10.444 Parlamentarische Initiative Strafprozessordnung. Protokollierungsvorschriften Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 16. April 2012

Sehr geehrter Herr Präsident, Sehr geehrte Damen und Herren, Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung der Zivilprozessordnung und der Strafprozessordnung. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

16. April 2012

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Anne Seydoux-Christe

2012-0746

5707

Übersicht Die seit dem 1. Januar 2011 in Kraft stehende Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO; SR 312.0) schreibt vor, dass Einvernahmeprotokolle der einvernommenen Person vorgelesen oder zum Lesen vorgelegt werden, bevor die einvernommene Person das Protokoll unterzeichnet. Besonders bei Einvernahmen in einer fremden Sprache kann diese Regelung zu einem erheblichen zeitlichen Aufwand führen, weil das Protokoll nicht nur vorgelesen, sondern auch rückübersetzt werden muss.

Nach Auffassung der Kommission soll im Interesse eines raschen Verfahrensablaufs in jenen Fällen auf das Verlesen des Protokolls verzichtet werden können, in denen die Einvernahme mittels technischer Hilfsmittel aufgezeichnet wird. Die Aufzeichnung gewährleistet die vollständige und korrekte Dokumentation der Einvernahme, und allfällige Fehler oder Missverständnisse im Protokoll können einfach berichtigt werden. Allerdings beschränkt sich der Anwendungsbereich der neuen Regelung auf die Verfahren vor urteilenden Gerichten, bezieht sich aber nicht auf die Verhandlungen vor dem Zwangsmassnahmengericht oder auf Einvernahmen bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren.

Die Kommission beantragt deshalb die dargelegten Änderungen der Strafprozessordnung. Aufgrund der Ergebnisse der Anhörung hat sie ausserdem beschlossen, eine analoge Regelung für die ebenfalls seit dem 1. Januar 2011 geltende Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (ZPO; SR 272) zu beantragen.

5708

Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Parlamentarische Initiative

Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates (in der Folge «die Kommission») hat am 20. Mai 2010 auf Antrag eines Kommissionsmitgliedes mit 12 zu 0 Stimmen bei einer Enthaltung beschlossen, eine parlamentarische Initiative gemäss Artikel 109 Absatz 1 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20021 (ParlG) auszuarbeiten. Bezweckt wird eine Änderung der Strafprozessordnung vom 5. Oktober 20072 (StPO), so dass bei Gerichtsverhandlungen, die mittels technischer Hilfsmittel aufgezeichnet werden, darauf verzichtet werden kann, das Protokoll der einvernommenen Person vorzulesen oder zum Lesen vorzulegen und von dieser unterzeichnen zu lassen. Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates hat am 15. Oktober 2010 mit 21 zu 3 Stimmen ihre für die Ausarbeitung eines Erlassentwurfs notwendige Zustimmung erteilt (Art. 109 Abs. 3 ParlG).

1.2

Arbeiten der Kommission

Die Kommission befasste sich an zwei Sitzungen im Jahr 2011 mit der Umsetzung der parlamentarischen Initiative. Am 20. Oktober 2011 hat sie einen Vorentwurf einstimmig angenommen und beschlossen, ihn einem engeren Kreis von Betroffenen zur Stellungnahme vorzulegen. Nach Kenntnisnahme der erhaltenen Stellungnahmen hat sie den Vorentwurf um eine analoge Regelung für die Zivilprozessordnung ergänzt und am 16. Februar 2012 den beiliegenden Erlassentwurf einstimmig angenommen. Den vorliegenden Bericht hat sie am 16. April 2012 verabschiedet.

Die Kommission wurde bei ihrer Arbeit gemäss Artikel 112 Absatz 1 ParlG durch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement unterstützt.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Ausgangslage

2.1.1

Allgemeines

Strafprozessordnung Die geltende Regelung der Strafprozessordnung über die Einvernahmeprotokolle (Art. 78) lautet wie folgt: Die Aussagen der Parteien, Zeuginnen, Zeugen, Auskunftspersonen und Sachverständigen werden laufend protokolliert.

