den Klimawandel und die Globalisierung verursacht wird. Um diesen Herausforderungen zu begegnen und an die 100 Jahre seit der Gründung der IAO zu erinnern, wurde auf der 108. Tagung der IAK am 21. Juni 2019 eine Jahrhunderterklärung über die Zukunft der Arbeit verabschiedet.

2

Bedeutung der Erklärung

Die Erklärung fördert einen am Menschen orientierten Ansatz zur Zukunft der Arbeit, der auf drei prioritären Handlungsfeldern beruht, nämlich die Investitionen in die Fähigkeiten der Menschen, in Institutionen der Arbeitswelt und in menschenwürdige und nachhaltige Arbeit zu verstärken.

Diese Prioritäten spiegeln die Empfehlungen im Bericht der globalen Kommission zur Zukunft der Arbeit wider, der im Januar 2019 veröffentlicht wurde und im Folgenden kurz vorgestellt wird.

Die Erklärung ruft alle IAO-Mitgliedstaaten zum Handeln auf, um sicherzustellen, dass alle Menschen die Chancen nutzen können, die eine sich wandelnde Arbeitswelt bietet, um die Relevanz des Arbeitsverhältnisses zu bekräftigen, um allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen angemessenen Schutz zu bieten und um ein nachhaltiges, dauerhaftes und geteiltes Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit zu fördern.

Die Erklärung legt auch die Prioritäten für die Aktivitäten der IAO fest und greift auf die Gründungsprinzipien der IAO zurück, um das Gebot der sozialen Gerechtigkeit in Erinnerung zu rufen und die Organisation neu zu beleben, um eine Zukunft der menschenwürdigen Arbeit für alle zu gestalten.

Menschenwürdige Arbeit für alle ist ein zentraler Schwerpunkt der Arbeit der IAO bei der Erfüllung ihres Mandats für soziale Gerechtigkeit in der Arbeitswelt. Die von den 187 Mitgliedstaaten verabschiedete Erklärung der IAO versucht, nachhaltiges Wachstum und menschenwürdige Arbeit in Einklang zu bringen. Indem sie die dreigliedrigen Akteure in Wirtschaft und Arbeit aufruft, regt diese Erklärung dazu an, makroökonomische, handels-, industrie-, sektor- und investitionsbezogene Politiken 45 / 48

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zu entwickeln, die es den Unternehmen ermöglichen, die mit der digitalen Transformation der Arbeit verbundenen Herausforderungen zu bewältigen.

3

Inhalt und Umsetzung der Erklärung

Die Schweizer Regierungsdelegation engagierte sich in den Verhandlungen zur Erklärung und unterstützte ihre Verabschiedung im Plenum der Konferenz am 21. Juni 2019.

Die Delegation der Schweizer Arbeitgeber stimmte ebenfalls für die Erklärung, ebenso wie die Delegation der Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Engagement der Schweiz für die Umsetzung der Erklärung auf multilateraler Ebene Die Schweiz nahm aktiv am Hochrangigen Politischen Forum für nachhaltige Entwicklung teil, das im Juli 2019 am Sitz der Vereinten Nationen in New York stattfand.

Im Rahmen dieses Forums erkannten viele führende Politikerinnen und Politiker der internationalen Gemeinschaft den Einfluss von Veränderungen in der Arbeitswelt auf die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) an.

Die Agenda 2030 bildet den Rahmen für das politische Projekt, das die Umsetzung der SDGs auf globaler Ebene zum Ziel hat. Die Förderung eines nachhaltigen, dauerhaften und gemeinsamen Wirtschaftswachstums, produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle (SDG Nr. 8) ist ein zentrales Ziel, das die wirtschaftliche, soziale und ökologische Dimension der nachhaltigen Entwicklung miteinander verbindet.

Jeder Fortschritt ­ oder fehlender Fortschritt ­ bei der Erreichung des Nachhaltigkeitsziels Nr. 8 bedingt die Umsetzung der anderen Nachhaltigkeitsziele, zum Beispiel die Beseitigung der Armut, die Verringerung von Ungleichheiten, die Förderung des Friedens und die Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter.

Die Jahrhunderterklärung und das Nachhaltigkeitsziel Nr. 8 ergänzen sich also: Beide verfolgen ein gemeinsames Ziel. Sie erkennen die unverzichtbare Rolle der Arbeit für eine nachhaltige und integrative Entwicklung an, um der Armut ein Ende zu setzen.

Der Ansatz zur Zukunft der Arbeit ist dort auf den Menschen ausgerichtet. Er basiert weiterhin auf den Rechten und Hebeln, die unerlässlich sind, um sicherzustellen, dass der technologische, demografische und klimatische Wandel das Vertrauen in den wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und beschäftigungspolitischen Wandel gewährleistet.

Schliesslich drückt die Jahrhunderterklärung den politischen Willen zum Wandel aus.

Mit der aktiven Unterstützung der Schweiz hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16. September 2019 die
Hundertjahrfeier-Erklärung zur Zukunft der Arbeit verabschiedet. Die von der UN-Generalversammlung verabschiedete Resolution bietet dem UN-System die Möglichkeit, einen menschenzentrierten Ansatz für die Zukunft zu fördern, da sie die UN-Organisationen dazu aufruft, die Integration der politischen Vorschläge der Erklärung in ihre Aktivitäten zu prüfen.

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Die globale Kommission zur Zukunft der Arbeit Wie bereits erwähnt, stützt sich die Jahrhunderterklärung auf den Bericht der globalen Kommission zur Zukunft der Arbeit.

