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zu 16.442 Parlamentarische Initiative Arbeitnehmende in Start-ups mit Firmenbeteiligungen sollen von der Arbeitszeiterfassung befreit sein Bericht der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates vom 29. August 2023 Stellungnahme des Bundesrates vom 1. November 2023

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Zum Bericht der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates vom 29. August 20231 betreffend die parlamentarische Initiative 16.442 «Arbeitnehmende in Start-ups mit Firmenbeteiligungen sollen von der Arbeitszeiterfassung befreit sein» nehmen wir nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

1. November 2023

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 9. Juni 2016 reichte Nationalrat Marcel Dobler seine parlamentarische Initiative 16.442 Arbeitnehmende in Start-ups mit Firmenbeteiligungen sollen von der Arbeitszeiterfassung befreit sein ein. Er forderte, dass das Arbeitsgesetz vom 13. März 1964 (ArG)2 dahingehend zu ändern sei, dass Arbeitnehmende bei Start-ups, die über Mitarbeiterbeteiligungen (Employee Stock Option Plans) verfügen, die Vertrauensarbeitszeit vereinbaren und somit auf die Erfassung ihrer Arbeitszeit verzichten könnten. Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates (WAK-N) gab der parlamentarischen Initiative am 20. Februar 2017 Folge. Ihre ständerätliche Schwesterkommission verweigerte die Zustimmung zum Folgegeben am 23. Januar 2018 einstimmig. Der Nationalrat gab der parlamentarischen Initiative am 7. Mai 2019 auf Antrag seiner Kommission dennoch Folge und die WAK-S stimmte dem Folgegeben schliesslich am 21. August 2020 zu.

Am 5. Mai 2022 verabschiedete die WAK-N einen ausformulierten Text zur konkreten Umsetzung der parlamentarischen Initiative. Sie nahm den auf dieser Grundlage ausgearbeiteten Vorentwurf an ihrer Sitzung vom 24. Oktober 2022 an und gab ihn vom 17. November 2022 bis zum 3. März 2023 in die Vernehmlassung. Am 26. Juni 2023 nahm die Kommission Kenntnis vom Ergebnisbericht. Aufgrund der kontroversen Stellungnahmen beauftragte sie die Verwaltung, Vorschläge für Präzisierungen des Gesetzestextes auszuarbeiten. Am 29. August 2023 entschied die Kommission aber, an der ursprünglichen Formulierung festzuhalten und verabschiedete ihren Entwurf3 samt ihrem Bericht4 zuhanden ihres Rates. Mit Schreiben vom 8. September 2023 wurde der Bundesrat eingeladen, zur Vorlage Stellung zu nehmen.

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Stellungnahme des Bundesrates

2.1

Allgemeines

Die vorliegende parlamentarische Initiative stammt aus dem Jahr 2016 und stand in direktem Zusammenhang mit der parlamentarischen Initiative 16.423 Ausnahme von der Arbeitszeiterfassung für leitende Angestellte und Fachspezialisten, die der Ständerat am 18. September 2019 abgeschrieben hat, und der parlamentarischen Initiative 16.414 Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle, die am 7. Juni 2023 ebenfalls abgeschrieben wurde. Im Laufe der verschiedenen Diskussionen in den Kommissionen stellte sich heraus, dass nicht eigentlich die Arbeitszeiterfassung das Problem ist, sondern die gemäss Arbeitsgesetz geltenden Arbeits- und Ruhezeitregeln, die als nicht kompatibel mit der Situation bestimmter Betriebe wahrgenommen werden. Zusammen mit den beteiligten Sozialpartnern wur2 3 4

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den daraufhin Sonderregelungen für bestimmte Tätigkeiten von Betrieben der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie ein Jahresarbeitszeitmodell für Dienstleistungsbetriebe in den Bereichen Wirtschaftsprüfung, Treuhand und Steuerberatung erarbeitet, die der Bundesrat per 1. Juli 2023 in Kraft gesetzt hat (Art. 32b und 34a der Verordnung 2 vom 10. Mai 20005 zum Arbeitsgesetz), was zur Abschreibung der parlamentarischen Initiative 16.414 führte.