1

1 2

SR 171.10 SR 312.0

5709

Die Protokollierung erfolgt in der Verfahrenssprache, doch sind wesentliche Aussagen soweit möglich in der Sprache zu protokollieren, in der die einvernommene Person ausgesagt hat.

2

3

Entscheidende Fragen und Antworten werden wörtlich protokolliert.

Die Verfahrensleitung kann der einvernommenen Person gestatten, ihre Aussagen selbst zu diktieren.

4

Nach Abschluss der Einvernahme wird der einvernommenen Person das Protokoll vorgelesen oder ihr zum Lesen vorgelegt. Sie hat das Protokoll nach Kenntnisnahme zu unterzeichnen und jede Seite zu visieren. Lehnt sie es ab, das Protokoll durchzulesen oder zu unterzeichnen, so werden die Weigerung und die dafür angegebenen Gründe im Protokoll vermerkt.

5

Bei Einvernahmen mittels Videokonferenz ersetzt die mündliche Erklärung der einvernommenen Person, sie habe das Protokoll zur Kenntnis genommen, die Unterzeichnung und Visierung. Die Erklärung wird im Protokoll vermerkt.

6

Sind handschriftlich erstellte Protokolle nicht gut lesbar oder wurden die Aussagen stenografisch oder mittels technischer Hilfsmittel aufgezeichnet, so werden sie unverzüglich in Reinschrift übertragen. Die Notizen und anderen Aufzeichnungen werden bis zum Abschluss des Verfahrens aufbewahrt.

7

Demgegenüber statuierte der Vorentwurf3 (VE-StPO) nur für Einvernahmen im Vorverfahren die Pflicht zum Vorlesen oder Durchlesen des Protokolls, nicht aber für solche im Gerichtsverfahren (Art. 86 Abs. 3 VE-StPO). Bei Einvernahmen im Gerichtsverfahren hatte der Vorentwurf dagegen vorgesehen, dass der einvernommenen Person unter Vorbehalt des Verzichts die wesentlichen Aussagen hätten vorgelesen werden sollen (Art. 87 Abs. 2 erster Satz VE-StPO), und dass sich die einvernommene Person zur Richtigkeit der Protokollierung hätte äussern sollen (Art. 87 Abs. 2 zweiter Satz VE-StPO). Letzteres wäre allerdings kaum denkbar ohne Kenntnisnahme des Protokolls (durch Vorlesen oder Durchlesen).4 Bei der heutigen Regelung lassen sich bei der Protokollierung von Einvernahmen drei Phasen unterscheiden:

3 4

­

Die schriftliche Aufzeichnung der Aussagen der einvernommenen Person (Art. 78 Abs. 1 StPO);

­

das Durchlesen oder Vorlesen des Protokolls (Art. 78 Abs. 5 erster Satz StPO), wobei dieses u.U. in die Sprache der einvernommenen Person rückübersetzt werden muss;

­

die Unterzeichnung des vorgelesenen Protokolls durch die einvernommene Person (Art. 78 Abs. 5 zweiter Satz StPO).

Vorentwurf zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung, Bundesamt für Justiz, Bern 2001.

Gemäss Peter Popp (Einvernahmeprotokoll in der Hauptverhandlung. Anmerkungen zu einer parlamentarischen Initiative, in: forumpoenale 2/2011, S. 98 ff., 99) hätte die Regelung des Vorentwurfs deshalb in der Sache zum gleichen Ergebnis geführt, wie wenn das Protokoll vorgelesen werden muss.

5710

Zivilprozessrecht Die seit 1. Januar 2011 in Kraft stehende Zivilprozessordnung regelt in Artikel 176 die Prokollierung von Zeugeneinvernahmen wie folgt: Die Aussagen werden in ihrem wesentlichen Inhalt zu Protokoll genommen und von der Zeugin oder dem Zeugen unterzeichnet. Zu Protokoll genommen werden auch abgelehnte Ergänzungsfragen der Parteien, wenn dies eine Partei verlangt.

1

Die Aussagen können zusätzlich auf Tonband, auf Video oder mit anderen geeigneten technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet werden.

