«Sekten» oder vereinnahmende Bewegungen in der Schweiz

Die Notwendigkeit staatlichen Handelns oder Wege zu einer eidgenössischen «Sekten»-Politik Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates vom 1. Juli 1999

«Will sich der Bund mit den Menschen in diesem Land auseinander setzen und sich von ihnen tragen lassen, muss er wissen, dass die religiöse Verpflichtung für viele Menschen vor allem anderen und um jeden Preis gilt. Diese Dimension muss ins Auge gefasst werden, denn sie gehört zum Menschen unserer Zeit. Anderseits muss der Staat zeigen, dass er religiöse Gruppierungen kritisch ernst nimmt: Er muss auch Nein sagen können!» (Zitat aus den Anhörungen)

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Zusammenfassung Die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrates ist der Frage nachgegangen, ob von ,,Sekten,, und vereinnahmenden Bewegungen Gefahren für den Einzelnen, den Staat und die Gesellschaft ausgehen. Sie hat sich weiter gefragt, ob staatliche und/oder private Stellen heute die Bedürfnisse gesellschaftlicher Gruppen abklären und sich um Menschen kümmern, die ungewollt in Abhängigkeiten geraten. Letztlich ging es ihr um die zentrale Frage, ob seitens des Staates Handlungsbedarf besteht und ­ wenn ja ­ welche Massnahmen zu treffen oder zu prüfen sind.

Die Kommission bejaht die Frage nach dem Handlungsbedarf grundsätzlich. Sie hält gleichzeitig fest, dass die bestehenden Gesetze im Grossen und Ganzen genügen. Handlungsbedarf besteht namentlich im Bereich des Vollzugs; in Einzelfällen gibt es Lücken in der Gesetzgebung.

Die Kommission fordert den Bundesrat deshalb auf, eine ,,Sekten,,-Politik zu formulieren, eine schweizerische Informations- und Beratungsstelle einzurichten, eine Informationskampagne zu lancieren, die interdisziplinäre Forschung zu fördern und die diesbezügliche Zusammenarbeit von forschenden, informierenden und beratenden Gremien zu koordinieren. Sie verlangt vom Bundesrat, die Arbeit verschiedener Verwaltungsstellen, der Kantone untereinander (auf Grund kantonaler Bestrebungen) und jene zwischen Bund und Kantonen aufeinander abzustimmen und sich für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit einzusetzen. Der Bundesrat soll zudem die im Bereich der vereinnahmenden Bewegungen relevanten kantonalen Gesetzgebungen namentlich die Gesundheitsgesetzgebung, koordinieren. Was den Vollzug betrifft, fordert die Kommission den Bundesrat auf, sich insbesondere für den Schutz von Kindern einzusetzen. Sie hat zudem im Bereich des Konsumentinnenund Konsumentenschutzes Gesetzeslücken und entsprechenden Handlungsbedarf ausgemacht.

So genannte ,,Sekten,,, ,,neue religiöse Bewegungen,, und Psychogruppen,, sind eine nationale und gesellschaftliche, Alters-, Klassen-, Einkommens-, Bildungs- und andere Schranken sprengende und sich weltweit manifestierende Realität. Sie treten in den hochindustrialisierten Ländern ebenso auf wie in Ländern der so genannten ,,Dritten Welt,,. Sie können ­ zum Teil bewusst ­ unterschiedlichste Gesichter tragen und sich in vielfältigen Ausprägungen und Facetten
zeigen, die das Erkennen ihrer Formen erschweren: Es geht um christlich-fundamentalistische Gemeinschaften, neue Religionen in Japan, afrobrasilianische Kulte in Lateinamerika, unabhängige afrikanische Kirchen, spiritistische Gemeinschaften, verschiedenste kultische Phänomene, UFO-Gläubige, satanische Zirkel usw., aber auch um lose, unstrukturierte Gruppen, die sich um einen ,,Guru,, scharen, oder um religiös kaschierte Heils- und Heilungsversprechen auf dem immens boomenden Esoterik-Markt. In die Kritik geraten, berufen sie sich vorab in liberal verfassten Gesellschaften und demokratisch organisierten Staaten vornehmlich auf die verfassungsmässig garantierte Glaubens- und Religionsfreiheit.

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Bei dem von der Geschäftsprüfungskommission diskutierten Phänomen geht es gemeinhin um die Entstehung religiöser (und pseudoreligiöser) Gruppierungen am Rande oder abseits der grossen religiösen Traditionen. Ist von ihnen und ihren Anhängerinnen in nationalen und internationalen Medien die Rede, dann praktisch ausnahmslos negativ ­ sei es wegen spektakulären Ereignissen wie Morden und/oder kollektiven Selbstmorden, sei es wegen nicht minder aufwühlenden Einzelschicksalen. Deren Hintergrund sind psychische Manipulation, Abhängigkeit von der Gruppe oder totalitäre Binnenstruktur innerhalb der Bewegungen, die sich in konkreten Formen finanzieller, arbeitsrechtlicher, sozialer und seelischer Schädigung bis hin zur geistigen Entmündigung Einzelner und nicht selten in der Entfremdung von deren Familien manifestierrn. Erlebnisberichte Betroffener (und von deren familiärem Umfeld), psychologische Gutachten, Untersuchungsberichte ausländischer Regierungen und Parlamente weisen solche Praktiken seit längerem nach.

Während hier Opfer zu beklagen sind, herrschen dort die geistigen Väter solcher Bewegungen dank einer Vermischung ihrer meist fernöstlichen Philosophien mit der Philosophie des Marktes zum Teil über eigentliche Wirtschaftsimperien. Bei der vorliegenden Untersuchung geht es deshalb ausdrücklich nicht um einzelne Gruppierungen oder religiöse Inhalte, sondern um Methoden, die die gesellschaftlich relevanten und staatlich geschützten Freiheitsrechte tangieren. Eine Trennung zwischen Inhalt und Methode ist aber nicht immer möglich, so z. B. bei Gruppen mit ausdrücklichen oder latenten rassistischen, antisemitischen, rechtsextremen oder faschistoiden Tendenzen, die auf Grund der Antirassismus-Strafnorm strafbar sind.

Die Kommission hat im Verlauf ihrer Arbeit einen Bewusstseinsprozess durchlebt.

Sie wurde mit einer zentralen Tatsache konfrontiert, die ihre Untersuchung in einen historischen wie aktuellen Kontext gestellt hat: Die Schweiz ist eine multikulturelle und multireligiöse und von religiösem Pluralismus geprägte Gesellschaft. Religiöse Überzeugungen und Glaubensgemeinschaften, die dem traditionellen, von den Landeskirchen und Schulen vermittelten christlichen Weltbild nicht entsprechen, waren immer schon Bestandteil unserer Kultur und haben sich an der Gestaltung unseres Landes massgeblich
beteiligt ­ zum Teil seit Jahrhunderten. Dazu gehören sowohl grosse Weltreligionen wie das Christentum katholischer und protestantischer Prägung, das Judentum, der Islam oder traditionelle wie jüngere Freikirchen, aber auch als ,,Volksfrömmigkeit,, verschriene (und zuweilen ausgegrenzte) Glaubensüberzeugungen. Ihren Anhängern ist ihr Glaube religiöse Heimat und die Schweiz politische und emotionale Heimat. Sie zahlen Steuern, leisten Militärdienst, absolvieren ihre Ausbildung und bilden als Arbeitgeberinnen und -geber und als Arbeitnehmerinnen und -nehmer einen Teil unserer Wirtschaft und der Verwaltungen von Bund und Kantonen. Sie wollen in ihrer jeweiligen religiösen Identität anerkannt und ernst genommen werden. Insofern kommt der Staat faktisch bereits heute nicht darum herum, sich mit Fragen der Religion auseinander zu setzen.

In den letzten Jahren haben sich Politikerinnen und Politiker im Ausland (v. a. in Deutschland) auf höchster Ebene in die Diskussion eingemischt, klare Positionen bezogen und teilweise unliebsame Entscheide getroffen. Frankreich, Schweden und das europäische Parlament haben ,,Sekten,,-Berichte veröffentlicht, und in Österreich wie in Deutschland wurden Informationskampagnen lanciert. Was Auswüchse

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von sogenannten ,,Sekten,, ­ im Französischen ist von ,,dérives sectaires,,die Rede ­, neuen religiösen Bewegungen und Psychogruppen sowie deren Praktiken betrifft, hat der schweizerische Staat hingegen keine eigene Haltung erkennen lassen. Der Bundesrat verweist auf die Verfassung (Glaubens- und Religionsfreiheit), auf das föderalistische Element (Glaubensfragen sind Kantonsangelegenheiten) und auf die Privatinitiative. Politische und gerichtliche Behörden sind entsprechend zurückhaltend. Im Gegensatz dazu setzt sich ein Teil der Presse vorab in der deutschsprachigen Schweiz seit Jahren engagiert, kritisch und zuweilen emotional und agressiv mit dem Phänomen auseinander. Die französischsprachige Schweizer Presse ist sich der Brisanz des Themas spätestens seit dem Sonnnentempler-Drama vom Oktober 1994 bewusst und räumt ihm seither vermehrt Raum ein. Seither hat sich auch in der kantonalen Politik einiges bewegt: Auf Initiative des Kantons Genf hat eine interkantonale Arbeitsgruppe mit dem Aufbau einer Informations- und Dokumentationsstelle begonnen. Die Kantone Basel-Stadt und Genf haben Gesetzesbestimmungen in Kraft gesetzt bzw. Vorlagen ausgearbeitet und die Kantone Genf und Tessin eigene ,,Sekten,,-Berichte veröffentlicht. Im Kanton Waadt sollen künftig Gymnasiastinnen und Gymnasiasten im 3. Schuljahr das Wahlfach ,,Religionsgeschichte und -wissenschaft,, belegen können.

Handlungsbedarf besteht nicht ausschliesslich auf Grund internationaler Bestrebungen und dem Handeln einzelner Kantone, sondern auch basierend auf einem Charakteristikum der heutigen Gesellschaft: Was den religiösen Pluralismus im ausgehenden 20. Jahrhundert in seiner Qualität verändert, ist die Tatsache, dass die globale Religionslandschaft wie jene der Schweiz breit aufgefächert und unübersehbar zersplittert ist und gleichzeitig einem raschen Wandel unterliegt. Dazu kommt, dass Jahrhundertwenden Endzeitstimmung produzieren und die Menschen für Heils- und Heilungsangebote verschiedenster Art besonders anfällig machen.

Die damit verbundene Problematik ist nach Meinung der Kommission gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch relevant und verlangt deshalb ­ entgegen der bisherigen, historisch begründeten Praxis ­ nach einer klaren Stellungnahme des Staates: Er anerkennt bekannte Weltreligionen und kleinere Glaubensgemeinschaften,
die sich im Rahmen der gesellschaftlich wie staatlich tolerierten Schranken bewegen, und behandelt sie als gleichberechtigte Partner. Er sorgt damit dafür, dass diese namentlich die verfassungsmässige Glaubens- und Religionsfreiheit wahrnehmen können. Er handelt nicht, wo ihm dieses Grundrecht Schranken setzt, schreitet aber ein, wo dasselbe Grundrecht in Artikel 15 Absatz 4 es verbietet, diesbezüglichen Zwang auszuüben: Der Staat muss entschieden Einhalt gebieten, wenn Rechte von Gruppen, einzelnen Gruppenmitgliedern und Individuen ausserhalb von Gruppen gefährdet oder unterdrückt werden.

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Der Staat bringt in der vom Religionspluralismus geprägten Schweiz gleichzeitig eine gesellschaftliche Auseinandersetzung in Gang und macht insbesondere klar, dass die universalen Menschenrechte den gemeinsamen und massgebenden Nenner für ein Funktionieren unserer Gesellschaft (aber auch das Handeln des Staates) bilden. In dieser Funktion übernimmt er die Rolle eines Hüters der Toleranz und übernimmt eine tragende Rolle bei der weiteren Entwicklung der von Staat, Gesellschaft, Religions- und Glaubensgemeinschaften geprägten Spielregeln und leistet einen Beitrag zur Identität der Schweiz für das 21. Jahrhundert.

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I

Auftrag, Organisation und Vorgehen

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Ausgangslage

Die Frage der Zuständigkeit für ,,Sekten"-Fragen auf Bundesebene, insbesondere aber das Sonnentempler-Drama führten zum Beschluss der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates, sich mit der Problematik der ,,Sekten", der vereinnahmenden Bewegungen und neuer religiöser Bewegungen zu befassen. Auslöser war insbesondere auch die Tatsache, dass zunehmend Fälle bekannt und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, bei denen Einzelne in der Ausübung demokratischer Grundrechte, so der freien Meinungsbildung oder der freien Willensäusserung, behindert werden.

Auf die Feststellung eines Mitglieds der GPK, bei der Zentralstelle für Gesamtverteidigung fände sich (im Februar 1997) kein Hinweis auf das Sonnentempler-Drama und auf die damit verbundene Frage nach ethischen Grundlagen der Sicherheitspolitik, wies ein Vertreter des damaligen EMD (das heutige VBS) für das Verständnis des Begriffes "Bedrohung" neben dem militärischen auch auf die "sozialen und religiösen Gesichtspunkte" hin.

Die Kommission wurde in ihrer Absicht, die Frage nach der Notwendigkeit staatlichen Handelns zu prüfen, bestärkt durch ­

den Umstand, dass verschiedene Amts- und Dienststellen des Bundes im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabengebietes wenn auch nur am Rande, aber doch immer wieder mit so genannten "Sekten" und ähnlichen Gruppierungen konfrontiert sind;

­

die Tatsache, dass weder eine minimale Koordination noch Umrisse einer kohärenten Zielsetzung oder gar Anzeichen einer eigentlichen "Sektenpolitik" wahrzunehmen sind.

Die konsultative Staatsschutzkommission (KSK), das beratende Organ des EJPDVorstehers in Staatsschutzfragen, kam im Nachgang zum Sonnentempler-Drama zum Schluss, "die Sekten unter der Optik des Staatsschutzes [seien] kein Objekt, das näher angeschaut werden muss". Ein Bericht des EJPD zuhanden der KSK vom Juli 1998 insbesondere zur Frage, ,,inwieweit die Scientology eine Bedrohung der Sicherheit der Schweiz darstellen könnte", weist bezüglich Scientology auf ,,an totalitäre Systeme erinnernde Grundsätze", ,,bedeutende finanzielle Komponenten", eine ,,psychologische Zwangslage für die Mitglieder in etlichen Fällen" sowie ,,nachrichtendienstähnliche Aktivitäten" hin. Der Bericht gelangt zum Schluss, auf eine präventivpolizeiliche Überwachung sei heute zu verzichten, die Situation aber (auch im internationalen Umfeld) weiter zu verfolgen. Bezüglich der ,,Sekten" im Allgemeinen verweist der Bericht auf die Anwendung bestehender privat-, öffentlich- oder strafrechtlicher Normen, erachtet es aber auch als nützlich, ,,wenn der Öffentlichkeit und den Behörden neutrale Informationen über die Entwicklungen auf religiösem Gebiet" zur Verfügung stünden, beispielsweise in Form einer Beobachtungsstelle an einer wissenschaftlichen Institution.1

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Scientology in der Schweiz. Bericht zuhanden der Konsultativen Staatsschutzkommission, hrsg. vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, Juli 1998, S. 123 ff.

