07.419 Parlamentarische Initiative Verfassungsbasis für eine umfassende Familienpolitik Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 10. November 2011

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zum Bundesbeschluss über die Familienpolitik. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

10. November 2011

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Thérèse Meyer-Kaelin

2011-2723

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Übersicht Die Zusammensetzung der Familien und ihre interne Organisation haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt und ihre Stabilität hat abgenommen.

Daraus ergeben sich für die Familienpolitik drei zentrale Herausforderungen: Der Ausgleich der finanziellen Belastung, die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit sowie die Stärkung des Familienlebens.

Um diesen Herausforderungen zukünftig besser gerecht zu werden, verlangt die von Nationalrat Norbert Hochreutener eingereichte Initiative eine umfassende Bundeskompetenz im Bereich der Familienpolitik.

Der Bund verfügt bereits heute über ein breit gefächertes Instrumentarium, um die kinderbedingten Mehrkosten teilweise auszugleichen. Zu nennen sind etwa Familienbesteuerung, Familienzulagen, Mutterschaftsversicherung oder auch spezifische Massnahmen für die Familien in den Sozialversicherungen wie bspw. Prämienverbilligungen oder Kinderrenten. Auch im Bereich der Stärkung des Familienlebens hat der Bund die Möglichkeit, die Kantone und Gemeinden in ihren Bemühungen zu unterstützen (Schwangerschaftsberatungsstellen, Kindes- und Jugendschutz, Jugendförderung usw.).

Hingegen hat die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit als zentrales Element einer zeitgemässen Familienpolitik bisher keinen Niederschlag in der Verfassung gefunden. Diese Lücke soll mit einem neuen Verfassungsartikel geschlossen werden, welcher die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit als Staatsaufgabe in die Verfassung aufnimmt.

Die Kommission erachtet als vordringlichste Massnahme zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen. Deshalb soll der Ausbau eines bedarfsgerechten Angebots als konkretes Ziel in die Verfassung aufgenommen werden. An der bestehenden Kompetenzordnung wird hingegen nichts geändert, zuständig bleiben Kantone und Gemeinden, der Bund wird nur dann aktiv, wenn diese ihre Aufgaben ungenügend wahrnehmen.

676

Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Die parlamentarische Initiative Hochreutener vom 23. März 2007

Die von Nationalrat Norbert Hochreutener (CVP, BE) am 23. März 2007 eingereichte parlamentarische Initiative verlangt die Ergänzung der Bundesverfassung (BV)1 durch einen Artikel über die umfassende Förderung der Familie. In der Form eines ausgearbeiteten Entwurfes formuliert die Initiative einen Vorschlag für einen entsprechenden Verfassungsartikel: «Art. 116a

Förderung der Familie

Abs. 1 Bund und Kantone fördern im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Eltern mit Kindern und streben den Ausgleich ihrer wirtschaftlichen Mehrbelastung gegenüber Alleinstehenden und Ehepaaren ohne Kinder an. Der Bund kann entsprechende Anstrengungen der Kantone unterstützen. Er berücksichtigt insbesondere steuerliche Massnahmen der Kantone zugunsten von Eltern mit Kindern beim Finanzausgleich.

Abs. 2 Insbesondere entlastet der Bund bei Steuern und Sozialversicherungen ohne Kapitaldeckungsverfahren Eltern mit Kindern, ohne die entsprechenden Leistungen zu kürzen.

Abs. 3 Bund und Kantone fördern die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit. Der Bund kann zu diesem Zweck, wenn die Bestrebungen der Kantone und Dritter nicht ausreichen, auf dem Gesetzesweg Minimalanforderungen festlegen, sofern er sich finanziell an den Leistungen der Kantone beteiligt.

Abs. 4 Der Bund fördert die Bildung und Integration von Kindern und Jugendlichen. Er kann entsprechende Bestrebungen durch Beiträge unterstützen.» In seiner Begründung weist der Initiant darauf hin, dass die Familienförderung und die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu einem immer wichtigeren politischen Thema werden. Die Verfassungsbasis für eine Familienpolitik in Artikel 116 der Bundesverfassung sei jedoch äusserst schmal, so dass sich eine Ergänzung der Verfassung aufdränge. Der Inhalt des neuen Verfassungsartikels könne materiell noch genauer geklärt werden. Er solle aber insbesondere die Förderung der Familie als gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen definieren und vorsehen, dass Eltern mit Kindern sowohl durch die Zuweisung zusätzlicher Ressourcen bzw.

Entlastung bei Abgaben gestärkt als auch durch Betreuungsangebote entlastet wer-

1

SR 101

677

den. Die konkrete Ausgestaltung der Familienpolitik solle weitgehend der Gesetzgebung überlassen werden.

1.2

Vorgeschichte: Arbeiten der WBK-NR

Bereits im Herbst 2005 hatten fünf Nationalrätinnen aus fünf verschiedenen Fraktionen je eine parlamentarische Initiative eingereicht2, welche im Zeichen einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit standen. Die Initiativen zielten alle darauf ab, Artikel 62 BV um einen Absatz 3 zu ergänzen und in der Verfassung festzuschreiben, dass die Kantone für ein flächendeckendes und bedarfsgerechtes Angebot im Bereich der Tagesstrukturen sorgen, wobei der Bund sie bei dieser Aufgabe unterstützen könne.

Beide Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) gaben den Initiativen im Februar bzw. Juni 2006 mit grossem Mehr Folge. Im Laufe der weiteren Arbeiten der WBK-NR und ihrer Subkommission «Tagesstrukturen», welche mit der Ausarbeitung einer Vorlage betraut wurde, zeigte sich, dass tatsächlich eine Verfassungsänderung nötig sei, wenn die Kantone zu einem Tätigwerden im Sinne der fünf parlamentarischen Initiativen verpflichtet werden sollen. Für die Formulierung konkreter neuer Verfassungsbestimmungen zog die Subkommission der WBKNR Prof. Bernhard Ehrenzeller als Experten bei. Er kam in seinem Gutachten zusammenfassend zum Schluss, dass eine Umsetzung des Anliegens der Initiativen in Artikel 62 BV ­ dem Bildungsartikel ­ systematisch fragwürdig sei und sich eine Ergänzung von Artikel 116 BV ­ dem Familienartikel ­ besser eigne. Nicht zuletzt aus diesem Grund beantragte die Subkommission der WBK-NR, die Arbeit an den Initiativen einzustellen und sie abzuschreiben. Sie wies zudem darauf hin, dass sich die Ausgangslage seit dem Einreichen der Initiativen verändert hatte und das von den Kantonen verabschiedete HarmoS-Konkordat im Bereich der Tagesstrukturen die Anliegen der Initiantinnen zu einem grossen Teil abdeckt.

Die WBK-NR schloss sich der Argumentation der Subkommission an. Der Bedarf nach einem Ausbau des Tagesstrukturangebotes für Kinder im Frühbereich und im Vorschulalter blieb jedoch für eine grosse Mehrheit der Kommission unbestritten.

Um die Rahmenbedingungen in der familienergänzenden Betreuung im Frühbereich zu verbessern, bat die WBK-NR die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK, die Schaffung einer interkantonalen Vereinbarung für den Vorschulbereich zu prüfen.3 Gleichzeitig mit der Abschreibung der Initiativen beantragte sie dem
Nationalrat zudem eine Motion zur Verlängerung der Anstossfinanzierung für familienergänzende Kinderbetreuung (Mo. 08.3449).

Am 19. März 2009 schrieb der Nationalrat die fünf parlamentarischen Initiativen ab und stimmte der Motion der WBK-NR zur Verlängerung der Anstossfinanzierung für familienergänzende Kinderbetreuung zu.

2

3

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05.429 Pa.Iv. Egerszegi-Obrist. Familien- und schulergänzende Kinderbetreuung; 05.430 Pa.Iv. Genner. Bessere Chancen für Kinder und Familien; 05.431 Pa.Iv. Fehr Jacqueline. Bessere Bildungschancen für Kinder und Jugendliche; 05.432 Pa.Iv. Riklin Kathy. Einführung von Tagesschulen und 05.440 Pa.Iv. Haller. Familien- und schulergänzende Kinderbetreuung.

Bericht der Kommission Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrates vom 21. August 2008, BBl 2008 8639.

1.3

Arbeiten der Kommission

Am 23. August 2007 gab die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR) der parlamentarischen Initiative von Norbert Hochreutener mit 13 zu 11 Stimmen bei 0 Enthaltungen Folge. Die ständerätliche Schwesterkommission stimmte diesem Beschluss am 19. Februar 2008 mit 6 zu 4 Stimmen bei 0 Enthaltungen zu.

Die SGK-NR beauftragte daraufhin am 24. April 2008 ihre Subkommission «Familienpolitik»4 mit der Erarbeitung einer Vorlage. Die Subkommission zog für ihre weiteren Arbeiten in Anwendung von Artikel 112 des Parlamentsgesetzes5 Sachverständige des Bundesamtes für Sozialversicherungen BSV und ­ für Fragen im Zusammenhang mit der Verfassungsmässigkeit ­ des Bundesamtes für Justiz BJ bei.

Nach einer ersten Auseinandersetzung mit den Umsetzungsmöglichkeiten der Initiative am 17. Juni 2008 hörte die Subkommission am 19. November 2008 Vertreterinnen und Vertreter der Kantone und von Stiftungen, die im Bereich der Familienpolitik tätig sind, an.

