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Kreisschreiben des

Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen über die Bekämpfung der Verkehrsunfälle auf der Strasse.

(Vorn 13. August 1935.)

Getreue, liebe Eidgenossen!

Die beängstigend grossen Zahlen von Verletzten und Toten, die alljährlich Strassenverkehrsunfällen zum Opfer fallen, sind in der Märzsession 1985 des Nationalrates anlässlich der Behandlung der Motion des Herrn Nietlispach und nachher durch die Presse bekanntgegeben worden. Es steht fest, dass das Jahr 1934 insgesamt 12,200 verunfallte Personen, davon 625 Tote gebracht hat.

Durch Bücksichtslosigkeit, Unvorsichtigkeit und Ungeschicklichkeit werden Tag um Tag Menschen am Leben bedroht, verletzt, getötet.

Wir hatten erwartet, die einheitliche Eegelung des Strassenverkehrs in der ganzen Schweiz, wie sie durch das am 1. Januar 1933 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr eingeführt worden ist, werde die ersehnte Ordnung auf der Strasse und damit eine Herabsetzung der Zahl der Unfälle bringen. Leider sind wir darin enttäuscht worden, obwohl das Gesetz und die Vollziehungsverordnung alle Grundregeln für die Abwicklung des Verkehrs und die Vorschriften über die Betriebssicherheit der Fahrzeuge enthalten. Würden diese Begeln und Vorschriften von allen Strassenbenützero beachtet und eingehalten, so würden die Unfälle auf die geringe Zahl zurückgehen, die Zufall und menschliche Unzulänglichkeit unvermeidbar machen.

Es ist Aufgabe der Behörden, alles zu veranlassen, was uns diesem Ziel entgegenführen kann.

Art. 25 des zitierten Gesetzes lautet : «Der Führer muss sein Fahrzeug ständig beherrschen und die Geschwindigkeit den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen anpassen. Er hat namentlich in Ortschaften, bei Bahnübergängen und auch sonst überall da, wo das Fahrzeug Anlass zu Verkehrsstörung, Belästigung des Publikums, Erschrecken des Viehs oder Unfällen bieten könnte, den Lauf zu massigen oder nötigenfalls anzuhalten. Beim Kreuzen und Überholen hat er einen angemessenen Abstand einzuhalten.

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Jedes Motorfahrzeug, dessen Konstruktion eine Geschwindigkeit von mehr als zwanzig Kilometern in der Stunde zulässt, muss mit einem Geschwindigkeitsanzeiger versehen sein.

Für schwere Motorwagen setzt der Bundesrat Höchstgeschwindigkeiten durch Verordnung fest. Für andere Motorfahrzeuge kann er durch Verordnung Vorschriften über die Höchstgeschwindigkeit erlassen.» Anlässlich der Behandlung der Motion Nietlispach hat sich der Vorsteher ·des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements zur Sache u. a. wie folgt geäussert: «Die seinerzeit durch das Konkordat festgesetzten Höchstgeschwindigkeiten haben damals nicht befriedigt. Soweit unsere bisherigen Beobachtungen in der verhältnismässig kurzen Zeit von 2 Jahren reichen, können wir ihre Wiedereinführung heute noch nicht empfehlen. Die Verkehrs Verhältnisse auf der Strasse, Breite der Strasse, Unterbau, Sicht, gerade Strecken, Kurven, Verkehrsdichte, angrenzende Bebauung, Innerort, Ausserort, Gewandtheit des Führers, seine persönliche Verfassung, Art, Grosse und Stärke des Fahrzeugs, Wirksamkeit der Bremsen, Beleuchtung, Witterung: alle diese Elemente sind entscheidend für die zulassige Geschwindigkeit. Ein Teil davon verändert sich beim Fahren von Moment zu Moment. Wie soll da mit einer starren Vorschrift das Richtige getroffen werden können ? Es würde sich das schon Dagewesene wiederholen, nämlich: dass der Führer in gefährlichen Augenblicken nicht sein ganzes Augenmerk auf die seine Geschwindigkeit bestimmenden Verkehrs Verhältnis se lenkt, sondern den Geschwindigkeitsanzeiger kontrolliert, dass er innerhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unter den gegebenen Umständen viel zu rasch fährt, dass er auf offener, gerader, freier Strecke trotz grosser Fahrtüchtigkeit in seiner natürlichen Fahrweise gehemmt wird und deshalb auf längern Fahrten zur Erreichung einer gewissen Durchschnittsgeschwindigkeit da, wo er heute langsam fährt, zu übersetztem Tempo innerhalb der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit angetrieben wird, ·dass die Verkehrspolizei wieder nur mit der Stoppuhr arbeitet und das wirklich verkehrsgefährdende Verhalten schlimmster Fahrer übersieht, kurz, dass wir wieder wie zu den Zeiten des Konkordates einen unnatürlichen und deshalb unbefriedigenden Strassenverkehr hervorrufen.

