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Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs der Gemeinde Tamins (Graubünden) gegen die st. gallische Ortsgemeinde Vättis, betreffend Benutzung einer Wegstrecke.

(Vom 22. Januar 1889.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r ath hat in Sachen der Gern e i n d e T a m i n s (Grau blinden) gegen die st. g a l l i s c h e O r t s g e m e i n d e V ä t t i s , betreffend Benutzung einer Wegstrecke; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements und nach Feststellung folgender aktenmäßiger Sachverhältnisse : I. Die Ortsgetneinde Vättis, im st. gallischen Bezirke Sargans, und die politische Gemeinde Tamins, im graubündnerischen Bezirke Imboden, sind über den ,,Kunkelspaß" mit einander durch einen Weg verbunden, der bei dem Beginn des Absteiges von der Paßhöhe nach der Ortschaft Kunkels und gegen die st. gallische Eantonsgrenze sich nach und nach erweitert und fahrbar wird und endlich in Vättis in die Landstraße nach Pfäffers und Ragaz einmündet. In der Richtung gegen Tamins bleibt sieh dagegen der höchst primitive Verkehrsweg gleich, er ist sehr steil und beschwerlich, speziell zur Abfuhr von Langholz. Da die Gemeinde Tamins auf ihrem Gebiete in Eunkels ausgedehnte Waldungen besitzt und ihr durch den Anfangs der 70er Jahre begonnenen Straßenbau Vättis-Pfäffers eine wesentlich erleichterte Abfuhr für die projektirten

165 Holzschläge nach der nächstgelegenen Eisenbahnstation Ragaz geboten war, wurde seitens der Verwaltung der Ortsgemeinde Vättis die Anregung gemacht, es möchten sich die Behörden von Tamins Angesichts dieser enormen Vortheile zur Leistung eines angemessenen, freiwilligen Beitrages an die Bau- resp. Unterhaltungskosten verstehen. Die Unterhandlungen über die Leistung eines solchen Beitrages führten jedoch zu keinem Abschlüsse und die Straße wurde ohne Subsidien der Gemeinde Tamins fertig erstellt.

Als dann im Jahre 1886 in den Waldungen von Tamins auf dem Kunkels ein umfassender Holzschlag angeordnet wurde und die Holzkäufer Miene machten, das geschlagene Holz thalabwärts nach dem Dorfe Vättis und auf der Gemeindestraße Vättis-Pfäffers der Bahnstation Ragaz-Pfäffers zuzuführen, setzte sich Vättis dagegen zur Wehre und verdeutete denselben, daß der Gemeinde Tamins auf der Wegstrecke von der Kantonsgrenze bis Dorf Vättis, welche auf Grund und Boden der Ortsgemeinde Vättis liegt und als solche nur den Güterbesitzern auf st. gallischem Territorium als Fahrweg und im Uebrigen nur als Fuß- und Viehtriebweg dient, ein Holzabfuhrrecht nicht zustehe und nicht zugestanden werde, und daß gegen einen allfälligen Versuch der Ausübung mit allen zuständigen Rechtsmittela Einsprache erhoben werde.

In diesem Sinne wandte sich die Ortsgemeinde Vättis in Gemäßheit von Art. 252 des st. gallischen Civilprozesses an den Bezirksammann von Sargans und erwirkte unterm 30. Juni 1886.

eiue Besitzesschutzverfügung, wodurch der Gemeinde Tamins bezvr.

den betreffenden Holzkäufern die Benutzung des Güterweges VättisKunkels zum Holztransport aus den Waldungen der Gemeinde Tamins auf Kunkels unter Androhung einer Geldbuße von Fr. 300 für so lange untersagt wurde, bis eine giil.liche Verständigung zwischen den Litiganten erzielt, oder aber der Streitfall durch endgültigen Richterspruch erledigt sein werde.

Nachdem ein gegen die possessorische Verfügung des Bezirksamtes Sargans vom 30. Juli 1886 von der Gemeinde Tamins bei dem st. gallischen Regierungsrathe eingelegter Rekurs von dieser Behörde mit Schlußnahme vom 22. Oktober gleichen Jahres abgewiesen worden war, gelangte die Rekurrentin unterm 1. November 1886 abermals mit dem Gesuche an den Regierungsrath von St. Gallen, es möchte ihr das in Frage stehende Holzabfuhrrecht
für einmal auf Recht hin und gegen Hinterlage eines gesetzlich zu ermittelnden Werthbetrages eingeräumt und angewiesen werden.

