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Bundesrathsbeschluss in

Sachen des Rekurses der Herren Dénériaz und Konsorten in Sitten, betreffend das neue Finanzgesez für den Kanton "Wallis.

(Vom 14. August 1874.)

Der schweizerische B u n d e s r a t h hat

nach Einsieht des Rekurses der Herren A. Dénériaz, Jos. Marie Calpini, Aug. Bruttin und Ed. Cropt, für sich und im Namen von 25 Mitgliedern des Großen Rathes des Kantons Wallis, gegen das Dekret dieser Behörde vom 29. Mai 1874, wonach dem Volke einige Bestimmungen des neuen Finanzgesezes vorgelegt werden sollen ; Nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartementes und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben : I. Am 29. Mai 1874 erließ der Große Rath des Kantons Wallis ein Dekret, wonach einige Bestimmungen des neuen Finanzgesezes dem Volke zur Annahme vorlegt werden sollen. Bei diesem Anlaß reichten Herr Dénériaz und eine Anzahl anderer Mitglieder des Großen Rathes einen Protest gegen das erwähnte Dekret ein und erhoben sodann bei dem Bundesrathe Beschwerde, gestüzt auf folgende zwei wesentliche Gesichtspunkte:

259 1. Der Art. 3 des Dekretes vom 29. Mai 1874 laute: ,,Wenn die Mehrheit der im Kanton stimmfähigen Bürger dieses Dekret nicht verwirft, so wird dasselbe als angenommen erklärt und in Vollziehung gesezt." Diese Bestimmung stehe im Widerspruche mit Art. 72 der Walliser-Verfassung vom 23. Dezember 1852, wonach ,,jede Abänderung der Grundlage des bestehenden Finanzsystemes und jede Erhöhung des Steuerfußes dem Volke zur G e n e h m i g u n g unterstellt werden sollen." Dieser Ausdruk ,,Genehmigung", (,,sanction"), sei gleichmäßig im Art. 72 bezüglich der Abstimmung über Finanzgeseze und im Art 74 der Verfassung bezüglich der Abstimmung über eine Verfassungsrevision angewendet und lasse keine doppelte Auslegung zu. Nun enthalte das Dekret vom 23. Dezember 1852 betreffend die Inkraftsezung der Staatsverfassung des Kantons Wallis eine detaillirte Vorschrift darüber, wie das Volk seine Genehmigung zu ertheilen habe. Art. 5 dieses Dekretes bestimme nämlich: ,,Wenn die Mehrheit der Bürger, welche an der Abstimmung Theil genommen haben, für die Annahme sich erklärt, so ist die Verfassung als Grundgesez des Staates zu erklären." Dieser Vorschrift sei genau nachgelebt worden, wie aus den nachherigen Dekrete vom 19. Januar 1853 sich ergebe, durch welches die Verfassung vom 23. Dezember 1852 als Grundgesez des Staates erklärt worden.

Nach dem Dekret vom 29. Mai 1874 werden aber auch die Nichtstimmenden zu der Zahl der Annehmenden gerechnet, was dem Sinn und Geist des Gesezes widerstreite. Dazu komme, daß gemäß Art.

71 der Verfassung von Wallis, die Geseze, Dekrete, Beschlüsse und Verordnungen, welche mit derselben nicht im Widerspruche stehen, so lange in Kraft bleiben sollen, als sie nicht auf gesezlichem Wege aufgehoben werden. Nun habe aber der Große Rath die Bestimmungen des Gesezes vom 2. Juni 1851, betreffend das Gemeindewesen, unverändert beibehalten, laut dessen Art. 13 die M e h r h e i t der T h e i l n e h m e n d e n entscheidend sei. Wenn diese Vorschrift mit dem Art.

74, Absaz l der Verfassung, wonach jedes von 6000 Aktivbürgern in der vom Geseze bestimmten Form gestellte Revisionsbegehren dem Entscheide der U r v er s am m l un gen unterstellt werden soll, zusammengehalten werde, und wenn man ferner in Erwägung ziehe, daß seit dem Bestehen der gegenwärtigen Verfassung die Abstimmungen sowohl
über kantonale als Gemeindeangelegenheiten jederzeit in den Urversammlungen nach der Mehrheit «1er Theilnehmenden erfolgt seien, sowie daß die Walliser Gesezgebung überhaupt gar keine andere Art der Abstimmung vorsehe, so könne, nicht zweifelhaft sein, welche Bedeutung den?. Ausdruk ,,Genehmigung" beizumessen sei und in welcher Weise das Volk seine Genehmigung zu ertheilen habe.