2

Aufgrund entsprechender Verweisungen in Artikel 187 Absatz 2 und Artikel 193 ZPO gilt diese Regelung sinngemäss auch für die Protokollierung der mündlichen Erstattung eines Gutachtens sowie von Parteibefragungen und Beweisaussagen.

Vergleichbar mit dem Strafprozessrecht ergeben sich damit bei der Protokollierung von Einvernahmen folgende drei Schritte: ­

Die schriftliche Aufzeichnung der Aussagen der Zeugin oder des Zeugen nach ihrem wesentlichen Inhalt sowie allfällig abgelehnter Ergänzungsfragen (Art. 176 Abs. 1 ZPO);

­

das Durchlesen oder Vorlesen des Protokolls, wobei sich diese Phase im Unterschied zur StPO nicht direkt aus dem Gesetz ergibt, aber notwendige Voraussetzung der anschliessenden Unterzeichnung durch die Zeugin oder den Zeugen ist;

­

die Unterzeichnung des Protokolls durch die Zeugin oder den Zeugen (Art. 176 Abs. 2 ZPO).

2.1.2

Gründe der geltenden Regelungen

Die geltenden Regelungen der Strafprozessordnung und der Zivilprozessordnung beruhen auf verschiedenen Überlegungen: ­

Sie kompensieren die Pflicht zur bloss sinngemässen Protokollierung (Art. 78 Abs. 3 e contrario StPO bzw. Art. 176 Abs. 1 und Art. 235 Abs. 2 ZPO): Weil die Aussagen bloss sinngemäss oder ihrem wesentlichen Inhalt nach, nicht aber immer wörtlich zu protokollieren sind, muss eine Kontrolle erfolgen, ob das Protokoll den Sinn der Aussagen tatsächlich richtig wiedergibt. Dies geschieht durch die Bestätigung der Richtigkeit des Protokolls durch die einvernommene Person.

­

Sie stellen sicher, dass das Gericht und die Parteien dokumentiert sind und über eindeutige, unveränderbare Einvernahmeprotokolle verfügen, welche Grundlage für die Urteilsberatung bzw. die Parteivorträge bilden können.

­

Sie machen Verfahren um Protokollberichtigung nach Abschluss der Verhandlung (Art. 79 StPO bzw. Art. 235 Abs. 3 ZPO) weitestgehend entbehrlich.

­

Sie verhindern, dass die Richtigkeit des Protokolls (etwa wenn eine unkorrekte Übersetzung geltend gemacht wird) durch die zweite Instanz beurteilt

5711

werden muss, indem das auf einem angeblich unrichtigen Protokoll beruhende erstinstanzliche Urteil angefochten wird.

2.1.3

Kritik

Gegen die geltenden Regelungen wird vorgebracht, das Durchlesen oder Vorlesen (evtl. verbunden mit einer Rückübersetzung) und das Unterzeichnen verlängerten die Verhandlungen wesentlich. Überdies stellen sie eine Abkehr von früheren bewährten Systemen in mehreren Kantonen dar, welche nicht zwingend sei.

Während Schätzungen vor dem Inkrafttreten der StPO von einer Verdoppelung oder gar Verdreifachung des Zeitaufwandes für eine Hauptverhandlung ausgingen5, hat sich im Kanton Zürich während einer Testphase gezeigt, dass der Mehraufwand bei einfachen Fällen rund 50 % beträgt, bei komplexen Fällen dagegen von einer Verdoppelung auszugehen ist, wobei diesem Mehraufwand auch zeitliche Einsparungen gegenüberstehen.6

2.2

Die beantragte Neuregelung

2.2.1

Vorentwurf und Ergebnisse der Anhörung

Die Kommission hat am 20. Oktober 2011 einen Vorentwurf zu einer Änderung von Artikel 78 StPO angenommen, welche ermöglichen soll, auf das Verlesen des Protokolls zu verzichten, wenn die Einvernahme mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet wird. Vom 31. Oktober bis zum 31. Dezember 2011 wurde eine Anhörung durchgeführt, in der ein engerer Kreis von Betroffenen zu dem Vorentwurf Stellung nehmen konnte.7 Folgende Adressaten wurden eingeladen, Stellung zu nehmen: die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK); die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD); das Bundesstrafgericht (BStGer); die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS); die Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz (KSBS); die Schweizerische Vereinigung der Richterinnen und Richter (SVR); die Obergerichtspräsidentenkonferenz der Zentralschweiz und des Kantons Zürich; die Schweizerische Vereinigung für Jugendstrafrechtspflege (SVJ) sowie der Schweizerische Anwaltsverband (SAV).