An zwei weiteren Sitzungen setzte die Subkommission ihre Arbeiten fort und zog dabei auch die bereits von der WBK-NR geleisteten Vorarbeiten mit ein. Schliesslich unterbreitete sie der SGK-NR am 9. Oktober 2009 einen ersten Vorschlag für einen neuen Verfassungsartikel zur Familienpolitik. Er beschränkte sich im Wesentlichen auf die Förderung von Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit durch Bund und Kantone und die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen. Als dritten Punkt stellte die Subkommission eine Bundeskompetenz zur Harmonisierung der Alimentenbevorschussung und des Alimenteninkassos (Alimentenhilfe) durch die Kantone zur Diskussion. Die SGK-NR stimmte der Stossrichtung der Arbeiten der Subkommission zu und beauftragte sie, einen Bericht- und Erlassentwurf auszuarbeiten, der alle drei Punkte berücksichtigt. Anlässlich der Diskussion eines ersten Berichtsentwurfs kam die Subkommission zum Schluss, dass der neue Verfassungsartikel durch die Aufnahme einer Bundeskompetenz betreffend die Harmonisierung der Alimentenhilfe zu reich befrachtet wäre. Sie beantragte deshalb der SKG-NR, von der Aufnahme eines entsprechenden Absatzes abzusehen.

Am 13. Oktober 2010 stimmte die SGK-NR dem Vorentwurf und dem erläuternden Bericht mit 17 zu 7 Stimmen zu und beschloss, ihn bei den
Kantonen, den politischen Parteien und den interessierten Kreisen in eine Vernehmlassung zu geben. Am 2. September 2011 nahm die Kommission die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis. Am 12. Oktober 2011 prüfte die Subkommission «Familienpolitik» den Vorentwurf im Lichte der Ergebnisse der Vernehmlassung (siehe Ziff. 1.4) und des Berichts «Harmonisierung Alimentenbevorschussung und Alimenteninkasso», den der Bundesrat am 4. Mai 2011 vorgelegt hatte (siehe Ziff. 2.3.3). Die SGK-NR stimmte vorliegendem Bericht- und Erlassentwurf an ihrer Sitzung vom 10. November 2011 mit 11 zu 9 Stimmen bei 4 Enthaltungen zu.

4

5

Aktuelle Zusammensetzung: Rossini, Cassis (ersetzt Meyer Thérèse), Estermann (ersetzt Maurer), Fehr Jacqueline, Gilli (ersetzt Leuenberger-Genève), Kleiner, Scherer, Stahl, Weibel.

Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundesversammlung (ParlG; SR 171.10).

679

1.4

Ergebnisse der Vernehmlassung

Die Vernehmlassung dauerte vom 22. November 2010 bis zum 4. März 2011. Von den 67 Adressaten der Vernehmlassung nahmen 57 teil; zudem gingen 23 weitere Stellungnahmen ein.

Mehr als drei Viertel der Vernehmlassungsteilnehmenden begrüsst die Einführung eines Verfassungsartikels zur Familienpolitik. Dazu gehören 21 Kantone, 7 in der Bundesversammlung vertretene Parteien (BDP, CVP, FDP, SP, CSP, EVP, die Grünen), 2 Dachverbände der Gemeinden und Städte (Schweiz. Gemeindeverband, SSV), 4 gesamtschweizerische Dachverbände der Wirtschaft (SBV, SGB, KV Schweiz, Travail.Suisse), 13 weitere Organisationen (EKFF, EKKJ, EKM, EKF, Pro Familia, Pro Juventute, KiTaS, SVT, ARDIPE, AROC, Netzwerk Kinderbetreuung, alliance F, männer.ch) sowie 15 nicht offizielle Vernehmlassungsteilnehmende.

Gegen einen neuen Verfassungsartikel zur Familienpolitik sprachen sich 5 Kantone aus (SZ, OW, NW, AI, TG) sowie 2 Parteien (SVP, EDU), 3 gesamtschweizerische Dachverbände der Wirtschaft (economiesuisse, SGV, SAV) und 7 nicht offiziell angeschriebene Teilnehmende.

Von den offiziellen Vernehmlassungsteilnehmenden, welche der Einführung einer Verfassungsbestimmung zur Familienpolitik zustimmen, hiessen 16 den Artikel in der vorgeschlagenen Formulierung gut. 15 Teilnehmende verlangen eine weiterreichende Verfassungsbestimmung. 9 Vernehmlassende fordern, dass der Bund sich auf obligatorischer Basis finanziell an den von den Kantonen durchgeführten Massnahmen beteiligt. 9 Teilnehmende befürworten hingegen eine weniger weit gefasste Verfassungsbestimmung.

Die Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden begrüsst die Übernahme von Absatz 1 des geltenden Artikel 116 BV oder äussert sich nicht dazu. Es gibt Änderungsanträge für eine Ausdehnung auf Familien in allen Lebensphasen und für eine Erweiterung der Bundeskompetenz.

Die Mehrheit stimmt auch Absatz 2 in der vorgeschlagenen Formulierung zu. Sie erachtet die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit als ein zentrales Element einer zeitgemässen Familienpolitik. Auch hier werden Änderungsanträge gestellt, so soll zum Beispiel auch die Ausbildung unter Erwerbstätigkeit subsumiert werden. Ein weiterer Antrag fordert eine Ergänzung, die festhält, dass Bund und Kantone nicht nur für ein bedarfsgerechtes Angebot an Betreuungsstrukturen für Kinder und Jugendliche zu sorgen
haben, sondern auch für pflegebedürftige Angehörige. Ausserdem wird von einigen Vernehmlassungsteilnehmenden verlangt, dass (mittelfristig) Massnahmen wie der Elternurlaub bzw. die Elternzeit, der Vaterschaftsurlaub, koordinierte Blockzeiten, flexible Arbeitszeitmodelle sowie das Elterngeld umgesetzt werden. Einige Vernehmlassende lehnen Absatz 2 als Ganzes ab. Sie bringen hauptsächlich vor, die Bundeskompetenz sei nicht notwendig und aus föderalistischer Sicht abzulehnen.

Auch Absatz 3 wird von einer Mehrheit unterstützt. Änderungsanträge zu Absatz 3 verlangen insbesondere eine weitergehende Kompetenz des Bundes bei der Festlegung von Grundsätzen oder eine finanzielle Beteiligung des Bundes, wenn dieser den Kantonen verbindliche Vorgaben macht. Einige Teilnehmende lehnen Absatz 3 ab, dies insbesondere in der Meinung, die Absätze 1 und 2 seien ausreichend, um die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit durch Bund und Kantone zu erreichen.

680

Mehr als die Hälfte aller Vernehmlassungsteilnehmenden, darunter die Hälfte der Kantone, begrüsst die Harmonisierung der Alimentenbevorschussung. Ein Grossteil der Befürwortenden einer diesbezüglichen Verfassungsbestimmung stimmt dem Minderheitsantrag für einen Absatz 4 zu. Sie sind der Ansicht, die heutige unübersichtliche, den Vollzug erschwerende kantonale Vielfalt erfordere dringend Reformen. Einige Teilnehmer anerkennen den Harmonisierungsbedarf bei der Alimentenbevorschussung, möchten die Regelung aber in einer anderen Verfassungsbestimmung oder ausserhalb der Verfassung aufnehmen. Andere Vernehmlassende sprechen sich dafür aus, die Frage der Harmonisierung der Alimentenbevorschussung unabhängig von der vorliegenden Verfassungsrevision zu diskutieren. Eine Ablehnung von Absatz 4 wird entweder damit begründet, dass sich die neue Verfassungsbestimmung auf das Kernthema der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit begrenzen soll oder dass keine Notwendigkeit für eine Harmonisierung der Alimentenbevorschussung bestehe.

In einigen Stellungnahmen wird ausdrücklich verlangt, Artikel 115a mit zusätzlichen Absätzen zu ergänzen. Dem Bund sollen damit neue Kompetenzen zugewiesen werden, um Massnahmen zu ergreifen, die das Wohl der Familie schützen oder die Bildung und Integration von Kindern und Jugendlichen fördern.

2

Ausgangslage

2.1

Begriffe der Familie und der Familienpolitik

2.1.1

Familie

Es existiert weder ein einheitlich definierter Begriff von Familie noch eine positivrechtliche Umschreibung. Die Bundesverfassung spricht in Artikel 41 Absatz 1 Buchstabe c von «Familien als Gemeinschaft von Erwachsenen und Kindern» und fasst den Begriff der Familie damit weit. Die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF) hält die Definition des Familienbegriffs in ihren Strategischen Leitlinien 20156 ebenfalls bewusst offen: «Der Begriff der Familie bezeichnet jene Lebensformen, die in den Beziehungen von Eltern und Kindern im Mehrgenerationenverbund begründet und gesellschaftlich anerkannt sind.» Solche weit gefassten Begriffsdefinitionen haben den Vorteil, dass sie der Vielfalt der Familienformen in der heutigen Gesellschaft am ehesten gerecht werden. Sie sind deshalb auch dem vorliegenden Bericht zugrunde gelegt.

2.1.2

Familienpolitik

Gemäss der EKFF umfasst Familienpolitik «die gewollten öffentlichen Aktivitäten, Massnahmen und Einrichtungen, mit denen bezweckt wird, die Leistungen, die Familien erbringen, anzuerkennen, zu fördern oder zu beeinflussen».7 Diese Defini6

7

Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF): Die Leistungen von Familien anerkennen und fördern. Strategische Leitlinien 2015, August 2009 (Strategische Leitlinien EKFF), S. 12.

ebd.

681

tion impliziert, dass Familienpolitik einen grossen Themenkreis umfasst und damit eine ausgesprochene Querschnittsaufgabe darstellt.8 In diesem Zusammenhang ist auf zwei Schwierigkeiten hinzuweisen: zum einen ist eine klare Abgrenzung gegenüber anderen Politikbereichen (z.B. Kinder- und Jugendpolitik) nicht möglich, es existieren im Gegenteil teilweise sogar erhebliche Überschneidungen. Zum anderen können Massnahmen anderer Politikbereiche ebenfalls (in)direkte Auswirkungen auf Familien haben (z.B. Wohnbau, Bildung).

