Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates zuhanden des Bundesrates vom 21. Oktober 2011

Sehr geehrte Frau Bundespräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Bundesräte Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) hat die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) beauftragt, eine Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen vorzunehmen. Dabei ging es namentlich um die Analyse der Lohnentwicklung seit Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes sowie die Beurteilung der Umsetzung und Steuerung der flankierenden Massnahmen.

Auf der Grundlage der Berichte der PVK hat die GPK-N ihre Schlussfolgerungen gezogen, welche sie im vorliegenden Bericht darlegt.

Genehmigen Sie, sehr geehrte Frau Bundespräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Bundesräte, den Ausdruck unserer vorzüglichen Hochachtung.

21. Oktober 2011

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Die Präsidentin: Maria Roth-Bernasconi Die Sekretärin: Beatrice Meli Andres

2011-2440

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Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung

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2 Feststellungen und Empfehlungen 2.1 Allgemeine Feststellungen 2.2 Steuerungsdefizite 2.3 Unterschiedliche Umsetzung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit 2.4 Ungenügende Kommunikation 2.5 Feststellungen rechtlicher Natur

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3 Kürzlich vom Bundesrat ergriffene Massnahmen

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4 Schlussfolgerungen

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5 Schlussbemerkungen

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Anhang: Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen.

Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle zuhanden der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates

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Bericht Vorbemerkung Der vorliegende Bericht basiert auf der Evaluation der PVK im Anhang. Die GPK-N versteht ihren Bericht als Ergänzung zur genannten Evaluation und beschränkt sich daher im Folgenden auf die Darlegung ihrer wichtigsten Schlussfolgerungen und Empfehlungen.

1

Einleitung

Die flankierenden Massnahmen wurden am 1. Juni 2004 eingeführt, um zu verhindern, dass sich die Löhne und Arbeitsbedingungen aufgrund des erleichterten Zugangs zum Schweizer Arbeitsmarkt im Rahmen des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der Europäischen Union verschlechtern. Sie haben unter anderem zum Ziel, ein «Lohn- und Sozialdumping» zu Lasten der Arbeitnehmenden in der Schweiz zu verhindern und die entsandten Arbeitnehmenden zu schützen, indem ihnen dieselben Arbeitsbedingungen garantiert werden wie in der Schweiz wohnhaften Arbeitnehmenden.

Seit der Einführung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit wurden in der Bevölkerung viele Fragen und Befürchtungen laut, die in den Medien und der Politik ihren Widerhall fanden. In diesem Zusammenhang beauftragte die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates im Juni 2010 die Parlamentarische Verwaltungskontrolle (PVK) mit einer Evaluation der Umsetzung und Wirksamkeit der flankierenden Massnahmen.

Es gilt zu beachten, dass die PVK nicht das Personenfreizügigkeitsabkommen als Ganzes unter die Lupe genommen hat, sondern nur die Lohnentwicklung seit der Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes analysiert und die flankierenden Massnahmen unter dem Gesichtspunkt ihrer Steuerung/Umsetzung, Wirkungen und Wirksamkeit evaluiert hat. Dabei wurde auch die bisher einzige Lohnstudie erstellt, die auf direkten, nicht aggregierten Mikrodaten beruht. So wurden für das Jahr 2008 beispielsweise die Daten von mehr als 1,6 Millionen Personen ausgewertet.

Die Berichte der PVK1 zeigen auf, wie komplex die Steuerung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit ist. Da diese auf mehreren Ebenen abläuft (Bund, Kantone, paritätische und tripartite Kommissionen), erweist sich die Steuerung als grosse Herausforderung, die mit vielen Schwierigkeiten behaftet ist.

Im vorliegenden Bericht werden die Schlussfolgerungen präsentiert, welche die GPK-N aus den Arbeiten der PVK zieht. Die Kommission hat am 21. Oktober 2011 diesen Bericht genehmigt und gemeinsam mit der Evaluation der PVK zur Publikation freigegeben.

1

Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen, Bericht der PVK (Deutsch und Französisch) vom 16.06.2011 und erläuternder Bericht der PVK (nur auf Französisch) vom 16.06.2011.