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Der Auftrag der GPK und seine Grenzen

Es ist Aufgabe der GPK, die Erfüllung von Bundesaufgaben zu prüfen. Daraus leitet die Kommission die Legitimation für die Untersuchung einer von Bundesrat und Verwaltung nicht wahrgenommenen Aufgabe ab. Auch wenn sich keine Dienststelle systematisch mit der Thematik der "Sekten", "Neuen Religiösen Bewegungen" und "Psychogruppen" befasst, sind sehr wohl Berührungspunkte in diesem Zusammenhang auszumachen, nicht zuletzt bei der (Ende 1998 aufgelösten) Zentralstelle für Gesamtverteidigung. Der Sekretär der Lagekonferenz befasst sich persönlich intensiv mit der Thematik, auch wenn er gegenüber der Kommission festgehalten hat, dass ,,personne ne s'occupe spécifiquement de la question des sectes au sein de cet office".

Die Kommission hat u. a. folgende Fragen diskutiert: ­

Gehen von "Sekten", "Neuen religiösen Bewegungen" und "Psychogruppen" Gefahren für den Einzelnen, den Staat und die Gesellschaft aus? Gelten solche Gruppierungen als gesellschaftliche Randerscheinung, oder kommt ihnen eine die ganze Gesellschaft erfassende Bedeutung zu? Besteht allenfalls Handlungsbedarf auf Verfassungs- oder auf Gesetzesebene?

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Welche staatlichen und/oder privaten Stellen klären die Bedürfnisse gesellschaftlicher Gruppen ab und kümmern sich um Menschen, die ungewollt in Abhängigkeiten geraten und sich vor den immer wieder angeprangerten Methoden solcher Gruppierungen schützen wollen? Bestehen gesetzliche Grundlagen, um entsprechend vorgehen zu können? Existiert diesbezüglich eine einheitliche Rechtsprechung?

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Wie können angesichts z. T. unvorhersehbarer Entwicklungen von Konfliktphänomenen verlässliche Informationen verbreitet werden, falls das als notwendig erachtet wird? Sind allenfalls staatliche und/oder private Organe zu schaffen, die eine eigentliche "Sekten"-Politik mit einer gezielten und dauerhaften Aufklärungs- und Informationstätigkeit umsetzen?

Nicht Bestandteil der Inspektion war die inhaltliche Auseinandersetzung mit einzelnen "Sekten", "Neuen religiösen Bewegungen" oder "Psychogruppen", soweit dies überhaupt möglich war. Es ging der GPK in erster Linie um die Ziele, Praktiken und Methoden und deren Konfliktwirkung unabhängig von einzelnen Gruppierungen.

Der vorliegende Bericht soll ein allfälliges Gefahren- und Konfliktpotential skizzieren, zur Versachlichung der Diskussion beitragen, Empfehlungen abgeben und so einen Beitrag zur Aufklärung und zur Meinungsbildung von Behörden und Öffentlichkeit leisten.

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Organisation und Vorgehen

Der Sektion Behörden der GPK-N gehören folgende Mitglieder an: Nationalrat Fulvio Pelli (Präsident), die Nationalrätinnen und Nationalräte Pierre Aguet, Angeline Fankhauser, Christiane Langenberger, Hubert Lauper, Walter Schmied, Luzi Stamm, Alexander Tschäppät (Präsident der Sektion bis 31.12.97), Milli Wittenwiler.

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Die Sektion wurde von der Sekretärin der Geschäftsprüfungskommission und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt. Für die Behandlung spezieller Fragen hat die Sektion Rechtsanwalt Dr. Urs Eschmann als Experten beigezogen.

32 Die Sektion Behörden der GPK-N tagte an folgenden Tagen: 28. Mai, 14./15.August, 15./16. Oktober 1997, am 8. September, am 20. Oktober, am 12. und 17. November 1998, am 20. Januar, am 23. Februar, am 16. März sowie am 15. Juni 1999.

Sie hörte insgesamt 23 Personen an (im Bericht als ,,angehörte Personen" oder ,,Angehörte" bezeichnet).

Das berufliche Spektrum der angehörten Personen ­ Recht, Psychologie, Soziologie, Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Journalismus ­, deren konkrete Beschäftigung mit dem Thema ­ staatlich finanzierte Forschung an Universitäten, Rechtsprechung, kirchliche und vorwiegend freiwillige private Beratungstätigkeit ­ sowie die unterschiedliche Betrachtungsweise im internationalen Vergleich sind Hinweise auf die Vielfalt möglicher und für sich genommen allesamt legitimer Betrachtungsweisen. Dieses Spannungsfeld, zusätzlich genährt von der versuchten Einflussnahme einzelner "Sekten", "Neuer religiöser Bewegungen" und "Psychogruppen" in Politik und Wirtschaft, macht die emotionale Sprengkraft des Themas offensichtlich ­ auch die GPK ist davon nicht unberührt geblieben.

Die Sektion hat überdies den Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten sowie Vertreter der Eidgenössischen Steuerverwaltung sowie einen Vertreter des Bundesamts für Kultur angehört. Sie lud zudem einige Gruppierungen ein, unter ihnen solche, die ihrerseits den Wunsch geäussert hatten, angehört zu werden. Vier von sechs Organisationen machten von der Einladung zum Gespräch Gebrauch. Gegenstand dieser Sitzungen waren weder Überzeugungen noch religiöse Inhalte, sondern die Frage, ob und wie weit bezüglich neuer religiöser Bewegungen, vereinnahmender Bewegungen oder ,,Sekten" seitens der Bundesbehörden Handlungsbedarf besteht.

33 Die Sektion beauftragte die Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle (PVK), folgende Fragen zu beantworten: ­

Wer setzt sich mit der "Sekten"-Bewegung bzw. -Entwicklung in der Schweiz auseinander und in welcher Form (Bundesstellen, Kantone, Kirchen, private Organisationen)?

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Gibt es Formen der Unterstützung (z. B. Subventionen, Steuererleichterungen) von "Sekten" auf Bundes- bzw. Kantonsebene?

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Sind auf Bundesebene Instrumente oder Massnahmen im Umgang mit dem ,,Sekten"-Phänomen denkbar? Wenn ja, welche?

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Feststellungen der PVK2

Die PVK kommt in ihrem Arbeitsbericht vom 20. Februar 1998 zu folgenden Resultaten: ­

Keine Dienststelle des Bundes befasst sich systematisch mit dem ,,Sekten"Phänomen bzw. einzelnen Aspekten; die Thematik kann aber wohl die Aufgabengebiete verschiedener Verwaltungsstellen tangieren. Einige Kantone reagierten mit Entwürfen für eine eigene Gesetzgebung, während andere nicht aktiv werden. Ausserhalb des Bundes befassen sich kirchliche und universitäre Stellen sowie private Organisationen mit diversen Aspekten des Phänomens.

­

Es ergaben sich keine Hinweise auf eine steuerliche Privilegierung bzw.

direkte Unterstützung von ,,Sekten" (Befreiung von der direkten Bundessteuer, Entrichtung von Subventionen oder Beiträgen).

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Die breite Palette der Meinungen über mögliche Massnahmen reicht vom Nicht-Tätig-Werden über die Förderung der universitären Forschung und Unterstützung der Informations-, Aufklärungs- und Beratungsarbeit privater Organsationen bis zur Einrichtung einer spezifischen Dienststelleneinheit in der Bundesverwaltung und der Definition einer eigentlichen ,,Sekten"-Politik des Bundes.

II

Aktuelle Problematik

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"Sekte": Ein unklarer Begriff

Die Definition des historisch vorbelasteten Begriffs "Sekte" ist schwierig und bleibt problematisch. Jeder Versuch, ihn mit einem klar umrissenen und von Wertungen freien Inhalt zu versehen, muss auch angesichts der unterschiedlichen Optik, aus der heraus er betrachtet werden kann, scheitern. Folgende Auswahl mag das verdeutlichen: Neben "Sekten" ist von "Jugendreligionen" (v. a. in den 60er-Jahren).

"Psychogruppen", "destruktiven Kulten", "fernöstlichen Gurubewegungen", "okkultistischen Organisationen", "Organisationen, die im Schutz der Religionsfreiheit arbeiten" oder (auf politischer Ebene) von "Religionsgemeinschaften, so genannten Jugendsekten und Psychogruppen", von "so genannten Sekten und Psychogruppen" oder auch ­ allgemeiner ­ von "Neuen religiösen Bewegungen" die Rede. Letzterer beinhaltet auch die Begriffe "audience cult", "client cult" und "cult movement", die eher der Organisationsform Ausdruck geben und dem "Wunsch nach religiöser Unverbindlichkeit und konsumistischem Umgang mit den Angeboten eines religiösen Supermarktes" entsprechen wollen. Eine Schwierigkeit ist auch die Tatsache, dass eine juristische Definition des Begriffs "Sekte" europaweit fehlt.

"Sekte" ist ein ,,religionswissenschaftlicher Begriff für kleinere Glaubensgemeinschaften, die sich von einer Mutterreligion abgespalten haben, sowie für weltanschauliche Gruppen, die mit religiösem Anspruch auftreten, ohne jedoch unmittelbar aus einer grösseren Religionsgemeinschaft durch Abspaltung entstanden zu sein. Immer aber ist ,,Sekte" eine Kennzeichnung von aussen, da die betreffenden

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Arbeitsbericht der PVK vom 20. Februar 1998, im Anhang zu diesem Bericht.

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Gruppen sich nicht als Sekten verstehen".3 Er wird im allgemeinen Sprachgebrauch oft gleichbedeutend mit "radikal", "extremistisch", "vereinnahmend", "totalitär" oder "destruktiv" verwendet und birgt damit die Gefahr pauschaler Abwertung und undifferenzierter Stigmatisierung von Glaubensgemeinschaften und -inhalten in sich.

Vermeintlich gebrandmarkte oder sich gebrandmarkt fühlende Gruppierungen lehnen die Bezeichnung "Sekte" ab und bevorzugen den in der Religionswissenschaft und in der Religionssoziologie verwendeten ­ und so wissenschaftlich neutralisierten ­ Begriff "Neue religiöse Bewegungen", nicht zuletzt, um sich selbst mit religiöser Authentizität zu versehen. Auch dieser Begriff wirft aber Fragen auf: Ist eine sich als "Kirche" bezeichnende Gruppierung, die sich als Opfer einer "Religionsverfolgung" sieht, mit einer im günstigsten Fall dürftigen religiösen Substanz wirklich eine "Neue religiöse Bewegung"? Darf eine Bewegung, die sich trotz gegenteiliger Indizien als religiös darstellt, als gefährliche Vereinigung, die sich als Religion getarnt hat, bezeichnet werden?

Einzelne Bewegungen passen ihre Etiketten den von Staat zu Staat unterschiedlichen Gegebenheiten an: Sie nennen sich in einem Land "Kirche" und im andern "Zentrum für angewandte Philosophie", wo sie sich, von der Justiz behelligt, zur "verfolgten religiösen Minderheit" erklären. Während redliche Gruppierungen in keinerlei Konflikte geraten, benützen fragwürdige Vereinigungen den Begriff "Neue religiöse Bewegungen" auch, um für sich den Schutz der Religionsfreiheit in Anspruch zu nehmen.

Der Begriff "Sekte" ist nicht wertneutral und auch keine "wissenschaftliche Kategorie mit genau definierten Merkmalen für bestimmte Glaubensformen oder Lebensstile".4 Er ist zu einem politischen Streitbegriff geworden, der ­ gerade deshalb ­ umso mehr nach einer genaueren Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes als sozialem Phänomen verlangt.

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"Sekten": Realität und Marktphänomen in einer pluralistischen Gesellschaft

Das ,,Sekten,,-Phänomen muss im Kontext der heutigen Gesellschaft ­ zunehmende Zersplitterung und Individualisierung, eine sich zuspitzende berufliche Spezialisierung bei gleichzeitiger Transformation der Berufswelt sowie ein ausgeprägter Pluralismus, was religiöse und philosophische Fragen betrifft, ­ gesehen werden. Bestimmte menschliche Grundbedürfnisse erhalten immer weniger Raum: Soziale Netze reissen, die kreative Komponente in der Arbeit schwindet, die materielle Seite des Daseins wächst auf Kosten der Sinnfrage, der rasche Wandel fördert die Unsicherheit und steigert das Frustrationspotential. Hinzu kommt: Die (westliche) Gesellschaft orientiert sich nicht mehr an einem gemeinsamen Wertprinzip. ,,Sekten,, bieten sich in dieser Zeit des Wertewandels mit den damit verbundenen Unsicherheiten als Auffangbecken an: Sie offerieren Gemeinschaftsgefühl, kompensieren die soziale Isolation, geben den sich als Nummern fühlenden Individuen eine Identität und liefern (oft absolute) Antworten auf die Sinnfrage, d. h. sie befriedigen das Bedürfnis

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Nach Meyers Lexikon.

Flammer, Philipp: "'Sekte': Können wir auf dieses Wort verzichten?" Referat in der Paulus-Akademie Zürich vom 16./17. März 1996 zum Thema "Missbrauchte Sehnsucht.

Oder: Was ist eine Sekte?", in: infoSekta, Tätigkeitsbericht 1996, S. 20 f.

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nach Sicherheit, wie eine schon 1982 erstellte Studie über Sekten in der Romandie festgestellt hat.5 Parallel zur rasant zunehmenden Ausrichtung lokaler, regionaler und nationaler Wirtschaftseinheiten auf die globale Dimension der Wirtschaft (,,Weltwirtschaft,,) mit dem damit verbundenen sozio-kulturellen Wandel ist eine Globalisierung auf Glaubensebene zu beobachten, die ,,dadurch geprägt ist, dass gewisse `Religionsunternehmungen' eine internationale Strategie verfolgen,,. Es ist deshalb naheliegend, dass sich auch der religiöse Wandel auf einem eigentlichen Religionsmarkt abspielt, auf dem Konsumentinnen und Konsumenten Bekenntnisse und vor allem Glaubenssysteme auswählen können.

Die Vielfalt und die unüberblickbare Zahl der Bewegungen gilt, soziologisch gesehen, als eines der Merkmale der Moderne und der Postmoderne. Dabei ist ein eigentliches ,,kultisches Milieu,, entstanden: ,,Das Wort `cult' bezeichnet im Englischen vor allem solche Gruppen, die von der herrschenden religiösen Tradition `abweichen'. Doch können diese nur im Zusammenwirken mit einem ihnen günstigen Milieu in grosser Zahl entstehen. Dieses `Milieu' ist das heterogene Sortiment von `abweichenden' Glaubenssystemen und damit verbundenen Praktiken. Dabei handelt es sich nicht zwangsläufig um `Religionen' im engeren Sinn. Im `cultic milieu' begegnen sich Alternativmedizin, Parapsychologie, exotische spirituelle Bewegungen, Interesse am Fremden, EsoterikOkkultismus usw. Ohne dass eine ausdrückliche Beziehung zwischen ihnen besteht, tendieren diese sehr unterschiedlichen Gebiete in der Tat dazu, sich gegenseitig zu stärken. Sie sind in eine Atmosphäre gehüllt, die die Suche nach neuen Werten fördert, und wer sich für eines dieser Gebiete interessiert, gerät früher oder später beinahe zwangsläufig in Berührung mit den anderen, denn die Informationsquellen sind oft die gleichen Buchhandlungen, die gleichen Zeitschriften, die gleichen Versammlungsorte. (Campbell 1972).,,6 An dieser Stelle gilt es, einem verbreiteten Missverständnis zu begegnen: Der globale Markt für Glaubensfragen richtet sich nicht auf eine bestimmte und klar definier- und strukturierbare Kundschaft aus, wie der Ende der 60er-Jahre verbreitete Begriff ,,Jugendsekten,, (mit den damit verbundenen Anfängen einer ,,Sekten,,-Aufklärung durch besorgte Elternvereinigungen)
suggeriert. Die Deutung des ,,Sekten,,Phänomens als ,,Krise des Individuums,, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um gesellschaftliche Dimensionen geht, oder, um die Formulierung eines Angehörten zu verwenden: ,,Alle sind sektenanfällig": Von ihren Anschauungen überzeugte Menschen geben ein engagiertes Leben schneller auf, als man gemeinhin annimmt.