Ein besonderer Fokus wird in der Definition der EKFF auf die Leistungen der Familie gelegt. Familien leisten nicht nur einen Beitrag zur zukünftigen Sicherung der Sozialwerke, sie übernehmen auch wichtige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben (Kinder und ältere Menschen) und tragen damit wesentlich zur sozialen Kohäsion und intergenerationellen Solidarität bei. Dies ist umso wichtiger, als die fortschreitende demografische Alterung zunehmend zu Spannungen zwischen den Generationen führen könnte. Familienpolitik hat also einerseits die Abgeltung dieser Leistungen (horizontaler Ausgleich) und andererseits den Lastenausgleich und die Absicherung gegen Armut (vertikaler Ausgleich) zum Ziel.9 Familienpolitische Massnahmen zur Umsetzung des horizontalen und vertikalen Ausgleichs umfassen sowohl monetäre Leistungen wie z.B. Familienzulagen, Steuerabzüge, Stipendien, Mutterschaftsversicherung oder Bedarfsleistungen für Eltern als auch nicht-monetäre Leistungen wie z.B. die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit oder das Angebot an Beratungsdiensten.

2.2

Herausforderungen der Familienpolitik

Die Zusammensetzung der Familien, ihre interne Organisation wie auch ihre Stabilität haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. So sind die Familien kleiner geworden, die starre innerfamiliäre Rollenteilung zwischen Mann und Frau hat sich etwas aufgeweicht und zu einer stärkeren beruflichen Partizipation auch von Frauen mit Familie geführt. Gleichzeitig hat die Zahl der geschiedenen Ehen deutlich zugenommen, was eine steigende Anzahl von Einelternfamilien zur Folge hatte.10 Familien sind vergleichsweise häufig von Armut betroffen. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass der finanzielle Bedarf mit der Anzahl Kinder steigt und gleichzeitig die für Erwerbsarbeit zur Verfügung stehende Zeit sinkt. Zum andern reicht das Einkommen im Fall von Scheidungen häufig nicht, um zwei Haushalte zu finanzieren. Daraus ergeben sich drei Herausforderungen für die Familienpolitik: den Ausgleich der finanziellen Belastung, die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und die Stärkung des Familienlebens.

Erstens geht es um den Ausgleich der finanziellen Belastung, welche Kinder darstellen. Zum einen verursachen Kinder direkte Kosten etwa in Form von höheren Wohnkosten oder Mehrausgaben für Essen, Kleidung und Versicherungen, zum anderen resultieren auch indirekte Kosten, indem sich die Erwerbsarbeit und damit das Erwerbseinkommen des betreuenden Elternteils reduziert. Besonders ins 8

9 10

682

Vgl. hierzu auch: Familienbericht 2004: Strukturelle Anforderungen an eine bedürfnisgerechte Familienpolitik, Eidgenössisches Departement des Innern (Familienbericht 2004), S. 98 ff.

Vgl. hierzu Familienbericht 2004, S. 92 f.

Vgl. Familien in der Schweiz. Statistischer Bericht 2008, Bundesamt für Statistik, 2008, S. 8 ff.; Strategische Leitlinien EKFF, S. 3 ff.

Gewicht fallen diese Belastungen für Einelternfamilien und für kinderreiche Familien, welche folglich auch übermässig armutsgefährdet sind. Aufgabe der Familienpolitik ist es also, mit geeigneten Massnahmen dafür zu sorgen, dass sich die finanzielle Belastung für Familien in Grenzen hält, insbesondere im Hinblick auf die Wahrung des Kindeswohls und weil Familien wichtige Leistungen für die Gesellschaft erbringen.

Zweitens muss die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit aus verschiedenen Gründen verbessert werden. Zum einen wird damit die Gestaltungsfreiheit des Familienlebens gewährleistet. Ein Fünftel der Schweizer Frauen bleibt kinderlos, wobei über alle Bildungsstände hinweg der Kinderwunsch grösser ist als die Zahl der geborenen Kinder. Besonders gross ist diese Diskrepanz bei gut ausgebildeten Frauen, welche aus Sicht der Wirtschaft möglichst im Arbeitsmarkt gehalten werden sollen. Der Bund kann die Wahlfreiheit bei der Ausgestaltung des Familienlebens und der Anzahl Kinder unterstützen, indem er die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit bzw. Ausbildung sichert und die Gleichstellung von Mann und Frau fördert. Zum andern wird mit der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben ein wichtiger Beitrag zur Armutsbekämpfung geleistet. Insbesondere jene Familien, welche finanziell auf zwei Einkommen angewiesen sind, müssen die Möglichkeit haben, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Schliesslich stellen die erwähnten gesellschaftlichen Veränderungen wie auch die vielfältigen Anforderungen von Wirtschaft, Schule und Gesellschaft die Familien vor Herausforderungen, welche sie teilweise nur mit Unterstützung meistern können.

Deshalb ist die Familienpolitik auch im Bereich der Stärkung des Familienlebens gefordert, etwa indem Beratungsstellen und -angebote geschaffen oder ausgebaut werden.

Neben diesen drei Herausforderungen ist die Familienpolitik insbesondere auch im Bereich des Familienrechts gefordert. Diverse gesetzliche Bestimmungen sind solcherart anzupassen, dass sie dem bereits Gelebten entsprechen oder aber bestehende Ungleichheiten eliminieren. Beispiele dafür sind insbesondere das Ehe- und Scheidungsrecht, das Kindes- sowie Erbrecht oder auch die Alimentenhilfe.

2.3

Familienpolitik des Bundes

Zentrale Rahmenbedingungen der Familienpolitik in der Schweiz sind der Föderalismus und die Subsidiarität. Die Bundesverfassung sieht vor, dass auf Bundesebene nur jene Aufgaben erfüllt werden, welche die Möglichkeiten der Kantone und Gemeinden übersteigen und einer einheitlichen Regelung bedürfen.11 Der Bund greift also lediglich ergänzend und fördernd ein. In vielen Bereichen der Familienpolitik sind deshalb, wie auch in manchen anderen Politikfeldern, hauptsächlich die Kantone, Städte und Gemeinden zuständig.

Seine familienpolitischen Aktivitäten nimmt der Bund gestützt auf verschiedene rechtliche Grundlagen wahr. Dazu gehören ratifizierte internationale Abkommen, Verfassungsbestimmungen sowie eine Vielzahl von Artikeln der Bundesgesetzgebung. Die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen werden im Folgenden näher erläutert.

11

Vgl. Art. 5a und 43a Abs. 1 BV.

683

2.3.1

Internationale Abkommen

Die Schweiz hat verschiedene internationale Abkommen ratifiziert, die Bestimmungen zur Familienpolitik enthalten.

So wird zum Beispiel in Artikel 7 Buchstabe a Ziffer ii des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 196612 über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte das Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen namentlich auch für Familien anerkannt. Des Weiteren wird in Artikel 10 dieses Pakts anerkannt, dass die Familie als die natürliche Kernzelle der Gesellschaft grösstmöglichen Schutz und Beistand geniessen soll, und in Artikel 11 Absatz 1 das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard für Familien formuliert.

In Artikel 17 Absatz 1 des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 196613 über bürgerliche und politische Rechte ist der Schutz vor willkürlichen Eingriffen in das Privatleben und in die Familie vorgesehen. In Artikel 23 dieses Pakts wird der Familie als natürlicher Kernzelle der Gesellschaft ein Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat eingeräumt, und in Artikel 24 Absatz 1 wird anerkannt, dass jeder Minderjährige nicht nur Recht auf den Schutz durch die Gesellschaft, sondern auch durch seine Familie hat.

Im Übereinkommen vom 20. November 198914 über die Rechte des Kindes wird anerkannt, dass die Familie die Grundeinheit der Gesellschaft und die natürliche Umgebung für das Wachsen und Gedeihen der Kinder ist und ihr deshalb der erforderliche Schutz und Beistand gewährt werden sollte, damit sie ihre Aufgaben voll erfüllen kann.

Das Übereinkommen vom 18. Dezember 197915 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen.

Was die konkreten Leistungen für Familien betrifft, können die eher fachtechnischen Abkommen genannt werden, die von der Schweiz ratifiziert wurden, wie z.B. das Übereinkommen Nr. 102 vom 28. Juni 195216 über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit und die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 196417, die insbesondere Bestimmungen zur Bemessung von Familienzulagen enthalten.

2.3.2

Verfassungsgrundlagen

Die Bundesverfassung kennt heute folgende Bestimmungen, die sich explizit auf die Familie beziehen:

12 13 14 15 16 17

684

UNO-Pakt I; SR 0.103.1 UNO-Pakt II; SR 0.103.2 SR 0.107 SR 0.108 SR 0.831.102 SR 0.831.104

Art. 8 BV

Rechtsgleichheit

In dieser Bestimmung wird in Absatz 3 unter anderem festgehalten, dass das Gesetz für die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit sorgt.

Art. 13 BV

Schutz der Privatsphäre

Artikel 13 Absatz 1 BV bestimmt, dass jede Person Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat.

Art. 14 BV

Recht auf Ehe und Familie

Nach dieser Bestimmung ist das Recht auf Ehe und Familie gewährleistet.

Diese drei als Grundrechte ausgestalteten Bestimmungen richten sich sowohl an Bund und Kantone, begründen aber keine neuen Kompetenzen. Bund und Kantone müssen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen die Grundrechte respektieren, können aus ihnen aber keine Kompetenzen ableiten.

Art. 41 BV

Sozialziele

Artikel 41 Absatz 1 Buchstabe c BV hält fest, dass Familien als Gemeinschaft von Erwachsenen und Kindern geschützt und gefördert werden sollen. Nach Buchstabe e sollen Wohnungssuchende für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können. Wie die Grundrechte schaffen auch die Sozialziele keine neuen Bundeskompetenzen, sondern richten sich an den Bund wie auch an die Kantone und geben sozialpolitische Zielsetzungen für die Ausgestaltung der einzelnen Bereiche durch die Gesetzgebung vor.

