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Bericht der

Minorität der ständeräthlichen Kommission betreffend den Rekurs des P. Marcellino in Faido.

(Vom 24. Oktober 1874.)

Tit.!

Die katholische Pfarrgemeinde Verscio, Bezirk Locamo, nachdem sie ihren Pfarrer abberufen, wandte sich an die Regierung von Tessin zum Zweke der Wiederbesezung der vakanten Pfarrpfründe.

In Folge dessen verfügte unterm 16. Juli 1. J. der Staatsrath von Tessin, daß der Kapuziner Pat. Marcellino aus dem Kloster zu Faido sich unverzüglich zur provisorischen Uebernahme der Pfarrpfründe nach Verscio zu begeben habe, und zwar unter Strafandrohung im Falle der Renitenz.

Durch diese Schlußnahme fand sich jedoch der Rekurrent in seinen bürgerlichen Rechten sowohl, als in seinem Gewissen verletzt, und rekurrirte deßhalb sofort an die tessinische Regierung, sowie auch unterm 19. Juli an den Bundesrath.

Die tessinische Regierung hielt indeß an ihrer Schlußnahme fest unter Berufung auf die kantonale Gesezgebung. Nach dortigem Gesetz vom 16. Jänner 1846 haben die religiösen Gemeinschaften,

864 sei es als Pfarrhelfer, sei es für die Jugenderziehung, oder für die Krankenpflege oder andere Liebeswerke sich zu bethätigen. Und nach dem Gesez vom 30. Juni 1848 sei die Provinz der Kapuziner verpflichtet, in gewissen Kirchen von Lugano und Locamo, und auch in andern geistliche Funktionen zu übernehmen, wenn die kompetente Behörde es für nöthig erachte. Ebenso sei vermittelst, Gesetz vom 24. Mai 1855 bestimmt, daß Geistliche, welche nicht bei der Seelsorge bethätigt sind, sich nicht weigern können, vor* übergehend den Dienst einer dieselbe entbehrenden Pfarrgemeinde zu übernehmen, sobald sie hiefür vom Staatsrathe bezeichnet werden.

Angesichts dieser gesezlichen Bestimmungen habe der Staatsratlt im Fragefalle korrekt gehandelt, was noch um so weniger angezweifelt werden könne, weil diese Schlußnahme sich auf einen völlig zutreffenden Präzedenzfall stützen könne, dem gemäß nach Absetzung des Pfarrers von Cavagnago ein Kapuziner aus gleichem Kloster auf Einladung der Regierung ohne Widerstand die betreffende Pfarrei vertreten habe.

Rekurrent dagegen behauptet, daß die zitirten Kirchengesetze, erstere mit dem in Frage liegenden Falle nichts zu schaffen haben und letzteres, vom Jahr 1855, sich nur auf Weltgeistliche, und keineswegs auf Ordensgeistliche beziehe; und bezüglich des erwähnten Präzedenzfalles sagt Rekurrent, daß der Staatsrath etwas Unrichtiges behaupte und den Bundesrath täusche, wenn er sage, daß in Cavagnago ein Pfarrer abberufen oder ein solcher durch einen Kapuziner von Faido vertreten worden sei. Allein selbst wenn man die Richtigkeit der Thatsache voraussetzen würde, daß früher ein Kapuziner von Faido auf Einladung der Regierung in Cavagnago pfarramtliche Funktionen übernnommen habe, so sei jener Fall mit dem vorliegenden nicht identisch. Einen Kapuziner zur Besorgung von pfarramtlichen Funktionen e i n l a d e n oder ihn dazu gegen sein Gewissen n ö t h i g e n wollen, sei nicht das Gleiche. Zudem hätte sich jener Fall deßwegen noch anders gestaltet, weil Cavagnago iunert dem Jurisdiktionskreise vom Kloster Faido gelegen, was von Verscio nicht gesagt werden könne.

Im Uebrigen könne die Frage, ob der vom tessinischen Staatsrath an den Rekurrenten unter Strafandrohung ertheilte Befehl, dieSeelsorge in der Gemeinde Verscio sofort provisorisch zu übernehmen, an der Hand der tessinischen Gesetze begründet sei oder nicht, durch die Bundesbehörden nicht untersucht werden, weil dieß nicht in die Kompetenz dieser Behörden falle.