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Man habe zwar einen Präzedenzfall entgegengehalten, durch Verweisung auf das Finanzgesez vom 6. Dezember 1850 und auf das zur Einführung dieses Gesezes erlassene Dekret. Das Finanzgesez von 1850 bestimme nämlich in Art. 44, daß dasselbe dem Volke zur Genehmigung vorzulegen sei, und zwar in der durch ein Dekret festzustellenden Form. Der Art. 6 dieses Dekretes laute nun dahin: .,,Wenn sich aus der Abstimmung ergibt, daß die Mehrheit der s t i m m f ä h i g e n Bürger das Gesez verworfen hat, so ist dasselbe als dahingefallen zu betrachten ; im gegenteiligen Falle ist es als Gesez zu erklären und tritt mit dem 1. Februar 1851 in Kraft. -- Allein dieses Gesez und das erwähnte Dekret seien noch unter der Herrschaft der Verfassung von 1848 erlassen worden, welche keine Bestimmnng enthalten habe, wonach der Große. Rath verpflichtet gewesen wäre, die Finanzgeseze dem Volke zur Genehmigung vorzulegen. Sie habe deßhalb über die Art und Weise der Volksabstimmung auch nichts vorsehreiben können. Der Große Rath habe schon viel gethan, daß er dieses Finanzgesez dem Volke überhaupt vorgelegt, gleichviel in welcher Form dies geschehen sei.

Unter der Herrschaft der heutigen Verfassung verhalte es sich aber anders, da diese die Genehmigung durch das Volk ausdrüklich vorsehe und dieselbe vorschreibe.

Die Mehrheit des Großen Rathes berufe sich sodann in zweiter Linie auf einen Vorbehalt, welcher bei der Berathung über den Art.

74 (jeziger Art 72) der gegenwärtigen Verfassung an das Protokoll gestellt worden sei. Der bezügliche Passus des Protokolls laute: ,,Art. 74. Die Kommission beantragt einen neuen Artikel von folgendem Inhalte: Jede Abänderung der Grundlage des bestehenden Finanzsystemes und jede Erhöhung des Steuerfußes sind dem Volke zur Genehmigung vorzulegen. Der Große Rath nimmt diesen Artikel an, behält sich aber vor, daß damit der Frage nicht präjudizirt sein soll, ob die Geseze und Dekrete über finanzielle Angelegenheiten dem Veto oder einer andern Art der Abstimmung unterstellt werden sollen."· Es könne jedoch nicht zugegeben werden, daß durch eine bloße Vormerkung am Protokoll der Sinn eines Verfassungsartikels geändert werden könne. Laut dem oben erwähnten Dekrete vom 23. Dezember 1852, Art. l habe der Veri'assungsentwurf den Bürgern vorgelesen und zur möglichst allgemeinen Kenntniß gebrach werden
müssen. Es sei also nur der amtliche Text der Verfassung von der Mehrheit des Volkes angenommen worden, und somit sei auch dieser allein das Grundgesez des Kantons. Jener Vorbehalt sei so unbekannt geblieben, daß desselben nicht einmal in dem Bulletin über die Verhandlungen das Großen Rathes Erwähnung geschehe. Ueberdies habe er auch nie die eidgenössische Ge-

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nehmigung erhalten. Die Bundesversammlung habe nur die Verfassung garantirt, von den an das Protokoll gestellten Klauseln habe sie keine Kenntniß erhalten können.

2. Die Rekurrenten fanden eine zweite Verfassungswidrigkeit in der Thatsache, daß das fragliche Dekret nicht alle Bestimmungen des Finanzgesezes enthalte, für welche die Genehmigung des Volkes erforderlich sei. Der bereits zitirte Artikel 72 der Verfassung schreibe vor, daß j e d e E r h ö h u n g des S t e u e r f u ß e s dieser Genehmigung unterstellt werden müsse. Man habe sich aber geweigert, die Erhöhung der Gewerbesteuer durch das Volk genehmigen zu lassen, obgleich das neue Finanzgesez gewisse Gewerbszweige in einem höhern Maße mit Steuern belaste, als den Grundbesiz.