Art. 108 BV

Wohnbau- und Wohneigentumsförderung

Artikel 108 Absatz 4 BV bestimmt, dass der Bund bei der Wohnbau- und Wohneigentumsförderung namentlich die Interessen von Familien, Betagten, Bedürftigen und Behinderten zu berücksichtigen hat.

Art. 116 BV

Familienzulagen und Mutterschaftsversicherung

Artikel 116 BV ist der für die Familienpolitik heute zentralste Verfassungsartikel. Er bestimmt im ersten Satz von Absatz 1, dass der Bund bei der Erfüllung seiner Aufgaben die Bedürfnisse der Familie berücksichtigen muss. Diese Aussage stellt eine wichtige Leitlinie einer bedürfnisgerechten Familienpolitik dar, schafft aber keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes.

Der im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung vom 18. April 1999 eingefügte zweite Satz von Absatz 1 enthält demgegenüber eine Unterstützungskompetenz des Bundes und lautet folgendermassen: «Der Bund kann Massnahmen für die Familien unterstützen.« Damit wird der Bund soweit zur Gesetzgebung ermächtigt, als dies für die Regelung der Unterstützungsmassnahmen notwendig ist; bei den unterstützten Massnahmen muss es sich um Massnahmen Dritter handeln. Der Erlass des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 200218 über Finanzhilfen für familienergän18

SR 861

685

zende Kinderbetreuung stützt sich auf Artikel 116 Absatz 1 Satz 2 BV, des weiteren stellt diese Unterstützungskompetenz des Bundes die notwendige Grundlage für das Bundesgesetz vom 9. Oktober 198119 über die Schwangerschaftsberatungsstellen sowie für die langjährige Praxis dar, gesamtschweizerisch tätige Dachverbände der Familienorganisationen mittels Leistungsverträgen vom Bund zu unterstützen. Eine Handlungspflicht der Kantone begründet die Bestimmung allerdings nicht; diese können auf Massnahmen wie auch auf die Förderung durch den Bund verzichten.

Artikel 116 Absatz 2 ermächtigt den Bund, Vorschriften über die Familienzulagen zu erlassen und bildet die Grundlage für das Bundesgesetz vom 24. März 200620 über die Familienzulagen und für das Bundesgesetz vom 20. Juni 195221 über die Familienzulagen in der Landwirtschaft.

Absatz 3 verpflichtet den Bund zur Errichtung einer Mutterschaftsversicherung.

Gestützt auf diese Bestimmung wurde am 3. Oktober 2003 die Mutterschaftsentschädigung ins Bundesgesetz vom 25. September 195222 über den Erwerbsersatz für Dienstleistende eingefügt und der Titel entsprechend erweitert. Absatz 4 ermächtigt den Bund, den Beitritt zu einer Familienausgleichskasse und die Mutterschaftsversicherung allgemein oder für einzelne Bevölkerungsgruppen obligatorisch zu erklären und seine Leistungen von angemessenen Leistungen der Kantone abhängig zu machen.

Art. 119 BV

Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich

Nach Artikel 119 Absatz 2 BV hat der Bund im Zusammenhang mit dem Umgang mit menschlichem Erbgut unter anderem für den Schutz der Familie zu sorgen.

Daneben gibt es verschiedene Verfassungsbestimmungen, die familienpolitische Aspekte aufweisen, z.B. Artikel 127 Absatz 2 BV betreffend die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, Artikel 66 BV (Ausbildungsbeiträge) oder Artikel 67 BV (Förderung von Kindern und Jugendlichen).

Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass sich die Verpflichtungen des Bundes im Bereich der Familienpolitik heute auf wenige Kernkompetenzen in der Verfassung beschränken und im Wesentlichen auf die Bereiche Mutterschaftsversicherung, Familienzulagen und Wohnbauförderung fokussiert sind.

2.3.3

Bundesgesetzgebung

Die familienpolitischen Ziele und Massnahmen des Bundes zeigen sich auch in vielen Bundesgesetzen. Nachfolgend ist eine Auswahl der wichtigsten Erlasse im Zusammenhang mit den erwähnten familienpolitischen Herausforderungen aufgeführt. Nicht näher eingegangen wird auf diejenigen Gesetze, welche lediglich indirekt einen Einfluss auf Familien haben (z.B. Wohnbauförderung oder Ausbildungsbeiträge).

19 20 21 22

686

SR 857.5 FamZG; SR 836.2 FLG; SR 836.1 EOG; SR 834.1

Ausgleich der finanziellen Belastung Bei folgenden Erlassen geht es primär um eine finanzielle Entlastung der Familien.

Dies kann einerseits in Form von speziell für Familien ausgerichteten finanziellen Leistungen oder aber durch spezifische Entlastungen wie Prämienverbilligungen oder Steuererleichterungen geschehen.

Seit dem 1. Juli 2005 ist die im Rahmen der 7. Revision des Erwerbsersatzgesetzes eingeführte Mutterschaftsentschädigung für erwerbstätige Mütter in Kraft. Der Bund hat damit seine Kompetenz zur Schaffung einer Mutterschaftsversicherung umgesetzt.

Am 1. Januar 2009 ist das Familienzulagengesetz (FamZG) in Kraft getreten. Das bereits seit dem 1. Januar 1953 gültige Bundesgesetz über die Familienzulagen in der Landwirtschaft (FLG) bleibt als Spezialgesetz bestehen. Verschiedene Bestimmungen des FamZG sind aber auch auf das FLG anwendbar. Das FamZG sieht für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die obligatorisch in der AHV versichert sind sowie für Nichterwerbstätige bis zu einem bestimmten Einkommen einen Anspruch auf Familienzulagen vor. Am 18. März 2011 stimmte das Parlament einer Ausweitung des Geltungsbereichs des FamZG auf die Selbstständigerwerbenden zu.

Die Referendumsfrist lief am 7. Juli 2011 unbenutzt ab. Die Inkraftsetzung ist auf den 1. Januar 2013 vorgesehen.

Das Krankenversicherungsgesetz23 sieht für untere und mittlere Einkommen Prämienverbilligungen von mindestens 50 Prozent für Kinder und junge Erwachsene in Ausbildung vor.

Im Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer24 sind mit dem Ehegattentarif, dem Kinderabzug und dem höheren Versicherungsabzug für Familien Massnahmen zur steuerlichen Entlastung von Familien in Kraft. In jüngster Vergangenheit wurde das Gesetz mehrfach revidiert: Auf den 1. Januar 2008 sind Sofortmassnahmen betreffend die Ehepaarbesteuerung in Kraft getreten. Im September 2009 verabschiedete das Parlament eine Reform der Familienbesteuerung, mit der ab 2011 Kosten für familienexterne Kinderbetreuung von den Bundessteuern abgezogen werden können. Durch die Einführung eines Elterntarifs bei der direkten Bundessteuer ist ab 2011 eine zusätzliche Entlastung zum bestehenden Kinderabzug vorgesehen.

Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit Damit die selbstverantwortliche Ausgestaltung des Familienlebens gewährleistet werden kann, müssen
verschiedene Rahmenbedingungen erfüllt sein, wie z.B. die Möglichkeit, Familie und Erwerbstätigkeit zu vereinbaren. Nachfolgend sind die wichtigsten Erlasse in diesem Bereich aufgeführt.

Seit dem 1. Februar 2003 ist das Bundesgesetz über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung in Kraft. Es handelt sich um ein auf 8 Jahre befristetes Impulsprogramm, das die Schaffung zusätzlicher Plätze für die Tagesbetreuung von Kindern fördert, damit die Eltern Erwerbsarbeit bzw. Ausbildung und Familie besser vereinbaren können. Am 19. März 2009 und am 4. Juni 2009 stimmten der Nationalrat bzw. der Ständerat der Motion 08.3449 der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats (WBK-NR) zu, welche vom Bundesrat eine Verlängerung des Impulsprogramms um 4 Jahre verlangt. Der Bundesrat hat am 23 24

Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10).

DBG; SR 642.11

687

17. Februar 2010 eine Botschaft verabschiedet, in der die Verlängerung der Geltungsdauer des Bundesgesetzes um vier Jahre mit einem Finanzrahmen von 80 Millionen Franken vorgeschlagen wird. Die Räte haben das Programm mit Beschluss vom 1. Oktober 2010 um 4 Jahre bis 2015 verlängert und es mit einem Kredit von 120 Millionen Franken ausgestattet.

Im Bereich der Gestaltung einer familienverträglichen Arbeitswelt beschränkt sich die Einflussnahme des Bundes mehrheitlich auf das Arbeitsrecht. Einzelne Vorschriften betreffen den Kündigungsschutz für Arbeitnehmerinnen bei Schwangerschaft, die Bestimmungen zur Absenz infolge Pflege eines kranken Kindes und zur zeitlichen Freisetzung bei Familienpflichten. Nicht geregelt sind flexible Arbeitszeitmodelle, die zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit für Mütter und Väter beitragen könnten oder der Vaterschafts- und Elternurlaub.

Am 31. Januar 2011 stimmte die Rechtskommission des Ständerates der parlamentarischen Initiative «Kinderbetreuung. Einschränkung der Bewilligungspflicht» der Rechtskommission des Nationalrates (RK-NR) vom 4. November 2010 zu. Die RK-NR erarbeitet nun einen Erlassentwurf zur Änderung der Bestimmungen über die Kinderbetreuung im Zivilgesetzbuch25. Auf diese wird sich dann auch die Kinderbetreuungsverordnung abstützen, welche die ausserfamiliäre Kinderbetreuung regelt.