865 Letzteres scheint uns unbestreitbar richtig zu wein. Wir können den vorliegenden Rekurs lediglich nur insofern in Betracht ziehen, als es sich um Rechte handelt, die durch die Bundesverfassung gewährleistet sind. Dagegen sind nach Art. 2 der Uebergangsbestimmungen der Bundesverfassung alle kantonalen Verfassungen und Gesetze, welche mit der neuen Bundesverfassung im Widerspruche stehen, als dahingefallen erklärt. Es kann sich daher der tcssinische Staatsrath auf seine kantonalen Gesetze nur insoweit stützen, als dieselben nicht im Widerspruche mit dem neuen Buudesrechte stehen.

Auf letzteres bezugnehmend, glaubt nun Rekurrent, daß, wenn man ihn zwinge, vom Kloster zu Faido nach dem weit entfernten Verscio sich zu begeben, um dort -- außerhalb des Jurisdiktionsgebietes seines Klosters -- pfarramtliche Funktionen zu übernehmen, man sich verstoße : a. gegen den Art. 45 der Bundesverfassung, das freie Niederlassungsrecht betreffend; b. gegen Art. 49, welcher die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleiste und vorschreibe, daß Niemand zu einer religiösen Handlung angehalten werden könne; c. gegen die persönliche Freiheit, die für den Rekurrenten nicht mehr existiren würde, wollte man ihn nach Gutdünken an einen erzwungenen Wohnort schicken und zu einem Berufe nöthigen, der seinen Neigungen und Bedürfnissen widerstrebt ; d. gegen jede Schicklichkeit, indem -- selbst angenommen, die Patres des Klosters Faido haben sich zum Gottesdienste für das Publikum herbeizulassen -- dieser Dienst dem Rekurrenten, namentlich mit Rücksicht auf seine persönlichen Verhältnisse, denn doch nicht an ihm ganz unbeliebtem Orte und außerhalb des Jurisdiktiouskreises seines Klosters angewiesen werden könne.

Der Buudesrath fand dagegen diesen Rekurs laut Sehlußiiahiiie vom 17. September unbegründet und zwar gestützt auf folgende Gründe : ,,1) daß die Behauptung des Rekurrenten, es verletze der erwähnte Beschluß des Staatsrathes von Tessin die Artikel 43 und 45 der Bundesverfassung, unbegründet ist, indem diese Artikel, welche die Bedingungen, unter welchen ein Schweizerbürger sich in einer Gemeinde des Landes niederlassen kann und die Rechte der niedergelassenen Schweizer feststellen, die Befugniß des Staates

866 nicht schmälern, in gewissen Fällen Bürger an gewisse Funktionen zu berufen, deren Ausübung eine Wohnungsänderung nach sich .zieht ; 2-) daß von einer Verletzung der durch Art. 49 der Bundesverfassung gewährleisteten Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht die Rede sein kann, wenn ein katholischer Geistlicher eines Klosters an die geistliche Leitung einer katholischen Gemeinde provisorisch berufen wird und zwar um so weniger, als nachgewiesen ist, daß in einem frühern anheben Falle ein Kapuziner des nämlichen Klosters einer derartigen Aufforderung des Staatsrathes ohne Schwierigkeit nachgekommen ist; 3) daß die vom Rekurrenten angeführte Verletzung der persönlichen Freiheit lediglich die Uebelstände betrifft, welche für denselben aus seinem Alter und seiner Gesundheit entspringen und nicht der Art sind, um vom Bundesrathe in Betracht gezogen ·werden zu können.a Wir haben uns Mühe gegeben, in diesen Erwägungen des Bundesrathes haltbare und sichere Anhaltspunkte zu finden; es ist uns dicß aber nicht ermöglicht worden, sondern wir haben im Gegentheil entgegen dem Beschlüsse des Bundesrathes und entgegen den Anschauungen der Mehrheit Ihrer Kommission den Rekurs als begründet erfunden.

Wollen Sie uns anbei gestatten, die unserem Antrage zu Grunde liegenden Motive in gedrängter Kürze etwas näher zu beleuchten.