Auf dieses Gesuch wurde nicht eingetreten, sondern die Gemeinde Tmains an die Ortsbehörde von Vättis bezw. an den Gemeinderath von Pfäffers gewiesen, in der Meinung, ob sich letztere Behörde

166 herbeilassen könnte, auf die in Frage liegende Wegstrecke die Grundsätze des Gesetzes über Güterstraßen und Ausstreckreehte zur Anwendung zu bringen. Der Gemeinderath von Pfäffers lehnte jedoch dieses Ansinnen nach vorher stattgehabtem Augenscheine ab, gestutzt darauf, daß der bestehende Waldweg über das Eigenthum der Ortsgemeinde Vättis und dessen bisherige Benutzung derart sei, daß dem Gemeinderath die Anwendung des Grüterstraßengesetzes und das Expropriationsrecht als überflüssig bezw. unbegründet erscheine. Ein nochmaliger Rekurs gegen diesen Beseheid des Gemeinderathes von Pfäffers wurde von der st. gallischen Regierung neuerdings abgewiesen , worauf schließlich die Gemeinde Tamins durch das Mittel des Kleinen Rathes von Graubunden an die Regierung von St. Gallen mit dem Begehren um Aufhebung der mehrerwähnten Besitzesschutzverfügung vom 30. Juli 1886 gelangte. Die Regierung von St. Gallen beantwortete dieses Begehren unterm 24. Januar 1888 in ablehnendem Sinne.

II. Mit Schreiben vom 27. März 1888 wendet sich der Kleine Rath des Kantons Graubünden in dieser Angelegenheit an den Bundesrath und übermittelt demselben eine gegen die st. gallischen Behörden gerichtete, von Herrn Dr. Alfred von Planta, Rechtsanwalt, in Reichenau, als Vertreter der Gemeinde Tamina verfaßte Beschwerdeschrift d. d. 26. März 1888.

In diesem Memoriale wird zunächst die Frage erörtert, ob die streitige Wegstrecke ein Privatweg oder eine für den öffentlichen Gebrauch bestimmte Kommunikation sei. Während die Regierung von St. Gallen sich auf den erstem Standpunkt stellt, wird von der Gemeinde Tamins der Kunkelspaß als ein öffentlicher und daher für Jedermann zugänglicher Weg angesehen, der unter keinem Titel dem allgemeinen Verkehr entzogen werden dürfe. In dem vom Bezirksatnte Sargans erlassenen Verbote liege daher ein Attentat auf das durch die Bundesverfassung gewährleistete Recht der Freizügigkeit, speziell der Freiheit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen von Kanton zu Kanton. Gemäß der durch Art. 31 der Bundesverfassung gewährleisteten Freiheit des Handels und der Gewerbe in Verbindung mit dem in Art. 62 der Bundesverfassung proklamirten Grundsatze unbedingter Freizügigkeit im interkantonalen Verkehr dürfen beschränkende Verfügungen über die Benutzung von Straßen nur dann erlassen werden, wenn sie mit dem Grundsatze der Freiheit in Handel und Gewerbe und daher selbstverständlich auch mit demjenigen des freien Verkehrs von Kanton zu Kanton nicht im Widerspruche stehen.