Stärkung des Familienlebens Im Bereich der präventiven Familienarbeit haben alle Kantone gestützt auf das Bundesgesetz über die Schwangerschaftsberatungsstellen Beratungsstellen geschaffen, die schwangeren Frauen und anderen Beteiligten unentgeltlich Rat und Hilfe gewähren.

Der Bund leistet Finanzhilfen an Dachverbände der Familienorganisationen, welche regionale und lokale Aktivitäten im Bereich Beratung und Schutz von Familien koordinieren.

Im Rahmen seiner Kinder- und Jugendpolitik leistet der Bund zudem einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Familienlebens durch sein Engagement im Bereich Kinderrechte, Kindes- und Jugendschutz sowie Partizipation und Förderung von Jugendlichen. Der Kindes- und Jugendschutz basiert auf Artikel 11 und Artikel 41 BV sowie dem UNO-Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Er besteht auf Gesetzesebene hauptsächlich aus vormundschafts- und strafrechtlichen Schutzbestimmungen. Das ZGB setzt im Familien- und
Vormundschaftsrecht Leitplanken für die rechtliche Stellung des Kindes. Bestimmungen zum Schutz vor häuslicher Gewalt finden sich im Strafgesetzbuch26, im Opferhilfegesetz27 und im ZGB. Die Partizipation und Förderung von Kindern und Jugendlichen basiert auf Artikel 67 Absatz 2 BV. Gestützt auf das Gesetz über die Förderung der ausserschulischen Jugendarbeit (JFG)28 werden jährliche Finanzhilfen sowie projektbezogene Finanzhilfen geleistet für Trägerschaften, welche in der ausserschulischen Jugendarbeit aktiv sind. Am 30. September 2011 nahmen die eidgenössischen Räte das totalrevi-

25 26 27 28

688

ZGB; SR 210 StGB; SR 311.0 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHG; SR 312.5) SR 446.1

dierte Kinder- und Jugendförderungsgesetz29 an. Gestützt darauf sollen offene und innovative Formen der ausserschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stärker gefördert sowie die Kantone beim Aufbau und bei der Weiterentwicklung ihrer Kinder- und Jugendpolitik unterstützt werden.

Bestimmungen im Familienrecht Einige Erlasse im Bereich Familienrecht werden gegenwärtig überprüft. Dazu gehören die Alimentenhilfe oder auch einzelne Regelungen im Ehe- und Scheidungsrecht.

Mit dem Postulat 06.3003 der SGK-NR wurde der Bundesrat beauftragt, Vorschläge zur Harmonisierung der Gesetzgebung betreffend Alimentenbevorschussung und Alimenteninkasso zu prüfen und einen entsprechenden Bericht zu erstellen. Der Nationalrat hat dieses Postulat im Juni 2006 überwiesen. Der Bundesrat legte den Bericht «Harmonisierung Alimentenbevorschussung und Alimenteninkasso» am 4. Mai 2011 vor. Zur Behebung der Mängel in der Inkassohilfe beauftragte er das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement und das Eidgenössische Departement des Innern, Verbesserungen und Präzisierungen im Zivilrecht sowie neue Bestimmungen in der beruflichen Vorsorge vorzubereiten.

Bei der Alimentenbevorschussung, deren Regelung und Vollzug in der Verantwortung der Kantone liegt, zeigt der Bericht grosse Differenzen zwischen den Kantonen auf (Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse, Möglichkeit einer Teilbevorschussung, Schwelleneffekte, maximale Dauer der Bevorschussung sowie maximal bevorschusster Betrag pro Kind und Monat). Der Bundesrat und die SODK sind sich gemäss dem Bericht grundsätzlich einig, dass die Mängel in der Alimentenbevorschussung behoben werden sollten und eine Harmonisierung angezeigt sei. Rechtlich bestünden zwei Möglichkeiten: entweder die Schaffung einer kompetenzbegründenden Bestimmung in der Bundesverfassung und der Erlass eines Bundesgesetzes zur Alimentenbevorschussung oder der Abschluss eines interkantonalen Konkordats zur Alimentenbevorschussung.

Weitere familienpolitisch relevante Regelungen finden sich im Zivilgesetzbuch (v.a.

Ehe- und Scheidungsrecht, Adoptions-, Kindes- sowie Erbrecht), im Gleichstellungsgesetz30 und im Partnerschaftsgesetz31. Gemäss Artikel 14 des Gleichstellungsgesetzes kann der Bund Finanzhilfen für Programme gewähren, welche die Gleichstellung von Frau und Mann im Erwerbsleben fördern.

2.4

Rechtsvergleich

Gemäss Europarat, konzentriert sich die Familienpolitik der europäischen Länder hauptsächlich auf folgende fünf Elemente: finanzielle Unterstützung von Familien, Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit (insbesondere durch Kinderkrippen), Dienstleistungen für Familien (Familienberatung), Stärkung der Familie (u.a.

29 30 31

BBl 2011 7447 Bundesgesetz vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Frau und Mann (GlG; SR 151.1) Bundesgesetz vom 18. Juni 2004 über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare (PartG; SR 211.231)

689

mit Massnahmen gegen die häusliche Gewalt), Schutz von Frauen und Kindern32.

Betrachtet man sich die jüngsten Entwicklungen auf diesem Gebiet näher, lassen sich in den europäischen Ländern verschiedene gemeinsame Tendenzen erkennen.

So gewinnt die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zunehmend an Bedeutung; hierzu gehört auch die Schaffung oder Unterstützung von Betreuungseinrichtungen für Kinder oder Pflegebedürftige. Gewisse Staaten haben zu diesem Zweck ihre Mutterschaftsleistungen ausgebaut und/oder Eltern- oder Vaterschaftszulagen eingeführt. Ebenfalls von wachsender Bedeutung sind die Unterstützung sozial schwacher Familien (arme Familien, Einelternfamilien, kinderreiche Familien) insbesondere über Steuerreformen sowie die Förderung von Kinderrechten und Kinderschutzmassnahmen. Eine Herausforderung für die europäischen Länder sind die Bekämpfung der Familienarmut und die Pflegeeinrichtungen insbesondere für ältere Menschen.

Die OECD hat festgestellt, dass die allermeisten ihrer Mitgliedstaaten die Familien in erster Linie finanziell unterstützen (in Form von Kinderzulagen oder bezahlten Elternurlauben) und weniger mit besonderen Regelungen, die auf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit abzielen33. Nur in sehr wenigen Ländern werden diese beiden Ansätze miteinander kombiniert. Als Beispiel werden hier oft die nordischen Länder angeführt, da sie für die Familienförderung erhebliche Mittel einsetzen und auf diesem Gebiet seit langem über einen ganzen Massnahmenkomplex verfügen. Die OECD bezweifelt aber, dass sich dieses System als Ganzes auf andere Länder mit anderen Gesellschaftsformen und höheren Bevölkerungszahlen übertragen lässt. Die meisten OECD-Länder wollen die Ehepaare selbst entscheiden lassen, ob nur ein Elternteil oder beide erwerbstätig sein sollen und wer von beiden die Kinder betreuen soll. In der Praxis aber werden die finanziellen Erwerbsanreize oft durch Massnahmen zugunsten nichterwerbstätiger Ehepartner oder durch die Einkommensabhängigkeit gewisser Leistungen wieder aufgehoben. Bei der Unterstützung alleinerziehender Eltern werden beispielsweise in Grossbritannien die Leistungen von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig gemacht. Einige Länder wie Österreich oder Finnland gewähren lange bezahlte Urlaube. Andere wiederum, zum Beispiel Schweden
oder Dänemark, setzen den Akzent eher auf geeignete Betreuungsangebote und auf die Harmonisierung der Unterrichtszeiten.

Möglich ist auch, die Kinderbetreuung mit kostenfreundlichen Angeboten attraktiver zu machen. Familienfreundliche Massnahmen am Arbeitsplatz sind in erster Linie im öffentlichen Sektor und in Grossunternehmen mit vielen weiblichen Beschäftigten verbreitet. Da davon vor allem qualifizierte Arbeitskräfte profitieren, setzen sich verschiedene Länder dafür ein, dass auch Beschäftigte mit niedrigem Einkommen von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen können. Einige Länder haben Gesetzesbestimmungen eingeführt, die den Arbeitnehmenden das Recht (Niederlande) oder die Möglichkeit (Grossbritannien) einräumen, ihre Arbeitsbedingungen an ihre familiäre Situation anzupassen. Allen Industriestaaten gemein ist, dass auf unter Sechsjährige nur ein kleiner Teil der insgesamt für Kinder eingesetzten öffentlichen Mittel entfällt (im OECD-Durchschnitt ein Viertel). Um jedoch die sozialen Ungleichheiten zu verringern und namentlich die Lebenssituation der Ärmsten zu 32

33

690

Siehe Expertenbericht des Europarats «Les politiques familiales dans les États membres du Conseil de l'Europe ­ Deux rapports d'experts sur les politiques sociales pour les familles et les enfants».

OCDE (2007), Bébés et employeurs: Comment réconcilier travail et vie de famille ­ Synthèse des résultats pour les pays de l'OCDE.

verbessern, müssten die finanziellen Beiträge für Kinder im Vorschulalter erhöht und die Beratungsangebote für Schwangere und Eltern sowie die Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder, insbesondere für solche aus sozial schwachen Familien, verbessert werden34.

