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Bundesrathsbeschluss betreffend

den Rekurs des Kapuziners Marcellino.

(Vom 17. September 1874.)

Der s c h w e i z e r i s i c h e B u n d e s r a t h' hat in Sachen des Kapuziners Pater Marcellino in Faido, betreffend einen Beschluß des Großen Rathes des Kantone Tessin vom 15/16. Juli 1874, nach welchem demselben anbefohlen wurde, provisorisch die Verrichtungen eines Pfarrers der Gemeinde Verscio zu versehen; nach Einsicht der Akten und des Berichts des politischen Departements, aua welchen hervorgeht: I. Mit Memorial vom 19. Juli 1874 stellt der Rekurrent die Thatsachen zur Begründung seines Begehrens in folgender Weise dar: Nachdem die Pfarrgemeinde Verscio, Bezirk Locamo, Kts.

Tessin, ihren Pfarrer wegen unmoralischer und intolleranter Handlungen abgesezt hatte, wandte sie sich an die Regierung des Kantons Tessin um einen andern Pfarrer zu erhalten. Da die Regierung einen solchen nach Verscio abzuordnen nicht im Falle war, anerbot sie der Municipalität, ihr einen Kapuziner für Ausübung der pfarrgeistlichen Funktionen zu verschaffen. Die Municipalität nahm dieses Anerbieten an. Der Staatsrath lud hierauf, mit Schlußnahme vom 16. Juli 1874, den dem Kloster Faido angehörenden Pater

272 Marcellino ein, sich ohne Verzug in die Pfarrgemeinde Verscio zu begeben, um daselbst vorübergehend die pfarramtlichen Funktionen zu versehen. Pater Marcellino ersuchte den Staatsrath, mit Zuschrift vom 18. Juli, ihn dieser Funktionen zu entheben, unter Auseinandersezung der Gründe, welche ihm die Uebernahme derselben nicht gestatteten.

Die Regierung des Kantons Tessin scheine ihren Befehl auf das civil-kirchliche Gesez vom Jahr 1855, Art. 14, zu stüzen, welcher bestimmt, daß ,,die nicht in der Seelsorge stehenden ,,Geistlichen die Uebernahme des Pfarrdienstes bei einer derselben ,,entbehrenden Gemeinde nicht verweigern können, sobald sie hie,,für durch den Staatsrath bezeichnet werden."· Aber dieser Artikel betreffe, wie das Gesez überhaupt, bloß die der Weltgeistlichkeit angehörenden Priester, welche man im gewöhnlichen Sprachgebrauch sowohl als in den Gesezen ,,Geistliche" (Ecclésiastiques) nennt, während die den religiösen Gemeinschaften angehörenden Priester ,,Religieux" geheißen werden. Die leztern haben bei Ablegung ihres Gelübdes auf jedes äußere Amt, besonders auch auf die Seelsorge, ausdrüklich verziehtet; sie seien übrigens durch den ihren Obern schuldigen Gehorsam gebunden, und können nicht gezwungen werden, ihr Kloster zu verlassen, um, wenn auch nur vorübergehend, das Amt eines Pfarrers zu übernehmen, welches ihrer Aufgabe und ihrem Berufe widerspreche. Wenn dieses Gesez (und im Besondern sein Art. 14) dennoch auf die ,,Religieux"' angewendet werden sollte, so wäre dasselbe im Widersprüche mit der neuen Bundesverfassung.

1. Den Pater Marcellino zwingen, seinen Wohnort Faido, wo er zu bleiben wünscht, zu verlassen, heiße die Art. 43 und 45 der Bundesverfassung verlezen, welche allen Schweizerbürgern f r e i e n W o h n s i z gewährleisten.

2. Ebenso werde die p e r s ö n l i c h e F r e i h e i t verlezt.

Pater Marcellino sei ein gebrechlicher Greis von 64 Jahren, für dessen Gesundheit der Aufenthalt in der Alpenluft und die Ruhe des Klosters nothwendig seien; er habe überdies beabsichtigt, von der von seinem Obern erhaltenen Erlaubniß Gebrauch zu machen, um im Bedretto-Thal eine Kur zu gebrauchen. Soll die Regierung berechtigt sein, die Gesundheit und vielleicht sogar das Leben des Pater Marcellino zu gefährden, indem sie ihn in eine heiße Gegend versezt, wo eine durch weltliche
und geistliche Fragen hervorgerufene Aufregung herrscht und wo er keine Verbindungen hat.