167 Die streitige Wegstrecke bilde einen integrirenden Bestandtheil «ines Verbindungsweges zwischen den Kantonen Graubünden und St. Gallen und diene ganz speziell den Verkehrsbedürfnissen der Gemeinde Tamins, bezw. deren Höfen auf Kunkels, und der Ortsgemeinde Vättis im Kanton St. Gallen. Dieser Verbindungsweg trage den Charakter einer fahrbaren Straße, welche auf der Paßhöhe von Kunkels beginne, durch das ganze Hochthal hindurchführe und bei Vättis in die Landstraße einmünde. Auf dem Gebiete der Gemeinde Vättis führe die Wegstrecke über öffentlichen Allmendboden, der für Vättis nicht den mindesten Werth habe, da auf dem angrenzenden Gebiete nicht einmal Gras wachse. Die Frage, ob der Gemeinde Vättis Privatrechte an jenem Terrain zustehen, müsse überhaupt in Zweifel gesetzt werden. Auf Taminser Gebiet lägen die Verhältnisse ganz anders, indem dort der Weg ausschließlich über Privatgüter führe und die Gemeinde im Thaïe selbst gar keinen Grund und Boden besitze. Man habe es aber in Tamins von jeher für selbstverständlich gehalten, daß das Gebiet, durch welches der in Frage liegende Weg führt, zu einer dem ö f f e n t l i c h e n Geb r a u c h d i e n e n d e n S a c h e geworden sei. Damit sei auf dem Standpunkt der Partikularrechte und auf demjenigen des gemeinen Rechtes (§§° 224 und 225 des bündnerischen Privatrechtes) keineswegs ausgeschlossen, daß dieser Weg bezw. der Grund und Boden, über welchen der Weg führt, im Big en t h u m der Gemeinden geblieben sei, allein dieses Eigenthumsrecht habe zu Gunsten des p u b l i c u s u s u s eine Beschränkung erlitten., welche ihre Begründung in der geographischen Lage des Weges und den Bedürfnissen der angrenzenden Bewohner finde. Das Eigenthumsreeht der Gemeinde Vättis an der streitigen Wegstrecke, das übrigens nicht über allen Zweifel erhaben sei, vermöge hienach diesem Wege noch lange nicht den Charakter eines P r i v a t w e g e s zu geben.

Sodann sei es gemäß Art. 24 der Bundesverfassung und im Sinne des bezüglichen Spezialgesetzes über die Forstpolizei Sache des Bundesrathes, für die Erhaltung und rationelle Bewirtschaftung der Schutzwaldungen Sorge zu trugen. Eine Abfuhr des Holzes könne nur über Vättis bewerkstelligt werden, und wenn die St. Galler Regierung die vom Bezirksamte Sargans verfügte Absperrung schütze, so habe diese Maßregel zur Folge,
daß der in jenen Waldungen enthaltene große Kapitalwerth todt liegen bleibe und die Waldungen ihrem wirtschaftlichen Ruin entgegengehen. Die natürliche Folge davon sei auch die, daß der Handel mit Holz verunmöglicht werde, was wieder eine Verletzung des Grundsatzes der Handelsfreiheit (Art. 31 der Bundesverfassung) involvire.

168 Die Beschwerdeschrift beruft sich im Weitern auf Art. 60 der Bundesverfassung, welcher alle Kantone verpflichtet, die Schweizerbürger in der Gesetzgebung gleich zu halten. Nun verordne das st. gallische Gesetz über Güterstraßen etc. vom 8. Juni 1864 ,,in der Absicht, die einer freien und ergiebigen Bewirtschaftung der Güter entgegenstehenden Hindernisse so viel als möglich zu beseitigen"" in Art. 4 was folgt: ,,Wenn einzelne Grundstücke durch die Güterstraßen keine freie Zufuhr erhalten, so kann der Eigenthümer derselben gegen volle Entschädigung das zur freien Benutzung uöthige Fahrrecht über die betreffenden Grundstücke Dritter verlangen".

und in Art. 7: ,,In Bezug auf Anlage und Unterhalt nöthiger Straßen aus Waldungen, Steinbrüohen, Torfmooren, Kohlengruben n. s. w.

finden die vorstehenden Bestimmungen über Güterstraßen analoge Anwendung. 14 Auf Grund dieser Gesetzesbestimmungen habe sich die Gemeinde Tamins an die zuständige st. gallische Behörde mit dem Gesuche um Einräumung des Bxpropriationsrechtes gewendet, sei aber damit abgewiesen worden, weil das st. gallische Güterstraßengesetz der Natur der Sache nach und gemäß allen staatsrechtlichen Grundsätzen nur auf diejenigen Grundstücke Anwendung finden könne, welche im Territorium seiner Wirksamkeit liegen, und daher außer Betracht falle in Beziehung auf die Grundstücke der Gemeinde Tamins, soweit solche irn Kanton Graubünden liegen.