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Feststellungen und Empfehlungen

2.1

Allgemeine Feststellungen

Die Ergebnisse der PVK zeigen, dass die Öffnung des Arbeitsmarktes bereits ab 2004 einen Lohndruck2 zur Folge hatte. Dieser Lohndruck liess sich sowohl in konjunkturell guten Jahren (2006) als auch in wirtschaftlich schwierigen Jahren (2008) feststellen. Die Auswirkungen waren zunächst in den Grenzregionen zu beobachten und breiteten sich in der Folge landesweit aus. Als Erste bekamen ausländische Arbeitnehmende die Auswirkungen zu spüren. Doch mit der Zeit griff der Lohndruck auch auf Arbeitnehmende mit Schweizer Nationalität über. Am stärksten betroffen sind die Arbeitnehmenden mit niedrigem Bildungsniveau. Der Lohndruck tritt nicht nur in den klassischen Risikobranchen auf.

Obwohl Druck auf die Löhne vorhanden ist, lassen sich keine Aussagen darüber machen, ob es auch zu «wiederholten missbräuchlichen Lohnunterbietungen» kommt. Der Gesetzgeber hat diesen Begriff nicht näher definiert und aufgrund der unterschiedlichen Praktiken ist es schwierig, hier klare Feststellungen zu machen.

Ausserdem gibt es keine Daten, die einen Vergleich zwischen der aktuellen Situation und einer identischen Situation ohne flankierende Massnahmen erlauben würden. Folglich lässt sich der Einfluss der flankierenden Massnahmen auf Lohnunterbietungen nicht messen.

2.2

Steuerungsdefizite

Obwohl die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit bereits seit 1. Juni 2004 in Kraft sind, gab es weder von Seiten des Bundesrates noch von Seiten des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD) vor 2010 eine Steuerungsstrategie. Die GPK-N zeigt sich beunruhigt über diese Inaktivität in einem politisch und wirtschaftlich derart sensiblen Bereich.

Aufgrund der Besorgnis und der Anstrengungen der Direktion für Arbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) wurde im Jahr 2010 eine gute und umfassende Strategie erarbeitet. Gemäss PVK wird das System der flankierenden Massnahmen jedoch frühestens ab 2012 über die nötigen Aufsichtsinstrumente verfügen.

Sowohl bezüglich Umsetzungskonzept als auch bezüglich Personaldotation haben der Bundesrat bzw. das SECO das sensible Thema der flankierenden Massnahmen offensichtlich lange vernachlässigt. Der Gesetzgeber wollte jenen, die für die Umsetzung der Massnahmen verantwortlich sind, eine gewisse Autonomie geben und beauftragte gleichzeitig den Bundesrat mit der Kontrolle der Umsetzung. Dieser hat seinen Handlungsspielraum jedoch nicht ausgenützt, weder um zusammen mit den verschiedenen Umsetzungsakteuren Richtlinien und Methoden zur Feststellung von Lohnunterbietungen festzulegen noch um die Kontrollen gezielter anzuwenden.

Die politische Steuerung der flankierenden Massnahmen erfolgt ohne zuverlässige Erkenntnisse über deren Wirksamkeit. Ihre Entwicklung hing und hängt weiterhin von politischen Überlegungen ab, müsste aber eigentlich ­ genau wie die Zielfest2

Gemäss Aussagen von Praktikern gegenüber der PVK sollen Löhne entsandter Arbeitnehmender in gewissen Fällen nur einen Drittel der Löhne der Schweizer Arbeitnehmenden betragen haben.

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legung auch ­ auf objektiven Indikatoren und auf verlässlichen Datengrundlagen bezüglich ihrer tatsächlichen Wirksamkeit beruhen.

So konzentrieren sich beispielsweise rund die Hälfte aller jährlichen Kontrollen und drei Viertel der Kosten in Zusammenhang mit den flankierenden Massnahmen auf die entsandten Arbeitnehmenden, obwohl diese weniger als 0,15 Prozent des Beschäftigungsvolumens in der Schweiz (rund 4900 Vollzeitäquivalente) ausmachen3.