Mit Ausnahme der KdK haben alle Adressaten von der Möglichkeit zur Stellungnahme Gebrauch gemacht. Zudem haben sich das Obergericht des Kantons Schaffhausen (OGer SH), das Obergericht des Kantons Aargau (OGer AG) sowie das Centre Patronal zum Vorentwurf geäussert. Somit gingen insgesamt elf Stellungnahmen ein.

5 6

7

Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung. Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2009, N 7 zu Art. 78.

Peter Marti, Das Protokollieren von Einvernahmen nach der Schweizerischen Strafprozessordnung aus der Sicht eines Zürcher Richters ­ Fluch oder Segen?, in: forumpoenale 2/2011, S. 91 ff., 95.

Der Bericht über die Anhörungsergebnisse kann auf der Website der Kommission eingesehen werden: www.parlament.ch/d/dokumentation/berichte/berichtelegislativkommissionen/kommission-fuer-rechtsfragen-rk/seiten/default.aspx

5712

Die klare Mehrheit der Stellungnehmenden8 spricht sich für die vorgeschlagene Revision aus. Kritisch äussern sich dagegen die DJS wie auch der SAV, für die sich nicht nur inhaltliche Fragen stellen, sondern in deren Augen die Revision angesichts der Tatsache, dass die neue Strafprozessordnung erst seit dem 1. Janaur 2011 in Kraft ist, auch viel zu früh erfolgt; eine Meinung, die im Übrigen von der KSBS geteilt wird.

Die Befürworter der Revision sind der Ansicht, dass diese zu einer Vereinfachung und Verkürzung der Hauptverhandlung mit entsprechender Kosteneinsparung führt9, namentlich bei grossen Prozessen und bei Einvernahmen unter Mithilfe einer Übersetzung.10 Die vorgeschlagene Neuregelung ermögliche freiere und direktere Einvernahmen mit Rück- und Präzisierungsfragen11, während bei der derzeitigen Regelung im Haupt- und Rechtsmittelverfahren keine eigentliche Befragung mehr stattfinden könne.12 Weiter bringen die Befürworter der Revision vor, dass es unter jenen früheren kantonalen Strafprozessordnungen, welche keine Protokollierungsvorschriften gemäss StPO vorgesehen hatten, zu keinerlei Problemen gekommen sei.13 In den Augen der Revisionskritiker ist mit den neuen Vorschriften die Möglichkeit eingeschränkt, im Hauptverfahren Aussagen zu überprüfen, zu ergänzen und zu korrigieren; dies sei aber ein wichtiges Element des Rechts auf einen fairen Prozess.14 Es wird darauf hingewiesen, dass auch modernste Aufzeichnungsgeräte mangelhaft sein können und Datenmaterial unter Umständen auch durch Manipulation verlorengehen kann.15 Gerade bei Sachverständigen, welche schwierige technische oder psychologische Abläufe zu erläutern haben, sei die Bestätigung von Aussagen durch Unterschrift zwingend nötig. Der SAV erinnert daran, dass die Kantone, die seit einiger Zeit die derzeit geltenden Protokollierungsvorschriften anwenden, sehr gute Erfahrungen damit gemacht haben.