2.2

Sonderbehandlung für Start-ups

Gemäss der Meinung des Parlaments brauchen auch Start-ups eine Sonderregelung betreffend Arbeits- und Ruhezeiten, da diese Firmen Arbeitsplätze schaffen und mit neuen Ideen und mit Innovation einen wertvollen Beitrag für die Entwicklung der Schweiz leisten. Das Arbeitsgesetz nehme keine Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse und die Realität von Start-ups, die anders funktionierten als bestehende Firmen und oft keine geregelten Arbeitszeiten kennen würden. Es brauche besonders in der Anfangsphase ein grosses Engagement der Beteiligten, da es darum gehe, in einem neuen Markt Fuss zu fassen. Ziel der Kommission ist es deshalb, für Mitarbeitende solcher neugegründeten Firmen im Arbeitsgesetz eine Ausnahme zu schaffen, die deren spezifischen Bedürfnissen Rechnung trägt.

Es gibt keine Legaldefinition von Start-ups. Die Kommission geht davon aus, dass es sich bei etwa 10 000 Firmengründungen pro Jahr um sogenannte Start-ups handelt.

Gemäss den neusten Zahlen der Statistik zur Unternehmensdemographie des Bundesamtes für Statistik (UDEMO)6 wurden 2022 in der Schweiz 40 188 Betriebe gegründet. Dabei beschäftigten 82 Prozent der neu gegründeten Unternehmen nur eine Person. Diese sind aus Sicht des Arbeitsgesetzes in der Regel höhere leitende Angestellte und somit gemäss Artikel 3 Buchstabe d ArG in Verbindung mit Artikel 9 der Verordnung 1 vom 10. Mai 20007 zum Arbeitsgesetz vom Anwendungsbereich des Arbeitsgesetzes bereits ausgenommen. Eine höhere leitende Tätigkeit übt aus, wer «auf Grund seiner Stellung und Verantwortung sowie in Abhängigkeit von der Grösse des Betriebes über weitreichende Entscheidungsbefugnisse verfügt oder Entscheide von grosser Tragweite massgeblich beeinflussen und dadurch auf die Struktur, den Geschäftsgang und die Entwicklung eines Betriebes oder Betriebsteils einen nachhaltigen Einfluss nehmen kann». Diese Statistik zeigt auch auf, dass lediglich 736 Unternehmen (1,8 %) im ersten Jahr fünf oder mehr Beschäftigte zählen.

Gemäss der Zielsetzung der parlamentarischen Initiative sollen nur diejenigen der neu gegründeten Unternehmen eine Sonderbehandlung erfahren, die Mitarbeiterbeteiligungen abgeben, also solche mit einem Employee Stock Option Plan. Es gibt keine offiziellen Zahlen, welche Unternehmen dies aktuell schon tun. Ausgehend von den am ehesten betroffenen Wirtschaftskategorien, den Unternehmen mit mehr als einem Angestellten und der Schätzung, dass rund ein Fünftel dieser Unternehmen Mitarbei-

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SR 822.112 www.bfs.admin.ch > Statistiken finden > Industrie, Dienstleistungen > Unternehmen und Beschäftigte > Unternehmensdemographie.

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terbeteiligungen abgeben, könnten Stand heute zwischen 1 und 3 Prozent der Neugründungen betroffen sein, also rund 400­1200 Unternehmen.

