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Bundesrathsbeschluß über

den Rekurs des Joseph Simon Castinel, aus Maubec, Departement Vaucluse (Frankreich), wegen Verletzung des Art. 31 der Bundesverfassung (Handels- und Gewerbefreiheit).

(Vom 16. März 1883.)

Der schweizerische B u n d e s r a t h hat in Sachen des Joseph Simon C a s t i n e l , aus Mau bec, Departement Vaucluse (Frankreich), wohnhaft in Peterlingen, wegen Verletzung des Art. 31 der Bundesverfassung (Handels- und Gewerbefreiheit) ; nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartements und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben :

A. Der Rekurrent wohnt seit 1877 in Peterlingen, woselbst er eine bis zum 31. Oktober 1884 gültige Niederlassungsbewilligung genommen hat, die jährliche Kopfsteuer bezahlt und von Zeit zu Zeit ein Magazin zum Verkauf seiner Waaren eröffnet ; während der übrigen Zeit besucht er als Krämer die Messen und Märkte anderer Ortschaften, insbesondere auch der Stadt Freiburg.

B. Auf den Rapport zweier Landjäger verfällte unterm 5. Ok'tober 1882 der Präfekt des Bezirkes Peterlingen den J. 8. Castinel.

wegen Uebertretung der Art. l und 9 des waadtländischen Hausirgesetzes vom 28. Mai 1878 in eine Geldbuße von Fr. 100, weil

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derselbe ein ständiges Magazin nicht eröffnet habe, dagegen, ohne im Besitze eines Patentes zu sein, seine Waaren in Peterlingen zeitweilig in Lagern feilbiete.

C. Castinel rekurrirte gegen diese Strafverfügung des Präfekten an das Polizeigericht des Bezirkes Peterlingen, indem er sich auf seine feste Niederlassung in Peterlingen berief, infolge welcher er wie ein anderer Bürger daselbst der ordentlichen Gemeindesteuer unterliege und daher nicht außerordentlicherweise noch zur Lösung eines gewerblichen Patentes verhalten werden könne.

Das Polizeigericht von Peterliagen, die Anschauungsweise des Rekurrenten theilend, sprach ihn durch Urtheil vom 25. Oktober 1882 von der Anklage frei und hob die gegen ihn gefällte Straf verfügung auf. Insbesondere legte das Gericht den Nachdruck darauf, daß ein Niedergelassener nicht als ein Gewerbe im Umherziehen betreibend angesehen werden könne, wobei es durchaus gleichgültig sei, ob der Betreffende beständig oder nur zeitweise ein Magazin offen halte.

D. Da jedoch der Staatsanwalt des 1. Kreises gegen das polize.igerichtliche Urtheil den Rekurs an den Kassationshof in Strafsachen erklärte, gelangte der Gegenstand am 16. November 1882 vor das Forum dieses obersten Gerichtes des Kantons Waadt.

Im Gegensatz zum Polixeigerichte fand der Kassationshof, daß Castinel allerdings unter die Bestimmungen des Hausirgesetzes falle (Art. l, 2, 9, 10 und 25) und verpflichtet gewesen sei, sich für seinen Ausverkauf (déballage, débit temporaire) in Peterlingen mit einem für die betreffende (erste) Waarenklasse monatlich Fr. 200 kostenden Patente zu versehen (Art. 10).

Nach dem Kassationshofe unterliegt es keinem Zweifel, daß Jedermann, der im Kanton ein Gewerbe oder einen Beruf im Umherziehen (industrie ou profession ambulante) ausüben will, hiefür ein Patent sich zu verschaffen hat (Art. 1), dai?) unter einem solchartigen Gewerbe oder Beruf unter Anderm auch ein Waarenverkauf zu verstehen ist, der in einem Hotel oder in einem Privathause vorgenommen werden will (Art. 2), und daß jeder Händler, der einen zeitweiligen und vorübergehenden Waaren aus v erkauf beabsichtigt (liquidation ou déballage), sich um eia Patent zu bewerben habe, selbst dann, wenn er im Kanton ordentlieherweise niedergelassen und wohnhaft wäre (Art. 9). Da nun Castinel insbesondere im Herbste 1882 in den
öffentlichen Blättern die Eröffnung eines ^großen französischen Bazars"1 (,,Grand Bazar Français*) im Saale des Café Gutknecht in Peterlingen für die Dauer von nur 10 Tagen,

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nämlich vom 28. September bis 7. Oktober, angekündigt und ausgeführt habe, ohne im Besitze eines Patentes zu sein, so erscheine die Anwendung der Strafbestimmung des Gesetzes (Art. 25), welche eine Buße von Fr. 10 bis 500 und überdies den Entzug des Patentes vorsehe, auf den Rekurrenten als vollkommen gerechtfertigt.