Einzelne Stellungnehmende schlagen darüber hinaus vor, eine analoge Revision in der Zivilprozessordnung vorzunehmen, da auch dort die geltenden Protokollierungsvorschriften (Art. 176 Abs. 1 Satz 1 sowie Art. 193 ZPO) zu Verfahrensverlängerungen führen und parallele Regelungen im Straf- und Zivilprozess sinnvoll erscheinen.16

2.2.2

Die vorgeschlagene Regelung im Allgemeinen

Die vorgeschlagene Regelung ändert nichts daran, dass Einvernahmen stets schriftlich zu protokollieren sind. Sie stehen damit im Einklang mit der Regelung gemäss Artikel 76 Absatz 4 StPO beziehungsweise Artikel 176 Absatz 2 ZPO, wonach eine Bild- oder Tonaufzeichnung von Verfahrenshandlungen bloss zusätzlich zur schrift8 9 10 11 12 13 14 15 16

SVJ, SVR, BStGer, KKJPD, Obergerichtspräsidentenkonferenz der Zentralschweiz und des Kantons Zürich, KSBS, Centre Patronal, OGer AG, OGer SH.

SVR, OGer AG, OGer SH.

BStGer OGer SH, SVR.

KSKB OGer SH, SVR.

DJS DJS Obergerichtspräsidentenkonferenz der Zentralschweiz und des Kantons Zürich, OGer AG, OGer SH.

5713

lichen Protokollierung, nicht aber an deren Statt angeordnet werden kann. Somit verlangt auch die neue Regelung eine fortlaufende, sinngemässe Protokollierung des wesentlichen Inhalts während der Verhandlung und dürfte eine Bearbeitung des Protokolls nach der Verhandlung weitgehend entbehrlich machen.17 Demgegenüber ist es nicht das Ziel der neuen Regelung, dass ein Einvernahmeprotokoll zukünftig grundsätzlich erst nach der Verhandlung anhand der Aufzeichnungen erstellt wird.

Denn ein solches Vorgehen hätte wohl zur Folge, dass umfangreiche, detaillierte und teilweise wörtliche Protokolle erstellt werden, was zu einem erheblichen Zeitaufwand nach der Verhandlung führt.18 Die für die StPO vorgeschlagene Regelung überträgt den Entscheid über ein Absehen von der ordentlichen Protokollierung nicht der Verfahrensleitung, sondern dem Gericht. Dies zum einen angesichts der Bedeutung und der Funktion des Vorlesens und Unterzeichnens eines Einvernahmeprotokolls (dazu oben Ziff. 2.1.2), zum andern auch weil der Verzicht auf das Vorlesen und Unterzeichnen alle Mitglieder des Gerichts direkt betrifft, sehen sie sich doch u.U. damit konfrontiert, im Rahmen der Urteilsberatung Einvernahmen abzuhören. Überdies ist auch denkbar, dass nicht für eine Verhandlung generell, sondern für einzelne Einvernahmen auf das Vorlesen und Unterzeichnen verzichtet wird. In einem solchen Fall schiene es sachfremd, wenn allein die Verfahrensleitung und nicht das Gesamtgericht über die Vereinfachung zu entscheiden hätte. Im Zivilprozess dagegen kann auch das einvernehmende Gerichtsmitglied, an welches die Beweisabnahme nach Artikel 155 Absatz 1 ZPO delegiert wurde, über das Absehen von der ordentlichen Protokollierung entscheiden.

Der Anwendungsbereich der neuen Regelung beschränkt sich auf die Verfahren vor urteilenden Straf- und Zivilgerichten, bezieht sich aber nicht auf die Verhandlungen vor dem Zwangsmassnahmengericht. Da die vor diesem Gericht zu behandelnden Themen eng umgrenzt sind, also die Einvernahmen regelmässig kurz sind und zudem neben der beschuldigten Person kaum je weitere Personen einvernommen werden, erscheint die Möglichkeit einer vereinfachten Protokollierung nicht nötig.

Auch für Einvernahmen im Vorverfahren gilt die neue Regelung nicht, so dass Einvernahmen durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft der
einvernommenen Person immer vorzulesen oder zum Durchlesen vorzulegen und von ihr zu bestätigen sind. Dies ist vor allem wegen der im Hauptverfahren geltenden beschränkten Unmittelbarkeit erforderlich, nach welcher Zeuginnen und Zeugen nur ausnahmsweise vom Gericht selber noch einmal einvernommen werden (vgl. Art. 343 StPO).