Andere gehen so weit, wissenschaftlich erhärtete Tatsachen für pseudowissenschaftliche Behauptungen einzutauschen.

Eine weitere Aufsplitterung und Verbreitung religiöser und pseudoreligiöser Formen und Inhalte wird künftig kaum aufzuhalten sein. Folglich werden auch Auswüchse ­ seien es individuelle "stille", weil "unspektakuläre", oder explosionsartige kollektive und damit "spektakuläre" Dramen ­ zunehmen. Von einer "Epidemie" zu sprechen, ist aber aus verschiedenen Gründen unangebracht: Eine solche Betrachtungsweise 5 6

Campiche, Roland F.: Les sectes religieuses: sociétés dans la société suisse romande, in: Repères, Revue romande, Nr. 4, 1982, S. 8 f.

Mayer, Jean-François: Sekten und alternative Religiosität, in: Hugger, Paul (Hg.): Handbuch der schweizerischen Volkskultur. Leben zwischen Tradition und Moderne ­ ein Panorama des schweizerischen Alltags, Band 3, Zürich 1992, S. 1482.

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suggeriert erstens gleichsam einen Impfstoff, sprich eine einfache Lösung. Zweitens erlaubt es der äusserst ,,reichhaltige,, Religionsmarkt und das stark durchlässige kultische Milieu ­ es ist ein starker ,,Tourismus,, der Anhänger zwischen den Gruppierungen zu beobachten ­ nicht, quasi en bloc betrachtet und beurteilt zu werden.

Drittens dürfen Betroffene nicht entmündigt, sondern müssen ernst genommen werden. Viertens ist das Phänomen zu dynamisch, stellt doch die Entwicklung den Beobachter vor enorme Probleme: ,,Ist das, was er heute schreibt, morgen noch gültig? Bleiben die Tendenzen, wie sie sind? Werden heute noch unbekannte Gruppen dereinst eine prominente Stellung in der Szene der Minderheitsreligionen erlangen?,,7 Die Zunahme von Techniken und Glaubensbekenntnissen bedeutet aber nicht, ,,dass die Zahl ihrer Anhänger in gleichem Masse steigt. Die Bestände vieler Gruppen bleiben im Gegenteil eher bescheiden.,,8 Die realen und objektiven Gefahren, zu denen neben eigentlichen Dramen auch eine Entfremdung und Entpolitisierung der Menschen gehören, dürfen dennoch nicht unterschätzt und als lokale Ereignisse isoliert betrachtet werden, sondern müssen ­ nicht zuletzt angesichts der potentiellen Anfälligkeit aller ­ als gesellschaftliches und sozialpolitisches Problem betrachtet werden. Die gesellschaftliche Aufgabe besteht deshalb darin, auf breiter Ebene mit geeigneten Mitteln Verirrungen und Auswüchsen präventiv zu begegnen. Folglich müssen jene Strukturen, Merkmale und Methoden identifiziert werden, die dem Religiösen, Spirituellen, Esoterischen, aber auch den Angeboten auf dem Lebensbewältigungsmarkt die Eigenschaft des Problematischen bis Gefährlichen verleihen, aus denen das Konfliktpotential entsteht.

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Eine Bestandesaufnahme

Was quantitative Angaben betrifft, gehen die Angaben auseinander. Basierend auf der eidgenössischen Volkszählung von 1990 bekennen sich laut Jean-François Mayer weniger als 2% der Bevölkerung zu Glaubensbekenntnissen (,,croyances,,) ,,als konstituierte Gruppen,, ausserhalb der grossen Religionen; deren Angehörige verteilten sich auf rund 300 religiöse Gruppen. An einem andern Ort spricht derselbe Autor von ,,weniger als 3%,, und von ,,mindestens 200 bis 300 Gruppen,,,9 wieder andernorts von ,,300 bis 600 Gruppen,,. Die Ökumenische Arbeitsgruppe ,,Neue Religiöse Bewegungen in der Schweiz,, erwähnt die Zahl von über 600 Gruppen10, so auch der Journalist Hugo Stamm. Nach Angaben von Prof. Georg Schmid von der Informationsstelle der evangelischen deutschschweizer Kirchen erwähnt die 7., in Vorbereitung befindliche Auflage des Handbuchs von Oswald Eggenberger 700 bis 800 Gruppierungen. Die divergierenden Zahlen11 sind zum einen auf unterschiedliche Interessenlagen der Autoren, zum andern auf das Phänomen an sich zurückzuführen. So sind nicht alle Gruppen als solche konstituiert und entsprechend 7 8 9 10 11

Mayer, Sekten und alternative Religiosität, S. 1472.

Mayer, Sekten und alternative Religiosität, S. 1472.

Mayer Jean-François, La liberté religieuse à l'heure du pluralisme. Rutherford Institute, Rapport sur la Suisse, Paris, août 1997, S. 3.

Ökumenische Arbeitsgruppe ,,Neue religiöse Bewegungen in der Schweiz,, ­ Entwicklungen 1979­1997, S. 5.

Auf die Schwierigkeit der quantitativen Erfassung weist auch der Bericht einer französischen parlamentarischen Untersuchungskommission hin; Les sectes en France. Rapport Parlementaire, Paris 1996, S. 41.

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statistisch erfasst respektive erfassbar. Deshalb ist von einer unüberschaubaren, unstrukturierten und letztlich nicht bezifferbaren Grauzone auszugehen, was die Gefahr mit sich bringt, das Interesse auf wenige bekannte Gruppen zu lenken. Die Schweiz scheint aber statistisch gesehen (mit Grossbritannien und den Niederlanden) von der Multiplikation religiöser Bewegungen am stärksten betroffen zu sein.

Laut Volkszählung waren im Jahre 1990 39,98% der Bevölkerung (ca. 2,7 Mio.)

Protestanten12 (1980: 44,3%) und 46,32% Katholiken13 (ca. 3,1 Mio.) (1980: 47,9%). Rund 58 000 Personen gehörten ,,anderen christlichen Religionsgemeinschaften,,14 und weitere 30 000 ,,anderen religiösen Gemeinschaften und Philosophien,, (zu denen z. B. auch die Buddhisten zu zählen sind) an. 17 500 Personen zählten sich zur israelitischen und 152 000 zur mohammedanischen Religionsgemeinschaft. Rund 51 000 Menschen gaben ,,keine Zugehörigkeit,, an, während 100 000 Personen keine Angaben über ihre religiösen Präferenzen machten. Die Zahl jener, die sich als keiner Religion zugehörig bezeichnen, ist von 3,8% 1980 auf 7,4% 1990 angewachsen. Die zwei grossen christlichen Kirchen stellen für eine immer grössere Zahl religiös orientierter Menschen nicht mehr die Norm in Glaubensfragen dar, und es wird geschätzt, dass heute rund ein Fünftel der Schweizerinnen und Schweizer sich als keiner Religion oder Konfession zugehörig bezeichnen.

Diese Zahlen, verknüpft mit dem Hinweis darauf, dass beispielsweise die Zeugen Jehovas zur sozialen Integration vorab der Einwanderer aus Italien, Spanien und Portugal beigetragen haben, lassen folgenden Schluss zu: Die Religionslandschaft Schweiz unterscheidet sich in ihrer Vielfalt nur unwesentlich von den religiösen Mustern anderer Staaten unseres Kulturkreises ­ eine ,,neue Situation in einem Land, das nie eine koloniale Tradition gehabt hat und sich nicht als Einwanderungsland bezeichnet.,,15 Die Schweiz gilt heute vorab als ,,Importland für praktisch jede Bewegung,,, hat eigene Gruppierungen (Methernita, Uriella usw.), exportiert aber praktisch keine Mystiken.

Zahlreiche Medienkommentare zu einer vom Institut für Sozialethik in Lausanne durchgeführten Studie über die Glaubens- und Konfessionszugehörigkeiten in der Schweiz16 deuten die zunehmende Konfessionslosigkeit (rund 12 Prozent oder 500'000
Personen) als ,,Ungläubigkeit,,: Auch wenn immer mehr Menschen erklären, an keine kirchliche Organisation gebunden zu sein, haben sie gleichwohl ihren Glauben, so dass ,,unsere Gesellschaft sich vielmehr durch einen ­ in unterschiedlichen und vielfältigen Formen auftretenden ­ Glaubensüberfluss als durch einen Glaubensmangel auszeichnet,,.

Die unter dem Sammelbegriff ,,Neue Religiöse Bewegungen,, zusammengefassten und nicht mehr dem christlichen Gedankengut im weitesten Sinn zuzuordnenden Gruppierungen haben in den 50er- und 60er-Jahren in der Schweiz Fuss zu fassen 12 13 14 15 16

Evangelisch-reformierte Kirche, evangelisch-methodistische Kirche, übrige protestantische Kirchen.

Römisch-katholische Kirche, christkatholische Kirche, ostkirchlich-orthodoxe und orientalisch-christliche Kirchen.

Neuapostolische Kirche (ca. 30 000), Zeugen Jehovas (19 500), übrige christliche Religionsgemeinschaften (8300).

Roland Campiche und Claude Bovay, zitiert aus: Mayer, Jean-François: Suisse: La liberté religieuse ..., S. 2.

Office fédéral de la statistique: L'évolution de l'appartenance religieuse et confessionnelle en Suisse, Berne 1997.

9896

begonnen. Zum einen handelt es sich um ,,kulturellen Import,, aus Indien, Japan bzw. dem asiatischen Kulturraum und um esoterische Gedankenwelten, zum anderen um ,,kulturelle Innovationen,, innerhalb der abendländischen Gedankenwelt ohne Berufung auf die christliche Tradition (z. B. Scientology). Neue einheimische Religionen sind eher selten. Auch wenn die Schweiz als ,,Drehscheibe,, im so genannten Religionsmarkt gilt, unterscheidet sich die Entwicklung im Vergleich mit anderen Staaten nicht wesentlich, denn ,,angesichts der Krise des Individuums ist heute jede westliche Gesellschaft sektenanfällig,, ­ allerdings wirkt sich der relative materielle Wohlstand auf die Sektenanfälligkeit aus: ,,Der Menschentyp reich und unglücklich ist in der Schweiz besonders häufig anzutreffen.,, Für den Religionsmarkt Schweiz mit einer spirituellen Nachfrage und einem entsprechend breiten Angebot an Orientierungen und Bewegungen gehen einige der angehörten Personen aus zwei Gründen von einer Selbstregulierung aus: Zum einen stellt die Fülle des Angebots nicht den besten Nährboden für eine stabile und dauerhafte Verankerung dar,17 zum andern regeln sich ,,die politischen und religiösen Extreme bei normalen wirtschaftlichen Verhältnissen selbsttätig. Die Schweizer sind Extremen gegenüber abgeneigt,,.

Die in den Anhörungen vertretene Meinung, zwischen der deutschen und französischen Schweiz bestünden Unterschiede in der Haltung gegenüber vereinnahmenden Bewegungen ­ die französische Schweiz sei toleranter ­ ist nach dem Sonnentempler-Drama zu relativieren: Interessanterweise ist es die Westschweiz, die eine kantonsübergreifende Zusammenarbeit anstrebt. Zudem wurde auf den Einfluss des jeweiligen Nachbarlandes auf die Haltung der Sprachgruppen in der Schweiz, d. h.

Deutschland, Frankreich und Italien, hingewiesen.

4 41

Analyse der Kommission Vorbemerkung: Menschenrechte, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit als Garanten für Freiheit, Chancengleichheit und Toleranz

Die Kommission war sich von Anfang an einig, dass es bei ihrer Untersuchung nicht um religiöse, weltanschauliche oder andere Inhalte gehen kann, mit denen der Mensch sein Dasein seit jeher zu erklären versucht. Die für die Suche nach der Wahrheit notwendige Freiheit wie der für die Entwicklung der Spiritualität unabdingbare Raum sind ebensowenig Thema ihrer Arbeit. Auf die Rolle des Staates bezogen bedeutete das für die Kommission: Der grundrechtliche und umfassende Schutz des Individuums vor staatlichen Eingriffen ­ eines der ältesten Grundrechte in der Verfassungstradition europäischer Staaten ­ darf nicht angetastet werden.

Artikel 15 der neuen Bundesverfassung vom 18. Dezember 1998 hält an dem in diesem Zusammenhang relevanten Grundprinzip fest: Er gewährleistet die Glaubensund Gewissensfreiheit, garantiert die freie Wahl von ,,Religion und weltanschaulicher Überzeugung,, sowie deren Ausübung ,,allein oder in Gemeinschaft mit anderen,, und gibt das Recht, ,,einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen,,. Diese Garantien werden überdies von Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Artikel 18 des in17

Mayer, Sekten und alternative Religiosität, S. 1480. Die Bemerkung des praktisch exklusiven Importcharakters s. auch bei Campiche, Les sectes religieuses, ..., S. 10.

9897

ternationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte festgehalten: Die Staaten sind ­ auch in ihrem eigenen Interesse ­ verpflichtet, auf religiösen und Glaubensüberzeugungen basierende Intoleranz und Diskriminierung zu bekämpfen, damit sie ,,in ihren Grenzen und mit den anderen Staaten im Frieden leben können".18 Als Gegenstück zur Garantie der Religionsfreiheit verbietet Artikel 15 Absatz 4 der neuen Bundesverfassung diesbezüglichen Zwang: ,,Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen."19 Bei letztgenanntem Punkt setzt die Kommission an. Ihrer Ansicht nach dürfen Menschenrechte, anerkannte Grundwerte, der Kerngehalt der Freiheiten (z. B. Entscheidungsfreiheit) sowie die Grundzüge der demokratischen Prinzipien auch im Namen der Religion nicht beeinträchtigt oder gar aufgehoben werden. Sie ist sich gleichzeitig bewusst, dass Einschränkungen verfassungsmässig garantierter Grundrechte besonderer Voraussetzungen bedürfen: Sie müssen im öffentlichen Interesse sein, auf einer gesetzlichen Grundlage basieren und der Verhältnismässigkeit Rechnung tragen. Auch Artikel 9 EMRK und Artikel 18 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte halten die Möglichkeit zur Beschränkung sowie die entsprechenden Voraussetzungen ausdrücklich fest.20 Die vorliegende Untersuchung wäre nicht nötig, würde die Suche nach der Wahrheit in Form religiöser Betätigung tatsächlich in jedem Fall zu mehr Freiheit führen. Leider ist manchmal das Gegenteil der Fall, kann es doch zu Fällen kommen, in denen demokratische Grundrechte des/der Einzelnen ­ beispielsweise die freie Meinungsbildung, die freie Willensäusserung oder gar die körperliche Integrität ­ tangiert werden.

42 421

Blick auf Strukturen und Merkmale Dynamische Komponente

Das Phänomen der ,,Sekten" ist nicht spezifisch christlicher Natur, sondern in grossen Religionen und ausserhalb von diesen anzutreffen.

Aus soziologischer Sicht erhält der Begriff die Bedeutung einer "dissidierenden Minderheit" und charakterisiert Haltungen wie Intoleranz oder agressiven Proselytismus (aufdringliche Werbung für einen Glauben oder eine Anschauung). Solche Merkmale beschränken sich nicht auf "Sekten" als religiöse Sondergemeinschaften, 18 19 20

S. hiezu die Position der Schweizer Delegation an der OSZE-Tagung über Religionsfreiheit vom 22. März 1999 in Wien.

Die analoge Bestimmung auf internationaler Ebene ist in Artikel 18 Absatz 2 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte zu finden.