In dieser Auffassung der st. gallischen Regierung, daß das Güterstraßengesetz der bündnerischen Gemeinde Tamins nicht zu Statten kommen könne, weil sie keinen Grundbesitz im Kanton St. Gallen habe, und daß nur die st. gallischen Güter und Waldbesitzer die Wohlthaten des fraglichen Gesetzes genießen sollen, liege nun aber offenbar eine Verletzung des Art. 60 der Bundesverfassung.

Schließlich wird noch darauf hingewiesen, daß der streitige Weg einen Theil des Kunkelspasses bildet, welcher schon in den ältesten Zeiten, bevor noch die Landstraßen Graubündens gebaut waren, der Kommunikation zwischen St. Gallen und Graubünden zu dienen hatte. Wenn der Gemeinde V ä t t i s bezw. den st. gallischen Administrutivbehörden das Recht eingeräumt werde, über die Benutzung des streitigen Paßabschnittes frei zu verfügen, so werde ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gegeben, die Benutzung des ganzen Kunkelspasses für
Jedermann unmöglich zu machen.

Die Konsequenz eines solchen Gewährenlassens würde nun aber unabweislioh dahin führen, daß jeder Gemeinde das Recht zugestanden werden müßte, die über ihr Territorium führenden Pässe nach Belieben abzusperren.

169 III. Auf diese Ausführungen der rekurrirenden Partei bemerkt der Regierungsrath des Kantons St. Gallen in seiner Vernehmlassung vom 25. April: Die st.-gallische Gesetzgebung kenne nur drei Arten von öffentlichen, dem allgemeinen Verkehr ungehemmt dienenden Straßen, nämlich: Staatsstraßen erster und zweiter Klasse und Gemeindestraßen aweiter Klasse. Alle übrigen Wege haben nur privatrechtlichen Charakter; sie sind von den Anstößern zu erstellen und zu unterhalten, ihre Benutzung bestimmt sich nach privatrechtlichen Grundsätzen und unterliegt den gesetzlichen Beschränkungen des Privatrechtes.

Wenn die Gemeindestraße Pfäffers-Vättis bis an die graubündnerische Kantonsgrenze geführt worden wäre, dann würde Tannins für seine Güter und Wälder auf Kunkels an der Gemeindestraße unzweifelhaft das Recht der freien Benutzung zustehen. In diesem Falle würde es weder dem Verwaltungsrath der Ortsgemeinde.

Vättis, noch dem Gemeinderath von Pfäffers, noch irgend einer andern Behörde einfallen, der Holzabfuhr aus der Kunkelser- Waldung ein Hinderniß in den Weg zu legen. Allein diese GemeindeStraße ende eben in der Ortschaft Vättis. Vom Dorfe weg bis zur Kantonsgrenze St. Gallen-Graubünden bestehe zur Stunde k e i n ö f f e n t l i c h e s W e g r e c h t , sondern nur ein Kommunikationssträßchen für Fußgänger und für den Güterertrag der auf st.-gallischem Territorium befindlichen Liegenschaften.

Die angefochtene Besitzesschutzverfügung des Bezirksamtes Sargans beziehe sich auch nicht auf die Gemeindestraße VättisPfäffers, wie es nach der Rekursbeschwerde aufgefaßt werden könnte, sondern nur auf jene Güterwegstrecke von der Ortschaft Vättis bis an die bündnerische Kantonsgrenze, welcher der Charakter einer ö f f e n t l i c h e n Kommunikation völlig abgehe und der lediglich ein beschränkter privatrechtlicher Charakter inhärire. Diese Wegstrecke habe von jeher, wie schon oben bemerkt, nur dem interkantonalen Fußgängerverkehr und den anstoßenden Gutsbesitzern, soweit der Gütererwerb es erfordert, gedient; sie bilde zugleich einen Theil des Ortsgemeindegutes von Vättis und sei ausschließliches Eigenthum der letztem, resp. der anstoßenden Liegenschaften.

Ob auf dieser Wegstrecke Dienstbarkeitsrechte zu Gunsten der bündnerischen Gemeinde Tamins oder des Privatgrundbesitzes haften, sei zum Mindesten eine bestrittene
Frage, die nur vom zuständigen Richter gelöst werden könne. Die erwähnte bezirksamtliche Verfügung sei von der Gemeinde Tamins übrigens auch in diesem Sinne aufgefaßt worden; es beweise dies der dagegen bei der st.gallischen Regierung eingelegte Rekurs.