Der Kassationshof hieß demnach den Rekurs der Staatsanwaltschaft gut, hob das Urtheil des Polizeigerichtes auf, bestätigte den Strafbefehl des Präfekten von Peterlingen und verurtheilte den Castinel zur Bezahlung "a sämmtlicher Kosten.

E. J. S. Castinel hat nun durch schriftliche Eingabe vom 17. Februar 1883 gegen dea Entscheid des Kassationshofes den Rekurs an den Bundesrath erklärt.

* In seinem Memoriale erörtert er -- abgesehen von bereits erwähnten und untergeordneten Punkten thatsächlicher Natur -- namentlich die Rechtsfrage, ob er wirklich unter die Vorschrift des Art. 9 des waadtländischen Hausirgesetzes falle. Diese Frage verneint er, indem er den citirten Artikel nur auf solche Personen anwendbar hält, die ihre Waaren in e i n e r a n d e r n als i h r e r N i e d e r l a s s u n g s g e m e i n d e ausverkaufen wollen, eine Auslegung, welche durch andere Gesetzesartikel (Art. 2 und 12) unterstützt werde.

Dadurch, daß man ihn, den regelmäßig niedergelassenen und steuerzahlenden Handelsmann, wie einen ambulanten Gewerbetreibenden behandelt und belastet habe, sei die auch ihm gewährleistete Handels- und Gewerbefreiheit verletzt worden. E? sei deshalb der Entscheid des Kassationshofes vom 16. November 1882, eventuell aber, wenn die Auslegung des Kassationshofes die richtige wäre, der Art. 9 des waadtländischen Hausirgesetzes vom 28. Mai 1878 als bundesverfassungswidrig aufzuheben.

F. Der Kassationshof des Kantons Waadt verziehtet gemäß der Mittheilung des dortigen Finanzdepartements auf eine Entgegnung in Bezug auf die Behauptungen des Rekurses und bezieht sich einfach auf die Erwägungen zu seinem Urtheile vom 16. November 1882 ; in Erwägung: 1) Der Art. 1 des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und Frankreich sichert den in der Schweiz sich aufhaltenden Franzosen die Gleichbehandlung mit den Angehörigen des betreffenden Kantons, insonderheit auch in Bezug auf die Ausübung jeder Art von Handel und Gewerbe zu.

375 Die Eigenschaft des Rekurrenten als eines Franzosen ist deshalb kein Grund, den vorliegenden Rekurs nach irgend welchen andern Gesichtspunkten zu behandeln, als wenn es sich um den Rekurs eines Angehörigen des Kantons Waadt handeln würde.

2) In der Sache selbst aber kann der Bundesrath kein Motiv auffinden, dem Rekursbegehren zu entsprechen.

Denn einmal entzieht sich eine Prüfung des vom Kassationshofe des Kantons Waadt seinem Urtheile vom 16. November 1882 zu Grunde gelegten Thatbestandes der Kompetenz des Bundesrathes.

Anderntheils aber enthält die Bestimmung des Art. 9 des waadtländischen Hausirgesetzes in der ihm vom Kassationshofe gegebenen Auslegung keinen Widerspruch gegenüber Art. 31 der Bundesverfassung, indem der Erwerb einer Niederlassung nicht die Möglichkeit und Zuläßigkeit eines Gewerbebetriebes nach dem Begriffe und der Art des Hausirens, des bloßen Ausverkaufs, des zeitweiligen Peilbietens von Waaren in Lagern u. s. w. ausschließt, weßhalb auch auf einen Niedergelassenen, nach der ausdrucklichen Bestimmung des allegirten Artikels, die Vorschriften über das Hausirwesen schlechterdings Anwendung finden dürfen ; beschlossen: 1. Der Rekurs wird als unbegründet abgewiesen.

2. Dieser Entscheid ist dem Staatsrathe des Kautons Waadt zu Händen des Kassationshofes dieses Kantons für Strafsachen, sowie dem Rekurrenten, letzterem unter Rückschluß der Belegeakten, schriftlich mitzutheilen.

B e r n , den 16. März 1883.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

L. Ruchonnet.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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20.06.1885

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