Gestüzt auf diese Gründe schlössen die Herren Dénériaz und - Consorten mit dem Gesuche, der Bundesrath möchte, beschließen : 1) Daß das angefochtene Dekret aufgehoben sei; 2) daß die Erhöhung des Steuerfußes laut Vorschrift der Verfassung dem Volke in den Urversammlungen zur Genehmigung vorgelegt werden soll, und daß dessen Annahme von der Mehrheit der wirklich abgegebenen Stimmen abhängig sein müsse; 3) daß die Erhöhung der Gewerbesteuer ebensowohl wie diejenige der Grundsteuer der Volksabstimmung zu unterstellen, sei, und 4) sei jede Maßnahme zur Vollziehung des fraglichen Dekretes und jede Abstimmung bis nach dem Entscheid des Bundesrathes zu verschieben.

II. Der Bundesrath übermittelte die Rekurseingabe der Herren Dénériaz und Consorten unterm 25. Juni 1874 dem Staatsrathe des Kantons Wallis, und lud leztern ein, ihm seine Gegenbemerkungen auf die oben unter Nr. 2 und 3 formulirten Begehren mitzutheilen.

Was das Suspensionsgesuch (Ziff. 4) betrifft, so eröffnete der Bundesrath der Regierung von Wallis, er wende nichts dagegen ein, daß.

ungeachtet des erhobenen Rekurses, zur Volksabstimmung geschritten werde, welche nach Maßgabe der Verfassung des Kautons Wallis mit Rüksicht auf das Dekret vom 29. Mai 1874 jedenfalls stattfinden müsse.

Dagegen bleibe der Entscheid über die Frage, ob der Ari. 3 des genannten Dekretes mit der Walliser Verfassung im Einklänge stehe, ausdrüklich vorbehalten, und demgemäß dürfe dasselbe, was immer das Resultat der Volksabstimmung sein werde, nicht in Vollziehunggesezt werden, so lange nicht über den Rekurs der Herren Dénériaz und Consorten definitiv entschieden sei.

262 III. Der Staatsrath des Kantons Wallis beantwortete diesen.

Rekurs mit Schreiben vom 9. Juli 1874 wie folgt: Die im Art. 3 des Dekretes vom 29. Mai 1874 von dem Großen Rathe gewählte Art der Volksgenehmigung, d. h. das Veto, sei ·weder nach dem Sinn und Geiste der Verfassung, noch nach dem Wortlaute derselben ausgeschlossen oder gar untersagt. Der Große Rath habe daher bei dem Erlaß jenes Dekretes weder eine Ungesezlichkeit begangen, noch mit der Verfassung in Widerspruch sich gestellt.

1) Die Volksgenehmigung könne auf zwei Wegen erlangt werden: entweder durch das Referendum oder durch das Veto.

Nun sei nirgends vorgeschrieben, daß die erstere Genehmigungsart, d. h. diejenige, wonach die Bürger zu den Urversammlungen einzuberufen waren, um nach der Mehrheit der Stimmenden bezüglich der Erhöhung von Steuern für die Annahme oder die Verwerfung sich zu erklären, verbindlich oder allein verfassungsmäßig sei.

Noch mehr, der Art. 52 des Wahlgesezeses vom 2. Dezember 1851, worin die Befugnisse der Urversammlungen festgestellt seien, enthalte nichts über diesen Gegenstand. . Wenn daher das Veto in Folge des Umstandes, daß die Verfassung dessen nicht ausdrüklich erwähne, ausgeschlossen wäre, so müßte aus dem gleichen Grunde auch das Referendum ausgeschlossen sein.

2) Die Art und Weise, wie die Volks-Genehmigung zu erfolgen habe, sei weder in der Verfassung selbst, noch in einem besondern Geseze bestimmt. Daraus folge, daß diese Genehmigung fakultativ durch das Veto oder durch das Referendum eingeholt werden könne. Da der G r o ß e R a t h gemäß Art. 29, Ziff. 14 der Verfassung die s o u v e r ä n e G e w a l t in A l l e m a u s ü b e , w a s d i e V e r f a s s s u n g n i c h t ausdrük.li c h e i n e r a n d e r n B e h ö r d e ü b e r t r a g e , so liege offenbar die Wahl der Genehmigungsart durchaus in seiner" Kompetenz. Der Große Rath habe also innerhalb seiner Befugniß gehandelt.