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Die Gemeinde Vättis, wird in der Vernehmlassung weiter ausgeführt, habe sich nie geweigert, den Gebäudeeigenthiimern auf Kunkels die Zu- und Abfuhr nach dem Dorfe Vättis zu gestatten und sei auch heute noch bereit, die Holzabfuhr aus Kunkels in der Weise zu erlauben, wie sie vor der Erbauung der Gemeindestraße Vättis-Pfaffers geübt worden sei, nämlich mittelst Flößens durch den sog. Gürbsbach. Tamins wolle aber nicht das Recht, wie es früher geübt worden. Diese reiche Gemeinde habe bis jetzt Alles ·unterlassen, um für die Ausfuhr ihres Holzes auf ihrem Territorium in der Richtung nach Tamins die nöthige Wegsame zu erstellen und an die unverhältnißmäßigen Kosten des Baues und des Unterhaltes der Gemeindestraße Vättis-Pfäffers nicht den mindesten Beitrag geleistet. Es beweise dies die Thatsache, daß man in Tamins im Laufe von 18 Jahren angeblicher Unterhandlungen noch zu keinem faßbaren Entschlüsse gekommen sei. Trotz alledem wolle aber die Gemeinde Tamins aus dem neuen Verkehrswege den größten Nutzen ziehen.

Der Regierungsrath des Kantons St. Gallen präzisirt seinen Rechtsstandpunkt dahin : Tamins könne das Recht der Holzabfuhr über den Güterweg der Ortsgemeinde Vättis nur aus dem Titel des Privatrechtes beanspruchen ; dieses Recht werde ihm Seitens der Ortsgemeinde Vättis bestritten. Diese streitige Rechtsfrage könne nur vom zuständigen Richter, nicht aber von der Administrative gelöst werden. Die Beschwerde von Tamins sei deßhalb vom Bundesrathe sowohl wegen Inkompetenz, als auch Mangels rechtlicher Begründung abzuweisen ; i n (Er w ä g u n g :

1) Wenn der Kleine Rath des Kantons Graubünden itn Namen der Gemeinde Tamins sich in der vorliegenden Rekurssache auf Art. 60 (Verpflichtung der Kantone, alle Schweizerbürger in der Gesetzgebung gleichzuhalten) und auf Art. 62 der Bundesverfassung (Abschaffung aller Abzugsrechte im Innern der Schweiz) beruft, so ist daran zu erinnern, daß Beschwerden wegen Verletzung der durch diese Verfassungsartikel gewährleisteten Rechte nicht beim Bundesrathe, sondern beim Bundesgerichte anzubringen sind (Art. 59 des Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege).

2) Dagegen hat der Bundesrath allerdings Beschwerden, die auf Art. 31 der Bundesverfassung gestutzt werden, materiell zu prüfen. Allein die Berufung auf diesen Verfassungsartikel ist im vorliegenden Falle nicht zutreffend.

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Es ist von den Bundesbehörden niemals als eine Folge der vom Bunde ausgesprochenen Garantie der Handels- und Gewerbefreiheit das Recht in Anspruch genommen worden, den Kantoneu in Hinsicht auf die Anlage ihres Straßennetzes, die Erstellung von Straßen und Brücken u. s. w. Befehle zu ertheilen. Jeder Kanton bestimmt für sich, welche Straßen öffentlich und welche nicht öffentlich sein sollen.

3) Im Rekursfalle streiten sich zwei, Nachbarkantonen angehörende Gemeinden, unter Mitwirkung der beidseitigen Kautonsregierungen, über die Benutzung einer Wegstrecke, von der die eiue Partei sagt, sie bilde die Fortsetzung eines öffentlichen interkantonalen Fahr- und Fußweges, während die andere Partei sie als einen Privatweg bezeichnet.

Dieser Streit kann nicht vom Bundesrathe entschieden werden.

Von dem Standpunkte aus betrachtet, den Graubünden einnimmt, liegt eine Streitigkeit staatsrechtlicher Natur zwischen awei Kantonen vor, die zufolge Art. 57 des Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege in den Kompetenzbereich des Bundesgerichts gehört.