Artikel 9 Absatz 2 EMRK lautet: ,,Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.,, Artikel 18 Absatz 3 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte lautet: ,,Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind.,,

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sondern sind in traditionellen Religionen und Kirchen, Parteien, Verbänden usw. zu finden ­ kurz: Letztlich ist "jede Gemeinschaft potentiell eine Sekte, die sich selbst überschätzt: Jedes 'Oberdorf' ist besser als das 'Unterdorf' ... Die Selbstwahrnehmung steigert sich von der besonderen Gruppe bis hin zum einzigen Wert und Sinn".

Diese Merkmale sind nicht statisch zu verstehen, sondern weisen auf die dynamische Komponente und die vertikale Dimension im Übergang zu sektiererischem Verhalten (und zur ­ selten registrierten ­ Abkehr davon) hin: Es gibt ebenso eine Tendenz zu einer stärkeren Versektung, wie eine Entwicklung zu Offenheit und Dialogbereitschaft möglich ist. Prof. Georg Schmid hat in diesem Zusammenhang ein auch von der Kommission nachvollziehbares Modell in Form eines ,,Sektenthermometers,, entwickelt, das die Stufen der Sektenhaftigkeit bildlich darstellen kann: ­

,,Stufe 1: Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, ist für jede menschliche Gemeinschaft, für Landeskirchen, Parteien, Sportvereine etc. normal.

­

Stufe 2: Man und frau sind nicht nur etwas Besonderes, sondern besser als die andern ­ auch das ist normal: Finde ich nicht, meine Landeskirche oder politische Partei sei besser als die andere, gehöre ich nicht mehr dazu. Auch die anderen gehören zu der für sie besseren Gemeinschaft.

­

Stufe 3: Ich gehöre der für alle besten Gruppe an, der sich alle möglichst angleichen sollten: Es entstehen Missionsdruck und missionarischer Drang zur Werbung für die eigene Gruppe. Nicht die Landeskirchen als Organisation, wohl aber Strömungen in ihnen können dazu gerechnet werden: Die Freikirchen zeigen eine umfassendere Werbetätigkeit und betonen die Zugehörigkeit zur Sektenstufe 3, v. a. mit ihrem Christuszeugnis: Alle sollen so an Christus glauben, wie sie es tun.

­

Stufe 4 (Fundamentalismusstufe): Man ist alleinseligmachend und verfügt über die göttliche Wahrheit (wenn auch nicht exklusiv). Die Lehre ist vollkommen und vom Himmel abgedeckt. Wer lehrt und glaubt wie ich, steht auch in der Wahrheit ­ wer anders lehrt und glaubt, verfällt eigenen oder dämonischen Gedanken. Wer nicht mitmacht, "geht verloren". Fundamentalisten vergöttlichen ihre Lehre; die voll entwickelte Sekte deifiziert [zum Gott machen, vergotten] auch die Gruppe selbst. [...] Die Landeskirchen gehören nicht mehr in diese Stufe, waren es aber früher (auch grosse Gemeinschaften können in hohe Sektenstufen abgleiten).

Die Sektenstufe 4 wird von vielen Menschen erreicht, auch von psychologischen Gruppierungen.[...]

­

Stufe 5: "Wir sind alleinseligmachend und die einzigen im Himmel": Andere Menschen sind Missionsobjekt oder penetrant verdammungswürdig; penetrant Ungläubige sind zu meiden. Deren Unglaube ist Dämonie.

­

Stufe 6: Die Gruppe versucht, die penetrant Ungläubigen aus dem Gesichtsfeld zu verbannen ­ es beginnt die Trennung von der Welt: Nur noch die Sekte hat ein Lebensrecht auf Erden (Stichwort Verfolgungswahn); es steht jenen nicht zu, denen das Verderbnis gewiss ist: Sie verbrennen ohnehin ­ also warum nicht jetzt schon ein Feuerchen anzünden? Das "Schneiden" anderer Leute manifestiert ein inquisitorisches Denken in Form psychischer Inquisition. [...] Wer auf dieser Stufe aus der Gruppe austritt, gilt (auch für die Verwandtschaft) als nichtexistent ­ die Leute im Dorf schauen im Vorbeigehen auf die andere Seite...

9899

­

Stufe 7: Der Grössenwahn der Sekte wird zum Verfolgungswahn nach aussen und gleichzeitig zum Allmachtswahn nach innen ("Wenn ich an die Dinge denke, dann werden sie"). [...] Allmachtswahn entwickelt sich bei ausbleibender Kritik fast automatisch. Wer auf den Wahn aufmerksam macht, wird (dank Verfolgungswahn) zum Todfeind. Der Verfolgungswahn entfaltet sich aus der immer tiefergreifenden Unkenntnis der Aussenwelt.

Die Sekte beginnt, jede Kritik der Aussenwelt zu dämonisieren; die Folge ist

­

Stufe 8: Ein Auslöser führt zur Katastrophe, bei der nicht die Welt, sondern die Gruppierung untergeht. Allmachts- und Verfolgungswahn treffen sich in einem kollektiven Amoklauf.,,

Zentrale Kriterien für die tendenzielle Richtung der Dynamik sind interne Diskussionen und offene Debatten: Sind diese gewährleistet, bleibt die Gruppe auf niedriger Stufe, werden sie abgewürgt, treibt die Gruppe nach oben. Der Zusammenhang zwischen interner Diskussionsmöglichkeit und Sektengrad ist gut erkennbar.

422

Welt- und Menschenbilder und deren ,,Vermittlung,,

Daneben verdeutlichen formale und strukturelle Merkmale sowie Welt- und Menschenbilder den Umgang von Gruppen mit ihren Mitgliedern und mit der Gesellschaft:

21 22

­

Reduzierte Schwarz-Weiss- und in der Regel schematische Sicht der Wirklichkeit, z. T. angereichert durch "Geheimwissen"; Relativierungen oder Mittelpositionen werden verunmöglicht;

­

Universale ­ individuelle wie globale ­ und systemimmanent schlüssige Problemlösungsmodelle;

­

Hierarchische Strukturen mit Unterordnungs- und gegenseitigem Kontrollcharakter führen zu einer übersteigerten Autoritätshörigkeit: Entscheidung und Verantwortung werden an eine "höhere Kompetenz" delegiert.21

­

Ein absolutistischer Guru, ein Prophet, ein Messias oder Heilsbringer ­ Mann oder Frau ­ an der Spitze behauptet, das absolute Heil zu kennen, und er oder sie preist ein ausformuliertes Heilskonzept mit einem ebenso absoluten Anspruch an, was mit den bekannten menschlichen Erfahrungen im mystisch-spirituellen Bereich kaum in Einklang zu bringen ist. Eine solche ,,höhere Instanz,, kann zudem irgendwo leben oder bereits tot ­ und somit in beiden Fällen unerreichbar ­ sein. Möglich ist auch die Berufung auf eine verselbständigte Lehre unabhängig von Personen.

­

Radikale Durchsetzung der eigenen und unumstösslichen, keine Kritik duldenden Wahrheit, z. T. mit extremen Mitteln: Verschwörungstheorien22 (von aussen) werden kreiert, Ängste (der Einzelnen im Innern) geschürt und genutzt, Abhängigkeiten (durch tägliche Treffen, Abschottung der Gruppe, Isolation der Mitglieder, Kontrollen durch die Gruppe usw.) geschaffen und

Gasper u. a. (Lexikon ...), S. 977.

Verschwörungstheorien tendieren in unseren Breitengraden fast immer in Richtung Antisemitismus; s. hiezu Tangram: Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, Nr. 6, Themenband ,,Religion und Esoterik auf Abwegen?,,

9900

verstärkt und mittels Vereinnahmungs- und Manipulationstechniken (gruppendynamische Prozesse bzw. Rituale, Kunstsprache) institutionalisiert.

Die Ausprägung dieser Merkmale ist abhängig von der Grösse, dem Alter und der Organisationsstruktur der Gruppe sowie von der Vielschichtigkeit der Lehre. Sie können auch für die Beurteilung fundamentalistischer Strömungen oder Gruppierungen innerhalb der anerkannten Religionen herangezogen werden und sind als identische Grundelemente und schematische Mechanismen bei Gemeinschaften mit unterschiedlichster und vordergründig nicht vergleichbarer Ausrichtung grundsätzlich anwendbar: Treffen mehrere dieser Merkmale in einem ausgeprägten Ausmass auf eine Gruppierung zu, kann erfahrungsgemäss ­ mit Unterschieden und in verschiedenartiger Ausprägung ­ von Vereinnahmung, suggestiver Beeinflussung und Indoktrination ausgegangen werden, auch wenn diese im Einzelfall nicht leicht nachzuweisen sind. Die Überprüfung fragwürdiger Gruppierungen auf diese Merkmale hin erlaubt es, auf Begriffe wie "Sekte", "Psychogruppen", "neureligiöse Kulte", "fernöstliche Gurubewegungen", "okkultistische Organisationen" usw. ­ und damit auf deren Definition als solche ­ zu verzichten.

Dasselbe gilt für die allgemeineren Begriffe "Religionsgemeinschaft" oder "Kirche", die Gruppierungen verwenden, um nicht als ,,Sekte,, bezeichnet zu werden und ins Licht der Kritik zu geraten. Umgekehrt können auch Kirchen sektenhafte Züge aufweisen. Ein auf die dargelegten Merkmale und interne Strukturen bezogener Ansatz tangiert nach Meinung der angehörten Personen die verfassungsmässig garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht und nimmt damit den Staat aus dem Schussfeld jener Kritik, er würde Weltanschauungen und Ideen werten und verurteilen.

Allerdings sind Strukturen, Methoden und Inhalte nicht immer klar voneinander zu trennen. Auf eine inhaltliche und ideologische Auseinandersetzung kann nicht verzichtet werden, wenn die ­ immer auf einem Menschenbild basierende ­ Ideologie Teil der Methode ist; ist sie rassistisch oder faschistisch und wird sie öffentlich verbreitet, kann auf Grund der bestehenden gesetzlichen Grundlagen (Artikel 261bis Strafgesetzbuch; Antirassismus-Strafnorm) bereits heute eingeschritten werden (nicht aber bei deren Huldigung in geschlossenen Zirkeln und im privaten Kreis,
was die Notwendigkeit von Aufklärung bestärkt). Die Gefahr rassistischer/antisemitischer bzw. rechtsextremer/faschistoider Tendenzen kann sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren:23 ­

Gruppierungen/Publikationen, die offen mit rassistischen, antisemitischen oder verneinenden Äusserungen argumentieren.

­

Lehren, die sich kritiklos auf Traditionen beziehen, die ­ zum Teil zeitbedingt ­ antisemitisch und rassistisch waren (sie sind zwar gefährlicher, aber schwieriger nachweisbar). Nötig ist in diesem Zusammenhang eine kritische Auseinandersetzung mit der in Anspruch genommenen Traditionslinie, eine klare Distanzierung und allenfalls eine religiöse bzw. theologische Umdeutung von rassistischen Elementen der Lehre.

­

Antidemokratische, die Grundlagen unseres Selbstverständnisses in Frage stellende Lehren.

Eine klare Trennung ist zudem dort nicht möglich, wo eine die Grundrechte tangierende Methode aus der Ideologie abgeleitet wird. Dazu gehören beispielsweise die Interpretation gruppeninterner Kritik als ,,Versuchung Satans,, oder als fehlende 23

Ausführlicher hiezu äussern sich verschiedene Aufsätze in Tangram, Band 6.

9901

Gruppenloyalität, welche zuweilen durch eigene ,,Rechtskomitees,, sanktioniert wird.

Auch sexuelle Ausbeutung kann auf gruppeninternen Strukturen von Macht und Gehorsam respektive Unterordnung beruhen, aber ebenso in der Ideologie begründet sein: Sie wird so zum ,,heiligen Akt,, oder zur besonderen Bevorzugung eines Mitglieds, das ,,als vom Guru Erlesene,, bezeichnet wird und sich auch als solches empfindet. Diese triste Praxis ­ von der oft Kinder betroffen sind ­ unterscheidet sich von der sexuellen Ausbeutung in der Gesellschaft insofern, als die Täter nicht isoliert oder aus individuellen Beweggründen handeln.

423

Vereinnahmung als zentrales Kriterium

In Anbetracht der strukturellen Merkmale wie der dynamischen Komponente von Versektung und Entsektung kann auf Werturteile über Destruktivität und Gefährlichkeit von Gruppen nicht verzichtet werden. Sie müssen allerdings vom Aussenstehenden immer wieder überprüft werden, um der Dynamik Rechnung zu tragen und dem hohen Anspruch gerecht zu werden, den der Schutz der Grundwerte mit sich bringt.

Somit lässt sich eine erste Schlussfolgerung ziehen, was den Untersuchungsgegenstand betrifft. Einem offensichtlichen begrifflichen Definitionsnotstand steht eine weitläufige Umschreibung des Phänomens gegenüber, die verschiedene und nicht immer deckungsgleiche Betrachtungsweisen berücksichtigt, dynamische wie strukturelle Komponenten beachtet und die unterschiedlichsten Facetten abdeckt, aber dennoch Lücken offen lässt. Letztlich geht es um einen ,,harten Kern,, von Bewegungen mit einem entsprechenden Konfliktpotential, die sich mit dem Begriff vereinnahmende Bewegungen oder vereinnahmende Gruppen umschreiben lassen. Mit dem einen Begriff der "Vereinnahmung" werden jene Gruppierungen erfasst, auf die die beschriebenen strukturellen Merkmale in ihrer besonderen und problematischen Ausprägung zutreffen. Eine solche Zuordnung kann unabhängig von der Frage erfolgen, ob es sich um neue Bewegungen (sektiererische Tendenzen sind auch in traditionellen Kirchen auszumachen), um religiöse, spirituelle, esoterische Gruppierungen oder um als solche getarnte Anbieter auf dem Lebensbewältigungsmarkt handelt.

Im Bericht wird grundsätzlich der Begriff vereinnahmende Bewegungen oder vereinnahmende Gruppen verwendet. Allerdings ist sich die Kommission bewusst, dass der Verzicht auf den Begriff "Sekte" auch nicht zu befriedigen vermag, denn "Sekte" hat als Reizwort längst eine politische Dimension erhalten und ist zu einem "Stück politischer Sprache" geworden. Mit der Preisgabe des Wortes "Sekte" bleiben zuweilen ,,all jene Menschen im Regen stehen, die sich mit organisierten und entsprechend mächtigen Gruppen konfrontiert sehen".24 Was bereits über die Schwierigkeiten einer quantitativen Erfassung festgestellt wurde, gilt auch hier: Es wäre irreführend, die Diskussion über Methoden und Strukturen der Vereinnahmung auf die Mitgliedschaft in Gemeinschaften bzw. auf Gemeinschaften an sich zu beschränken. Im Dunstkreis des esoterischen Angebots fehlt oft eine eigentliche Organisationsstruktur ­ ein Magier kann einfach eine Handvoll 24

Flammer, ... S. 27.

9902

Leute um sich scharen. Im breiten und aufgesplitterten Weltanschauungsmarkt arbeiten die Anbieter häufig mit sektiererischen Methoden, ohne Mitglieder im engeren Sinn zu haben oder anzuwerben. Die Grenzen sind im Markt selbst fliessend ­ die Sonnentempler haben sich nach Aussagen einer angehörten Person aus einem esoterischen Lesezirkel heraus entwickelt ­ und nach aussen durchlässig: Mitglieder kleiner Gruppierungen können in gesellschaftlich hohe Positionen gelangen und dadurch Einfluss ausüben. Auch das Potential für politische Schulterschlüsse ist vorhanden. ,,Sekten,,-Mitglieder in Führungsetagen der Wirtschaft oder deren Tätigkeit als ,,Wirtschaftsberater,, ist ebenfalls ein Thema. Zudem legt die Tatsache, dass es sich um ein eigentliches Marktphänomen handelt, die finanzielle Dimension offen: Hier ausweglose individuelle Verschuldung mit den bekannten Folgen, dort der Aufbau und das Wirken eigentlicher Finanzimperien. Ob eine ­ strukturierte oder unstrukturierte ­ Gruppe oder ein einzelner Anbieter auf diesem Markt religiös ist, sich als esoterisch bezeichnet, im Psychobereich arbeitet, mit unwissenschaftlichen Mitteln Heilungsversprechen abgibt oder New-Age-Theorien anhängt, bleibt vor diesem Hintergrund irrelevant. Deren Strukturen und Methoden müssen unabhängig von religiösen Inhalten und Heils- und Heilungsversprechen aller Art beurteilt werden, auch wenn das nicht immer möglich ist.