Wir glauben mit dem Motionär, dass die Aufhebung der
zahlenmässigen Höchstgeschwindigkeit durch das neue Automobilgesetz die psychologische Wirkung hatte, dass allgemein schneller, in vielen Fällen zu rasch gefahren wird. Aber wir glauben nicht daran, dass durch die Wiedereinführung von Höchstgeschwindigkeiten die Zahl der Unfälle erheblich herabgesetzt werden kann. Mit Massnahmen, die in ihrer Auswirkung unnatürlich sind, können wir auf dem Gebiete der Verkehrsregelung kaum zum Ziele kommen. Das ist auch der Grund, weswegen das Justiz- und Polizeidepartement den bequemen Weg, dem

195 Bundesrat die Einführung von Höchstgeschwindigkeiten vorzuschlagen, bis heute nicht gegangen ist und weswegen der Bundesrat gewillt ist, ihm zu folgen und zuerst alle andern Massnahmen auszuschöpfen.

Selbstverständlich muss aber etwas geschehen, um die drohende Verschlechterung der Verkehrssicherheit wirksam zu bekämpfen. Es ist davon auszugehen, dass die Aufhebung der Höchstgeschwindigkeiten psychologisch zwei nachteilige Wirkungen ausgelöst hat, nämlich bei vielen Fahrern die Meinung, dass sie nun beliebig schnell fahren dürfen, und bei einzelnen Polizeiorganen, dass sie sich nicht mehr um die Fahrgeschwindigkeit der Automobilisten und Motorradfahrer zu künxrnern brauchen. Beides ist natürlich ganz falsch und widerspricht dem Sinn und G-eist von Art. 25 des Gesetzes. Auf eine bessere Befolgung des Art. 25. der bisher viel zu wenig beachtet worden ist, mit aller Energie hinzuarbeiten, das ist unsere erste Pflicht. Hier gilt es einzusetzen.» Die Unfallursachen liegen also nicht in einer mangelhaften Gesetzgebung, sondern im unvorsichtigen, ungeschickten oder rücksichtslosen Verhalten vieler Strassenbenützer. Und zwar aller Kategorien von Strassenbenützern, wenn es sich auch nicht bei allen gleich verhängnisvoll auswirkt. Dementsprechend muss eingeschritten werden: bei allen zusammen mit Erziehung, nötigenfalls beim Führer von Fahrzeugen und beim Eadfahrer dazu mit Bestrafung, beim Motorfahrzeugführer darüber hinaus mit dem Entzug des Führerausweises.

I.

Erziehung der Strassenbenützer.

Einzelne Kantone haben den Verkehrsunterricht in der Schule bereits eingeführt. Wir empfehlen den andern angelegentlich, dies nachzuahmen und in allen Schulen, auch auf dem Lande, den Verkehrsunterricht obligatorisch zu erklären. Die heutige Generation der Erwachsenen ist zu einer Zeit aufgewachsen, als noch sehr wenige Motorfahrzeuge im Verkehr standen und die Strasse noch fast gänzlich dem Fussgänger gehörte. Wer heute in einer verkehrsreichen Gegend wohnt, mag sich allmählich an die veränderten Verhältnisse gewöhnen, die andern haben es indessen viel schwerer, sich umzustellen. Die heranwachsende Jugend sollte schon im Elternhaus und muss unbedingt in der Schule mit den Verkehrs Verhältnissen auf der Strasse vertraut gemacht werden. Wir empfehlen den Erziehungsdirektoren, im Einvernehmen mit den Organen der Verkehrspolizei den Lehrplan aufzustellen und die Beschaffung einheitlichen Unterrichtsmaterials gemeinsam zu prüfen, damit solches auch den kleineren Kantonen zur Verfügung gestellt werden kann.

