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Kreisschreiben des

Bundesrathes an sämmtliche eidgenössische Stände, betreffend das Fabrikgesetz.

(Vom 7. April 1885.)

Getreue, liebe Eidgenossen!

Seit längerer Zeit schon schweben, wie Ihnen bekannt, verschiedene in Beziehung zu dem eidgenössischen Fabrikgesetz vom 23. März 1877 stehende Fragen, welche insbesondere eine einheitliche Ausführung jenes Gesetzes betreffen. Die Fabrikinspektoren suchten durch Aufstellung von Vorschlägen zur Lösung derselben beizutragen, und unser Handels- und Landwirthschaftsdepartement hat Ihnen letztere mit Kreisschreiben vom 12. Mai vorigen Jahres zur Prüfung und Meinungsäußerung unterbreitet. Wir können mit Genugthuung konstatiren, daß aus den von den Regierungen eingegangenen Berichten ersichtlich ist, wie sehr auch sie den Bestrebungen zur einheitlichen Ausführung des Fabrikgesetzes günstig gesinnt sind.

Geschützt auf die Vorschläge des Fabrikinspektorats und in wesentlicher Uebereinstimmung mit den über dieselben von den Kantonsregierungen erstatteten Berichten haben wir nun folgende Verfügungen getroffen: 1) Hinsichtlich des Charakters von Etablissementen in welchen die Arbeiter beim Arbeitgeber Kost und Logis haben : ,, A l s a u ß e r h a l b ihrer W o h n u n g beschäftigt sind die Arbeiter derjenigen industriellen Etablissem e n t e zu b e t r a c h t e n , d e r e n A r b e i t sich in speziellen Arbeitsräumen und nicht in den Wohnräumen der Familie selbst oder ausschließlich d u r c h F a m i l i e n g e n o s s e n vollzieht."

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Bisher herrschte stets Meinungsverschiedenheit darüber, wie der in Art. l des Fabrikgesetzes enthaltene Begriff: ,,Arbeiter außerhalb ihrer Wohnungen" dann zu verstehen sei, wenn die Arbeiter in Kost und Logis bei dem Arbeitgeber stehen. Wir fühlen uns daher veranlaßt, in dieser Hinsicht eine Interpretation zu geben, und erklären nun mit obiger Schlußnahme, daß alle diejenigen als außerhalb ihrer Wohnung arbeitend anzusehen sind, die nicht in den gleichen Räumen arbeiten , in welchen sie wohnen.

Denn der Arbeiter, der zwar Wohnung und Kost von seinem Arbeitgeber erhält, aber ohne weitergehende Verpflichtung des letztern und ohne daß der Arbeiter in einer eigentlicher: Gemeinsamkeit des Lebens mit dem Prinzipale steht, oder wo es ihm selbst freigestellt ist, ob er sich letzterm in Pension geben oder selbst verpflegen will, kann nicht als zur Familie gehörend angesehen werden. Auch kann bei einem solchen Arbeiter nicht davon gesprochen werden, daß er ,,in seiner Wohnung" beschäftigt sei, denn mit dem ersten Schritt aus seinem Schlafgemach verläßt er jene und kommt in fremden Raum.

Den etwaigen Befürchtungen gegenüber, als ob wir durch obigen Beschluß jede Werkstätte dem Fabrikgesetze zu unterstellen beabsichtigen, ist zu bemerken, daß dergleichen Etablissemente nach bisherigem Usus erst bei mehr als 25 Arbeitern oder beim Betrieb mit Motoren als Fabrik erklärt werden.

2) Betreffend ganze oder theilweise Unterstellung eines Etablissementes unter das Fabrikgesetz: ,, Z u e i n e m dem G e s e t z unterstellten oder zu unterstellenden Etabliss e m e n t e g e h ö r e n a l l e T h e i l e d e s s e l b e n , in welchen Arbeiten behufs Herstellung des oder der Fabrikate (in begriffen Nebenprodukte) bis zu ihrer Fertigstellung zum Transport vorgen o m m e n werden, wobei nicht iu Betracht kommt, ob dies in e i n e r o d e r m e h r e r e n zu d e m s e l b e nBet r i e b e g e h ö r e n d e n R ä u m l i c h k e i t e n geschieht."