Deshalb muss sichergestellt sein, dass die im Vorverfahren protokollierten Zeugenaussagen tatsächlich dem Gesagten entsprechen.

Die Kommission ist der Meinung, dass mit der beantragten Neuregelung die Effizienz der Verfahren gesteigert werden kann und dennoch ein vernünftiger Ausgleich besteht zwischen dem Interesse an einer speditiven Erledigung von Prozessen und der Wahrung der straf- und zivilprozessualen Grundsätze (oben Ziff. 2.1.2). So kann 17

Eine solche Kombination einer Pflicht zur laufenden Protokollierung einerseits und dem Verzicht auf Vorlesen und Unterzeichnen andererseits befürwortet denn auch Peter Marti (Das Protokollieren von Einvernahmen nach der Schweizerischen Strafprozessordnung aus der Sicht eines Zürcher Richters ­ Fluch oder Segen?, in: forumpoenale 2/2011, S. 97).

18 In dieser Art wurde im Kanton Zürich unter kantonalem Strafprozessrecht protokolliert ­ mit einer «enorme(n) Nachbearbeitungszeit» (Peter Marti, Das Protokollieren von Einvernahmen nach der Schweizerischen Strafprozessordnung aus der Sicht eines Zürcher Richters ­ Fluch oder Segen?, in: forumpoenale 2/2011, S. 95).

5714

das Gericht darauf verzichten, das Protokoll vorzulesen, und damit das Verfahren verkürzen; Einvernahmen müssen aber weiterhin sinngemäss und fortlaufend protokolliert werden. Zudem stellt die Möglichkeit der Protokollberichtigung (Art. 79 StPO bzw. Art. 235 Abs. 3 ZPO) sicher, dass auch nachträglich auf Gesuch hin Änderungen am Protokoll vorgenommen werden können. Aufgrund der Tatsache, dass bereits vor Inkrafttreten der Straf- und der Zivilprozessordnung im Januar 2011 einige Kantone so verfahren sind und es nicht zu Unzulänglichkeiten gekommen ist, ist diese Möglichkeit nach Ansicht der Kommission im Sinne eines Fakultativums wieder einzuführen. Es steht den urteilenden Gerichten aber weiterhin offen so vorzugehen, wie es die Prozessordnung für den Regelfall vorsieht.

3

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

3.1

Zivilprozessordnung

Art. 176 Abs. 1: Nach geltendem Wortlaut dieser Bestimmung haben die Zeugin oder der Zeuge das Protokoll zu unterzeichnen, ohne dass eine jedenfalls notwendige vorgängige Kenntnisnahme durch Vorlesen oder selbständiges Durchlesen ausdrücklich vorgesehen wäre. Im Zuge der Änderung der Bestimmung von Artikel 176 wird auch dies nunmehr im Gesetz klar geregelt, ohne dass damit eine Änderung der Rechtslage verbunden wäre. Mit dieser präzisierenden Anpassung erfolgt auch eine analoge Regelung wie im Strafprozess. Im Übrigen verbleibt Absatz 1 unverändert.

Abs. 3: Die Regelung eröffnet dem Gericht beziehungsweise im Falle der Delegation der Beweisabnahme an ein Gerichtsmitglied die Möglichkeit davon abzusehen, das Protokoll der Zeugin oder dem Zeugen in der Verhandlung vorzulesen bzw. vorzulegen und von der Zeugin oder dem Zeugen unterzeichnen zu lassen, wenn die Aussagen mit technischen Hilfsmitteln gemäss Absatz 2, d.h. auf Tonband, auf Video oder mit anderen geeigneten technischen Hilfsmitteln, aufgezeichnet werden.

Unverändert gilt auch in diesen Fällen die Pflicht zur laufenden Protokollierung der Zeugenaussagen in ihrem wesentlichen Inhalt und von abgelehnten Ergänzungsfragen der Parteien gemäss Absatz 1.