Mehr als die Hälfte der Kontrollen erfolgen in Branchen mit einem allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag (GAV), obwohl diese Branchen nur etwa 13 Prozent4 der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachen und bereits am besten gegen Lohnunterbietung geschützt sind.

Im Weiteren zeigen sich die Wirkungen der Personenfreizügigkeit einerseits in anderen Personenkategorien (unter anderem Grenzgänger, Inhaber von Aufenthaltsbewilligungen) und andererseits auch in anderen Branchen, als jenen, welche als sensibel bezeichnet werden.

Diese Feststellungen weisen auf ein Steuerungsdefizit und eine unvollständige Anwendung der flankierenden Massnahmen hin, was zu grossen Problemen im Bereich der strategischen Steuerung führt. Um effizient zu sein, müssen die Kontrollen in Zukunft vermehrt den übergeordneten Zielsetzungen der flankierenden Massnahmen gerecht und zielgerichtet durchgeführt werden.

Der Bericht der PVK zeigt ausserdem, dass der Lohndruck bei neu eingestellten Arbeitnehmenden höher ist. In den Augen der GPK-N sollte der Bundesrat bzw. das SECO in diesem Bereich besonders wachsam sein.

Aufgrund des grossen Handlungsspielraums und des Steuerungsdefizits ist die Situation immer komplexer geworden und es gibt grosse Unterschiede bei den Praktiken bzw. der Anwendung der flankierenden Massnahmen, was zu einer Heterogenität der Prozesse führt. Die Steuerung gewährleistet gegenwärtig nicht, dass die flankierenden Massnahmen korrekt umgesetzt werden.

Im Weiteren haben sich die Informationsgrundlagen des SECO als dürftig und wenig aussagekräftig erwiesen. Gemäss PVK sind die von den Vollzugsorganen gelieferten Daten unvollständig, von mittelmässiger Qualität, nur schwer miteinander vergleichbar und können deshalb die reale Situation nicht zuverlässig wiedergeben5. Dies führt zu unangemessenen Schlussfolgerungen, die einer effizienten Steuerung hinderlich sind.

3 4 5

Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen, Bericht der PVK, S. 23­24.

Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen, Bericht der PVK, S. 11­24.

So werden beispielsweise Verstösse, bei denen eine Lösung oder Einigung gefunden wurde, von vielen paritätischen Kommissionen nicht mehr als Verstösse angesehen, d.h.

die zuständige Behörde erhält keine Informationen zu solchen Fällen. Hinsichtlich der Steuerung führen diese fehlenden Verstossmeldungen zu einem verzerrten Abbild der effektiven Situation.

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Empfehlung 1

Strategische und operative Steuerung

Die GPK-N lädt den Bundesrat ein, sich für die rasche Umsetzung einer klaren Steuerungsstrategie einzusetzen, die auf objektiven, den gesamten Schweizer Arbeitsmarkt berücksichtigenden Indikatoren beruht. Dabei ist sowohl sämtlichen Feststellungen der PVK als auch allen Empfehlungen der GPK-N Rechnung zu tragen. Insbesondere ist der Problematik der neu eingestellten Arbeitnehmenden besondere Beachtung zu schenken.

2.3

Unterschiedliche Umsetzung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit

Die Umsetzung durch die Kantone und die paritätischen Kommissionen ist zu unterschiedlich, in erster Linie wegen des Steuerungsdefizits, aber auch wegen der fehlenden Definition des Begriffs der Lohnunterbietung. Es gibt nicht nur grosse Unterschiede punkto Häufigkeit und Durchführungsart der Kontrollen, sondern besonders auch bezüglich der Folgemassnahmen. Dies wirft unweigerlich die Frage nach der Unparteilichkeit und der Gleichbehandlung auf.