Mit dieser Bestimmung bezwecken wir, daß eine Fabrik als Ganzes aufgefaßt werde, resp. zu verhindern, daß sich die größten Geschäfte in kleine Theile auflösen , um nicht in die Fabrikliste aufgenommen werden zu können.

Den letzten Theil der Bestimmung fügten wir bei, weil eine frühere, speziell die S t i c k e r e i e n betroffene e Entscheidung (s. Bundesblatt 1884, II, 147):

422 ,,daß eine Fabrik im Sinne des Gesetzes vorhanden sei, wo drei oder mehr Stickmasehinen in einem Lokal sich befinden , gleichviel, ob sie einem oder mehreren Besitzern gehören (siehe noch Kreissehreiben des Bundesrathes vom 6. Januar 1882, Bundesbl. 1882, I, !!)«· nicht genügte, um Umgehungen des Gesetzes zu verhindern, indem dem Worte ,,Lokal" die Bedeutung ,,Zimmer" gegeben und die Ansicht verfochten wurde, daß allerdings Zimmer, wo mehr als zwei (Stick-)Maschinen betrieben werden, als Fabrik zu betrachten seien, während dagegen Geschäfte mit mehreren , wenn auch nur durch einfache Zwischenwändchen getrennten Zimmern, wovon jedes zwei Maschinen enthalte, nicht unter das Gesetz fallen. Würde man eine solche Interpretation gestatten, so wäre damit wieder dem alten Zustande gerufen, und der Unterstellung unter das Fabrikgesetz könnten sich die Fabrikanten durch verschiedene Manipulationen entziehen.

3") Behufs Unterstellung der polygraphischen Gewerbe insgesammt unter d a s Fabrikgesetz : ,, A l l e A n s t a l t e n f ü r p o l y graphische G e w e r b e mit mehr als 5 A r b e i t e r n s i n d d e m F a b r i k g e s e t z e z u u n t e r s t e l l e n (vorbehalten bleibt selbstverständlich die Verfügung sub Nr. l).a Die verschiedenen Zweige der polygraphischen Betriebe finden sich sehr häufig vereinigt (z. B. Lithographie und Buchdruckerei).

Dabei arbeiten darin oft die nämlichen Arbeiter, bald mit diesem, bald mit jenem Arbeitszweig beschäftigt. In solchen Fällen ist aber eine richtige Handhabung des Fabrikgesetzes in Buchdruckereien (welche bis jetzt einzig dem Gesetze unterstellt wurden , die Lithographien nicht) entweder unmöglich gemacht oder anstößig wegen ungleicher Behandlung der verschiedenen Arbeiter. Die Möglichkeit der Verletzungen und Gesundheitsschädigungen hingegen ist hei sämintlichen polygraphischen Berufszweigen vorhanden.

In unserm Beschlüsse sehen wir für die Unterstellung der fraglichen Anstalten vom Vorhandensein von Motoren in denselben ganz ab. Hiefür war bei den Lithographien der Umstand bestimmend, daß sie Gifte verwenden und oft Kinder beschäftigen. Wir halten dafür, dies motivire genügend unsere Bestimmung gegenüber den Lithographien und verwandten Zweigen. Richtiger schien uns aber noch, dieselbe auf alle polygraphischen Gewerbe auszudehnen.

Denn auch in
Buchdruckereien kommen Kinder und Frauen vor, die nach bisheriger Uebung oft zur Nachtarbeit verwendet wurden, und die giftige Einwirkung des Bleies kann sich hier ebenfalls

423 geltend machen. Zudem ist es gegenüber den kleinem Buchdruckereien mit Motoren unbillig, wenn mehrfach größere ohne Motor sich dem Fabrikgesetz nicht zu unterziehen hatten. Es mag noch erwähnt werden, daß die Zahl der Buchdruckereien ohne Motor, aber mit mehr als fünf Arbeitern eine nicht gar große ist.