3. Es liegt ferner eine Verlesung der durch die eidgenössische und kantonale Verfassung garantirten G l a u b e n s - und Ge-

273 w i s s e n s f r e i h e i t vor. Der Art. 49 der neuen Bundesverfassung erklärt, d a ß ,, N i e m a n d z u r V o r n a h m e e i n e r religiösen H a n d l u n g gezwungen oder wegen Glaubensansichten mit Strafen irgend welcher A r t b e l e g t w e r d e n darf."

'Der Befehl der Regierung zur Uebernahme einer Seelsorge sei daher eine Verlezung der Gewissensfreiheit: a. weil der Rekurrent bei Ablegung seines Ordensgelübdes auf ein solches Amt feierlich und unwiderruflich verzichtet hat; b. weil es demselben, seines hohen Altei-s und seiner persönlichen Verhältnisse wegen, nahezu unmöglich ist, zu predigen und die Beichte anzuhören; c. weil sein persönlicher religiöser Glaube ihm nicht erlaubt, in einer Pfarrgemeinde aufzutreten, welche einem andern als dem in den drei Thälern geltenden Ritus angehört und außer der Jurisdiktion von Faido liegt; er besize übrigens hiefür weder die Ermächtigung, noch den Auftrag von Seite seiner Obern.

Er appellirt demnach an die Bundesverfassung zur Beschüzung seiner Rechte.

4. Der Befehl der tessinischen Regierung hindert ferner den Pater Marcellino, seine Pflichten gegen das Kloster Faido zu erfüllen.

Nachdem dieses Kloster zur Aufnahme einer Militärambulance am nächsten Zusammenzug der IX. eidg. Division im Kanton Tessin gewählt worden sei, haben die Kapuziner sich zur Besorgung von Kranken anerboten, und es habe Herr Oberst Wieland dieses Anerbieten angenommen. Es würde ihnen sehr schwer, ihr Versprechen zu halten, wenn von den zwei einzigen im Kloster befindlichen Patern der eine, und zwar gerade derjenige, weicht* allem deutsch spricht, entfernt werden sollte. Es sei den Kapuäfoern von Faido schon oft von Seite der Militärbehörden und des Großen Rathes des Kantons Tessins der Dank für in ähnlichen Verhältnissen, namentlich 1847 und 1848, erwiesene Dienste ausgesprochen worden.

Das Kloster Faido habe noch weitere Pflichten zu erfüllen. Da die Kapuziner von den durch die Bewohner des Flekens Faido gespendeten Almosen leben, so sind sie diesen leztern vor Allem aus ihre Dienste schuldig, im besondern eine Messe per Tag. Sie können auch die Messen zu halten nicht verweigern, welche sie für die Feiertage den Bewohnern von Fiesso, Ambri, Piotta und umliegenden Ortschaften versprochen haben.

Aus allen hievor auseinander gesezten Gründen verlangt nun der Rekurrent vom Bundesrathe die Enthebung von der Verpflichtung, welche die Regierung des Kantons Tessin ihm auferlegt, nach

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Verscio sich zu begeben, um daselbst das Amt eines Pfarrvikars zu übernehmen.

II. Der Staatsrath des Kantons Tessin, welchem der Rekurs des Pater Marcellino zur Berichterstattung überwiesen worden ist, macht in ihrer Zuschrift vom 9./10. August 1874 nach Anführung der Thatsachen, folgende Erwägungen geltend: Nach Art. 9 des Gesezes vom 16. Januar 1846 haben die religiösen Gemeinschaften sich bei gemeinnüzigen Werken zu bethätigen, sei es als Pfarrhelfer, sei es für die Erziehung der Jugend, für die Krankenpflege oder andere Liebesvverke.

Durch das Gesez vom 30. Juni 1848 über die Aufhebung einiger Klöster ist (Art. 2) für die beibehaltene tessinische Provinz den Patern Kapuziner die Verpflichtung auferlegt, in der Kirche der Engel in Lugano, in derjenigen des San Francisco in Locamo, und w e n n n ö t h i g a u c h in a n d e r e n , geistliche Funktionen zu versehen, falls die kompetente Behörde es nöthig erachten sollte.