Eine direkte erzieherische -Einwirkung im Einzelfall ist möglich bei allen Motorfahrzeugführern, die als solche neu in den Verkehr treten. Die vom Gesetz vorgesehene Prüfung wird aber vielerorts noch viel zu wenig gründlich vorgenommen. Wird sie nur oberflächlich absolviert, so verfehlt sie ihren Zweck vollständig. Gerade bei der Prüfung des Motorfahrzeugführers kann im

196 allgemeinen nur festgestellt werden, ob die äusserlich erkennbaren Voraussetzungen für ihre erfolgreiche Bestehung vorhanden sind. Da der ungeeignete Führer aber eine stete Gefahr bedeutet für alle andern Strassenbenützer, ist die gegebene Möglichkeit mit aller Gründlichkeit auszunützen. Die sehr zahlreichen Führer, die den Führerausweis vor Inkrafttreten des eidgenössischen Automobilgesetzes schon besassen, entgehen allerdings dieser neuen, gegenüber der früheren Eegelung erheblich verschärften Vorschrift über die Prüfung. Die Kantone sollten deshalb von der in Art. 9, Abs. 5, des Gesetzes vorgesehenen Möglichkeit, jederzeit eine neue Prüfung anzuordnen, wenn Bedenken über die Fahrtüchtigkeit des Führers bestehen, vermehrten Gebrauch machen. Eine neue Prüfung sollte insbesondere stets dann angeordnet werden, wenn ein Führer an einem Unfall beteiligt war und sein Verhalten auch nur geringe Zweifel über seine Fähigkeit, ohne Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu fahren, aufkommen lässt. Ausnahmslos ist eine neue Prüfung anzuordnen nach Ablauf der Frist, für die der Führerausweis gemäss Art. 13 des Gesetzes entzogen wurde, auch wenn diese Frist nur kurz war.

Sehr wichtig ist die richtige Ausnützung der Vorbereitungszeit für die Prüfung, während der der Führer im Besitz des Lernfahrausweises ist. Es muss dahin gewirkt werden, dass die Führerausbildung immer mehr durch einen berufsmässigen Fahrlehrer erfolgt. Diese sind sehr sorgfältig auf ihre Eignung zu prüfen (Art. 32 der Vollziehungs Verordnung).

Die amtlichen Sachverständigen sind sehr sorgfältig auszuwählen. Sie müssen nicht nur für die Prüfung der Fahrzeuge und der Führerkandidaten Sachverständige sein, sie müssen als solche auch in allen den Automobilverkehr betreffenden Fragen mit ihren Kenntnissen und ihrer Erfahrung den zuständigen Oberbehörden mit fachgemässem Eat an die Hand gehen können.

Zur Erziehung der Strassenbenützer können, wie die Erfahrung lehrt, auch die Verbände der Motorfahrzeug- und Eadfahrer herangezogen werden.

Dass ein Zusammenwirken dieser Verbände mit den Behörden von Erfolg begleitet sein kann, zeigen die Beispiele in den Kantonen Waadt und Thurgau und die Verkehrswochen, die an verschiedenen Orten gemeinsam durchgeführt wurden. Wir sind den Kantonen und den Verbänden für ihre Initiative dankbar und hoffen,
mit der Zeit werde ein noch engeres Zusammenarbeiten im ganzen Land Erfolg bringen. Wir empfehlen Ihnen, die Erfahrungen, die die einzelnen Kantone machten, auszutauschen.

II.

Ahndung von verkehrsgefährdenden Übertretungen von Verkehrsvorschriften.

Die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren haben in ihrer Konferenz vom Oktober 1934 in Sitten darauf hingewiesen, dass die Strafbestimmungen

197 des Automobilgesetzes zu wenig streng angewendet und selbst bei schweren, verkehrsgefährdenden Verletzungen von Verkehrsvorschriften von den Gerichten oft zu wenig strenge Strafen ausgesprochen würden. Nicht nur die Motorfahr zeugführer, auch die Badfahrer und die Führer von Fuhrwerken müssen wissen, dass sie scharfe Strafen zu gewärtigen haben, wenn sie durch vorschriftswidriges Verhalten andere Strassenbenützer an Leib und Leben gefährden.

III.

Entzug des Führerausweises.