4) Betreffend den amtlichen Altersausweis für Arbeiter unter \ 8 Jahren : ,, K e i n j u g e n d l i c h e r A r b e i t e r u n t e r 1 8 J a h r e n d a r f z u r A r b e i t in d e r F a b r i k z u g e l a s s e n w e r d e n , I) e v o r e r einen a m t l i c h e n A u s w e i s ü b e r d a s z u r ü c k g e l e g t e 14. A 11 e r s j a h r .> e i g e b r a c h t hat. De r A u s w e i s o d e r e i n e b e g l a u b i g t e K o p i e davon ist auf dem F a br i k bü rea u zur amtlichen Einsieht bereit zu h a l t e n."

Die Erfahrung hat bewiesen, daß jede Art außeramtlicher Altersausweise uuzuverläßig ist. Die Arbeitgeber selbst, Bestrafung wegen unbewußt zu jung angenommener Arbeiter fürchtend, wünschen amtliche Ausweise, aber scheuen sich oft aus verschiedenen Gründen, diese Forderung aufzustellen. Bei Nachtarbeit, die ja nur Leuten über 18 Jahren gestattet ist, wissen sie auch oft nicht genau, wer dazu berechtigt ist. Dem allem glauben wir durch unsern Beschluß abzuhelfen. Dagegen sollte die Beschaffung des Ausweises für den Arbeiter mit keinen Kosten verbunden sein, und wir sprechen daher den angelegentlichen Wunsch aus, daß Sie bei Ausführung obiger Bestimmung die G r a t i s verabfolgung der in Frage kommenden Scheine ermöglichen möchten.

5) Betreffend die Ertheiluug von Ueberzeitbewilligungen : a. N u r s o h r i t' 11 i e h e r t h e i 11 e u n d d e u l o k a l e n A u l' s i c h t, s l) e h ö r d e n m i t g e t h e i l i e . a u f e i n e b e s t i m m t e Z e i t d a u e r u n d b e s t i in m t f. T a g e sstunden l a u t e n d e B e w i l l i g u n g e n zur Verl ä n g e r u n g d e r N o r m a l a r h e i t s » e i t sin d gültig.

D i e s e l b e n sind d e n A r b e i t e r n dt. r e h A n s e h l a g i n d e r F a b r i k z u r K e n n (, n i ß z u 1) r i n g e n.

Ì). K s i s t d e n L o k a l b e h ö r d e n i h r e r s e i t s n i c h t g e s t a t t e t , in der "Weise B e w i l l i g u n g en zu e r t h ii i l e n , daß d u r c h d e r e n u n m i t t e l b a r o d
e r p e r i o d i s c h f o l g e n d e W i e d e r h o l u n g d i e K o mp e t e u z d e r K a n t o u s r e g i e r u n g (Art. 11, AI. 4) u m g a n g e n w i r d.

Ueberzeithewilligungen werden häufig von nicht kompetenten Personen, in ungesetzlicher Weise, oder ohne Vorwissen der Amts-

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stellen , denen die Aufsicht über die Innehaltuag der Arbeitszeit obliegt, ertheilt. Dazu kommt, daß die ausschließliehe Berechtigung der Kantonsregierungen, Ueberzeitbewilligungen für mehr als 2 Wochen zu ertheilen, von Lokalbehörden in der Weise usurpirt wurde, daß diese ihre Bewilligungen in kurzenZwischenräumenu repetirten.

Solehen Ungesetzlichkeiten soll durch obige Vorschriften vorgebeugt werden.

Wir fügen bei, daß die Mitth e i l u n g aller Bewilligungen für Verlängerung der Arbeitszeit, auch die der Lokalbehörden, a n die F a b r i k i n s p e k t o r e n sehr wünschenswerth ist, indem sie letztern ihr Amt bedeutend erleichtert. Die meisten Kantone haben übrigens dieses sehr zweckmäßige Verfahren schon eingeführt.

Bei diesem Anlaß machen wir auf den Mißbrauch aufmerksam, der in den zu weit getriebenen Bewilligungen zur V e r l ä n g e r u n g d e r A r b e i t s z e i t besteht. Letztere darf nach dem Gesetze n u r ,, a u s n a h m s w e i s e o d e r v o r ü b e r g e h e n d " verlängert werden; es sind aber Beispiele vorhanden, bei welchen dieser Zustand taktisch zur Regel wurde. Eine solehe Mißachtung des Gesetzes ist unbedingt zu rügen, und wir müssen mit allem Nachdruck verlangen, daß seine Intention gewissenhaft erfüllt werde.