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. . .

3) Bei allen in Aussicht genommenen Auslagen, · bei der Uebernahme von finanziellen Verbindlichkeiten und bei allen An' leihen entscheide der Große Rath in souveräner Stellung, ohne daß seine Beschlüsse dem Referendum unterworfen seien. Das Volk des Kantons Wallis habe mit der Annahme der Verfassung ihm diese Competenzen in unbeschränkter Weise übertragen (Art. 29, Ziff. 6 und' 9); sonach sei das Begehren
der Rekurreuten nicht im Einklänge mit dem allgemeinen Geiste der kantonalen Verfassung.

4) Der Große Rath von 1852 habe den Ausdruk ,,Genehmio-ung1'- (sanction) gebraucht; er habe nicht ausdrüklich gesagt, daß eine Steuer-Erhöhung von · der Mehrheit der Stimmenden ange-

263 genommen werden müsse. Man müsse also glauben, daß er es als hinreichend erachtet habe, wenn das Volk zu einer Ablehnung der Steuer einberufen werde unter der öffentlichen Kenntnißgabe, daß diejenigen Bürger, welche sich der Abstimmung enthalten, zu der Zahl derjenigen gerechnet werden, welche die dekretirte Maßnahme annehmen.

5) Diese Auslegung des Ausdrukes ,,Genehmigung" werde auch durch den einzigen Präzedenzfall, auf den man sich im Kanton Wallis in dieser Materie beziehen könne, bestätigt, nämlich durch denjenigen betreffend das Finanzgesez vom 6. Dezember 1850, welches die Kapitals- und Einkommenssteuer geschaffen habe. Die Genehmigungsweise, welche durch das bezügliche Dekret aufgestellt worden, sei diejenige des Veto gewesen.

Der Große Rath habe also bei seinem Dekrete vom 29. Mai 1874 dem Ausdruke ,,Genehmigung des Volkes11 die gleiche Bedeutung beigelegt, welche ihm 1850.von den Urhebern des ersten Finanzgesezes gegeben worden sei.

6) Die Anwendung des Veto als Form der Volksgenehmigung bei Gesezen über finanzielle Angelegenheiten sei endlich vollständig gerechtfertigt durch den von den Rekurrenten zitirten Vorbehalt, resp. durch die Interpretation, welche an das Protokoll des Großen Rathes vom Jahr 1852 gestellt worden sei; In diesem Vorbehalt, womit dem Art. 72 der Verfassung nicht derogirt worden, sondern mit welchem die Bedeutung dieses Artikels zum vornherein habe festgestellt werden wollen, sei die Idee zum Ausdruke gekommen, daß die Wahl des Mittels, wodurch die Volksgenehmigung zu erfolgen habe, vorbehalten sai und in den souveränen Befugnissen des Großen Rathes verbleiben soll. Damit sei die Frage der Verfassungsmäßigkeit des angefochtenen Dekretes von kompetenter Stelle und endgültig entschieden.

Was die zweite Verfassungswidrigkeit betreffe, die von den Rekurrenten signalisirt werde, so sei auch dieser Theil der Beschwerde grundlos. Der Bundesnith habe schon im Jahr "1871 anerkannt, daß bei Erlassen betreffend die indirekten Steuern die Genehmigung des Volkes nicht erforderlich sei.

Die Genehmigung des Volks sei weder für das Finanzgesez in seinem Ganzen, noch für die Abänderungen rüksichtlich der bereits vorgesehenen indirekten Steuern, noch selbst für neue indirekte Steuern obligatorisch; sie sei es bloß für die Erhöhung der direkten Steuern vom Kapital und vom
Einkommen und für die Abänderungen an der Grundlage des Fiuunzsystems.

Die Klassifikation der Patente für die Gewerbe, d. h. die Gewerbesteuer, qualifizire sich weder als eine direkte Steuer (Art. 21 Bundesblatt. Jahrg. XXVI. Bd. III.