Gestützt auf die Ergebnisse der PVK möchte die GPK-N hier folgende Beispiele nennen:

6 7 8 9

­

Bei der Kontrolle der vorgängigen Meldungen gibt es von Kanton zu Kanton extreme Unterschiede: Die Verstossquote variiert je nach Kanton zwischen 0 und 100 Prozent.6

­

In den Bereichen, die nicht einem allgemeinverbindlich erklärten GAV unterstehen (ca. 85 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung), wurden mehr als drei Viertel aller Verstösse in nur gerade fünf Kantonen festgestellt. In elf Kantonen wurden gar keine Verstösse festgestellt, obwohl es sich dabei teilweise um wirtschaftlich sehr wichtige Kantone handelt.7

­

Die Definition der Lohnunterbietung und die entsprechenden Feststellungsmethoden sind je nach Kanton sehr unterschiedlich: Einige Kantone betrachten dazu den Unterschied des betreffenden Lohns zum üblichen Lohn in Zahlen (> Fr. 500.­) oder Prozenten (Unterschied von 0 %, 5 %, 10 % oder 20 %), während andere Kantone davon ausgehen, dass nur die am schlechtesten bezahlten 25 Prozent einer Branche von einem Missbrauch betroffen sind, oder bei der Definition fallweise vorgehen.8

­

Der Zielerreichungsgrad bei der Anzahl Kontrollen im Bereich der entsandten Arbeitnehmenden schwankt je nach paritätischer Kommission zwischen 9 und 288 Prozent.9

Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen, Bericht der PVK, S. 19.

Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen, Bericht der PVK, S. 19­20.

Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen, Bericht der PVK, S. 20.

Ibidem

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­

Einige tripartite Kommissionen sind wegen ungenügend ausgearbeiteter Methoden oder nicht definierter Kriterien nicht in der Lage, wiederholte missbräuchliche Lohnunterbietungen festzustellen. Ausserdem stellen bestimmte tripartite Kommissionen bewusst keine Vergleiche mit den üblichen Löhnen an.10

Im Rahmen der vom Gesetzgeber gewollten Autonomie hätte der Bundesrat in Zusammenarbeit mit den Umsetzungsakteuren der flankierenden Massnahmen Weisungen oder Richtlinien erlassen können. Dies hätte ein kohärenteres und homogeneres Vorgehen der Kantone und paritätischen Kommissionen erlaubt.

Wenn der Bundesrat nicht selbst Kriterien für die Präzisierung der Lohnunterbietung formuliert, wäre es aus Sicht der GPK-N zweckmässig gewesen, dies gemeinsam mit den Kantonen zu tun. Idealerweise hätte der Bundesrat diesbezüglich den Dialog mit den Kantonen suchen sollen. Er hätte ihnen so von Anfang an seinen Unterstützungswillen gezeigt und dadurch einen Mittelweg zwischen einer starren Definition der Lohnunterbietung (vom Gesetzgeber nicht gewünscht) und keiner abgesprochenen gemeinsamen Präzisierung derselben (aktueller Zustand) beschreiten können.

Empfehlung 2

Harmonisierung der Prozesse

Die GPK-N lädt den Bundesrat ein, die verschiedenen Umsetzungsakteure der flankierenden Massnahmen zu unterstützen, den Dialog mit ihnen zu suchen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, um eine Richtlinie, eine Feststellungsmethode bzw. Kriterien zwecks Präzisierung der wiederholten missbräuchlichen Lohnunterbietung festzulegen. Die GPK-N ist überzeugt, dass man auf diese Weise die Unterschiede in der Anwendung der flankierenden Massnahmen verringern kann und so der Absicht des Gesetzgebers besser Rechnung trägt.

2.4

Ungenügende Kommunikation

Wie unter Ziffer 2.2 ausgeführt, sind die Informationsgrundlagen, auf die sich der Bundesrat bzw. das SECO bei ihrer Kommunikation zu den flankierenden Massnahmen stützen, von ungenügender Qualität. Anhand der verfügbaren Daten lässt sich weder eruieren, ob die flankierenden Massnahmen korrekt angewendet werden und effizient sind, noch feststellen, ob es zu Lohnunterbietungen kommt. Diese Daten führen zu ungenauen Schlussfolgerungen des Bundesrates und des SECO und damit zu einer unangemessenen Kommunikation. Die Feststellungen des Bundesrates und des SECO müssen deshalb in Frage gestellt werden.

Einige Beispiele: ­

10 11

Im Jahr 2007 kam der Bundesrat zum Schluss, dass der freie Personenverkehr bisher zu keinem Lohndruck geführt hat und dass die flankierenden Massnahmen wirksam sind.11

Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen, Bericht der PVK, S. 21­22.

