Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen über Probleme des Abstimmungswesens vom 11. August 1999

Sehr geehrte Damen und Herren Präsidenten Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsräte Am 18. April 1999 hat die eidgenössische Volksabstimmung über die neue Bundesverfassung stattgefunden. Dabei sind einige Pannen aufgetreten. Mit diesem Kreisschreiben möchten wir daher die Bedeutung wohlgeordneter Organisation und Abwicklung des Abstimmungsverlaufs einschliesslich des Erwahrungs- und Beschwerdewesens in Erinnerung rufen.

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Sofortiges amtliches Eingreifen bei Unregelmässigkeiten Nach Artikel 79 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR, SR 161.1) hat die Kantonsregierung von Amtes wegen oder auf Beschwerde hin die nötigen Massnahmen zu ergreifen, um festgestellte Unregelmässigkeiten wenn möglich noch vor dem Urnengang zu beheben. Es kann daher nicht angehen, dass ein Kanton trotz gross aufgemachten Zeitungsberichten über Unregelmässigkeiten in einzelnen Gemeinden untätig bleibt, bis nach der Abstimmung Beschwerde erhoben wird, und die Gemeinden erst mit einem Rundschreiben nach der Abstimmung zu künftig gesetzeskonformer Abwicklung anmahnt. Wir bitten Sie, die gesetzlichen Bestimmungen ihrem Sinn gemäss durchzusetzen.

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Rechtzeitige Verteilung der Abstimmungsunterlagen Nach Artikel 11 Absatz 3 BPR müssen die Stimmberechtigten Stimmzettel und Stimmausweise in der viertletzten Woche vor dem Abstimmungstag erhalten; Abstimmungsvorlage und Erläuterungen dürfen von Gesetzes wegen auch früher abgegeben werden.

Im Rahmen der Revision der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte wurde am 18. März 1994 einem verbreiteten Wunsch der Kantone stattgegeben, indem die Kantone seither die Gemeinden gesetzlich ermächtigen können, Abstimmungsvorlage und Erläuterung statt pro stimmberechtigte Person nurmehr pro Haushalt abzugeben (Art. 11 Abs. 4 BPR).

In der Volksabstimmung vom 18. April 1999 musste festgestellt werden, dass in beinahe sieben Prozent aller Gemeinden alle oder zumindest ein Teil der Stimmberechtigten Abstimmungsvorlage und Erläuterung erst mehrere Tage nach Ablauf der viertletzten Woche vor dem Urnengang erhielten.

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Volksabstimmungen. Kreisschreiben

Es kann nicht der Sinn des bundesrechtlichen Entgegenkommens bei der Frage der kostengünstigen Verteilung der Abstimmungsunterlagen sein, dass Gemeinden sich über die bundesrechtlichen Minimalvorgaben hinwegsetzen.

Derlei gesetzwidriges Verhalten muss umgehend und nachhaltig unterbunden werden. Andernfalls bliebe kein anderer Weg als die Rückkehr zur früheren bundesrechtlich einheitlichen Anordnung der Verteilung sämtlicher Abstimmungsvorlagen und Erläuterungen an alle Stimmberechtigten innert gesetzlich definierter Frist.

Wir bitten Sie, bei allen Gemeinden Ihres Kantons und bei den Verteilorganisationen strikte auf die fristgerechte und gesetzeskonforme Verteilung aller Bundesabstimmungsunterlagen zu dringen.

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Zeitverzugslose Publikation der Abstimmungsergebnisse (Auslösung des absoluten Fristenlaufs) Nach Artikel 14 Absatz 2 hat die Kantonsregierung die vorläufigen Ergebnisse eines eidgenössischen Urnengangs aus dem ganzen Kanton zusammenzustellen, unverzüglich der Bundeskanzlei mitzuteilen und im kantonalen Amtsblatt zu veröffentlichen. Diese Veröffentlichung markiert den Beginn der absoluten Beschwerdefrist (Art. 77 Abs. 2 BPR). Aus diesem Grunde verhindert die zögerliche Publikation der von der Kantonsregierung zusammengestellten kantonalen Teilergebnisse die Erwahrung der gesamtschweizerischen Ergebnisse.

Dies kann vor allem bei Dringlichkeitsrecht fatale Folgen haben. Weil die Verspätung auch bereits eines einzigen Kantons die gesamtschweizerische Erwahrung tangiert, bitten wir Sie, künftig unbedingt auf eine umgehende Publikation der kantonalen Teilergebnisse zu eidgenössischen Urnengängen im kantonalen Amtsblatt zu dringen.

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Beschwerdewesen

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Einhaltung der Beschwerdeentscheidfristen Nach Artikel 79 Absatz 1 BPR hat die Kantonsregierung über eingegangene Abstimmungsbeschwerden binnen zehn Tagen zu entscheiden. Die erstinstanzliche Entscheidfrist ist vom Bundesgesetzgeber bewusst kurz gehalten worden, weil die Kantonsregierung bei Feststellung von Unregelmässigkeiten ,,wenn möglich vor Schluss des Wahl- oder Abstimmungsverfahrens ... die nötigen Verfügungen zur Behebung der Mängel,, soll treffen können (Art. 79 Abs. 2 BPR). Daher geht es auch nicht an, die Beschwerdeentscheidfrist durch zusätzliche Beweisanordnungsverfahren zu ,,erstrecken,, oder auf die Zeit nach der Volksabstimmung zu verschieben.