Es mag hier, da auch hierüber falsche Auffassungen vorkommen, noch darauf hingewiesen werden, daß weibliche, sowie junge Personen unter 18 Jahren nach 8 Uhr Abends in denFabrikenn nicht beschäftigt, resp. daß auf sie die Arbeitszeit über diesen Zeitpunkt hinausnichtt ausgedehnt werden darf, indem dies gemäß den Artikeln 15, AI. l, 16, AI. 3, und 11, AI. l, des Fabrikgesetzesun-zuläßig ist.

6) Betreffend Dampfkesseluntersuchung : ,, D i e F a b r i k b e s i t z e r , w e l c h e u i c lit d e m V e r ein s c h w e i z e r i s c h e r D a m p f k e s s e l b e s i t z e r ang e h ö r e n , h a b e n d a f ü r zu s o r g e n und den Ausweis zu leisten, daß ihre Dampfkessel mindestens j ä h r l i c h e i n m a l von Personen, d i e v o n den kant o n a l e n R e g i e r u n g e n a l s hiefür k o m p e t e n t e r k l ä r t w o r d e n s i n d , u n t e r s u c h t w o r d e n sei e n."

Am häufigsten werden diejenigen Dampfkessel nicht untersucht, welche die größten Gefahren darbieten. Manche Kantone haben diesen bedenklichen Umstand dadurch zu vermeiden
gesucht, daß sie spezielle Verordnungen über die Dampfkessel erließen oder ausnahmsweise für einzelne derselben periodische Untersuchungen vorschrieben. An andern Orten geschah nichts, und es bestehen

425 große Gefahren fort. Im Hinblick darauf halten wir eine allgemeine Vorschrift nach dieser Richtung für vollkommen gerechtfertigt.

7) Ein großer Theil der Kantone hat schon für die Fabriken, i n welchen Frauen arbeiten, e i n e s p e z i e l l e W ö c h n e r innenliste in welcher das Datum jedes wegen bevorstehender Niederkunft e r f o l g e n d e n Fabrikaustritts, und wenn der W i e d e r e i n t r i t t stattfindet, das von der Hebamme, dem A r z t oder Z i v i l s t a n d s a m t b e s c h e i n i g t e D a t u m der Niederk u n f t , s o w i e . d a s j e n i g e d e s W i e d e r e i n t r i t t s eing e t r a g e n w i r d , eingeführt, wohl einsehend, daß ohne eine solche Aufzeichnung über Austritt, Niederkunft u ad Eintritt der Wöchnerinnen die Kontrole über den Wöchnerinnenausschluß (Artikel 15 des Gesetzes) nicht möglich ist und der humane Zweck des Gesetzes, welcher für das Kind ebenso sehr als für die Mutter sorgen wollte, nicht erreicht werden kann, Das Niederkunftsdatum kann ohne Mühe und Kosten festgestellt werden, wenn die Hebamme oder auch der Arzt der Wöchnerin ein Zeugnißß zu verabfolgen haben. Ohne ein solches kann die Richtigkeit der innegehaltenen Fristen nicht beurtheilt worden.

Wir empfehlen denjenigen Kantonen, in welchen es noch nicht geschehen ist, die Einführung dieses Systems.

8 ) Betreffend d e n A u f e n t h a l t v o n K i n d e r n u n t e r 14 J a h r e n in F a b r i k e n , welcher vielfach in zu ausgedehntem Maße stattfindet und sogar durch Anhalten solcher Kinder zur Fabrikarbeit mißbraucht wird, empfehlen wir Ihnen, daß Sie darauf bedacht sein möchten. diesen Uebelständen so viel wie möglich entgegen zu treten. Die Erreichung eines günstigen Zieles in dieser Richtung wäre im Interesse der Gesundheit und Moral jener Kinder sehr wünschbar.

Wir hoffen, daß diese Erörterungen dazu beitragen, eine nach allen Seiten befriedigende Ausführung des Gesetzes zu sichern.

Wir benutzen diesen Anlaß, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, sammt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 7. April 1885.

Im Namen des Schweiz. "Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Kreisschreiben des Bundesrathes an sämmtliche eidgenössische Stände, betreffend das Fabrikgesetz. (Vom 7. April 1885.)

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