3

Beurteilung der Initiative

3.1

Allgemeine Beurteilung

Die von der parlamentarischen Initiative Hochreutener angesprochenen Punkte ­ die finanzielle Entlastung von Familien, die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und die Bildung und Integration von Kindern und Jugendlichen ­ sind zweifellos wichtige Elemente einer umfassenden Familienpolitik. Ebenfalls unbestritten ist, dass die Familienpolitik in den letzten Jahren an politischer Bedeutung gewonnen und der Bund seinen Beitrag zur Förderung und Entlastung der Familien zu leisten hat. Es stellt sich jedoch die Frage, für welche familienpolitischen Themenfelder tatsächlich eine Verfassungsänderung notwendig ist, um die Familienpolitik national besser zu steuern und effizienter zu gestalten. Eine Ergänzung der Verfassung im Bereich der Familienpolitik ist nur dann sinnvoll, wenn sie dem Bund wirksame neue Instrumente für die Umsetzung seiner familienpolitischen Ziele gibt.

Ein proklamatorischer Verfassungsartikel, der lediglich festhält, was der Bund aufgrund der bestehenden Verfassungsgrundlage bereits heute realisieren kann, wäre kein Gewinn.

3.2

Finanzielle Entlastung

Im Bereich der finanziellen Entlastung von Familien hat der Bund namentlich in den letzten Jahren verschiedene Massnahmen auf Gesetzesstufe getroffen. Mit dem Familienzulagengesetz und der Einführung einer Mutterschaftsentschädigung wurden wichtige familienpolitische Ziele der Verfassung umgesetzt. Bundesrat und Parlament haben erkannt, dass eine steuerliche Entlastung von Familien vordringlich ist: Das Parlament hat einen Entwurf des Bundesrates für eine Reform der Familienbesteuerung rasch behandelt und im September 2009 mit grosser Mehrheit verabschiedet (vgl. Ziff. 2.3.3). Die Reform hat ihre Grundlage in der geltenden Verfassungskompetenz des Bundes im Bereich der direkten Bundessteuer (Art. 128 Abs. 1 BV). Auf dieser Grundlage kann der Bund auch weitere steuerliche Entlastungen vorsehen. Eine explizite Verpflichtung des Bundes zur steuerlichen Entlastung von Eltern mit Kindern, wie sie die parlamentarische Initiative verlangt, ist in der Bundeskompetenz nach Artikel 128 Absatz 1 BV zwar nicht enthalten. Sie kann jedoch aus dem Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach Artikel 127 Absatz 2 hergeleitet werden. Um im Bereich der steuerlichen Entlastung von Familien weitere Ziele zu erreichen, braucht es politische Mehrheiten; eine Verfassungsänderung drängt sich hingegen nicht auf.

Die parlamentarische Initiative verlangt zudem eine Entlastung von Eltern mit Kindern bei Sozialversicherungen ohne Kapitaldeckungsverfahren. Gestützt auf Artikel 112 Absatz 1 BV, Artikel 114 Absatz 1 BV sowie Artikel 117 Absatz 1 BV 34

OCDE (2009), Assurer le bien-être des enfants

691

hat der Bund bereits nach geltender Verfassung die Kompetenz, bei der Bemessung der Versicherungsprämien der Kranken- und der Unfallversicherung, der Arbeitslosenversicherung sowie der AHV und der IV Entlastungen für Eltern mit Kindern vorzusehen. Eine Ergänzung der Verfassung wäre zur Erfüllung des vom Initianten angestrebten Ziels demnach nicht nötig. Dass es bis anhin nicht umgesetzt wurde, liegt ebenfalls daran, dass es sich als politisch nicht mehrheitsfähig erwiesen hat: am 6. Juni 2006 lehnte der Nationalrat eine Motion35, welche verlangte, dass für Familien reduzierte AHV-Prämien ohne entsprechende Rentenreduktion erhoben werden, deutlich ab.

Eine Entlastung der Kantone beim Finanzausgleich, wie sie die Initiative ebenfalls fordert, ist aufgrund der geltenden Verfassung nicht möglich und müsste mittels Verfassungsänderung erreicht werden. Eine Ergänzung von Artikel 135 Absatz 2 BV in diesem Sinn wäre theoretisch denkbar, würde aber das geltende Finanz- und Lastenausgleichssystem durchbrechen. Politische Entscheide der Kantone würden in systemwidriger Art die Berechnungsgrundlagen des Finanz- und Lastenausgleichssystems beeinflussen. Aus Sicht der SGK-NR ist dieser Punkt der Initiative deshalb nicht weiterzuverfolgen. Eine Unterstützung der Kantone, welche weniger problematische Auswirkungen hat, wäre auch im Rahmen der Unterstützungskompetenz des Bundes nach Artikel 116 Absatz 1 Satz 2 BV möglich.

3.3

Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit

Als zweiten Kernpunkt verlangt die Initiative die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit durch Bund und Kantone. Diese Forderung geht über die Unterstützungskompetenz des Bundes nach Artikel 116 Absatz 1 Satz 2 BV hinaus und hat in der geltenden Verfassung keine Grundlage. Es fehlt auch eine Grundlage, um die Kantone zur Förderung solcher Massnahmen zu verpflichten.

Ebenso fehlt heute eine Verfassungsbasis, aufgrund derer der Bund zulasten der Kantone minimale Verpflichtungen erlassen kann, die sich beispielsweise auf den Deckungsgrad an verfügbaren Tagesstrukturen oder deren Finanzierung beziehen könnten. Die Unterstützungskompetenz nach Artikel 116 Absatz 1 Satz 2 BV würde zwar dem Bund erlauben, Massnahmen Dritter zu unterstützen, aber nur, soweit diese freiwillig tätig würden. Für eine Rechtsetzungskompetenz im Sinne der parlamentarischen Initiative muss somit die Verfassung ergänzt werden.

3.4

Kinder- und Jugendförderung

Als dritten Kernpunkt verlangt die Initiative eine Verfassungsbasis für die Förderung der Bildung und Integration von Kindern und Jugendlichen. Der Bund kann heute gestützt auf Artikel 67 Absatz 2 BV die ausserschulische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Ergänzung zu kantonalen Massnahmen unterstützen. Im Rahmen von Artikel 121 BV steht dem Bund im Bereich des Ausländerrechts eine umfassende Kompetenz zu, die auch die Förderung der sozialen Integration von Ausländerinnen und Ausländern umfasst. Diese beiden Teilkompetenzen decken zusammen weite Teile der denkbaren Massnahmen im Sinne der Initiative ab. Für 35

692

04.3334 Mo. Hochreutener. Familienförderung durch einen Kinderbonus bei der AHV.

eine umfassende Förderungskompetenz fehlt jedoch eine entsprechende Grundlage in der geltenden Verfassung.

Am 12. März 2007 reichte Nationalrätin Viola Amherd eine parlamentarische Initiative36 ein, welche in dieselbe Richtung zielt wie Absatz 4 der Initiative Hochreutener, jedoch zusätzlich den Aspekt des Kinder- und Jugendschutzes aufnimmt. Sie verlangt eine Ergänzung von Artikel 67 BV mit folgendem Wortlaut: «Der Bund kann Vorschriften zur Förderung von Kindern und Jugendlichen sowie zu deren Schutz erlassen.» Die Initiative wurde in der Vorprüfung gutgeheissen und die WBK-NR dementsprechend mit der Ausarbeitung einer Vorlage beauftragt. Am 19. Juni 2009 beschloss die WBK-NR angesichts der vom Bundesrat angekündigten Totalrevision des Jugendförderungsgesetzes (JFG), die Arbeiten an einem Erlassentwurf zu sistieren. Nachdem die eidgenössischen Räte das Kinder- und Jugendförderungsgesetz in der Herbstsession 2011 verabschiedet haben, hat die WBK-NR ihre Arbeiten im Hinblick auf eine Verfassungsgrundlage für einen verbesserten und effizienteren Jugendschutz wieder aufgenommen.

Angesichts der bereits laufenden Arbeiten der WBK-NR soll die Aufnahme der Kinder- und Jugendförderung in einen Verfassungsartikel zur Familienpolitik nicht weiterverfolgt werden. Dagegen sprechen auch rechtssystematische Überlegungen: Das Thema der Kinder- und Jugendförderung gehört nicht zum Kernbereich des Familienartikels der Bundesverfassung. Sollte die WBK-NR nach der Beratung der Totalrevision zum Schluss kommen, dass eine neue Verfassungsbasis für die Kinder- und Jugendförderung des Bundes notwendig ist, wäre in systematischer Hinsicht eine Ergänzung von Artikel 67 BV, wie es die Initiative Amherd vorschlägt, besser geeignet.

3.5

Zwischenfazit

Die Analyse der einzelnen Forderungen der Initiative Hochreutener ergibt, dass der Bund bereits heute über die notwendigen Verfassungsgrundlagen verfügt, um zur finanziellen Entlastung von Familien im Bereich der Steuern oder im Bereich der Sozialversicherungen Massnahmen vorzusehen. Für den Bereich der Kinder- und Jugendförderung drängt sich angesichts der bereits laufenden Arbeiten kein zusätzlicher Handlungsbedarf auf. Hingegen fehlt dem Bund heute eine Verfassungskompetenz zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit. Abgesehen von der Anstossfinanzierung für familienergänzende Kinderbetreuung kann der Bund heute in diesem familienpolitisch wichtigen Bereich nicht aktiv werden. Dieser Aspekt der Initiative soll deshalb aufgenommen werden.

Ein weiteres Instrument der Familienpolitik, welches die Initiative Hochreutener nicht direkt anspricht, ist die Alimentenhilfe. Die Kantone regeln diese heute sehr unterschiedlich. Eine neue Bundeskompetenz zur Harmonisierung der kantonalen Regelungen hält die SGK-NR im Rahmen dieser Vorlage jedoch nicht für angezeigt.

Der neue Verfassungsartikel soll sich auf das familienpolitische Kernthema der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit fokussieren.

36

07.402. Pa.Iv. Amherd. Verfassungsgrundlage für ein Bundesgesetz über die Kinder- und Jugendförderung sowie über den Kinder- und Jugendschutz.