Im Zusammenhang der Volksabstimmung vom 18. April 1999 entschieden freilich einzelne Kantone über Beschwerden statt innert zehn Tagen innerhalb eines Monats, derweil andere die vom Regierungsrat entschiedenen Beschwerden erst eine Woche später versandten. Ein solches Vorgehen blockiert den Bundesrat in der Erwahrung der Abstimmungsresultate, was je nach rechtlicher oder politischer Konstellation insbesondere im Fall von Dringlichkeitsrecht sehr negative Folgen zeitigen kann. Aus diesem Grunde bitten wir Sie, allen

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damit betrauten Stellen Sinn und Zusammenhang einer fristgerechten Erledigung und Eröffnung aller kantonalen Abstimmungs-beschwerden in Erinnerung zu rufen.

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Rechtsgenügende Eröffnung

421 Rechtsmittelbelehrung Beschwerdeentscheide sind auch im Abstimmungswesen des Bundes mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen, sobald die Kantonsregierung den Rechtsbegehren einer beschwerdeführenden Person nicht vollumfänglich entsprechen kann (Art. 35 Abs. 1 und 3 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren [VwVG, SR 172.021] in Verbindung mit Art. 79 Abs. 1, 2bis und 3 BPR). Zu diesem Zweck ist im Beschwerdeentscheid das zulässige ordentliche Rechtsmittel samt der Rechtsmittelinstanz (Beschwerde an den Bundesrat) und die Rechtsmittelfrist (fünf Tage) zu nennen (Art. 35 Abs. 2 VwVG in Verbindung mit Art. 81 BPR).

Versäumt es eine Kantonsregierung, ihrem Beschwerdeentscheid diese Rechtsmittelbelehrung beizufügen, so darf der beschwerdeführenden Person daraus kein Nachteil erwachsen (Art. 38 VwVG).

Dies bedeutet, dass keine Rechtsmittelfrist läuft und das Verfahren der Erwahrung der Abstimmungsergebnisse blockiert wird, weil der Bundesrat vor der Erwahrung der Abstimmungsergebnisse über sämtliche Abstimmungsbeschwerden entschieden haben muss (Art. 81 Satz 2 BPR).

Gerne vereinfachen wir Ihnen die Aufgabe mit folgendem Redaktionsvorschlag: Gegen diesen Entscheid kann innert fünf Tagen seit Eröffnung beim Bundesrat Beschwerde erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss einen Antrag und zu seiner Begründung eine kurze Darstellung des Sachverhalts enthalten. Der angefochtene Entscheid ist kopieweise beizulegen. Die angerufenen Beweismittel sind genau zu bezeichnen und soweit möglich beizulegen.

Wir sind Ihnen dankbar, wenn Sie künftig darauf achten, keine Beschwerdeentscheide mehr ohne die bundesrechtlich vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung ausfertigen zu lassen, wie dies nach der Volksabstimmung vom 18. April 1999 leider vereinzelt vorgekommen ist.

422 Sofortige Eröffnung auch an die Bundeskanzlei und unter Hinweis auf den Versandzeitpunkt Nach Artikel 79 Absatz 3 BPR eröffnen die Kantonsregierungen ihre Beschwerdeentscheide sowie andere Verfügungen wie etwa Massnahmen zur Behebung festgestellter Mängel auch der Bundeskanzlei. Auch hier ist es unumgänglich, dass diese Orientierung unverzüglich erfolgt. Sie kann grosse Auswirkungen auf die Instruktion auch anderer Beschwerden aus andern Kantonen oder auf die Abschätzung des Handlungsbedarfs seitens der Bundesbehörden
haben. Aus diesem Grunde ist es nicht tolerierbar, dass Beschwerdeentscheide von Kantonsregierungen der Bundeskanzlei wie nach der Abstimmung vom 18. April 1999 teilweise geschehen erst mit wochenlanger Verzögerung zuge5990

Volksabstimmungen. Kreisschreiben

stellt werden. Wir sind Ihnen dankbar, wenn Sie die Staatskanzlei entsprechend instruieren.

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Konstitutiver Charakter der bundesrechtlichen Genehmigung kantonaler Ausführungsbestimmungen zu den politischen Rechten des Bundes. Bedeutung ihrer Einholung

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Wie wir bereits in unserem Kreisschreiben vom 29. Mai 1996 (BBl 1996 II 1299f) einlässlich in Erinnerung gerufen haben, hat die bundesrechtlichen Genehmigung kantonaler Ausführungsbestimmungen zu den politischen Rechten des Bundes konstitutiven Charakter (Art. 91 Abs. 2 BPR; Art. 62 Abs. 1 Satz 2 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997, SR 172.010).

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Dies bedeutet unter anderem, dass Kantone, welche bei Bundesabstimmungen kantonale Normen anwenden, für welche keine bundesrechtliche Genehmigung eingeholt worden ist, Gefahr laufen könnten, im Falle von darauf zurückzuführenden Unregelmässigkeiten einen Bundesurnengang auf eigene Kosten wiederholen zu müssen.

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Auf Wunsch ist die Bundeskanzlei auch gerne bereit, kantonale Erlassesentwürfe zu den politischen Rechten bereits einer informellen Vorprüfung zu unterziehen. Damit kann allseitiger Ungemach vorgebeugt werden.

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Aus den unter Ziffer 52 hiervor dargelegten Gründen ist die von einigen Kantonen eingeschlagene Praxis nicht risikofrei, in genehmigungspflichtigen kantonalen Erlassen das Inkrafttretensdatum bereits auf einen Zeitpunkt festzulegen, der vor den bundesrechtlich minimal reservierten beiden Monaten (Art. 4 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Verordnung vom 30. Januar 1991 über die Genehmigung kantonaler Erlasse durch den Bund, SR 172.068) für das Genehmigungsverfahren liegt.

Mit freundlichen Grüssen

11. August 1999

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Ruth Dreifuss Der Bundeskanzler: François Couchepin

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