Bundesrat, Herausforderungen 2007­2011, S. 57.

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­

Ebenfalls im Jahr 2007 teilte das SECO mit, dass die durch die Personenfreizügigkeit bedingte Zuwanderung ohne negative Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit und Lohnentwicklung erfolgt ist.12

­

Im Jahr 2009 kam das SECO zum Schluss, dass die flankierenden Massnahmen wirksam sind.13

­

Ebenfalls im Jahr 2009 schrieb das SECO, dass eine negative Entwicklung bei tiefen Löhnen durch die flankierenden Massnahmen weitgehend verhindert werden konnte.14

­

Im Jahr 2010 bekräftigte der Bundesrat, dass die jährlichen Berichte des SECO über die Umsetzung der flankierenden Massnahmen und die Observatoriumsberichte über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit aufzeigen würden, ob die Massnahmen greifen und die Löhne in der Schweiz eingehalten werden.15

Es gibt auch Beispiele aus jüngster Zeit wie die Medienmitteilung des SECO vom 3. Mai 201116, in welcher auf der Grundlage der neuesten verfügbaren Daten (2010) wiederum ausgeführt wird, dass die flankierenden Massnahmen wirksam seien, weil mehr Lohnunterbietungen und Verstösse festgestellt worden seien. Die PVK hat aufgezeigt, dass diese Resultate nicht verlässlich sind. Die Zunahme, auf welche das SECO hinweist, ist in Wirklichkeit allgemeiner Natur und lässt sich durch eine Zunahme der Kontrollen in nur gerade zwei spezifischen Branchen erklären.17 Ausserdem gibt es bei den Datenmeldungen weiterhin sehr grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen und paritätischen Kommissionen.18 Es kann kein objektiver Zusammenhang zwischen der genannten Zunahme und der Wirksamkeit der flankierenden Massnahmen hergestellt werden. Die GPK-N weist darauf hin, dass es sich bei dieser Kommunikation um eine ungenaue Beurteilung der realen Situation handelt, die nicht den gesamten Schweizer Arbeitsmarkt berücksichtigt.

In einem wirtschaftlich und politisch so wichtigen Bereich müssen sich Bundesrat und SECO vergewissern, dass die ihnen zur Verfügung stehenden Daten verlässlich sind, bevor sie sich dazu äussern. Eine umfassende und zuverlässige Datenbasis ist die Grundvoraussetzung für eine gute Steuerung und realitätsnahe Kommunikation.

12 13 14 15 16 17 18

SECO, Medienmitteilung «Personenfreizügigkeit: Positive Auswirkungen auf Arbeitsmarkt», 31.05.2007.

SECO, Medienmitteilung «Flankierende Massnahmen: Mehr Kontrollen, Löhne mehrheitlich eingehalten», 23.04.2009.

SECO, Medienmitteilung «Mehr Zuwanderung und Wachstum dank Personenfreizügigkeit», 02.07.2009.

Bundesrat, Antwort auf die Interpellation 09.4086 von Hans Grunder mit dem Titel «Personenfreizügigkeit. Verschärfung der flankierenden Massnahmen», 24.02.2010.

SECO, Medienmitteilung «Flankierende Massnahmen: Kontrollumfang weiter ausgebaut», 03.05.2011.

Schreinergewerbe und Schlosser-/Metallgewerbe.

Die Daten des Jahres 2010 zeigen gemäss Zusatzanalyse der PVK (nicht veröffentlichter Zusatzbericht) unter anderem Folgendes: 60 % der Verstossmeldungen stammen von zwei paritätischen Kommissionen, 81 % der Verstossmeldungen stammen von vier paritätischen Kommissionen, 55 % der Verstossmeldungen stammen von zwei Kantonen und 76 % der Verstossmeldungen stammen von fünf Kantonen.

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Empfehlung 3

Kommunikation auf verlässlicher Datenbasis

Die GPK-N lädt den Bundesrat und das SECO ein, sich bei ihrer Kommunikation und ihren Schlussfolgerungen auf aussagekräftige, vollständige, verlässliche und objektive Daten zu stützen, um mehr Transparenz zu schaffen.