I. Anlangend den vom Rekurrenten angerufenen Art. 45 der Bundesverfassung, so erinnern wir Sie, daß derselbe die freie Niederlassung ausdrücklich gewährleistet. Rekurrent hat demzufolge das Kloster in Faido zu seinem Wohnorte gewählt, wo er unter dem Schütze der Gesetze lebt und auch seine Bürgerpflichten erfüllt.

Will ihn der Staatsrath von Tessin zwingen, außer dem Wirkungskreise des Klosters, au einem entfernten Orte auf unbestimmte Zeit seinen Wohnsitz zu nehmen, so verstößt er sich gegen die Bestimmungen des Art. 45. Die Behauptung des Bundesrathes, daß der Staat die Befugniß habe, in gewissen Fällen einen Bürger an gewisse Funktionen zu berufen, ist insoweit richtig, daß an einzelnen Orten no.ch Bestimmungen bestehen, wonach ein Bürger innert seiner Gemeinde oder seinem Bezirke angehalten werden kann, ein" bürgerliches Amt auf bestimmte Zeit zu übernehmen. Dabei ist demselben jedoch die Freiheit gewahrt, sich durch Wegbegebung außer seine Gemeinde oder seinen Bezirk oder durch Erlegung einer be-

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stimmten Loskaufsumme dem Amte zu entziehen. Ein weitergehender Amtszwang besteht nirgends und kann gewiß Niemand verpflichtet oder gezwungen werden, von heute auf morgen außer seiner Gemeinde oder seinem Bezirke ein Amt zu übernehmet! und demzufolge seinen Wohnsitz zu verändern. Jemanden auf eine Stelle b e r u f e n , oder ihn gegen seinen Willen zur sofortigen Uebernahme einer Stelle unter Strafandrohung z w i n g e n , sind zwei ganz verschiedene Dinge, die nicht miteinander zu verwechseln sind.

Wenn eingewendet wird, daß die Kapuziner, wie allerwärts wo solche Klöster bestehen, so auch im Tessiti zur beliebigen Aushilfe in der Seelsorge verwendet werden,' so kann daraus ö O kein Recht gefolgert werden, einen einzelnen ohne Zustimmung seiner geistlichen Obern auf dem Zwangswege anzuhalten, sogar außerhalb des Wirkungskreises seines Klosters und dessen Jurisdiktionskreises ein Amt oder eine geistliche Pfründe zu übernehmen.

Die Regierung von Tessin glaubt zwar, daß ein Ordensbruder, der auf Befehl seines Obern bis an' Ende der Welt gehen würde, kaum vollständige Niederlassungsfreiheit beanspruchen könne. Solche Auslassungen hätten wir lieber unberührt gelassen, hätte nicht der Bundesrath sich veranlaßt gesehen, in seiner Botschaft davon Erwähnung zu machen. Der Gehorsam eines Ordensmannes gegen seine Obern ist freiwillig und berechtigt die Tessiner Regierung durchaus nicht, den Rekurrenten mit Gewalt zu nöthigen, sich nach Verscio zu begeben; übrigens müßte der Ordensgeistliche auch gegen einen, sein Gewissen verletzenden Zwangsakt seiner Obern im Rekursfalle an der Hand obiger Bestimmungen der Bundesverfassung eben so gut geschützt werden, wie gegen den Zwangsakt der Tesslner Regierung.

Nach den Bestimmungen der Bundesverfassung sind alle Bürger vor dem Gesetze gleich und es ist daher der Tessiner Regierung nicht gestattet, nach ihrem Gutfinden e i n Gesetz aufzustellen die Bundesverfassung gewährleisteten Rechte so wenig als andere Bürger veräußert haben.