43

Allgemeine Probleme

Im Folgenden werden jene Probleme umschrieben, die im Kontext mit der Gesellschaft, mit Fachstellen und mit Behörden zu sehen sind. Probleme, die bei den direkt Betroffenen anzusiedeln sind, werden in Kapitel 44 (Spezielle Probleme der direkt Betroffenen) behandelt. Eine klare Trennung von allgemeinen (gesellschaftlichen) und speziellen (individuellen) Problemen ist nach Ansicht der Kommission nicht immer möglich. Bestimmte Probleme tangieren sowohl dem gesellschaftlichen als auch den individuellen Bereich.

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Mangelhafte Informationslage

Neben der grossen Menge an Informationen, welche sich bei Einzelpersonen, unabhängigen und kirchlichen Beratungsstellen, Betroffenenorganisationen und einzelnen Amtsstellen angesammelt haben, bestehen grosse Lücken, vor allem in Bezug auf die Vielzahl kleinerer, neuer oder sich ständig wandelnder Gruppen. Aber auch bei grösseren, seit längerem bekannten Gruppen hinkt der Wissensstand stets hinter der aktuellen Lage hinterher. Zudem stammen die vorhandenen aktuellen Angaben meist aus wenigen Quellen, die nur mit erheblichen zeitaufwendigen Zusatzrecherchen einen Überblick bzw. eine allgemeingültige Bewertung erlauben.

Die Gründe für diese Mängel liegen zum einen in der zu geringen Arbeitskapazität der Fachstellen, zum anderen liegen sie in der grossen Vielfalt der in Betracht fallenden Gruppen bzw. im ständigen Wandel, welchen einige dieser Gruppen praktizieren. Viele Gruppen führen die mangelnde Transparenz auch absichtlich herbei, indem sie keine Informationen nach aussen abgeben, der Aussenwelt ein von der realen Gruppenorganisation stark abweichendes Bild vermitteln oder ihr Erscheinungsbild immer wieder ändern. Im Extremfall treten die Gruppen absichtlich ,,getarnt,, auf. Zum Teil liegt dieses Verhalten bereits in der Gruppenlehre begründet, wenn die wesentlichen Ideen nur einem eingeweihten Personenkreis zugänglich 9903

sind, nur mündlich oder in privatem Kreis weitergegeben und mit Sanktionen bei Verletzung der ,,Geheimhaltung,, verbunden werden. Die Gruppen profitieren damit vom Nimbus des ,,Geheimnisvollen,,.

Der Informationsmangel bringt vielfältige Probleme mit sich: Zunächst kann der in einer pluralistischen und freiheitlichen Demokratie unerlässliche Wettbewerb der Ideen bei ,,Geheimlehren,, nicht oder nur begrenzt stattfinden, weil die Lehre und Methoden der kritischen Reflexion bzw. Diskussion entzogen sind. Ohne Kenntnis der aktuellen Situation können konfliktträchtige interne Zuspitzungen, wie bei den Sonnentemplern, nicht erkannt und andeutungsweise erkannte Entwicklungen nicht zuverlässig beurteilt werden. Wenn Gruppen stets unter neuem Namen und in neuen Organisationsformen auftreten, wird u. a. ein Teil der Wirkung der präventiven Aufklärung unterlaufen. Unzutreffende oder veraltete Informationen erhöhen das Risiko der Aufklärungs- und Beratungstätigkeit: Das Risiko nämlich, unzutreffende Ratschläge zu geben, unzureichend helfen zu können oder eingeklagt zu werden. Um der Qualität der Beratung höchste Priorität zu geben, dürfen Information und Beratung letztlich nicht getrennt betrachtet werden.

Auch Bundesrat und Verwaltung scheinen nicht über ein adäquates Informationssystem zu verfügen. Wie die PVK in ihrem Arbeitsbericht festhält und die Kommission feststellen konnte, befasst sich keine Stelle der Bundesverwaltung explizit mit dem Thema, auch wenn sich solche zuweilen damit konfrontiert sehen. So wurden Projekte im Rahmen des Jugendförderungsgesetzes abgelehnt, da die demokratische Mitbeteiligung nicht gewährleistet war. Allerdings wünscht sich die verantwortliche Amtsstelle solidere Kriterien, um Missbräuche zu erkennen. Besondere Probleme mit Bezug auf die Informationslage stellen sich beim Datenschutz: Nur einzelne Organisationen kommen der im Datenschutzgesetz verankerten Verpflichtung nach, private Datensammlungen mit sensiblen Personendaten ­ zu denen Daten über religiöse und weltanschauliche Ansichten und Tätigkeiten gehören ­, die das Erstellen von Persönlichkeitsprofilen erlauben, dem Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten (EDSB) zu melden.

Nach Aussagen des EDSB sind seine Mittel und Möglichkeiten allerdings beschränkt: Weder ist er im Stande, nicht gemeldete Datensammlungen
systematisch aufzuspüren, noch kann er begründeten Vorbehalten gegenüber ihm bekannten Datensammlungen nachgehen, beispielsweise wenn die Verhältnismässigkeit nicht gegeben ist (z. B. Daten über Gesundheit, Vermögen und Kapital, persönliche Schwierigkeiten). Diese Einschränkung gilt auch für die Kontrolle des ebenfalls gesetzlich verbotenen Transfers von sensiblen Personendaten in Staaten ohne gleichwertige Datenschutzvorschriften. Auf Grund der gemachten Erfahrungen gibt der EDSB der Meldepflicht nicht prioritäre Bedeutung, wird doch das Datenregister des EDSB nur selten konsultiert. Das Schwergewicht müsse deshalb auf das Auskunftsrecht des oder der Einzelnen gegenüber den jeweiligen Dateninhabern gelegt werden; nur so können die Betroffenen (nicht aber diese vertretende Organisationen oder Dritte) die Richtigkeit der Daten kontrollieren und allenfalls Berichtigungen geltend machen.

Sind religiöse oder ähnliche Gemeinschaften kantonalrechtlich anerkannt, richtet sich die Meldepflicht nach kantonalen und nicht nach den eidgenössischen Datenschutzvorschriften.

Zusätzlich zu den Erkenntnissen der PVK hat sich gezeigt, dass die zurückhaltende Informationspraxis unter den Kantonen zu einer mitunter unterschiedlichen Besteuerungs- bzw. Steuerbefreiungspraxis für Stiftungen und Vereinigungen führt, und

9904

zwar unter den Kantonen (aus unterschiedlichen Gründen), aber auch zwischen Bund und Kantonen. Die eidgenössische Steuerverwaltung erachtet im Hinblick auf eine möglichst einheitliche Umsetzung der direkten Bundessteuer eine Art schweizerisches Steuerregister als wünschbar, gibt allerdings zu bedenken, dass eine derartige Datenbank ­ sie besteht z. T. in einzelnen Kantonen ­ schwerlich realisierbar ist und aus verschiedenen Gründen auch nicht laufend aktualisiert werden kann: Vereine, als die religiöse und ähnliche Bewegungen zumeist organisiert sind, sind Steuerund anderen Ämtern nicht bekannt und beabsichtigen oft nicht, sich als möglicherweise steuerpflichtig anzumelden.

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Lückenhafte Forschung und Zusammenarbeit

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Neuen Religiösen Bewegungen ist auf wenige auf diesem Gebiet tätige Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen beschränkt und hängt wesentlich von deren persönlichem Interesse ab. So wird das Verhältnis von Jugendlichen zur religiösen Frage von der Forschung überhaupt nicht erfasst; einzig eine vom VBS erhobene (und naturgemäss nicht die gesamte Jugend erfassende) Rekrutenbefragung äussert sich dazu. Das Forschungsdefizit wird auch im Zusammenhang mit dem Föderalismus ­ Fragen der Religion sind Sache der Kantone ­ gesehen. Eine Studie des Nationalfonds aus den Jahren 1987 bis 1989 (Nationales Forschungsprogramm 21 ,,Kultureller Pluralismus und Nationale Identität,,), das teilweise die nichtkonventionellen religiösen Bewegungen in der Schweiz und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft untersuchte, entspricht nicht mehr den heutigen Gegebenheiten und könnte nach Ansicht des Bundesrats ,,auf den neuesten Stand gebracht werden,,.25 Manipulative Methoden werden in der Schweiz (im Gegensatz zu den USA, wo sich ein ganzer Wissenschaftszweig damit befasst) kaum erforscht. Psychische Folgen von psychischer Einwirkung sind (im Gegensatz zu psychischen Folgen durch physische Einwirkung) schlecht abgeklärt. Damit verbunden ist ein Mangel an Interdisziplinarität, was den Forschungsansatz betrifft. Vonnöten wäre zudem eine eigentliche Grundlagenforschung, denn ,,die Frage, was eine Sekte ist, ist berechtigt,,, wie sich eine der angehörten Personen ausgedrückt hat.

Analog zum wissenschaftlichen Defizit besteht auch ein Mangel an Zusammenarbeit zwischen der universitären Forschung und den kirchlichen und privaten Beratungsstellen, auch wenn sie ansatzweise durchaus vorhanden ist. Sie wird nicht zuletzt auf Grund des unterschiedlichen Ansatzes manifest: Während erstere auf Forschungsresultate hinzielt, orientieren sich letztere an psychischen, gesundheitlichen und finanziellen Problemen von direkt und indirekt von vereinnahmenden Gruppen Betroffenen. Paradox erscheint dabei die Tatsache, dass die Forschung von öffentlichen Mitteln alimentiert und damit langfristig finanziell abgesichert ist, während die vorwiegend auf freiwilliger Basis mit grossem Einsatz arbeitenden kirchlichen und privaten Beratungsstellen mit akuten Finanzproblemen und Personalmangel zu kämpfen
haben, weshalb sie auch der Nachfrage nicht immer gerecht werden können. (Bei den Anhörungen wurde überdies deutlich, dass mit dem Ausstieg von erfahrenen Beraterinnen und Beratern ein grosses Know-how verloren geht, das mit einer Neuanstellung nicht telquel wettgemacht werden kann.)

25

Interpellation Wirksame Bekämpfung sektiererischer Auswüchse vom 20. März 1998 (98.3136).

9905

Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt unter dem Titel ,,Religion und soziale Bindung" (,,religion et lien social") ein Projekt für ein ,,Observatorium für Religionen in der Schweiz". Unter Federführung der fakultätsübergreifenden Abteilung für Geschichte und Religionswissenschaften der Universität Lausanne bezweckt es eine flächendeckende Analyse in Bezug auf die Religionen in der Schweiz aus Sicht der Sozialwissenschaften der Religionen. Vorgesehen sind u. a. die Errichtung einer Datenbank und die Entwicklung eines Netzwerks von Forschern und Fachorganisationen. Die Zielsetzung des Projekts ist nicht darauf ausgerichtet, Missstände und Konfliktpotentiale zu erforschen.

433

Probleme bei der Anwendung der geltenden Gesetze

Die bestehenden gesetzlichen Grundlagen scheinen nach Meinung der Kommission grösstenteils zu genügen. Sie werden aber entweder nicht in Anspruch genommen (fehlende Anzeigen) oder nur ungenügend angewendet, z. B. in einzelnen kantonalen Gesundheitsgesetzgebungen im Zusammenhang mit Heilpraktiken oder anderen pseudomedizinischen Betreuungsangeboten. Grenzen bei der Anwendung bestehen auch dort, wo beispielsweise rassistische / antisemitische Äusserungen, die nur deshalb der Antirassismus-Strafnorm (Artikel 261bis StGB) nicht unterliegen, weil sie im geschlossenen Kreis gemacht werden. Zudem bestehen Lücken in der Gesetzgebung, so minimale gesetzliche Vorschriften im Rahmen des Konsumentenschutzes (z. B. vertragsrechtliche Minimalstandards).

Erfahrene Anwälte, welche die Interessen von Aussteigerinnen und Aussteigern sowie deren Angehörigen wahrnehmen, zeigen auf, dass auch gerichtliche (inkl. Vormundschafts-)Behörden von der Haltung ,,Sekten sind nur etwas für Anfällige,, durchdrungen und äusserst zurückhaltend sind, Massnahmen mit der Zugehörigkeit zu einer vereinnahmenden Bewegung zu begründen ­ egal, ob es um das Wohl des Kindes, um Scheidung, physische oder psychische Schädigungen geht. Wenn ein religiöser Kontext gegeben oder behauptet wird, so der Experte, ist die Scheu meist noch grösser.

Die Gründe für diese grosse Zurückhaltung liegen z. T. in nicht genügend geklärten Vorstellungen über den Inhalt und die Grenzen der Religionsfreiheit. Zudem bestehe oft eine Angst vor schwierigen Abgrenzungen oder vor juristischen bzw. publizistischen Gegenangriffen der anvisierten Gruppen. Es mangle auch an Kenntnissen über die Wirksamkeit und die Gefahren der ,,sekten,,-typischen Strukturen und Methoden sowie an dem daraus fliessenden Verständnis für die Probleme der von vereinnahmenden Gruppen betroffenen Personen.

Diese Problematik kann einerseits im Einzelfall bewirken, dass ein Betroffener nicht einmal jenen Schutz erhält, den der Staat auf Grund der heutigen Rechtslage bieten könnte, sie hat andererseits auch weitergehende Auswirkungen. In der Öffentlichkeit kann der Eindruck entstehen, gegen vereinnahmende Gruppen könne man vom Staat sowieso keine Hilfe erwarten. Einige der vereinnahmenden Gruppen nützten diese Ohnmachtsgefühle aus oder verstärkten sie sogar gezielt im Rahmen ihres internen
Disziplinierungssystems bzw. im Zusammenhang mit externen Drohgebärden. Derartige Ohnmachtsgefühle erhöhten die bereits heute relativ grosse Dunkelziffer der schädlichen Auswirkungen vereinnahmender Gruppen. Nach Meinung einer der angehörten Personen wären zahlreiche Probleme nicht oder nicht in ihrer Schärfe auf-

9906

getreten, wären die Gesetze angewendet worden, was auch auf die Unterschätzung der (zu wenig erforschten) Methoden zurückzuführen sei.

Auch die folgenden Kapitel ­ Grenzen der staatlichen Macht, Angebliche ,,Freiwilligkeit,,, Unklare Verantwortlichkeit ­ zeigen Hindernisse auf, die der Geltendmachung bzw. Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen im Wege stehen, und sie liefern ebenfalls allfällige Hinweise auf bestehende Lücken.

434

Grenzen der staatlichen Macht

Das vorliegende Kapitel beschreibt jene rechtlichen und faktischen Grenzen, die sich nach der Erfahrung von Betroffenen und Anwälten in der Praxis problematisch auswirken können. Grenzen staatlichen Handelns von Verfassung wegen (Religionsund Glaubensfreiheit) und anderweitige Selbstbeschränkungen des Staates (Meinungsäusserungsfreiheit usw.) sind, wie bereits erwähnt, ausdrücklich nicht Gegenstand der Untersuchung und werden von der Kommission nicht in Frage gestellt.

Auch wenn Missstände erkannt und die geltenden Gesetze angewendet werden, erweisen sich staatliche Eingriffe oder Schutzmassnahmen öfters als unmöglich, oder angeordnete Massnahmen können nicht vollstreckt werden.