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des Gesezes von 1862), noch als eine neue Steuer. Seitdem diese Klassifikation eingeführt worden, sei dieselbe unter der Herrschaft der gegenwärtigen Kantonsverfassung zu verschiedenen Malen revidirt worden, ohne daß sie jemals dem Volke zur Genehmigung vorgelegt worden wäre.

Die Regierung des Kantons Wallis schloß mit dem Antrage, daß der Rekurs der Herren Dénériaz und Consorten einfach abgewiesen werden möchte.

l n E r w ä g un g:

Der Art. 72 der Verfassung von Wallis bestimmt, daß ,,jede Abänderung der Grundlage des bestehenden Finanzsystems und jede Erhöhung des Steuerfußesa dem Volke zur Genehmigung unterstellt werden sollen.

Es sind daher die beiden Beschwerdepunkte der Rekurrenten gegen das Dekret vom 29. Mai 1874, mit welchem der Große Rath von Wallis einen Theil der Bestimmungen des Tags zuvor -- 28. Mai 1874. -- angenommenen Finanzgesezes der Volksabstimmung zu unterstellen beschlossen hat, nach einander und getrennt zu behandeln.

Die erste Beschwerde der Rekurrenten beschlägt den Art. 3 des erwähnten Dekrets vom 29. Mai 1874, wonach ,,dasselbe als angenommen erklärt und in Vollziehung gesezt werden soll, wenn d i e M e h r h e i t d e r i m K a n t o n s t i m m f ä h i g e n Bürger d a s D e k r e t n i c h t v e r w i r f t.tt Die vom Bundesrath in erster Linie zu entscheidende Frage geht somit dahin, ob nach dem Dekret vom 29. Mai 1874 die Abstimmung des Volkes über die Hauptbestimmungen des neuen Finanzgesezes, wie sie im Dekret angeführt sind, im Sinne des Art. 72 der Verfassung angeordnet worden sei.

Diese Frage muß verneint werden, indem das Dekret vom 29. Mai 1874 das Volk nicht zum Entscheide über die Genehmigung des Gesezes beruft, sondern ihm lediglich die Möglichkeitgibt, diesfalls ein Vetorecht auszuüben,' indem man durch eine gesezliche Fiction präsumirt, als hätten nicht nur die stimmfähigen Bürger, die freiwillig sich der Stimmgebung enthalten haben, sondern auch alle diejenigen für die Genehmigung gestimmt, welche an der Betheiligung verhindert waren, sich aber gleichwohl gegen diese Genehmigung ausgesprochen hätten.

Diese Interpretation, auf welcher das Dekret vom 29. Mai beruht, ist um so weniger zuläßig, als der Art. 74 der Verfassung,

265 welcher das Recht des Volkes, über jeden Entwurf einer revidirten Verfassung endgültig zu entscheiden, anerkennt, die gleichen Ausdrüke wie der Art. 72 enthält; es würde indessen niemandem einfallen, diesen Artikel in dem Sinne auszulegen, daß eine revidirte Verfassung als angenommen betrachtet werden könne, w e n n n i c h t d i e M e h r h e i t d e r i m K a n t o n s t i mm f ä h i g e n B ü r g e r s i e v e r w o r f e n h ä t t e . E s kann jedoch nicht zugegeben werden, daß zwei ganz gleichlautende Bestimmungen einer und derselben Verfassung je nach Umständen eine verschiedene und entgegengesezte Auslegung erhalten.

Das Dekret vom 29. Mai 1874 ist folgerichtig, in soweit das für die Volksabstimmung vorgeschriebene Verfahren in Frage kommt, im Widerspruche mit den Bestimmungen des Art. 72 der Verfassung.

Der zweite Beschwerdepunkt der Rekurrenten geht dahin, daß das Dekret vom 29. Mai 1874 der im neuen Finanzgeseze von Wallis eingeführten Aenderungen betreffend die indirekten Steuern und insbesondere der Gewerbesteuer keine Erwähnung geschehe, und daß also der Große Rath von Wallis jene Bestimmungen, im Widerspruche mit dem Art. 72 der Verfassung, der Genehmigung- durch das Volk entziehe.