2.5

Feststellungen rechtlicher Natur

Die PVK weist in ihrer Evaluation auf rechtliche Lücken hin, welche die Wirksamkeit der flankierenden Massnahmen behindern. Gewisse rechtliche Unsicherheiten können sich auch auf die Steuerung der flankierenden Massnahmen auswirken.

Die GPK-N weist insbesondere auf Folgendes hin: ­

Normalarbeitsverträge mit zwingenden Mindestlöhnen sind kein wirksames Mittel, weil Schweizer Arbeitgeber, die dagegen verstossen, nicht strafbar sind. Ausserdem wurde von diesem Instrument nur gerade einmal auf Bundes- und fünfmal auf Kantonsebene (3 Kantone) Gebrauch gemacht. Der Bundesrat sollte prüfen, ob es zweckmässig wäre, eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, um sämtliche fehlbaren Arbeitgeber zu sanktionieren und diese zu zwingen, den geschädigten Arbeitnehmenden den Lohnunterschied zurückzuerstatten.

­

Bei Subunternehmerketten gestaltet sich die Missbrauchsahndung schwierig.

Diese Ketten müssten als untrennbare Einheiten angesehen werden, um so das Verantwortungsgefühl gewisser Arbeitgeber (Bauherren, Auftraggeber) zu steigern und diese gegebenenfalls sanktionieren zu können.

Hätte sich der Bundesrat von Beginn der Umsetzung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit an stärker eingebracht und eine aktive Steuerungsrolle übernommen, hätten diese Lücken zu einem früheren Zeitpunkt festgestellt und rasch gesetzliche Änderungen vorgeschlagen werden können.

Postulat 1

Prüfung einer gesetzlichen Lösung

Die GPK-N lädt den Bundesrat ein, den gesetzlichen Handlungsbedarf im Bereich der Normalarbeitsverträge sowie betreffend die Problematik der Subunternehmerketten vertieft abzuklären.

3

Kürzlich vom Bundesrat ergriffene Massnahmen

Angesichts der Medienmitteilungen des Bundesrates und des EVD im Juli 201119, 20 stellt die GPK-N fest, dass sich diese bereits mit einigen Aspekten, welche in der 19 20

Bundesrat, Medienmitteilung «Gesetzliche Lücken im Vollzug der flankierenden Massnahmen schliessen», 06.07.2011.

EVD, Medienmitteilung «Runder Tisch von Bundesrat Schneider-Ammann zu den flankierenden Massnahmen», 05.07.2011.

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Evaluation der PVK behandelt werden, auseinandergesetzt haben und Schritte in die richtige Richtung eingeleitet worden sind.

Dennoch bedauert die GPK-N, dass der Bundesrat und das EVD immer noch öffentlich kommunizieren, die flankierenden Massnahmen seien ein wirksames Instrument, um die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu überprüfen, obwohl die verwendeten Daten und die momentane Umsetzung eine solche Feststellung nicht untermauern können.

Am 6. Juli 2011 beauftragte der Bundesrat das EVD, Massnahmen zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit zu ergreifen. Die GPK-N streitet nicht ab, dass die Scheinselbständigkeit ein wichtiges Thema ist, erinnert aber daran, dass die meldepflichtige selbständige Erwerbstätigkeit nur einen sehr kleinen Teil21 des gesamten Beschäftigungsvolumens in der Schweiz ausmacht und dass das SECO per 1. Januar 2011 eine Weisung herausgegeben hat, die den Vollzugsorganen die Feststellung von Scheinselbständigkeit erleichtert.

Gemäss Medienmitteilung vom 23. September 201122 hat der Bundesrat eine Gesetzesänderung in die Vernehmlassung gegeben, die beabsichtigt, die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit anzupassen. Die GPK-N stellt fest, dass einzelne von ihr beanstandete Probleme teilweise im Vernehmlassungsentwurf berücksichtigt worden sind. Sie bleibt jedoch überzeugt, dass ihr Bericht und die Evaluation der PVK dem Bundesrat zusätzliche konkrete Anhaltspunkte geben, so dass dieser seine Analysen und künftigen Arbeiten optimieren kann.