Nach der von St. Gallen vertretenen Anschauungsweise handelt es sich um einen Privatrechtsstreit zwischen zwei Gemeinden, der nur vorn zuständigen Civilriehter erledigt werden kann.

4) Was endlich den von der Gemeinde Tamins zur Unterstützung ihres Anspruchs angebrachten, auf Art. 24 der Bundesverfassung und den Votschriften des Bundesgesetzes vom 24. März 1876, betreffend die Forstpolizei im Hochgebirge, beruhenden forstpolizeilichen Gesichtspunkt anlangt, so steht außer Frage, daß eine Hemmung der Holzabfuhr auf die Bewirthschaftung der Waldungen eine ungünstige Rückwirkung ausüben muß. Es liegt somit allerdings, obgleich eine positive Bestimmung zur Ordnung solcher Verhältnisse fehlt, im Sinne des citirten Bundesgesetzes, wenn für die der Gemeinde Tamins gehörenden Schutzwaldungen ob Kunkels das Recht der Holzabfuhr in der Richtung nach Vättis, als der einzig naturgemäßen und zweckmäßigen, verlangt wird. Andererseits ist aber nicht außer Acht zu lassen, daß das Bundesgesetz über das Forstwesen die privatrechtlichen Verhältnisse nicht umstößt, sondern beachtet und berücksichtigt. Dienstbarkeiten z. B.

werden nicht einfach aufgehoben, sondern müssen gegen eine entsprechende Entschädigung abgelöst werden.

Wenn daher Tamins unter Berufung auf das erwähnte Bundesgesetz geltend macht, daß für die rationelle Bewirthschaftung und

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überhaupt für die Erhaltung seiner Waldungen auf Kunkels die Abfuhr des Holzes nach Vättis eine wesentliche Bedingung sei, so ist dem vom forstwirthschaftlichen Gesichtspunkte aus nicht zu widersprechen, es kann aber daraus höchstens ein Anspruch auf Anweisung eines Abfuhrweges gegen vollen Schadenersatz an den oder die Eigenthümer des Bodens abgeleitet werden, beschlossen: 1. Der Rekurs wird abgewiesen.

2. Dieser Beschluß ist unter Rückschluß von zwei Beilagen dem Kleinen Rathe des Kantons Graubünden, für ihn und /u Händen der Gemeinde Tannins, sowie dem Regierungsrathe des Kantons St. Gallen schriftlich mitzutheilen.

B e r n , den 22. Januar

1889.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Hammer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs des Hrn. Konrad Knechtle, Wirth und Krämer in Teufen (Appenzell A. Rh.), betreffend Bestrafung wegen Uebertretung des Bundesgesetzes vom 23. Dezember 1886 über gebrannte Wasser.

(Vom 22. Januar 1888.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h hat in Sachen des Herrn K o n r a d K n e c h t l e , Wirth und Krämer in Teufen, Kt. Appenzell A. Rh., betreffend Bestrafung wegen Uebertretung des Bundesgesetzes vom 23. Dezember 1886 über gebrannte Wasser ; auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements und nach Feststellung folgender aktenmäßiger Sachverhältnisse:

I. Im Januar 1888 wurde Konrad Knechtle, Wirth und Krämer in Teufen, Appenzell A. Rh., in Herisau polizeilich angehalten, weil er 25 Liter Branntwein mit sich führte, und hierauf wegen U e b e rt r e t u n g des B u n d e s g e s e t z e s vom 23. Dezember 1886, bet r e f f e n d g e b r a n n t e Wasser, an das Appenzell A. Rh. Bezirksgericht des Hinterlandes zur Bestrafung überwiesen. Knechtle bestritt zwar, mit Branntwein Hausirhandel getrieben zu haben, vielmehr habe er bloß Bestellungen auf Branntwein ausgeführt; allein dessen ungeachtet erklärte ihn das Gericht unterm 12. M ä r z 1888 der Uebertretung des erwähnten Bundesgesetzes schuldig, ,,begangen dadurch, daß er mit Quantitäten unter 40 Liter Branntweinhandel

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gallische Ortsgemeinde Vättis, betreffend Benutzung einer Wegstrecke. (Vom 22. Januar 1889.)

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26.01.1889

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