Die Einrichtung einer globalen Kommission der IAO zur Zukunft der Arbeit ging den Verhandlungen über die Jahrhunderterklärung voraus. Ihre Aufgabe bestand darin, eine gründliche Untersuchung der Zukunft der Arbeit durchzuführen, um die analytische Grundlage für das Streben nach sozialer Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert zu schaffen.

Die Kommission zur Zukunft der Arbeit erstellte einen unabhängigen Bericht über Massnahmen für eine Zukunft der Arbeit, die menschenwürdige und nachhaltige Arbeitsplätze für alle sicherstellt. Der Bericht wurde am 22. Januar 2019 in Genf vorgestellt und war Bestandteil der Dokumente, die der 108. Tagung der IAK vorgelegt wurden.

Die Arbeit der Kommission war in folgende Themenbereiche gegliedert: Arbeit und Gesellschaft; menschenwürdige Arbeitsplätze für alle; Arbeits- und Produktionsorganisation; Gouvernanz am Arbeitsplatz.

Die unabhängige Kommission setzte sich aus 27 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Think Tanks, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen zusammen und wurde gemeinsam vom Präsidenten der Republik Südafrika, Cyril Ramaphosa, und dem schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven geleitet.

Zu den Schlüsselfragen, die die Kommission untersuchte, gehörten neue Arbeitsformen, die institutionellen Auswirkungen der sich wandelnden Natur der Arbeit, lebenslanges Lernen, Inklusion und Gleichstellung der Geschlechter, die Messung von Beschäftigung und menschlichem Wohlergehen und die Rolle des universellen Sozialschutzes in einer stabilen und gerechten Zukunft der Arbeit.

Der Bericht der Globalen Kommission: eine am Menschen orientierte Agenda zur Sicherung menschenwürdiger Arbeit Der Bericht beschreibt die Herausforderungen, die sich aus neuen Technologien, dem Klimawandel und der Demografie ergeben, und plädiert für eine kollektive globale Antwort auf die Umwälzungen, die sie in der Arbeitswelt verursachen.

Eine universelle Garantie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, soziale Sicherheit von der Geburt bis ins hohe Alter und ein Recht auf lebenslanges Lernen gehören zu den zehn Empfehlungen, die die globale Kommission der IAO zur Zukunft der Arbeit in ihrem am 22. Januar 2019 veröffentlichten Bericht formuliert hat.

Zu den weiteren Empfehlungen des Berichts gehören: ­

eine universelle Garantie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die die grundlegenden Arbeitnehmerrechte, einen existenzsichernden Lohn, Grenzen für die Arbeitszeit sowie sichere und gesunde Arbeitsplätze integriert;

­

eine Steuerung des technologischen Wandels, die menschenwürdige Arbeit fördert, einschliesslich eines internationalen Gouvernanzsystems für digitale Arbeitsplattformen;

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­

mehr Investitionen in die Pflegewirtschaft, die grüne Wirtschaft und die ländliche Wirtschaft;

­

eine quantifizierbare Transformationsagenda für die Gleichstellung der Geschlechter;

­

eine Neugestaltung der Anreize für Unternehmen, um langfristige Investitionen zu fördern.

Aus dem Bericht geht hervor, dass Staaten und Sozialpartner zahlreiche Möglichkeiten haben, die Qualität des Arbeitslebens zu verbessern, die Wahlmöglichkeiten zu erweitern, die Kluft zwischen den Geschlechtern zu schliessen und die verheerenden Auswirkungen der weltweiten Ungleichheiten zu beheben.

Künstliche Intelligenz, Automatisierung und Robotik könnten aufgrund veralteter Fähigkeiten zu Arbeitsplatzverlusten führen. Allerdings werden dieselben technologischen Fortschritte zusammen mit der Ökologisierung der Wirtschaft auch neue, qualifizierte und menschenwürdige Arbeitsplätze schaffen, wenn diese neuen Chancen genutzt werden.

Der Bericht erinnert auch an die einzigartige Rolle, die die IAO bei der Entwicklung und Umsetzung einer auf den Menschen ausgerichteten Agenda innerhalb des internationalen Systems spielen muss, und fordert die Organisation auf, der Umsetzung der Empfehlungen des Berichts Priorität einzuräumen.

Position der Schweiz zum Bericht der Weltkommission Das SECO hat den Bericht einer breiten Konsultation innerhalb der Bundesverwaltung unterzogen, und er wurde in der Sitzung der TPK-IAO vom 9. April 2019 eingehend erörtert. Die Schweiz unterstützt die allgemeine Ausrichtung des Berichts, insbesondere die Förderung des lebenslangen Lernens, der Flexibilisierung der Arbeitszeiten und des universellen Sozialschutzes. Der Bericht enthält keine rechtlichen Verpflichtungen und schafft keine neuen völkerrechtlichen Verpflichtungen für die Schweiz. Die Schweiz unterstützt die Förderung des lebenslangen Lernens, kann aber nicht die Einführung einer Arbeitsversicherung zur Finanzierung der Weiterbildung unterstützen, die ihrerseits in der persönlichen Verantwortung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbleibt. Was die soziale Sicherheit betrifft, so ist die Einrichtung von Systemen für alle bereits ein strategisches Ziel der IAO, und die diesbezüglich im Bericht behandelten Fragen (insbesondere angemessene soziale Absicherung von Selbstständigen und Plattformarbeiterinnen und -arbeitern, Nachhaltigkeit der Systeme, Integration in den Arbeitsmarkt usw.) entsprechen den aktuellen Anliegen des Bundesrates.

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