II. Auf die vom Rekurrenten angerufene und in Art. 49 der Bundesverfassung gewährleistete Glaubens- und Gewissensfreiheit tibergehend, so begreifen wir nicht, wie man dazu gelangen kann, die offenbare Verletzung derselben zu verkennen, welche die Tessiner Regierung durch ihre bekannte Schlußnahme gegen den Rekurrenten beging. Dem Bundesräthlichen Beschlüsse zufolge kann keine Gewissensverletzung vorliegen, wenn ein katholischer Ordens-

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geistlicher zur Leitung der Seelsorge einer katholischen Gemeinde berufen (er hätte sagen sollen gezwungen) wird. Ganz einverstanden, daß wenn irgend ein Priester, sei es durch eigene Wahl oder auf dem Wege der Berufung von Seite seiner rechtmäßigen geistliehen Obern die pfarramtliche Leitung einer Gemeinde seiner Konfession übernimmt, die Rechte des Gewissens intakt sind. Dagegen ist der Fall nicht der gleiche, wenn eine kantonale Regierungsbehörde sich herausnimmt, unter Strafandrohung einen Kapuziner zu n ö t h i g e n , sein Kloster zu verlassen, um ihn zum Pfarrer einer Gemeinde zu machen.

Art. 49 der Bundesverfassung schreibt ausdrücklich vor, daß, Niemand zur Vornahme einer religiösen Handlung könne angehalten werden. Diese Bestimmung gilt für Geistliehe, wie für die Laien. Nun wird Niemand bestreiten, daß die geistliche Leitung einer Gemeinde eine religiöse Handlung ist, auch wenn es sich um einen katholischen Geistlichen und um einen katholischen Kirchendienst handelt, und wenn man dieß zugeben m u ß , so liegt auf der Hand, daß die Tessiner Regierung den Rekurrenten nicht zwingen kann, in der Pfarrei von Verscio Gottesdienst zu halten, dort Messe zu lesen, Beicht zu hören oder zu predigen u. dergl. Man kann allerdings einwenden, daß dieß alles ja zum Berufe eines katholischen Geistlichen gehöre, und daß es im Interesse und in der moralischen Pflicht jedes katholischen Geistlichen liege, auf Verlangen diese Funktionen zu übernehmen. Solche und ähnliche Einwendungen zu erörtern wäre Zeitverlust; wir sagen einfach, daß nach dem neuen Bundesrecht der katholische Geistliche eben auch so wenig als ein anderer Bürger zur Vornahme von religiösen Handlungen gezwungen werden darf. Man begnügte sich bei Berathungder Bundesverfassung nicht, blos die Glaubensfreiheit zu gewährleisten , es wurde auch die Gewissensfreiheit klar und bestimmt garantirt. Soll nun dieses verfassungsmäßige Recht, da es zum erstenmal -- von einem Kapuziner -- angerufen wird, demselben nicht gewährt werden ?

Wir haben uns übrigens aus den Akten überzeugt, daß die Renitenz des Rekurrenten nicht dem Mangel an Berufseifer oder an Patriotismus zuzuschreiben ist, und daß ihm durch gewisse Zulagen der Tessiner Regierung Unrecht geschieht, indem er sich aus glaubwürdigen Gründen des Gewissens weigert, die Pfarrei in Verscio zu übernehmen.

Diese Gründe lassen sich kurz in folgenden Punkten zusammenfassen :

869 1) Es ist Grunsatz des katholischen Kirchenrechtes, daß Keiner -außerhalb des betreffenden Kirchensprengels geistliche Funktionen ausüben kann. Nun aber ist Verscio zur ehemaligen Diocèse Como gehörend, während das Kloster zu Faido nie dieser Diocèse einverleibt war. Wenn daher Rekurrent sagt, daß er in Verscio, ohne gegen sein Gewissen zu verstoßen, keine geistlichen Funktionen, insbesondere nicht das Seelsorgeramt übernehmen könne, so läßt sich dagegen mit Grund nichts einwenden.

2) Rekurrent, der seither blo innert den Schranken seines Berufes als Klostergeistlicher gelebt und gewirkt hat, fühlt sich in geistiger und physischer Beziehung für absolut unfähig zur Uebernahm der pfarramtlichen Seelsorge. Derselbe ist 64 Jahre alt, nahezu taub und wie er sagt, untüchtig zum Predigen und zur Verwaltung des Bußsakramentes. Es ist daher auch nach dieser Hinsicht begreiflieh, daß sich sein Gewissen dagegen sträubt, sieh einer Last zu unterziehen und ein Amt zu übernehmen, zu welchem er sich nicht geeignet fühlt.