Hier ist nun zu prüfen, ob die erwähnten Aenderungen in ihrer Gesammtheit e i n e A b ä n d e r u n g d e r G r u n d l a g e d e s b e s t e h e n d e n F i n a n z s y s t e m s und e i n e Er h ö"h u n g des Steuerfußes bilden.

Von einer Abänderung des Finanzsystems kann jedoch nicht die Rede sein, indem die verschiedenen in Wallis bestehenden Arten von Steuern die nämlichen bleiben und nur in ihrer Anwendung Aenderungen erleiden.

Mit besserem Rechte könnte behauptet werden, daß es sich um eine E r h ö h u n g der S t e u e r n handle; vergleicht man aber die Gewerbesteuer, wie sie durch das neue Walliser Finanzgesez vom 28. Mai 1874 festgesezt ist, mit der nämlichen Steuer nach den Bestimmungen des frühern Gesezes vom 26. November 1862, so ergibt sich, daß die Erhöhungen nur einzelne Erwerbsvevhältnisse und gewisse Maximalbeträge beschlagen, während eine ziemlich große Zahl anderer Berufsarten mit niedrigem Minimalansäzen bedacht sind.

Es handelt sich also hinsichtlich der Gewerbesteuer nach den Bestimmungen des neuen Gesezes nicht um eine allgemeine Erhöhung des S t e u e r fu ßes, welche nach der Verfassung von Wallis allein dem Volke zur Genehmigung unterlegt werden muß,

266 sondern lediglich um eine Aenderung der Steuern, wie in dem Falle, welcher den Beschluß des Bundesrathes vom 2. Oktober 1870 über den Rekurs des Hrn. J. B. Calpini veranlaßt hat.

In Betreff des zweiten Beschwerdepunktes liegt sonach eine Verlezung des Art. 72 der Verfassung von Wallis nicht vor; beschlossen: 1. Der Rekurs wird für begründet erklärt, insoweit es sich um das im Dekret vom 29. Mai 1874 vorgesehene Abstimmungsverfahren handelt. Demgemäß ist der darauf bezügliche Theil des Dekrets aufgehoben und der Staatsrath des Kantons Wallis eingeladen, dafür zu sorgen, daß derselbe durch eine Bestimmung ersezt werde, welche das Volk beruft, sich mit der absoluten Mehrheit der Stimmenden über die Frage auszusprechen, ob es dem neuen Finanzgeseze seine Genehmigung erheilen wolle.

Im Uebrigen wird der Rekurs als unbegründet erklärt.

2. Der gegenwärtige Beschluß ist Hrn. Großrath Dénériaz in Sitten zuhanden der Rekurrenten und dem Staatsrathe des Kantons Wallis mitzutheilen.

B e r n , den 14. August 1874.

*

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Schiess.

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Schreiben der

Schweiz. Bundeskanzlei an Hrn. Jakob GuggenheimK ö n i g in Oberendingen (Aargau), betreffend dessen Beschwerde wegen Schulbesuch seines Sohnes am Samstage.

(Vom 21. August 1874.)

Tit.!

Mit Eingaben vom 13. resp. 14. Juli d. J., beschweren Sie sich beim Bundesrathe über die Schlußnahme der dortigen Regierung vom 6. gl. Mts., derzufolge Ihrem Sohne Samuel der Zutritt zur Bezirksschule in Zurzach nur unter der Bedingung gestattet werde, als der Knabe die Anstalt auch am Samstage (also am Schabbath) besuche. In dieser Verfügung glauben Sie einen Widerspruch mit Art. 27 der Bundesverfassung erbliken zu dürfen.

Nach Prüfung der hier in Berüksichtigung fallenden Gesichtspunkte hat der Bundesrath gefunden : Die Verpflichtung, ein Kind am ordentlichen öffentlichen Unterrichte, mit Ausschluß des Religionsunterrichtes, theilnehmen zu lassen, stehe mit Art. 27, Absaz 2 vollständig im Einklang; er stehe aber auch mit Absaz 3 desselben in keinem Widerspruche, indem dadurch die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht beein-

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Bundesrathsbeschluss in Sachen des Rekurses der Herren Dénériaz und Konsorten Sitten, betreffend das neue Finanzgesez für den Kanton Wallis. (Vom 14. August 1874.)

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1874

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31.10.1874

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