Die Gründe liegen zunächst oft in der Tatsache, dass die Beeinträchtigungen die private Sphäre betreffen, welche sich der äusserlichen, insbesondere der staatlichen Kontrolle oder Einflussnahme entzieht. Im Weiteren bewirken die verfassungsmässigen Grundrechte, z. B. die Religions- und Meinungsäusserungsfreiheit, dass Missbräuche erst dann bekämpft werden können, wenn sie einen gewissen Schwellenwert überschreiten, also z. B. andere Grundrechte erheblich verletzt oder gefährdet sind. Von gewissen vereinnahmenden Gruppen wird die Möglichkeit und Effizienz staatlicher Massnahmen zum vornherein u. a. dadurch unterlaufen, dass in der ,,Gruppenlehre,, die staatliche Autorität abgelehnt oder zumindest der Gruppenautorität untergeordnet wird. Bei konsequenter Weiterentwicklung dieser Tendenz führt dies zur gruppeninternen Legitimation des zivilen Ungehorsams bis zur Befreiung von der Einhaltung staatlicher Regeln.

International organisierte Gruppen sind zudem in der Lage, durch Ausweichen auf andere Länder staatliche Massnahmen zu unterlaufen.

Weitere Hindernisse, staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, entstehen dann, wenn die Gruppe ihre Mitglieder und Vertragspartner auf eine gruppeninterne Gerichtsbarkeit verpflichtet.

Auch diese Problematik erzeugt bei den Betroffenen Ohnmachtsgefühle, was die ursprünglichen Probleme oft verschärft und u. a. die Diskussion über die vereinnahmenden Gruppen verhärtet. Früher führte dies dazu, dass von vereinzelten Betroffenen unerlaubte Selbsthilfemassnahmen (sog. ,,Deprogrammierung,,) befürwortet oder gar angewendet wurden.

435

Angebliche ,,Freiwilligkeit,,

Die Haltung des Einzelnen und der Einzelnen hängt nicht nur von der jeweiligen Optik ab, sondern auch von der Schwierigkeit, Abhängigkeit als solche zu erkennen, denn 9907

"die moderne Psychologie lehrt uns, dass im Menschen eine oft kaum durchschaute Neigung besteht, sich als unausweichlich erlebten sozialen Machtansprüchen zu unterwerfen und diese Unterwerfung noch mit guten Gründen und Überzeugungen zu rechtfertigen oder bereitwillig durch falsche Propheten rechtfertigen zu lassen.

Damit wird gleichsam der innere Anschein eines freien Gehorsams konstruiert, was erlaubt, das Unausweichliche bestehender Macht- und Gewaltverhältnisse nicht allzu unwürdig zu erleben." 26 Das hervorstechendste Merkmal von vereinnahmenden Gruppen ist die Beeinträchtigung der freien Selbstbestimmung bis hin zur systematischen Untergrabung der Autonomie. Angesichts der Tatsache, dass es eine völlig unbeeinflusste, eigenständige Entscheidung praktisch nicht gibt und Beeinflussung bis zu einem gewissen Grade gesellschaftlich toleriert (z. T. sogar erwünscht) ist, erweist sich die Abgrenzung zur übermässigen, gesellschaftlich nicht mehr tolerierbaren Einflussnahme als schwierig.

Die Gründe sind einerseits darin zu suchen, dass die manipulativen und indoktrinären Methoden innere Vorgänge bewirken, welche sich von aussen nicht leicht feststellen lassen. Die äusseren Abläufe spielen sich oft im kleinen oder zumindest gruppeninternen Umfeld ab und lassen sich nachträglich kaum rekonstruieren oder gar beweisen. Zudem ist die Wirkungsweise der z. T. sehr subtilen manipulativen Methoden in diesem Kontext zu wenig bekannt (anders im Zusammenhang mit Folter bzw. Kriegsgefangenen und bei der Werbung), und es bestehen darüber (nicht geklärte) divergierende Auffassungen. Weiter erschwert wird die Beurteilung dadurch, dass der manipulierte Mensch auch einen Anteil mitbringt, indem seine unbefriedigten Bedürfnisse und Nöte den Boden bereiten, damit die Manipulation greifen kann.

Das Problem besteht darin, dass die Betroffenen bei der Anrufung staatlicher Hilfe daran scheitern, die Erfüllung des Tatbestandes (z. B. Täuschung, Übervorteilung) nachzuweisen bzw. die Behörde von der Gefährdung geschützter Rechtsgüter zu überzeugen.

Die Kritik an vereinnahmenden Bewegungen muss sich deshalb an den zentralen Fragen messen, wie weit die freie Selbstbestimmung respektiert wird, wie freiwillig Mitgliedschaft (und Gehorsam) sind und wie weit es die Gemeinschaft ihren Mitgliedern erlaubt, jederzeit und ohne Druck
aus ihr auszutreten oder sich von anderweitigen, nicht gruppengebundenen und ,,leichtgläubig,, eingegangenen Verpflichtungen loszusagen. Sie ist insbesondere für den Staat u. a. dann von Bedeutung, wenn einzelne Gruppierungen so weit gehen, die säkulären Autoritäten abzulehnen und zum Beispiel Kinder von staatlichen Grundschulen fernzuhalten, oder Privatschulen der staatlichen Aufsicht, die Sache der Kantone ist, zu entziehen.

436

Unklare Verantwortlichkeit

Wenn im internen Kontext von vereinnahmenden Gruppen Straftaten vorkommen, so unterscheiden sich die Verhältnisse oft grundlegend von der Situation bei Delik-

26

Jörg Paul Müller: Religionsfreiheit ­ ihre Bedeutung, ihre innere und äussere Gefährdung. Einleitungsreferat anlässlich eines OSZE-Seminars vom 16.­19. April 1996 in Warschau, in: Reformatio, Dezember 1996, S. 420 ff.

9908

ten in anderem Zusammenhang. Weder bemerkt der Verletzte sofort, dass er Opfer einer Straftat geworden ist, noch ist klar ersichtlich, wer dafür verantwortlich ist.

Die Gründe liegen z. T. darin, dass die Täter- und Opferrollen oft vermischt sind: Entweder hat die betroffene Person selbst an ähnlichen Handlungen gegen andere Gruppenmitglieder mitgewirkt, oder sie hat der Handlung ,,freiwillig,, zugestimmt.

Die Straftaten geschehen meistens nicht als Folge eines individuellen Versagens, sondern z. B. auf Anordnung ranghöherer Personen oder Gremien, welche z. T.

nicht namentlich bekannt oder im Ausland sind, oder in Anwendung von in der Lehre enthaltenen Handlungsanweisungen. Oft werden in der Lehre Strukturen vorgegeben oder Ausbildungen vorgeschrieben, welche auf den Abbau der Eigenverantwortung und des ,,gesunden Menschenverstandes,, abzielen. Der absolute Vorrang der gruppeneigenen Werte vor den Rechtsgütern der Aussenwelt, zusammen mit der aus einer Weltrettungs- oder Verfolgungssicht resultierenden Übermotivation, bringt Täter ohne Unrechtsbewusstsein und ohne Hemmungen hervor.

Das Problem liegt darin, dass eine solche Situation nur mit Kenntnissen der innern Struktur der Gruppe und der psychischen Mechanismen durchschaut werden kann.

Fehlt derartiges Wissen, kann dies dazu führen, dass Untersuchungsbehörden zu Unrecht untätig bleiben. Schreibt die Lehre das deliktische Verhalten vor, und ist der Urheber nicht greifbar oder unbekannt, dann bleibt allenfalls nur die Bestrafung der ausführenden Personen, was weder vom Gerechtigkeitsgedanken noch unter generalpräventiven Gesichtspunkten zu befriedigen vermag. Der erzieherische Aspekt einer Bestrafung bleibt zudem bei solchen Überzeugungstätern ohne Wirkung, wenn das Strafverfahren nicht zu einer Distanzierung von der Gruppe bzw. Lehre führt.

437

Angst und finanzielle Abhängigkeit

Aus der Beratungsarbeit ist erkennbar, dass ,,Opfer,, sehr oft Angst haben, sich für ihre Rechte zu wehren und allenfalls mögliche Schritte zu unternehmen.

Die Gründe liegen nach Meinung des Experten zunächst darin, dass die Ablösung von einer vereinnahmenden Gruppe meist keinen einmaligen Schritt, sondern einen langen Prozess darstellt. Oft behält ein Rest von ,,Gruppendenken,, seine Wirkung, zudem treten Scham- und Schuldgefühle auf. Deshalb haben selbst Ausstiegswillige oft Mühe, ihre eigenen Interessen zu erkennen und zu wahren. Die lange Dauer der Ablösung verhindert oft die Durchsetzung fristgebundener Ansprüche. Wegen der von vielen Gruppen systembedingt herbeigeführten Isolation ihrer Anhänger von sozialen Kontakten ausserhalb der Gruppe fehlt nach einem Austritt das Umfeld, das den notwendigen Rückhalt bieten könnte. Einige Gruppen schüren die Angst durch eine eigentliche Abschreckungsstrategie und extern aggressives Auftreten. Aber selbst bei nüchterner Betrachtungweise von aussen gefährdet oder verhindert die wirtschaftliche Übermacht und die durch die Übermotivation bedingte Hartnäckigkeit gewisser vereinnahmender Gruppen ­ in Angriff wie in Verteidigung ­ die Durchsetzung berechtigter Interessen Einzelner oder die öffentliche Kritik an solchen Gruppen.

Dies verursacht Probleme auf der individuellen und gesellschaftlichen Ebene, indem für viele Verletzungen weder Sanktion noch Ausgleich erfolgen. Zudem bestärkt dies die Gruppen in ihrer Überzeugung, mächtig und auf dem richtigen Weg zu sein.

9909

44

Spezielle Probleme der direkt Betroffenen

Im Folgenden werden ­ im Unterschied zu den allgemeinen, auf die Gesellschaft bezogenen Problemen in Kapitel 43 ­ jene Fragen aufgeworfen, die sich auf die Betroffenen direkt und schwerwiegend auswirken und von denen auch in der Öffentlichkeit weitgehend die Rede ist: Ausbeutung, übermässige Bindung, Gesundheitsgefährdungen, gefährdetes Kindeswohl und sonstige Gefährdungen bzw. Beeinträchtigungen der Selbstbestimmung.

Vorab ist festzuhalten, dass nicht alle dargestellten Probleme bei sämtlichen vereinnahmenden Gruppen zu beobachten sind. Auch die konkrete Ausprägung bezüglich Ausmass und Intensität variiert bei den einzelnen Gruppen sehr breit. Dennoch bilden diese Probleme typische Auswirkungen der für die vereinnahmenden Gruppen kennzeichnenden Einschränkung der freien Selbstbestimmung.

441

Ausbeutung

Die Ausbeutung ist einer der offensichtlichsten Aspekte, die am ehesten von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Im Normalfall ist davon auszugehen, dass die Mitarbeit auf Freiwilligkeit beruht. Dennoch sind Fälle von Arbeit ohne oder mit nur geringem Lohn, von Druck, das Vermögen (z. B. Ersparnisse oder Erbschaften) an die Gruppe zu übertragen, von mangelhaftem Versicherungs- und Vorsorgeschutz oder von Verschuldung zu Gunsten der Gruppe zu erwähnen. Daneben findet auch Ausbeutung auf der menschlichen Ebene statt, indem Idealismus missbraucht oder bisherige Beziehungen zur Anwerbung weiterer Anhänger oder sonstiger Einflussnahme ausgenützt werden.

442

Übermässige Bindung

Zu den Merkmalen vereinnahmender Gruppen gehört, dass sie die freie Selbstbestimmung ihrer Anhänger beschränken oder systematisch untergraben, um möglichst bald eine Abhängigkeit des Mitgliedes von der Gruppe herbeizuführen. Auf dieses Ziel sind z. T. bereits die Anwerbemethoden ausgerichtet, vor allem aber gewisse Praktiken und Strukturen der Gruppen, zu denen oft ein rigoroses Disziplinierungssystem gehört. Neben der wirtschaftlichen Abhängigkeit als Folge der erwähnten Ausbeutungstatbestände ist auch die psychische Abhängigkeit sehr wirkungsvoll, da die Gruppe meist sämtliche, d. h. auch die privatesten Sphären (Familie, Intimleben, selbst ,,inneres,, Denken) regelt und kontrolliert. Darüber hinaus entsteht besonders bei längeren Mitgliedschaften auch eine soziale Abhängigkeit, da Anhänger von vereinnahmenden Gruppen ­ als Nebeneffekt oder von der Lehre gezielt herbeigeführt ­ durch Abbruch der früheren Beziehungen in eine gesellschaftliche Isolation geraten.

Neben solchen ,,inneren,, Austrittserschwernissen kommen gelegentlich auch äussere hinzu, wie juristische Vorkehrungen (einengende bis knebelnde Verträge), (seltener) baulich/geographische Massnahmen (z. B. abgeschottetes Gelände) oder gar der Einsatz von physischer Gewalt. Zudem wird mit einem dauernden Aktivismus versucht, das Nachdenken über die eigene Situation zu verhindern.

9910

443

Gesundheitsgefährdungen

Die Lehre vieler vereinnahmender Gruppen schliesst Heilpraktiken mit ein, z. T. offen als solche deklariert, z. T. getarnt oder gar verleugnet. Manchmal werden Heilungen auch nur als Nebeneffekt einer ,,geistigen Entwicklung,, behauptet. Dort, wo die Heilpraktiken mit Gefahren verbunden sind, werden diese von der Lehre meist verleugnet und ­ weil die ,,Lehre,, nie irren kann ­ von den Praktizierenden aus Überzeugung nicht beachtet. Oft werden die warnenden wissenschaftlichen Erkenntnisse wegen der anti-wissenschaftlichen Haltung der Lehre in den Wind geschlagen oder gar dämonisiert. Im Hinblick auf das überwertige Ziel (Rettung der Seele/der Welt) werden oft Risiken eingegangen, welche der durchschnittlich verständige Mensch kennt und vermeidet. Damit unterscheidet sich das Gefahrenpotenzial solcher Praktiken grundlegend von den manchmal ebenfalls mit Gefahren verbundenen Heilungsversuchen der seriösen Medizin (wozu nicht nur die Schulmedizin zu zählen ist).

Weitere Gesundheitsgefährdungen ergeben sich aus Praktiken, welche nicht auf Heilung abzielen (z. B. gewisse Meditationen, intensive Befragungen, ,,Marathon,,Veranstaltungen, Überanstrengung). Auch hier werden die Gefahren verneint oder auf Grund des höherwertigen Zieles nicht beachtet.

444

Gefährdetes Kindeswohl

Wurde bereits oben auf Zweifel an der ,,Freiwilligkeit,, des Eintritts, des Verbleibens bzw. dem Mittun bei Aktivitäten einer vereinnahmenden Gruppe in Bezug auf erwachsene Mitglieder hingewiesen, so ist bei Kindern wegen des besonderen Einflusses der Eltern die Selbstbestimmung noch stärker eingeschränkt, oder ein eigener Entscheid des Kindes fehlt völlig. Zum Teil ist die Fremdbestimmung gesetzlich abgestützt, denn die Eltern bzw. allenfalls die Heimatgemeinde dürfen über die religiöse Erziehung des Kindes bestimmen,27 bis die religiöse Mündigkeit mit dem vollendeten 16. Altersjahr eintritt28.

Die Kinder in vereinnahmenden Gruppen treffen die meisten schädlichen Auswirkungen, welche auch bei Erwachsenen zu beobachten sind. Darüber hinaus sind sie manchmal Opfer speziell gegen Kinder gerichteter Praktiken (z. B. sexueller Missbrauch, Zwangsmeditation bei Kleinkindern) oder ,,Lehrideen,,.29 Gewisse Nachteile wirken sich bei Kindern auch besonders gravierend und nachhaltig aus (z. B.