4

Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse der PVK, welche auf Daten bis 2009 beruhen, behalten auch angesichts des neuen Berichts des SECO vom Mai 201123, der sich auf Daten des Jahres 2010 stützt, ihre Gültigkeit.24 Es gab keine grundlegenden Veränderungen bei den Daten und beim System der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit.

Es waren nur fall- oder kantonsweise kleinere Verschiebungen zu beobachten. Die grossen Unterschiede zwischen den einzelnen Kommissionen und Kantonen bleiben bestehen.

Im Jahr 2011 hat der Bundesrat gestützt auf eine vom SECO vorgenommene Evaluation der Wirkungen der flankierenden Massnahmen gewisse Veränderungen in die Wege geleitet.

Angesichts der Evaluation der PVK und der momentan verfügbaren Daten ist es jedoch weiterhin nicht möglich, verlässliche Aussagen zur Wirksamkeit der flankierenden Massnahmen zu machen.

21 22 23 24

~0,05 % des gesamten Beschäftigungsvolumens in der Schweiz, d.h. 1900 Vollzeitäquivalente. Die Scheinselbständigkeit betrifft nur einen Bruchteil davon.

Bundesrat, Medienmitteilung «Personenfreizügigkeit: Vernehmlassung zur Anpassung der flankierenden Massnahmen», 23.09.2011 SECO, FlaM-Bericht, Umsetzung der flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr Schweiz ­ Europäische Union (1. Januar­31. Dezember 2010, 03.05.2011.

Ergänzende Analyse auf der Grundlage der per Mai 2011 aktualisierten Daten des SECO.

Arbeitsdokument der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle zuhanden der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 29. Juni 2011 (nicht veröffentlichter Bericht).

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Da es keine Referenzkriterien gibt, kann nicht gesagt werden, ob es zu Lohnunterbietungen kommt. Es kann jedoch gesagt werden, dass: ­

ein Lohndruck offensichtlich vorhanden ist;

­

die flankierenden Massnahmen unvollständig und uneinheitlich umgesetzt werden;

­

die Steuerung verspätet, komplex und zu wenig zielgerichtet ist;

­

die Datengrundlage der Kommunikation ungenügend ist.

Der Vollzugsföderalismus und der Einbezug der paritätischen Kommissionen stellen den Bundesrat vor Herausforderungen. Eine gewisse kantonale Autonomie ­ sowohl bei der Umsetzung als auch bei der Präzisierung der Lohnunterbietung ­ ist vom Gesetzgeber durchaus gewollt. Es wäre aber wünschenswert gewesen, wenn der Bundesrat nicht erst nach mehreren Jahren auf der Steuerungsebene aktiv geworden wäre, um eine gewisse Einheitlichkeit beim Vollzug und Kohärenz bei der Anwendung der flankierenden Massnahmen zu gewährleisten. Die momentane Situation entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers und wird den von ihm festgelegten Zielen nicht gerecht.

Die GPK-N zeigt sich erstaunt angesichts der Tatsache, dass während sieben Jahren keine Steuerung durch den Bundesrat stattfand und stellt die Angemessenheit der personellen Ressourcen beim SECO in diesem äusserst wichtigen Bereich in Frage.

Der Bundesrat muss in Zukunft dafür besorgt sein, dass stets ausreichende personelle Ressourcen in diesem Bereich vorhanden sind.

5

Schlussbemerkungen

Die GPK-N ersucht den Bundesrat, zu ihren Feststellungen und Empfehlungen sowie zu den Evaluationen der PVK bis Ende Januar 2012 Stellung zu nehmen. Sie bittet ihn, in seiner Stellungnahme klar aufzuzeigen, wie und bis wann er die Empfehlungen der Kommission umzusetzen gedenkt.

21. Oktober 2011

Im Namen der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates Die Präsidentin: Maria Roth-Bernasconi Die Sekretärin: Beatrice Meli Andres Die Präsidentin der Subkommission EFD/EVD: Brigitta M. Gadient Der Sekretär der Subkommission EFD/EVD: Vanya Karati

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