693

3.6

Nichteintreten: Begründung der Minderheit

Eine Minderheit (Estermann, Baettig, Cassis, Stahl, Triponez) spricht sich gegen einen neuen Verfassungsartikel zur Familienpolitik aus. Wie in Ziffer 2.3.2 dargestellt, beschränken sich die Verpflichtungen des Bundes im Bereich der Familienpolitik heute auf wenige Kernkompetenzen in der Verfassung. Wesentliche Bereiche der Familienpolitik sind den Kantonen und Gemeinden vorbehalten. Diese historisch gewachsene Aufgabenteilung beruht auf den Grundsätzen des Föderalismus und der Subsidiarität. Sie hat sich bis anhin vielfach bewährt, und es sollte nicht ohne Not davon abgewichen werden. Bevor die Verfassung mit einer neuen Bundeskompetenz im Bereich der Familienpolitik ergänzt wird, müsste deshalb klar erweisen sein, dass die Kantone und Gemeinden nicht in der Lage sind, ihre Aufgaben im Bereich der Familienpolitik auf dem Hintergrund der heutigen Verfassungsgrundlage wahrzunehmen. Dafür gibt es jedoch keine Hinweise. Die Kantone und Gemeinden sind gut gerüstet, um den Herausforderungen der Familienpolitik zu begegnen, und auch besser dafür geeignet als der Bund: Je tiefer die Handlungsebene angesiedelt ist, umso rascher und zielgerichteter kann in der Sozialpolitik vorgegangen werden.

Wie die Analyse der einzelnen Forderungen der Initiative zeigt, verfügt der Bund bereits heute über eine Verfassungsbasis, um Massnahmen zur steuerlichen und finanziellen Entlastung von Familien vorzusehen. In der Herbstsession 2010 haben die Räte einer Verlängerung des Bundesgesetzes über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung zugestimmt und es für die nächsten vier Jahre mit einem Kredit von 120 Millionen Franken dotiert. Diese Massnahme zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ist ebenfalls aufgrund der heutigen Verfassungsgrundlage erfolgt. Die parlamentarische Initiative ist somit im Grunde genommen obsolet und eine neue Verfassungsbasis zum Erreichen der von ihr genannten Ziele nicht erforderlich.

Letztlich kann ein neuer Verfassungsartikel in der vorgeschlagenen Form auch als Diskriminierung jener Familien verstanden werden, welche selber für Betreuung ihrer Kinder sorgen. Sie würden dazu verpflichtet, mittels ihrer Steuern dazu beizutragen, dass der Staat finanzielle Mittel für Familien zur Verfügung stellt, die ihre Kinder von Drittpersonen betreuen lassen. Diese störende Diskrepanz in der Behandlung von Familien kann nicht unterstützt werden.

4

Handlungsbedarf

4.1

Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit

Als Verbundaufgabe verschiedener Ebenen ist die Familienpolitik im Allgemeinen und die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit im Besonderen ein verfassungswürdiges Thema. Infolge der gesellschaftlichen Entwicklung und Mobilität sind in diesem Bereich ­ wie in anderen Politikbereichen auch ­ 26 kantonale, wenig aufeinander abgestimmte Systeme kaum mehr sinnvoll. Eine grössere Kohärenz und eine für Bund und Kantone gemeinsam geltende Stossrichtung ist deshalb erforderlich.

694

Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit bzw. Ausbildung ist in der Schweiz noch längst nicht erfüllt. Dies ist einer der Gründe, weshalb viele Frauen in der Schweiz auf Kinder verzichten. 21 Prozent der 40-jährigen Frauen sind kinderlos und 15 Prozent haben nur ein Kind. Insbesondere beruflich hoch qualifizierte Frauen entscheiden sich, kein Kind zu haben: vier von zehn Frauen mit tertiärer Ausbildung bleiben kinderlos.37 Dass Massnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit einen positiven Einfluss auf die Geburtenrate haben, ist wissenschaftlich bestätigt.38 Nicht nur aus demographischer, sondern auch aus ökonomischer Sicht ist die Gewährleistung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit wichtig, denn der Anteil von gut ausgebildeten Frauen nahm in den letzten Jahren stetig zu.

Heute sind die Hälfte der Universitätsstudierenden Frauen. Fehlen für sie die Voraussetzungen, Familie und eine berufliche Karriere zu verbinden, entgehen der Wirtschaft unverzichtbare, hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Für eine Verbesserung dieser Situation muss auch der Bund eine aktive Rolle wahrnehmen, was ihm aufgrund der heutigen Verfassungsgrundlage nicht möglich ist. Für viele Familien ist es eine zudem eine finanzielle Notwendigkeit, dass beide Elternteile einer Erwerbsarbeit nachkommen. Sie sind deshalb besonders auf Massnahmen zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit angewiesen.

Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit hängt von zahlreichen Faktoren wie flexible Arbeitszeitgestaltung, einheitliche Stundenpläne etc. ab. Die vordringlichste Massnahme in der Schweiz ist jedoch die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen.

4.2

Bedarf an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen

Die Anzahl der Kindertagesstätten wurde in den letzten Jahren stark ausgebaut und stieg von 478 im Jahr 1985 auf 1337 im Jahr 2005. Die Anstossfinanzierung des Bundes half, in den ersten sieben Jahren 25 086 Betreuungsplätze zu schaffen.39 Dennoch ist die Nachfrage bei weitem grösser als das Angebot. Eine Studie im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 52 aus dem Jahr 2005 geht davon aus, dass im Schweizerischen Durchschnitt rund 13 % der 0­4 jährigen Kinder institutionell betreut sind. Gemäss Schätzungen der Studie würden jedoch rund 47 % der Schweizer Kinder im Vorschulalter eine institutionelle familienergänzende Betreuung nachfragen. Dies bedeutet, dass in der Schweiz für rund 120 000 Kinder Betreuungsangebote fehlen.40

37

38 39

40

Kinder und Karriere ­ Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Kurzfassung des OECDLändervergleichs zu Neuseeland, Portugal und der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Teile zur Schweiz, Verfasst im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) und des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO), 2004, S. 8.

Vgl. z.B. Giuliano Bonoli: The impact of social policy on fertility: evidence from Switzerland, in: «Journal of European Social Policy», Vol. 18, No. 1, 2008, S. 64­78.

Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung vom 17. Februar 2010 (BBl 2010 1627). Die Aussage bezieht sich auf die Zeit vom 1. Februar 2003 bis zum 1. Januar 2010.

Familienergänzende Kinderbetreuung in der Schweiz: aktuelle und zukünftige Nachfragepotenziale. Wissenschaftlicher Bericht, Zürich 28. April 2005.

695

Die EKFF hält 2008 fest, dass rund drei Viertel aller Eltern mit Kindern unter 12 Jahren in der Betreuung ihrer Kinder auf die private Unterstützung durch Grosseltern, Verwandte oder Nachbarn und Nachbarinnen angewiesen sind. Gemäss Schätzungen nutzen nur gerade 26 % aller Haushalte mit mindestens einem Kind unter 15 Jahren Krippen und Horte; weitere 15 % nehmen Tagesmütter oder -familien in Anspruch. 6,5 % der Haushalte, in denen das jüngste Kind jünger als sechs Jahre alt ist, verfügen über keine organisierte Betreuung. Rund 40 % der Kinder zwischen sieben und 14 Jahre sind zu Hause unbeaufsichtigt.41 Die Schweiz schneidet damit im internationalen Vergleich schlecht ab. Gemäss einer OECD-Studie aus dem Jahr 2004 gehört die Schweiz bezüglich der Betreuung von Kindern bis zum Alter von vier Jahren zu den schwächsten OECD-Ländern. Lediglich 0,2 % des Bruttoinlandproduktes werden für Kinderbetreuungseinrichtungen ausgegeben. In Österreich sind es dreimal soviel, in Dänemark sogar zehnmal.42 Massnahmen zur Verbesserung des Angebots an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen werden deshalb seit Jahren von verschiedensten politischen Akteuren gefordert: Die Diskussion von fünf parlamentarischen Initiativen in der WBKNR ergab, dass für eine grosse Mehrheit der Kommission ein Bedarf nach einem Ausbau des Tagesstrukturangebotes für Kinder im Frühbereich und im Vorschulalter unbestritten ist (vgl. Ziff. 1.2). Die EKFF verlangt einen massiven Ausbau von qualitativ hoch stehenden familien- und schulergänzenden Betreuungsangeboten und setzt sich dafür ein, dass die Koordination zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden verbessert und die Kindertagesstätten zu Bildungsinstitutionen weiterentwickelt werden. Der Aufbau eines adäquaten familienergänzenden Betreuungsangebots wurde als Empfehlung im Hinblick auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit bereits 2000 in das Programm der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK aufgenommen. Gemeinsam mit der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK hat die SODK im März 2008 Leitsätze verabschiedet und darin festgehalten, dass Bund, Kantone und Gemeinden ihre Verantwortung für die Bereitstellung von Tagesstrukturen wahrnehmen sollen.43 Der Arbeitgeberverband hält in einem Bericht von 2006 fest, dass das heutige
Schulsystem den Kindern erwerbstätiger Eltern nicht gerecht wird und die Realisierung einheitlicher Blockzeiten sowie zusätzliche Betreuungsangebote wie Tagesschulen gesellschaftspolitisch notwendig erscheinen und wirtschaftlich wünschbar sind.44 Diese Aufzählung ist keineswegs abschliessend. Unterschiedlich fallen allenfalls die Beurteilungen aus, wer für eine Verbesserung des Angebots zuständig ist und wie die Finanzierung geregelt werden soll. Gerade deshalb ist eine Verfassungsgrundlage, die Bund und Kantone als wichtige Akteure gemeinsam in die Pflicht nimmt, nötig. Ein Verfassungsartikel, der die Kompetenzen klar definiert, aber auf Gesetzesebene genügend Spielraum für eine Ausgestaltung lässt, ist deshalb sinnvoll.