Der unfähige und der rücksichtslose Motorfahrzeugführer müssen durch Entzug des Führerausweises aus dem Verkehr ausgeschaltet werden. Die gemachten Beobachtungen haben ergeben, dass selbst bei Feststellung schwerer Verkehrsgefährdungen den persönlichen Verhältnissen des die Verkehrsgefährdung veranlassenden Motorfahrzeugführers oft zu viel Eücksicht getragen, der Gefahr, die diese Menschen für den Strassenverkehr darstellen jedoch viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Dies ist sogar gegenüber angetrunkenen oder betrunkenen Führern der Fall, denen der Führerausweis gemäss Art. 33 des Gesetzes stets entzogen werden muss. Die Praxis verschiedener Kantone sollte bedeutend verschärft werden.

IV.

Die Kontrolle des Strossenverkehre.

Ein wirksames Mittel zur Bekämpfung der Strassenverkehrsunfälle ist der Verkehrspolizist, der sich auf der Strasse zeigt. Er wirkt durch sein Erscheinen schon als Mahnung für den sorglosen Motorfahrzeugführer, der sich auf seine Pflichten besinnt. In Zeiten starken Verkehrs sollte er sich namentlich in Ortschaften auf der Strasse befinden und regelnd eingreifen. Die Befreiung der Strasse von unfähigen und rücksichtslosen Motorfahrzeugführern ist nur möglich, wenn die Verkehrspolizei verstärkt wird. Sie muss aber beweglich sein, so dass sie sich ohne Zeitverlust von einer gefährlichen Strassenstrecke zu einer andern begeben kann. Wir sind überzeugt davon, dass eine verstärkte motorisierte Strassenpolizei imstande ist, durch planniässig angelegte Kontrollen in kürzester Zeit die schlimmsten Verkehrsschädlinge festzustellen und für ihre Entfernung von der Strasse zu sorgen. Wir müssen die Kantone deshalb ersuchen, die sogenannten fliegenden Kontrollen zu vermehren.

Die Kontrolle hat sich selbstverständlich auszudehnen auf die strikte Beachtung der von uns gemäss den Art. 43, 44. 62. Abs. 2 und 3, und 82, Abs. 7, der Vollziehungsverordnung für schwere Motorwagen, Anhängerzüge, sowie alte Motorwagen mit Zweiradbremsen festgesetzten Höchstgeschwindigkeiten.

Übertretungen dieser Vorschriften müssen in allen Fällen geahndet werden.

In schweren Fällen ist der Führerausweis zu entziehen.

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Über die Badfahrer laufen viele Klagen wegen zu raschen, unvorsichtigen Pahrens und wegen Nichteinhaltung der Beleuchtungsvorschriften ein, weshalb auch diese in vermehrtem Masse kontrolliert werden sollten. Die Geschwindigkeitsvorschriften von Art. 25 des Gesetzes gelten sinngemäss auch für die Badfahrer (Art. 30). Anderseits enthält Art. 68 der Vollziehungsverordnung eingehende Bestimmungen über die Beleuchtung der Fahrräder.

Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch die Wichtigkeit der sorgfältigen, zweckmässigen Heranbildung und Instruktion der Verkehrspolizei.

Eine einheitliche Grundlage für diese Instruktion ist gegenwärtig bei einer Kommission der kantonalen Polizeikommandanten in Vorbereitung.

Wir schliessen mit einem nochmaligen Hinweis auf die Unentbehrlichkeit und Dringlichkeit der Ihnen anempfohlenen Massnahmen. Sie sollten geeignet sein, Ordnung auf die Strasse zu bringen und damit wirksam die Unfälle zu verhüten. Erst wenn sie durchgeführt sein werden, können wir uns Bechenschaft darüber ablegen, ob die gesetzlichen Vorschriften der Abänderung oder der Ergänzung bedürfen. Sollte sich das als notwendig erweisen, so werden ·wir die Konsequenzen ziehen und auch vor neuen verschärften Vorschriften nicht zurückschrecken.

Wir haben unser Justiz- und Polizeidepartement beauftragt, in Verbindung mit den zuständigen kantonalen Departementen für die einheitliche Durchführung der in diesem Kreisschreiben enthaltenen Empfehlungen und Anordnungen besorgt zu sein.

Wir benützen den Anlass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in, Gottes Machtschutz zu empfehlen.

Bern, den 18. August 1935.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates,.

Der V i z e p r ä s i d e n t : Meyer.

Der Vizekanzler: Leimgruber.

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Kreisschreiben des Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen über die Bekämpfung der Verkehrsunfälle auf der Strasse. (Vom 13. August 1935.)

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