Angesichts des Verzichts auf das Vorlesen und die Unterzeichnung des Protokolls durch die Zeugin oder den Zeugen kommt den technischen Aufzeichnungen zentrale Bedeutung zu. Diese Aufzeichnungen sind daher zu den Akten zu nehmen und zusammen mit dem Protokoll aufzubewahren, um zu einem späteren Zeitpunkt und insbesondere für allfällige Protokollberichtigungs- oder Rechtsmittelverfahren verfügbar zu sein.

Über die Verweise in den Artikeln 187 Absatz 2 und Artikel 193 gilt die Regelung sinngemäss auch für die Protokollierung der mündlichen Erstattung eines Gutachtens sowie von Parteibefragungen und Beweisaussagen.

Art. 407a Im Unterschied zur allgemeinen Übergangsbestimmung beim Inkrafttreten der Zivilprozessordung nach Artikel 404 Absatz 1 stellt diese Übergangsbestimmung klar, dass die neue Regelung auch in rechtshängigen Verfahren für Zeugen5715

einvernahmen, mündliche Gutachtenserstattungen sowie Parteibefragungen und Beweisaussagen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens gilt.

3.2

Strafprozessordnung

Art. 78 Abs. 5bis: Die Einfügung der neuen Regelung in Artikel 78 stellt klar, dass lediglich von der Pflicht zum Vorlesen und zum Unterzeichnen abgewichen werden kann, nicht aber davon, die Aussagen laufend und in der Regel sinngemäss zu protokollieren. Die Aufzeichnungen sind angesichts ihrer Bedeutung zu den Akten zu nehmen, um später entsprechend verfügbar zu sein.

Sodann wird der Anwendungsbereich der Ausnahme auf das Hauptverfahren beschränkt. Vor dem Zwangsmassnahmengericht sind Einvernahmeprotokolle somit immer vorzulesen und zu unterzeichnen. Dagegen gilt die Erleichterung aufgrund des Verweises auf die Bestimmungen des erstinstanzlichen Hauptverfahrens in Artikel 405 Absatz 1 StPO auch für das Berufungsverfahren. Im Beschwerdeverfahren finden keine Einvernahmen statt, da dieses Verfahren immer schriftlich durchgeführt wird (Art. 397 Abs. 1 StPO).

Abs. 7: In der heutigen Fassung lässt die Vorschrift vermuten, dass Einvernahmen mittels technischer Hilfsmittel aufgezeichnet werden dürfen, ohne dass gleichzeitig fortlaufend und sinngemäss zu protokollieren sei. Dies steht bereits heute im Widerspruch zu Artikel 76 Absatz 4 StPO, wonach eine Aufzeichnung nur zusätzlich zur schriftlichen Protokollierung, nicht aber an deren Stelle, erfolgen kann. Der neue Absatz 5bis in der vorgeschlagenen Fassung entbindet zwar nur von der Pflicht zum Vorlesen und Unterzeichnen des Protokolls, nicht aber von der laufenden und sinngemässen Protokollierung. Damit steht jedoch Absatz 7 im Widerspruch, indem dieser in der heutigen Fassung die nachträgliche Erstellung des schriftlichen Protokolls gestützt auf die Aufzeichnung mit technischen Hilfsmitteln zuzulassen scheint.

4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Die vorgeschlagenen Änderungen haben für den Bund oder die Kantone keine zusätzlichen finanziellen oder personellen Belastungen zur Folge. Im Gegenteil: Die Möglichkeit, auf das Verlesen und Unterzeichnen von Einvernahmeprotokollen zu verzichten, hat eine Verkürzung der Hauptverhandlungen zur Folge, und führt damit zu einer finanziellen Entlastung. Auch die vorgesehene Aufbewahrungspflicht für Aufzeichnungen ist angesichts der heutigen Technik mit keinen nennenswerten finanziellen Belastungen verbunden.

5

Verfassungsmässigkeit

Der Bund ist gestützt auf seine Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Zivilprozessrechts (Art. 122 Abs. 1 BV) und des Strafprozessrechts (Art. 123 Abs. 1 BV) zum Erlass entsprechender Regelungen zuständig.

5716