41 42 43 44

696

Familien- und schulergänzende Kinderbetreuung. Eine Bestandesaufnahme der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen EKFF, 2008, S. 33 ff.

OECD: Babies and Bosses. Reconciling Work and Family Life: New Zealand, Portugal and Switzerland, Volume 3, Paris 2004.

Kinderbetreuung: Familienergänzende Tagesstrukturen. Gemeinsame Erklärung der EDK und der SODK vom 13. März 2008.

Familienpolitische Plattform des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, Aktualisierter Neudruck, Zürich 2006.

5

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

Zur Systematik Die neue Verfassungsbestimmung wird systematisch als Artikel 115a BV dem bestehenden Artikel 116 BV vorangestellt. Mit der Sachüberschrift Familienpolitik wird diese Systematik auch dem bisherigen Artikel 116 Absatz 1 BV besser gerecht, dessen Einordnung unter der Sachüberschrift Familienzulagen und Mutterschaftsversicherung nicht optimal war und der im vorliegenden Entwurf neu zu Artikel 115a Absatz. 1 BV wird. Artikel 116 BV regelt neu ausschliesslich die Familienzulagen und die Mutterschaftsversicherung, was auch für diese Bestimmung in systematischer Hinsicht eine Klärung in Bezug auf die Sachüberschrift darstellt.

Art. 115a

Familienpolitik

Abs. 1 Absatz 1 entspricht inhaltlich unverändert dem geltenden Artikel 116 Absatz 1 BV.

Er enthält in Satz 1 eine an den Bund gerichtete Programmnorm, welche keine Bundeskompetenz begründet. Satz 2 ermächtigt den Bund in genereller Form, Massnahmen zum Schutz der Familie zu unterstützen. Die Zuständigkeit des Bundes in diesem Bereich ist eine reine Unterstützungskompetenz: der Bund wird nur so weit zur Gesetzgebung ermächtigt, als dies für die Regelung der Unterstützungstätigkeit notwendig ist; ausserdem ermächtigt die Bestimmung den Bund nur, Massnahmen Dritter zu unterstützen. Der Bund darf somit nicht selber zum Schutz der Familie tätig werden, sondern muss an Massnahmen anderer (der Kantone, privater Organisationen etc.) anknüpfen.

Abs. 2 Absatz 2 enthält eine parallele verpflichtende Förderungskompetenz für den Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit, die sich sowohl an den Bund wie auch an die Kantone richtet, und die über die Unterstützungskompetenz des Bundes nach Abs. 1 hinausgeht. Beide Normadressaten werden aufgefordert, Massnahmen zu ergreifen, welche die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit fördern. Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit sind solche, die es ermöglichen, Familienpflichten, die sich aus der Elternschaft ergeben, auch wahrnehmen zu können, obschon man in Ausbildung oder erwerbstätig ist, und umgekehrt, auch einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, obwohl man Familienpflichten als Eltern wahrnehmen will oder muss. Darunter fallen beispielsweise die Gestaltung der Stundenpläne in Schulen und Kindergärten, die eine Erwerbstätigkeit der Eltern ermöglichen (Blockzeiten), die Möglichkeit flexibler Arbeitszeitgestaltung am Arbeitsplatz, aber auch ein bedarfsgerechtes Angebot an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen oder ein Erziehungsurlaub für Eltern kleiner Kinder.

Satz 2 nimmt explizit die Forderung nach familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen als eine der vordringlichsten Massnahmen auf und nimmt Bund und Kantone in die Pflicht, für ein bedarfsgerechtes Angebot an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen als konkrete Massnahme zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu sorgen. Diese Verpflichtung kann einerseits direkt durch die Schaffung von Betreuungsplätzen durch die Kantone und auch direkt durch den Bund für seine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfüllt wer697

den. Andererseits können sowohl die Kantone wie auch der Bund den Verfassungsauftrag durch den Erlass entsprechender Gesetze, welche diese Forderung umsetzen sollen, erfüllen.

Eine Minderheit (Fehr Jacqueline, Carobbio Guscetti, Goll, Rielle, Rossini, Schenker Silvia, Weber-Gobet) will in der Bundesverfassung explizit festhalten, dass auch die Vereinbarkeit von Familie und Ausbildung gefördert werden soll. Dieser Minderheitsantrag betrifft auch Absatz 3.

Abs. 3 Absatz 3 enthält eine verpflichtende beschränkte Gesetzgebungskompetenz zur Festlegung von Grundsätzen über die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit durch den Bund, falls die Bestrebungen der Kantone oder Dritter in diesem Bereich nicht ausreichen. Diese Formulierung orientiert sich an entsprechenden Bestimmungen im Bereich der Bildungsverfassung (Art. 62 Abs. 4; 63a Abs. 5 BV) und geht von der Idee aus, dass der Bund im Interesse der von der Verfassung vorgegebenen Ziele tätig werden muss, falls diese Ziele sonst nicht erreicht werden können. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang beispielsweise, eine Verpflichtung der Kantone zur Bereitstellung einer bestimmten Anzahl Betreuungsplätze bundesgesetzlich zu verankern, falls die Kantone ihre Verpflichtung, die ihnen aus Absatz 2 erwächst, nicht hinreichend erfüllen.

Gleichzeitig erhält der Bund mit Satz 2 die Möglichkeit der Mitfinanzierung, wenn er die Kantone im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz zu Massnahmen verpflichtet. Die lediglich fakultative Unterstützungskompetenz des Bundes soll falsche Anreize gegenüber den Kantonen vermeiden, welche eine Verpflichtung des Bundes, die von ihm vorgeschriebenen Massnahmen mitzufinanzieren, geschaffen hätte: Die vorgesehene Regelung soll die Kantone dazu anhalten, nicht abzuwarten, bis der Bund an ihrer Stelle tätig wird, weil sie sonst mit einer vom Bund vorgesehenen Massnahme zu rechnen hätten, die sie dann umsetzen und vielleicht auch noch ohne dessen Unterstützung finanzieren müssten.

Abs. 4 Minderheit Eine Minderheit (Prelicz-Huber, Fehr Jacqueline, Goll, Rielle, Rossini, Schenker Silvia, Weber-Gobet) will eine Bundeskompetenz zur Harmonisierung der Alimentenbevorschussung in die Verfassung aufnehmen. Die Alimentenbevorschussung wird heute durch die Kantone sehr unterschiedlich geregelt. Dieser Zustand ist nicht nur für
anspruchsberechtigten Familien unbefriedigend und oft mit vielen bürokratischen Hürden verbunden, sondern widerspricht dem von der Verfassung garantierten Grundsatz der Gleichbehandlung. Durch eine rasche und einheitlich geregelte Auszahlung von Bevorschussungen kann insbesondere die Lebenssituation vieler armutsbetroffenen oder armutsgefährdeten Teilfamilien verbessert werden. Dass der Bund ­ selbstverständlich unter Einbezug der Kantone ­ hierfür die Grundsätze vorgibt, ist ein wichtiger Beitrag zur Existenzsicherung und Armutsbekämpfung.

Art. 116 Abs. 1 Absatz 1 bleibt inhaltlich unverändert, wird aber aus systematischen Gründen neu zu Artikel 115a Absatz 1 BV.

698

6

Auswirkungen

6.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Absatz 1 von Artikel 115a BV schreibt das geltende Recht fort, weshalb diese Bestimmung hier nicht weiter kommentiert wird.

Absatz 2 und 3 zielen darauf ab, das Engagement von Bund und Kantonen im Bereich Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu verstärken. Absatz 2 legt das Schwergewicht auf die familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen für die Kinderbetreuung und verpflichtet Bund und Kantone, deren Ausbau voranzutreiben. Bei beiden Bestimmungen hängen die finanziellen und personellen Auswirkungen davon ab, ob und in welcher Form der Gesetzgeber seine Kompetenzen umsetzen wird.

Die finanziellen und personellen Auswirkungen des neuen Verfassungsartikels auf Bund und Kantone können heute also nicht abgeschätzt werden.

6.2

Andere Auswirkungen

Artikel 115a Absatz 2 und 3 unterstützen die Bestrebungen zu einer Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit auf allen Ebenen, was aus Sicht einer zeitgemässen Familienpolitik notwendig und erwünscht ist. Insbesondere die Förderung der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung hat in vieler Hinsicht positive Auswirkungen, auf welche bereits anlässlich der Schaffung der Anschubfinanzierung des Bundes hingewiesen wurde und die seither in verschiedenen Studien bestätigt wurden45. Darunter fällt einmal ein sozio-ökonomischer Nutzen infolge des Verbleibens der Mütter im Erwerbsleben, wodurch eine Verbesserung der Einkommen der Familien sowie zusätzliche Steuereinnahmen resultieren.

Ein bedarfgerechtes Angebot an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen hilft nicht zuletzt jenen Familien, die finanziell darauf angewiesen sind, dass beide Elternteile einer Erwerbsarbeit nachkommen. Zudem fördert eine vermehrte Erwerbstätigkeit der Mütter die Gleichstellung von Frau und Mann in Beruf und Familie. Eine qualitativ hochstehende und bedarfsgerechte Kinderbetreuung stellt eine wirksame und nachhaltige Investition in die heranwachsende Generation dar und erhöht die Chancen einer gelungenen Integration von Kindern und Jugendlichen in die Gesellschaft und in die Arbeitswelt.

7

Verhältnis zum europäischen Recht

Der vorliegende Entwurf ist nicht nur mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar, sondern verleiht diesen sogar zusätzliches Gewicht, indem er die Familienpolitik in der Bundesverfassung verankert.

45

S. dazu Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung vom 17. Februar 2010, Ziffer 1.1.3 (BBl 2010 1627).

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