Der Art. 7 des nämlichen Gesezes schreibt vor, daß die pensionirten Geistlichen (Religieux) nach Gutfinden der kompetenten Behörde der Seelsorge sich zu widmen oder in Kirchen Gottesdienst zu halten haben. Sodann können, nach Art. 14 des Gesezes vom 24. Mai 1855 die Geistlichen, welche nicht bei der Seelsorge bethätigt sind, sich nicht weigern, vorübergehend den Dienst einer dieselbe entbehrenden Pfarrgemeinde zu übernehmen, sobald sie hiefür durch den Staatsrath bezeichnet werden. Im Art. 22 dieses Gesezes wird endlich festgestellt, daß, wenn der Dienst der Pfarrgemeinde es erheischt, die Municipalität oder die Verwaltung der Pfarrgemeinde eine vakante Stelle durch Berufung eines Geistlichen nach ihrer Wahl versehen lassen kann, und wenn sie hiefür Niemanden finden sollte, der befähigt oder geneigt wäre, dem Staatsrath Bericht zu erstatten habe. ' Diese gesezlichen Bestimmungen beweisen offenbar, daß der Staat das Recht hat, wenn nothwendig über die Ordensbrüder zu verfügen, dieselben ihrer Unthätigkeit zu entreißen und für die Bevölkerung, in deren Mitte sie leben und durch deren Arbeit sie unterhalten werden, zu wirken.

Die hauptsächlichsten Argumente des Paters Marcellino durchgehend, bemerkt der Staatsrath des Kantons Tessin Folgendes: Die Beschränkung des Art. 14 bloß auf die Weltgeistlichkeit ist willkürlich und auf Nichts gegründet; denn unter dem Namen Geistlichen
(ecclésiastiques) werden auch die Ordensgeistlichen und Ordensbrüder verstanden, welche dem nämlichen Corps angehören und der nämlichen Kirchenzucht unterworfen sind. Die Bestimmungen der oberwähnten Geseze von 1846 und 1848 lassen in

275 dieser Hinsicht keinen Zweifel übrig. Die Verpflichtung der Brüder in denjenigen Kirchen, welche es bedürfen, Gottesdienst zu halten, ist in denselben klar angegeben.

Die Kapuziner von Faido werden sich übrigens erinnern, daß vor wenigen Jahren, nach stattgefundener Absezung des Pfarrers von Cavagnago durch die Bevölkerung, die Regierung einen der Pater einladen ließ, diesen Pfarrer zu vertreten, und daß dies ohne Widerstand geschehen ist. Das Recht des Volkes und der Regierung, die Pfarrer abzusezen, besteht seit dem Kirchengesez von 1855. Man sah die Schwierigkeiten voraus, welche der Durchführung sich entgegenstellen würden, wenu der Klerus sich weigern könnte, die entlassenen Pfarrer zu ersezen.

Was den Vorwurf der Verlezung der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 49 der Bundesverfassung) betrifft, so fragen wir, ob Pater Marcellino in Versoio nicht eben so gut Messe halten kann als im Livinerthal; ob er in Verscio an die Unfehlbarkeit des Papstes und an die andern Dogmen nicht eben so gut glauben kann wie anderswo. Ist der Ritus in Verscio von demjenigen im Kloster Paido wirklich verschieden? Der einzige Unterschied zwischen den beiden Regionen besteht darin, daß es im Liviner-Thal kalt macht, während dem in Verscio ein für einen Greis vou 64 Jahren günstiges Klima herrscht.

Was die persönliche Freiheit und das freie Aufentljaltsreeht anbelangt, so erscheint es merkwürdig, wenn ein Ordensbruder vollständige Freiheit beansprucht. Auf den Befehl seines Obern würde er bis ans Ende der Welt gehen, und er weigert sich, wenn die weltliche Behörde es verlangt, in eine benachbarte Ortschaft, in welcher die nämliche Sprache gesprochen wird, sich zu begeben.

Jedes Gesez bedingt eine Beschränkung der Freiheit, aber ohne Geseze gibt es keinen Staat.