,,verlorene Jahre,, statt vielfältige Selbstentwicklung und Ausbildung; Fernhalten von andern Kindern und andern Einflüssen; auf die Praxis einzelner Gruppen, Kinder von staatlichen Grundschulen fernzuhalten oder Privatschulen der staatlichen Kontrolle zu entziehen, wurde bereits in Kapitel 435 hingewiesen.). Kinder können sich wegen ihrer Unterlegenheit und mangels Erfahrung noch weniger wehren als Erwachsene.

27 28 29

Art. 303 ZGB für die Eltern, Art. 378 Abs. 3 ZGB für die Heimatgemeinde bei Bevormundeten.

Art. 49 Abs. 3 BV, Art. 303 Abs. 3 ZGB Die Aufzählung muss vorliegend aus Platzgründen unvollständig bleiben. Die deutsche Enquetekommission hat sich dem Problemkreis Kinder in ,,Sekten,, vertieft angenommen, vgl. EBS S. 200 ff. und die Studie des Arbeitskreises 4 ,,Kindeswohl/Kindesmissbrauch,, in EZB S. 86 ff.

Auch der schwedische ,,Sekten,,-Bericht legt einen Schwerpunkt auf den Schutz der Kinder; In Good Faith ­ Society and new religious movements. S. hiezu die englische Zusammenfassung von 1998. (Originalfassung auf schwedisch: 392 Seiten).

9911

445

Sonstige Gefährdung bzw. Beeinträchtigung der Selbstbestimmung

Bereits bei den bisher angeführten individuellen Problemkreisen war es kennzeichnend, dass vereinnahmende Gruppen ihre Interessen vorrangig und z. T. gegen die Einzelinteressen der Anhänger durchsetzen bzw. eine entsprechende Unterwerfung vom Einzelnen verlangen. Die Abgrenzung zu einem gesellschaftlich tolerierbaren Engagement bei einer Bewegung (was durchaus auch mit Opfern verbunden sein kann) liegt in den angewendeten Methoden, mit denen beim Betroffenen die notwendige Bereitschaft und die dazugehörige Überzeugung erzeugt werden. Werden in diesem Zusammenhang irreführende, täuschende, indoktrinäre Methoden verwendet, dann ist die teilweise oder gänzliche ,,Aufgabe,, der Selbstbestimmung nicht mehr nur Sache des Einzelnen ­ der Staat darf und muss einschreiten (sofern er die Möglichkeit dazu hat). Extreme Beispiele sind jene Fälle, in denen ein gruppeninternes Errettungs- oder Verfolgungsszenario die Anhänger in einen kollektiven Selbstmord oder eine sonstige Selbstaufgabe treiben (z. B. Sonnentempler, Heaven's Gate) oder zur Begehung von Straftaten verleiten (z. B. Aum-Sekte). Aber auch bei weniger spektakulären Fällen (z. B. ,,Instant,,-Bekehrungen; völlige Umstellung des Lebens nach einem mehrtägigen Kurs, z. B. durch Verlassen einer bisher intakt scheinenden Familie; Diskussionsunfähigkeit, da stets die Instruktion der Gruppe eingeholt werden muss oder nur Glaubenssätze deklariert werden, ohne auf Gegenargumente einzugehen) hat zumindest der aussenstehende Beobachter den Eindruck, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung sei stark eingeschränkt oder gar aufgehoben.

Da nicht nur die Privat- und Strafrechtsordnung, sondern auch die Demokratie auf dem Axiom der eigenverantwortlichen Selbstbestimmung basieren, darf auch ein liberaler Rechtsstaat nicht reaktionslos zusehen, wenn vereinnahmende Gruppen die Autonomie des Einzelnen systematisch untergraben oder aufzuheben versuchen.

45

Die Haltung von Behörden

Den verfassungsrechtlichen Hintergrund der Beschäftigung mit religiösen Fragen und Organisationen bildet die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Artikel 49 und 50 BV (bzw. Artikel 15 der neuen Bundesverfassung), die ihre hauptsächliche (historische) Bedeutung in der Befriedung der Bevölkerung und im Schutz des Individuums vor dem Zugriff grösserer Religionsgemeinschaften nach dem Sonderbundskrieg erlangt und einen zentralen Beitrag für den Zusammenhalt des Bundesstaates geleistet haben. Die Religionsfreiheit wird auch von Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Artikel 18 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte garantiert. Mit ihr wird das religiöse Leben grundrechtlich und umfassend geschützt. Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden über religiöse Fragen, können ihre Glaubensansichten äussern, religiöse Lehren verbreiten und ihre Überzeugungen in Form gottesdienstlicher Handlungen (Kultusfreiheit) umsetzen.

Schrieb die Verfassung im 19. Jahrhundert dem Staat noch schiedsrichterliche Kompetenzen im Religionsbereich zu, ist dessen Aufgabe heute auf die Garantie der Glaubens- (inkl. Weltanschauungs-) und Gewissens- sowie der Kultusfreiheit beschränkt. Die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat obliegt den Kantonen, die allesamt die grossen Religionsgemeinschaften anerkennen; die Kantone Neuenburg und Genf kennen die Trennung von Kirche und Staat. Die Aner9912

kennung als Kirche verschafft diesen den Rechtsschutz des Staates sowie Privilegien wie Steuerbefreiung (vom Bund sehr zurückhaltend und in den Kantonen unterschiedlich gehandhabt), Befreiung vom Militärdienst oder die Mitsprache im Schulwesen und im öffentlichen Leben, verpflichtet sie aber auch zur Rechtsstaatlichkeit und zur Anerkennung der Oberaufsicht des Staates über ihre äusseren Belange.

Freikirchen ohne öffentlichrechtlichen Status sowie ,,Sekten,, und praktisch alle nichtchristlichen Religionsgemeinschaften unterstehen dem Privatrecht (Art. 60 ff.

ZGB).30 Der Bundesrat verwies 1989 in der Antwort auf eine Einfache Anfrage ­ sie nahm explizit Bezug auf die persönliche Freiheit und den Schutz von Minderjährigen ­ auf die Privatinitiative.31 Bundesrat und Parlament lehnten ­ nach dem Sonnentempler-Drama ­ mit Berufung auf die Kirchenhoheit der Kantone die Schaffung eines Bundesamtes für Religionsfragen ab.32 Weitere Antworten der Landesregierung auf parlamentarische Vorstösse waren stets von Zurückhaltung geprägt und enthielten folgende Elemente: Grundrechte (insbesondere Glaubens- und Gewissensfreiheit), Souveränität der Kantone in kirchlichen Angelegenheiten, Voraussetzungen für staatliches Handeln (insbesondere Straftaten, Gefährdung der Sicherheit des Staates), Wirksamkeit bestehender Gesetze (Straf- und Zivilrecht, kantonale wirtschafts- und gesundheitspolizeiliche Instrumente).

Der Bundesrat lehnte bisher eine koordinierende Tätigkeit des Bundes aus finanziellen Gründen ab; für ein entsprechendes Bedürfnis der Kantone sah er im März 1998 keinerlei Anzeichen, und er bezweifelte die Wirksamkeit einer Harmonisierung der einschlägigen kantonalen Gesetze.33 Über die zurückhaltende Praxis richterlicher Behörden war bereits in Kapitel 433 die Rede. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lehnten sich auch schweizerische Parlamentarierinnen und Parlamentarier sowie Regierungsmitglieder dem formaljuristischen Gebot zur Zurückhaltung in Glaubensfragen an. Auch die konsequente und engagierte Thematisierung in einigen Printmedien trägt, im Gegensatz zu Deutschland, nur wenige Früchte. Dieselbe Haltung herrscht auch bei den politischen Parteien vor: Die seit den 80er-Jahren tätigen Sektenberatungsstellen und Elternvereinigungen vermochten keine eigentliche politische Lobby auf eidgenössischer Ebene
aufzubauen.

Religion als Privatangelegenheit anzusehen sei, so eine der von der Kommission angehörten Personen, juristisch durchaus richtig, aber zunehmend fragwürdig, denn die sozio-kulturell bedingten Unterschiede in der Gesellschaft seien in den letzten 20 Jahren unterschätzt worden. Man müsse heute die Religion als Aspekt des sozialen Lebens betrachten: ,,Gerade dies legitimiert den Staat, auf diesem Gebiet einzuschreiten.,, Der Rückzug des Staates berge zudem eine ,,Gefahr in sich, als der Staat offenbar dem heutigen religiösen Wandel und gegenüber der Tendenz verschiedener Kantone, fallweise und nicht mehr umfassend zu handeln, hilflos gegenübersteht,,.

30 31 32

33

Neues Staatskundelexikon für Politik, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft. Aarau und Zürich, 1996.

Einfache Anfrage 88.1068 Zugehörigkeit zu religiösen Sekten und persönliche Freiheit.

Motion Schaffung eines Bundesamtes für Religionsfragen vom 14. Dezember 1993 (93.3606) sowie Interpellation Bundesamt für Religionsfragen vom 6. Oktober 1994 (94.3418) Aus den Antworten auf folgende Vorstösse: Interpellation Einfluss der ScientologyKirche in der Schweiz vom 3. Oktober 1996 (96.3505); Interpellation Wirksame Bekämpfung sektiererischer Auswüchse vom 20. März 1998 (98.3136); Einfache Anfrage Aktivitäten im Umfeld von Scientology vom 27. April 1998 (98.1050).

9913

Im Gegensatz zu Deutschland, Schweden, aber auch Frankreich hat die schweizerische Politik bis heute die Gelegenheit nicht ergriffen, das Thema zu enttabuisieren, es aus dem reinen Umfeld der privaten Verantwortlichkeiten zu ziehen und es zu einer öffentlichen Sache zu machen.

In der Kommission wurde mit Blick auf Deutschland darauf hingewiesen, dass staatliches Handeln dem Gebot der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht widerspricht. Gemeint sei nicht eine radikalere Haltung gegenüber Gruppierungen, die z. T. in ­ in der Schweiz undenkbaren und auch in den Augen der Kommission unerwünschten ­ Verbotsforderungen mündeten, sondern die Tatsache, dass sich dort Politikerinnen und Politiker sowohl der Exekutive wie der Legislative zum Thema persönlich exponieren. Sie haben die in der Bevölkerung vorhandenen und von den Medien thematisierten Ängste aufgenommen und damit die sozialpolitische Dimension des Problems erkannt: Minister haben Studien in Auftrag gegeben, Bundesländer grossflächige Aufklärungskampagnen gestartet, der Bundestag eine professionell dotierte Enquete-Kommission eingesetzt, Gerichte und politische Parteien haben klare Entscheide gefällt, und auch der seinerzeitige Bundeskanzler Helmuth Kohl hat sich öffentlich zu Wort gemeldet. Ein Minister hat gar einen gerichtlichen Freispruch erlangt ­ er darf eine Gruppe weiterhin als ,,Wirtschaftskrake,,, als ,,wirtschaftskriminelle Organisation,, und als ,,Geldwäscheorganisation,, bezeichnen.

Solche politische Stellungnahmen gelten als ,,Signal an die Bevölkerung und gleichzeitig Prävention,,, wären doch die Betroffenen (v. a. Eltern) dann eher bereit, sich mit dem Thema zu beschäftigen, und sie würden auch von der Legislative als Zeichen gewertet.

Verschiedene Kantone haben in der Zwischenzeit entsprechende Schritte eingeleitet: ­

Ausgehend von einer Motion aus dem Jahre 1996 hat der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt das Übertretungsstrafgesetz ergänzt. Danach wird bestraft, wer durch täuschende oder unlautere Methoden Passantinnen und Passanten auf der Allmend anwirbt oder anzuwerben versucht. Die Bestimmungen sind seit Ende November 1998 in Kraft. Das Bundesgericht hat Ende Juni 1999 eine diesbezügliche staatsrechtliche Beschwerde von Scientology abgewiesen.

­

Im Kanton Genf sind im Zusammehang mit ,,sektiererischen Auswüchsen,, (,,dérives séctaires,,) ergänzende Bestimmungen im Strafprozessrecht vorgesehen. Insbesondere sollen Personen, die durch eine vereinnahmende Bewegung geschädigt wurden, als Zivilpartei oder als Zeuge im Verfahren Hilfe durch eine im Rahmen der Opferhilfe anerkannte Fachorganisation in Anspruch nehmen können.

­

Die seit September 1997 bestehende interkantonale Arbeitsgruppe für ,,Sekten,,-Fragen setzt sich aus den Kantonen Genf, Neuenburg, Jura, Freiburg, Bern, Tessin, Wallis und Waadt zusammen. Wichtigstes Projekt (ohne Beteiligung der Kantone Jura, Freiburg und Bern) ist ein Informationszentrum für Glaubensfragen (,,Centre d'information sur les croyances,,).

­

Der Kanton Tessin veröffentlichte am 19. Oktober 1998 einen eigenen umfangreichen Bericht über ,,religiöse Sekten,, (,,sette religiose,,). Dieser legt das Schwergewicht auf die Anwendung bestehender Gesetze und auf die Notwendigkeit von Information, Aufklärung und Beratung und verweist im Übrigen auf die interkantonale Arbeitsgruppe, deren Mitglied er ist.

9914

­

Ein Projekt für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten im Kanton Waadt sieht im 3. Gymnasialjahr das Wahlfach ,,Religionsgeschichte und -wissenschaft,, vor. Ziel ist die Vermittlung von entsprechender Allgemeinbildung und die Förderung von ,,fächerübergreifendem Bewusstsein und Know-how,,. Die Religionswissenschaften sollen in der Schule ,,das gegenseitige Verständnis begünstigen und die Diskussion von Integrationswerten vertiefen,,. Die verschiedenen Kategorien verweisen auf Konzepte wie ,,Achtung der Mitmenschen, Solidarität, bürgerliche und gesellschaftliche Verantwortung,,. Der Beginn der Einführung ist auf das Schuljahr 2000/2001 vorgesehen.

III

Schlussfolgerungen der Kommission und mögliche Massnahmen

1

Die Kommissionsarbeit als Prozess der Bewusstseinsbildung

Der Kommission wurde im Verlauf der Anhörungen und Diskussionen zum Thema ,,Sekten,, und vereinnahmende Bewegungen bewusst, dass es sich um ein ebenso vielschichtiges wie umstrittenes Phänomen handelt. Sie konnte sich trotz vielen Informationen und intensiven Auseinandersetzungen kein abschliessendes Bild machen. So sah sie sich mit dem Widerspruch konfrontiert, wonach Informationslücken und Forschungsdefizite beklagt, aber gleichzeitig eindrückliche Einzelfälle von Missbräuchen geschildert wurden. Ein weiterer Widerspruch bestand zwischen dokumentierten Missbräuchen in einzelnen Vereinigungen und deren eigener Darstellung, wozu die Kommission Gelegenheit geboten hat. Zudem sind sich selbst Fachleute nicht immer einig, was den tatsächlichen religiösen Charakter von Gruppierungen und deren mögliche sektiererische Tendenzen, und was den vereinnahmenden, manipulierenden und täuschenden Umgang mit Sinn- und Heil(ungs)suchenden betrifft. Einige nehmen die Glaubens- und Religionsfreiheit in Anspruch, um ,,ihre Zwecke in deren Windschatten zu verfolgen ­ in einer Art und Weise, die mit Freiheitsrechten des Einzelnen nichts mehr zu tun hat,,.