3) Rekurrent ist als Ordensmann seinen geistlichen Obern Gehorsam schuldig und darf daher -- ohne sein Gewissen zu verletzen -- ohne Ermächtigung seiner Obern sein Kloster nicht verlassen. Die Regierung von Tessin hätte sich daher behufs Gewinnung eines Kapuziners für die vakante Pfründe in Verscio an den Obern des Klosters wenden und mit diesem unterhandeln sollen, anstatt e'nem greisen Mitgliede dieses Ordens gegen sein Gewissen Zwang anthu zu wollen.

Das Kapuzinerkloster zu Faido, dato angeblich nur noch zwei Kapuzinerpaters zählend, soll übrigens in seelsorglicher Beziehung vollauf zu thun haben, wenn es seinen daherigen Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung innert dem Wirkungskreise des Klosters nachkommen will, was bei der in Frage stehenden Wegberufung des Rekurrenten ebenfalls in Betracht zu ziehen ist, und beweist, daß es sich nicht, wie die Tessiner Regierung irrthümli vorgibt, darum handelt, den Rekurrenten seiner Unthätigkeit zu entreißen und ihn zu verhalten, für die Bevölkerung, in deren Mitte er lebt und durch deren Arbeit er unterhalten wird, zu wirken.

Es will uns überhaupt scheinen, daß der Rekurrent dem Staatsrathe von Tessin nicht ohne Veranlaßung Sophisterei vorwirft, wenn dieser behauptet, in seinem Beschlüsse liege angesichts obiger Thatsachen keine Verletzung der Gewissensfreiheit vor, weil der Rekurrent in Verscio ebenso gut Messe halten und an die päpst-

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liehe Unfehlbarkeit und andere Dogmen glauben könne, wie im Kloster Faido im Livinerthal. Es fragt sich lediglich, ob die Gewissens- und Glaubensfreiheit des Rekurrenten nicht vorletzt sei durch die Nöthigung ab Seite des Staatsrathes, sein Kloster und seinen Beruf zu verlassen, um ihn an einem andern Orte fortzusetzen, wo er keinerlei Befugniß dazu hat, und ihn zu zwingen, da religiöse Handlungen vorzunehmen, wie solche mit der pfarramtlichen Seelsorge verbunden sind, gegen den Willen seiner Obern, gegen seinen persönlichen Willen und gegen sein Gewissen. Hier liegt die eigentliche Frage, welche von der Tessiner Regierung eben nicht erörtert wurde, weil die bloße Hinstellung der Frage zeigt, daß das Unrecht auf Seite jener Regierung liegt.

Die Gewissensfreiheit ist rein individueller Natur, und kann sich darin ein schlichter Kapuziner verletzt finden, wo andere, vielleicht hohe und höchste Beamte sich ihrerseits viel leichter darüber hinwegsetzen. Es kann daher auch keiner Regierung ein so weitgehendes Recht zur Unterdrückung des Gewissens eines einzelnen Bürgers, heiße er wie er wolle, zuerkannt werden, nachdem die neue Bundesverfassung alle Privatrechte mit so weilgehenden Garantien umgeben hat.

Aus dem Angebrachten muß gefolgert werden, daß der von der Tessiner Regierung dem Rekurrenten ertheilte Befehl, das Seelsorgamt in der Gemeinde Verscio zu übernehmen, in entschiedenem Widerspruche steht mit Art. 49 der Bundesverfassung, auf den sich Rekurrent beruft zur Wahrung der unveräußerlichen Rechte seines Gewissens.

III. Es erübrigt uns nunmehr noch mit wenig Worten den dritten Einwand des Bundesrathes zu erörtern, wonach die persönliche Freiheit des Rekurrenten in concreto nicht, wie derselbe irrig vorgebe, in Betracht kommen könne, weil damit lediglich Uebelstände betroffen werden, welche für denselben aus seinem Alter und seiner Gesundheit entspringen.

"Wie uns bedünken will, hängt diese persönliche Freiheit mehrfach mit der bereits besprochenen Gewissensfreiheit zusammen und ist somit zum Theil oben schon berührt worden. Zur bessern Orientirung fügen wir nur noch bei, daß nach den glaubwürdigen Angaben des Rekurrenten derselbe aus Bedürfniß für seine Gesundheit und wegen seines greisen Alters die Zurückgezogenheit und Stille des Klosters in Faido gewählt hat. Dieses Domizil ist ihm durch die Bundesverfassung sowohl, wie durch das natürliche Recht gewährleistet. Wenn die Regierung von Tessin ihn von diesem seinein

871 Domizil entfernt, um ihn anderswohin au einen agitations vollen Ort zu bringen, und ihn zwingen will, eine Mission, einen Beruf zu erfüllen, gegen welchen er protestirt, so können wir dies nicht anders bezeichnen, als eine Verletzung seiner persönlichen Freiheit.