Der Staatsrath des Kantons Teasin verlangt demnach, daß der Bundesrath anerkenne, daß die Regierung des Kantons Tessin inner ihrer Befugnisse gehandelt habe und, wenn er in die Prüfung des Rekurses eintreten wolle, daß er das Vorgehen dieser Regierung billige. In der Frage des Jura haben die Bundesbehörden es ausgesprochen, daß die Regierung des Kantons Bern recht gehandelt habe. Die tessinische Regierung zweifelt nicht, daß ihr gegenüber ein Gleiches geschehe.

I n E r w ä g u n g: 1) daß die Beurtheilung der Frage, ob der vom Staatsrath des Kantons Tessin dem Rekurreuten am 16. Juli 1874 unter Strafandrohung ertheilte Befehl, die Seelsorge in der Gemeinde

276 Verscio provisorisch zu übernehmen, mit den Bestimmungen des tessinischen Gesezes vom 24. Mai 1855 im Widerspruch stehe, wie der Rekurrent es behauptet, nicht in der Kompetenz der Bun-' desbehörde liegt; 2) daß diese Behörde übrigens den Rekurs nur insofern in Betracht ziehen kann, als es sich um Rechte handelt, die durch die Bundesverfassung gewährleistet sind ; 3) daß die Behauptung des Rekurrenten, es verleze der erwähnte Beschluß des Staatsrathes des Kantons Tessin die Art. 43 und 45 der Bundesverfassung, unbegründet ist, indem diese Artikel, welche die Bedingungen, unter welchen ein Schweizerbürger sich in einer Gemeinde des Landes niederlassen kann und die Rechte der niedergelassenen Schweizer feststellen, die Befugniß des Staates nicht schmälern, in gewissen Fällen Bürger an gewisse Funktionen zu berufen, deren Ausübung eine Wohnungsveränderung nach sich zieht; 4) daß von einer Verlezung der durch Art. 49 der Bundesverfassung gewährleisteten Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht die Rede sein kann, wenn ein katholischer Geistlicher eines Klosters an die geistliche Leitung einer katholischen Gemeinde provisorisch berufen wird, und zwar um so weniger, als nachgewiesen ist, daß in einem frühern ähnlichen Falle ein Kapuziner des nämlichen Klosters einer derartigen Aufforderung des Staatsrathes ohne Schwierigkeit nachgekommen ist; 5) daß die vom Rekurrenten angeführte Verlezung der persönlichen Freiheit lediglich die Uebelstände betrifft, welche für denselben aus seinem Alter und seiner Gesundheit entspringen und nicht der Art sind, um vom Bundesrathe iu Betracht gezogen werden zu können; beschließt: 1. Der Rekurs des Paters Marcellino von Faido ist als unbegründet abgewiesen.

2. Dieser Beschluß ist dem Staatsrathe des Kantons Tessin und dem Rekurrenten mitzutheilen.

B e r n , den 17. September 1874.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes,, Der Bundespräsident:

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Schiess.

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Bericht der

nationalräthlichen Kommission zum Bundesgesetzesentwurfe betreffend die Verbindlichkeit der Eisenbahnen und anderer vom Bunde konzedirten Transportanstalten für die beim Bau und Betriebe herbeigeführten Tödtungen und Verletzungen.

(Vom 20. Oktober 1874.)

Tit. !

Der vorliegende Gesetzesentwurf ist zunächst die Ausführung des Art. 38, Ziff. 2 des Bundesgesetzes über den Bau und Betrieb von Eisenbahnen.

Seit Erlaß dieses Gesetzes hat sich indeß die Situation erheblich verändert. Der Bund hat im Art. 64 der neuen Bundesverfassung das Recht erhalten, die Gesetzgebung über das Obligationenrecht im Ganzen zu ordnen. Ebenso ist er nach Art. 34 derselben berechtigt, Vorschriften zum Schütze der Arbeiter gegen einen, die Gesundheit und Sicherheit gefährdenden Gewerbebetrieb zu erlassen. Es konnte sich also fragen, ob ein Spezialgesetz für die vorwürfige Materie noch am Platze sei ? Die Kommission glaubte indeß diese Frage bejahen zu sollen, indem sie sich mehr auf den praktischen Standpunkt stellte, daß diese Materie theils am dringlichsten, theils schon vorgearbeitet sei.

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Bundesrathsbeschluss betreffend den Rekurs des Kapuziners Marcellino. (Vom 17.

September 1874.)

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1874

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31.10.1874

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