2.3

Stellungnahme zum Vorentwurf der Kommission

Für die Umsetzung des Anliegens der parlamentarischen Initiative 16.442 entschied sich die WAK-N dafür, in neu gegründeten Betrieben Mitarbeitende mit einer Firmenbeteiligung während 5 Jahren vom Anwendungsbereich des ArG auszunehmen (Art. 3 Bst. dbis), damit während dieser Zeit die allgemeinen Arbeits- und Ruhezeitregeln auf diese Personen nicht anwendbar sind. Gemäss Antrag der Mehrheit sollen aber die Vorschriften über den Gesundheitsschutz auf diese Arbeitnehmenden anwendbar bleiben (Art. 3a Bst. d).

Konkret sieht der Vorentwurf vor, dass das Arbeitsgesetz nicht anwendbar ist auf «Arbeitnehmende von Betrieben in den ersten fünf Jahren seit Firmengründung, die aufgrund eines Mitarbeiterbeteiligungsmodells am Unternehmenserfolg beteiligt sind».

Das Vernehmlassungsverfahren hat ergeben, dass diese Vorlage umstritten ist.8 Neben grundsätzlicher Kritik der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände haben insbesondere die Kantone auf die Gefahr von Missbräuchen aufgrund unklarer Begriffe hingewiesen und Präzisierungen verlangt bezüglich des anvisierten Kreises der betroffenen Unternehmen und der Art der Mitarbeiterbeteiligungen, die zur Ausnahme vom Anwendungsbereich des Gesetzes führen sollen. Aus zwei Branchen (Baumeisterverband und GastroSuisse) wurde weiter gefordert, dass diese Ausnahme explizit nicht zur Anwendung gelangen soll, wo ein Gesamtarbeitsvertrag gilt.

Die Kommission hat aber entschieden, an der Vorlage unverändert festzuhalten, worauf eine Reihe von Minderheitsanträgen eingereicht wurde.

Der vorgeschlagene Gesetzestext ist unpräzis. Bei Revisionen des Arbeitsgesetzes, das durch die Kantone vollzogen wird, muss dem Aspekt der Vollzugstauglichkeit und den von den Kantonen geäusserten Bedenken immer die nötige Beachtung geschenkt werden.

Der Vorentwurf grenzt den Fokus weder auf Neugründungen mit Innovationspotenzial von Betrieben aus bestimmten Branchen ein, noch führt er aus, ob nur echte Mitarbeiterbeteiligungen von nicht nur unerheblichem Wert unter die Definition der Start-ups mit Mitarbeiterbeteiligungen fallen sollen.

Der wiederholt geäusserten Befürchtung, wonach die vorgeschlagene Formulierung des Gesetzesänderung zu Missbrauch einlade, wurde gar nicht Rechnung getragen.

Der unterbreitete Gesetzesentwurf ist aus Sicht des Bundesrates daher unausgereift und nicht mehrheitsfähig. Dies belegt auch die Fülle der eingereichten Minderheitsanträge.

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Vgl. Ergebnisbericht zur Vernehmlassung pa. Iv. Dobler 16.442 und eingegangene Stellungnahmen: www.fedlex.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen 2022 > Parl. > Vernehmlassung 2022/74 > Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Ausnahme für Arbeitnehmende von neu gegründeten Betrieben).

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Zudem ist es fraglich, ob für eine so kleine Gruppe von betroffenen Unternehmen und Mitarbeitenden (nämlich diejenigen, die nicht bereits heute vom Geltungsbereich ausgeschlossen sind) der Weg einer Gesetzesrevision eingeschlagen werden soll. Es wäre aus Sicht des Bundesrates prüfenswert, ob nicht auch für Start-ups eine passende Ausnahmeregelung zu den Arbeits- und Ruhezeitvorschriften auf Verordnungsstufe geschaffen werden könnte, wie dies für andere Betriebsarten unter Mitwirkung der betroffenen Sozialpartner wiederholt mit Erfolg erreicht wurde. Falls gewünscht, würde der Bundesrat ein solches Vorhaben unterstützen und durch die Verwaltung begleiten lassen.

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Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat beantragt, auf die Gesetzesvorlage nicht einzutreten.

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