Die Regierung von Tessin sagt, sie könne ohne dieses Zwangsrecht das Gesetz über Abberufung der Geistlichen nicht durchführen. Daraus folgt aber nicht, daß deßwegen vom Bunde garantirte Rechte des einzelnen Bürgers geschmälert oder beeinträchtigt werden dürfen. Ebenso wenig als man einen protestantischen Geistlichen gegen seineu Willen zwingen kann, von einemKantonstheie zum andern zu wandern und da sein Domizil zu nehmen, wo es ihm absolut nicht behagt, s o wenigf i n d e nw i r e s schicklich oder Kloster ganz fremden u n d ferne liegenden Orte a l s Pfarrer z u Freiheit, des werthvollsten Rechtes desSchweizerbürgers.. Dieses Recht muß auch dein armen Kapuziner ebenso gut wie jedem Andern gewahrt bleiben, abgesehen von den Uebelständen, welche von dessen Alter und Gesundheit herrühren; übrigens haben gewiß auch das Alter und die Gesundheit des Bürgers Anspruch auf gesetzlichen Schutz, was namentlich imobschwebendnRekursfalle nicht außer Acht gelassen werden darf. Würde seihst vom rechtlichen Standpunkte aus das Vorgehen der Tessiner Regierung seine Berechtigung haben, was aber, wie wir bereits gezeigt, kaum der Fall ist, so hätten billiger Weise gerade die persönlichen Verhältnisse des greisen undübelmögendnRekurrentenu denselben vor derartigem Zwange schützen sollen.

O O > Schließlich beruft sich die Tessiner Regierung zur Rechtfer-tigung ihrer Handlungsweise auf die jüngsten Vorgänge im Jura und das Vorgehen der Berner Regierung, welches auch die, Genehmigung des Bundesrathes erhalten habe. Wir sehen nun in der That nicht ein, wie jene bekannten Vorgänge zur Rechtfertigung d e s heute i n Frage liegenden Beschlusses d e r Tessiner Pfarrer abberufen, entfernt, aber sich nie herausgenommen, einen katholischen Priester mit Gewalt auf den Posten eines der abberufenen Pfarrer im Jura zu versetzen.

Die

Regierung v o n Tessin m a g indeß ihre abgestrittene

den Akten, welche einzig maßgebend sind, vermögen wir zu deren Aulrechthaltung keine rechtlichen Anhaltspunkte zu linden, sondern

872 halten im Gegentheil dafür, daß hier eine ausgeprägte Verletzung der Artikel 45 und 49 der Bundesverfassung vorliege.

Täuschen wir uns nicht, es handelt sich nicht einzig um die Person des Rekurrenten, dessen Ordenskleid und Beruf man allerdings verschieden würdigen kann, je nach den Anschauungen, von denen man ausgeht, sondern es handelt sich um eine grundsätzliche Entscheidung über die Anwendung der durch die neue Verfassung garantirteli Niederlassungs- und Gewissensfreiheit; je nach diesem Entscheide werden Sie auch in Zukunft handeln müssen, es wäre denn, daß man je nach der Individualität des Falles verschiedene Maßstäbe anlegen wollte.

Gestützt auf diese kurzen Auseinandersetzungen stellen wir den Antrag : Es sei der Rekurs des Paters Marcellino von Faido als begründet zu erklären und hievon dem Staatsrathe von Tessin und dem Rekurrenteu Mittheilung zu machen.

B e r n , den 24. Oktober 1874.

Namens der Minderheit der ständerätlilichen Kommission, der Berichterstatter: J. Hildebrand.

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Bericht der Minorität der ständeräthlichen Kommission betreffend den Rekurs des P.

Marcellino in Faido. (Vom 24. Oktober 1874.)

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19.12.1874

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