,,Sekten,,, vereinnahmende Bewegungen und andere strukturierte und unstrukturierte Gruppierungen, aber auch religiös verschleierte, marktorientierte Heilsangebote bewegen sich in einem sich rasch wandelnden Umfeld des religiösen Pluralismus. Gerade die Diskussionen über die Religionsfreiheit (und andere freiheitliche Grundrechte) haben das Feld erweitert ­ und damit auch dessen gesellschaftliche (und gesellschaftspolitische) Relevanz verdeutlicht: Ungewohnte religiöse Überzeugungen und Glaubenshaltungen, die unserem traditionellen christlichen Kulturgut fremd sind, sind in der Schweiz auch in anderen Weltreligionen anzutreffen. Deren Vertreter machen inzwischen einen stattlichen Anteil der Wohnbevölkerung in der Schweiz aus. Man muss sich deshalb grundsätzlich bewusst sein, dass sich auch zahlreiche Schweizerbürgerinnen und -bürger z. B. mit dem Islam (heute drittgrösste Glaubensgemeinschaft in der Schweiz), dem Judentum (seit jeher) oder anderen Glaubensüberzeugungen als religiöser Heimat und mit der Schweiz als politischer und emotionaler Heimat identifizieren. Der Staat wird in der Folge nicht darum herumkommen, sein Verhältnis zu den Angehörigen aller Glaubensrichtungen
­ und damit um die Definition von ,,Religion,, oder ,,Kirche,, ­ zu regeln, ist er doch schon heute mit Konsequenzen der religiösen Verpflichtungen dieser Bürgerinnen und Bürger konfrontiert (Militärdienst, Kleidervorschriften, Nahrungsgewohnheiten usw.).

9915

Die Kommission ist sich bewusst, dass ­

die Entstehung des heutigen kulturellen und religiösen Pluralismus unter anderem auf der Grundlage unserer freiheitlich und demokratisch ausgestalteten Gesellschaft beruht,

­

die weitere Entwicklung weder rückgängig gemacht, in eine bestimmte Richtung beeinflusst, anderweitig behindert oder gar gebremst werden kann, und

­

Gesetze, Vorschriften oder andere Mittel nur Auswüchsen begegnen können und dürfen.

Deshalb gelangt sie zur Einsicht, dass nur eine Kultur der Toleranz der heutigen Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses in Glaubens- und Religionsfragen Rechnung tragen kann. Als gesamtgesellschaftlichen gemeinsamen Nenner und Massstab zugleich drängen sich hiefür die universellen Menschenrechte auf. Diese wahrzunehmen ,,bedingt die Erkenntnis, dass Gruppierungen in ihrer jeweiligen kulturellen Existenz verschiedene Ausprägungen haben. Als Basis gilt die Forderung, mit einzelnen Religionen aus anderen Kulturen das Gespräch zu führen. Es gilt zu erklären, dass ­ weil wir nicht in China oder in Saudi-Arabien, sondern in der Schweiz sind ­ hier die Menschenrechte im Sinn der mitteleuropäischen Kultur gelten,,.

Als Hüter der Toleranz34 sorgt der Staat dafür, dass Religionen, religiöse Gemeinschaften und Gruppen ­ vom Staat als solche gleichberechtigt anerkannt ­ untereinander, aber auch ihre Mitglieder innerhalb der Gemeinschaften die verfassungsmässig garantierten Grundrechte wahrnehmen, am politischen Prozess aktiver teilnehmen (z. B. Erweiterung der Vernehmlassungsadressaten) und ihre Integrität wahren können. Damit wird er der positiv verstandenen Religionsfreiheit gerecht. Als Hüter der Toleranz greift er gleichzeitig entschieden ein, wenn Rechte von Gruppen oder einzelnen Gruppenmitgliedern gefährdet oder unterdrückt werden. Er kommt damit einem kritischen, Grenzen setzenden Verständnis der Religionsfreiheit nach. Äusserungen des Staates haben Signalwirkung und können ­ so hoch der Anspruch auch sein mag ­ den Weg zu einer Kultur der Toleranz ebnen, wie sie im (schulischen) Ansatz im Kt. Waadt vorgesehen sind.35 Da mögliche Gefahren nicht davon abhängig sind, ob eine Gruppe religiöse oder andere Anliegen vertritt, sind auf der Basis der universellen Menschenrechte allgemeine, politisch zu definierende Kriterien denkbar, die die Grenzen der staatlichen, aber auch der gesellschaftlichen Toleranz ziehen: Offenes Menschenbild, Dialogbereitschaft, Transparenz, Offenlegung der Finanzen, demokratische und Partnerschaft

34

35

Einen solchen Ansatz verfolgt die Expertenkommission ,,Religion und Fernsehen,,; s. dazu den Schlussbericht ,,Religiöse Fernsehveranstalter vom September 1997 im Auftrag des EVED.

Der kantonale Studienplan sieht im 3. Gymnasialjahr ein ergänzendes Wahlfach ,,Religionsgeschichte und -wissenschaft,, vor mit dem Ziel, diesbezügliche Allgemeinbildung sowie ,,fächerübergreifendes Bewusstsein und Know-how,, zu fördern und ,,Einsichten in andere Kulturen zu erlangen und die eigene Einstellung zu klären,,.

9916

vermittelnde und nicht einengende Strukturen, Achtung der persönlichen Integrität, Respektierung des geltenden Rechts, gesellschaftliche Verwurzelung usw.36

2

Politischer Handlungsbedarf: Formulierung und Umsetzung einer ,,Sekten,,-Politik

Die Privatinitiative allein, auf die der Bundesrat in seiner Antwort auf die bereits erwähnte Einfache Anfrage verwiesen hatte, scheint heute nach Ansicht der Kommission nicht mehr zu genügen. Das zeigen die Bemühungen einzelner Kantone in verschiedenen Bereichen (Gesetzgebung, koordinierte Information, behördliche Stellungnahmen), aber auch die Tatsache, dass die Bundesverwaltung mit diesbezüglichen Fragen konfrontiert ist. Überdies ist auch der Bundesrat heute schon gehalten, bei der Beantwortung parlamentarischer Vorstösse Stellung zu beziehen. Die Kommission erachtet es deshalb als Mangel, wenn sich Verwaltungsstellen in mannigfaltiger Weise mit der ,,Sekten,,-Problematik zu befassen haben, ohne sich auf eine einheitliche Grundlage in Form einer politischen Vorgabe der Landesregierung stützen zu können.

Im Laufe der Untersuchung wurde deutlich, dass unter den betroffenen Verwaltungsstellen kein systematischer Informationsaustausch stattfindet. In diesem Zusammenhang ist nach Meinung der Kommission auch die Tatsache problematisch, dass sich der Bundesrat in Fragen von vereinnahmenden Bewegungen offenbar vorwiegend auf die Meinung eines Beamten stützt, welcher die ,,Sekten,,-Problematik zu seinem privaten Spezialgebiet gemacht hat. Dieser Person wird zudem vorgeworfen, die nötige Distanz zu vereinnahmenden Bewegungen vermissen zu lassen.

Damit ist die Gefahr verbunden, dass allenfalls rasch zu erstellende Risikoanalysen ­ Jahrtausendwenden entfachen Endzeitstimmung ­ ungenügend abgesichert sind und so selbst zum Risiko werden. Eine solche Informationsbeschaffung bietet auch keine Gewähr, von der Öffentlichkeit als verlässlich genug angesehen und akzeptiert zu werden, und sie wird zu einer willkommenen Angriffsfläche.

Der Bundesrat wird zunächst aufgefordert, die in diesem Bericht dargelegte Problematik ernst und als Aufgabe der Staatsführung wahrzunehmen. Die Kommission erwartet von ihm, als Grundlage für staatliches Handeln eine ,,Sekten,,-Politik zu formulieren; sie betrachtet dafür Artikel 15 der neuen Bundesverfassung im Allgemeinen (und Absatz 4 im Besonderen) als ausreichende Handhabe: Eine klare Haltung der Behörden ist ein Signal an die Betroffenen, die sich so in ihren Bemühungen gestärkt sehen, sich gegen Vereinnahmung, gegen die Verletzung grundlegender Freiheitsrechte sowie gegen
nicht näher begründete Heils- und Heilungsversprechen zu wehren. Eine klare Haltung des Staates ist auch für die Rechtsanwendung von grosser Bedeutung: Gerichte und Verwaltungsbehörden sollen entschieden eingreifen, wenn Rechtsgüter gefährdet bzw. verletzt werden, und gleichzeitig helfen, staatliche Eingriffe über die Grenzen der Grundrechte hinaus zu verhindern.

Wie die Beispiele Deutschland, Österreich, Frankreich oder Schweden zeigen, trägt eine vom Staat (mit)getragene Informations-, Aufklärungs- und Präventionsarbeit letztlich zu einer gesellschaftlichen Debatte über das Thema bei, gelten doch verein36

Offenlegung des religiösen Anliegens oder Erhaltung des religiösen Friedens sind weitere spezifische Kriterien für religiöse TV-Veranstalter; s. ,,Religiöse Fernsehveranstalter,, Schlussbericht der Expertenkommission ,,Religion und Fernsehen,, vom September 1997 im Auftrag des EVED, S. 10.

9917

nahmende Bewegungen oder ,,Sekten,, als Tabu (die Aids-Kampagne des Bundes hat die enttabuisierende Wirkung staatlicher Informationsarbeit eindrücklich demonstriert.).

Um eine der Bedeutung des Themas gerecht werdende ,,Sekten,,-Politik zu formulieren und umzusetzen, kommen dem Bundesrat nach Meinung der Kommission folgende Aufgaben zu: ­

Koordinationsaufgabe des Bundes (s. folgendes Kapitel 21),

­

Einrichtung einer Informations- und Beratungsstelle (s. folgendes Kapitel 22),

­

Förderung von Forschung und Zusammenarbeit (s. folgendes Kapitel 23).

Im Weiteren ist der Bundesrat nach Ansicht der Kommission gehalten, Massnahmen insbesondere in den Bereichen Konsumentenschutz, Schutz von Kindern und Gesundheitsgesetzgebung in die Wege zu leiten (s. Kapitel 24 und folgende).

21

Koordination als Kernaufgabe des Bundes

Eines der Hauptmerkmale im Umgang mit dem Thema vereinnahmende Bewegungen und ,,Sekten,, liegt in der Vielfalt der Akteure (Verwaltungsstellen, Behörden, Kantone, Gerichte/Vormundschaftsbehörden, Forschungsstellen, private und kirchliche Beratungsstellen), in der unterschiedlichen und in der grösstenteils isolierten Herangehensweise bzw. der fehlenden bis mangelhaften Zusammenarbeit untereinander.

Nach Auffassung der Kommission muss der Bundesrat als Kernaufgabe eine dreifache Koordinationsfunktion wahrnehmen, um der ,,Sekten,,-Politik gerecht zu werden und um die Informationsbeschaffung auf eine einheitliche, fachlich abgesicherte und widerspruchsfreie Grundlage zu stellen: 1.

37

Administrative Koordination zwischen den einzelnen Akteuren, d. h.

­ zwischen einzelnen Bundesämtern, ­ zwischen Bund und Kantonen, ­ zwischen den Kantonen, ­ zwischen universitärer Forschung und privaten und kirchlichen Forschungsstellen respektive Fachorganisationen sowie ­ zuhanden einer grenzübergreifenden Zusammenarbeit auf internationaler Ebene (was auch einer Forderung des europäischen Parlaments entspricht).37

Der Bundesrat hat zwar die internationale Dimension des Problems erkannt, sie aber paradoxerweise als Argument benutzt, um seine Zweifel an der Wirksamkeit einer Harmonisierung der einschlägigen kantonalen Gesetze darzulegen; Interpellation Wirksame Bekämpfung sektiererischer Auswüchse vom 20. März 1998 (98.3136). Die Bundesanwältin wies im gleichen Zusammenhang für den polizeilichen Bereich auf die Notwendigkeit der multinationalen Zusammenarbeit hin.

9918

2.

Inhaltliche Koordination Der Bundesrat sorgt insbesondere dafür, dass ­ ein interdisziplinärer Ansatz in der Forschung sichergestellt und die in anderen Ländern gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen auch für die Schweiz nutzbar gemacht werden (und umgekehrt)38; ­ die unterschiedlichen Optiken und Interessenlagen von Forschung und (privater und kirchlicher) Beratung im Hinblick auf eine homogene Informationspolitik und eines einheitlichen Handlungsansatzes einander angenähert, resp. zusammengeführt werden (s. folgendes Kapitel 23).

Die inhaltliche Koordination kann in Form eines unter der Federführung des Bundes ausgearbeiteten Zusammenarbeitsvertrags (evtl. Leistungsauftrags) sichergestellt werden, mit dem auch die Legitimation für finanzielle Zuschüsse der öffentlichen Hand verbunden ist.

3.

Koordination der Gesetzgebung der Kantone Der Bundesrat sorgt für die Koordination der im Bereich von vereinnahmenden Bewegungen relevanten kantonalen Gesetzgebung, insbesondere der Gesundheitsgesetzgebung (s. hiezu folgendes Kapitel 243).

22

Einrichtung einer schweizerischen Informations- und Beratungsstelle

Die Kommission erachtet es als notwendig, eine schweizerische Informations- und Beratungsstelle zu schaffen.39 Sie ist sich bewusst, dass sich die Kommission gegen Rassismus mit Phänomenen wie Rassismus, Antisemitismus und mit faschistoiden Tendenzen befasst, die als Teilaspekte auch in ,,Sekten,, und vereinnahmenden Bewegungen vorkommen können. Allenfalls sind Synergien beziehungweise Formen von Zusammenarbeit zwischen einer Informations- und Beratungsstelle in ,,Sekten,,Fragen und der Kommission gegen Rassismus zu nutzen.

Einleitend ist festzuhalten, dass zwar zahlreiche Informationen über vereinnahmende Bewegungen bestehen (z. B. bei Beratungsstellen) und religiöse Gruppierungen auch selbst informieren. Gleichzeitig sehen sich aber diese Informationsquellen immer wieder dem Vorwurf mangelnder Objektivität oder ungenügender Glaubwürdigkeit ausgesetzt. Zudem kann bei privaten Stellen nie sichergestellt werden, dass sie nicht unterwandert werden können. Auf die Gefahr, dass bei dieser Informationsstruktur durch Kündigungen wertvolles Know-how verloren gehen kann, wurde bereits hingewiesen.

Das Problem der vereinnahmenden Gruppen besteht in erster Linie darin, dass die freie Selbstbestimmung der Betroffenen beeinträchtigt wird. Deshalb bietet sich als eine der Gegenmassnahmen an, die Verbreitung kritischer Informationen zu den vereinnahmenden Gruppen zu unterstützen. Damit wird den Interessenten

38

39

Wenn man die lange Liste der von der deutschen Enquete-Kommission empfohlenen Forschungsthemen betrachtet, so können aus Deutschland vielfältige Ergebnisse erwartet werden, selbst wenn nur ein geringer Teil der Projekte realisiert wird, vgl. ESB S. 389­391.

Nach Ansicht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements fehlt dazu eine gesetzliche Grundlage.

9919

(zumindest theoretisch) die Möglichkeit geboten, Informationen in Ergänzung zur Selbstdarstellung der Gruppen zu erhalten, um einen eigenen Entscheid zu fällen.

Auch das Umfeld der Anhängerinnen und Anhänger einer vereinnahmenden Gruppe, welches oft stark unter den Auswirkungen leidet, kann durch sachgerechte Information die Situation besser verstehen und adäquater reagieren. Schliesslich sind auch Behörden (Vormundschaftsbehörden, Steuerbehörden, Gerichte usw.) darauf angewiesen, von einer Fachstelle Informationen über die Gruppen, deren Praxis und Lehre einholen zu können, soweit dies für staatliches Handeln erforderlich ist.40 Auch wenn sich eine solche Stelle um grösstmögliche Sachlichkeit bemühen muss, darf man sich nicht vorstellen, dass eine ausschliesslich objektive oder gar neutrale Information möglich ist. Damit wird diese Stelle eine ,,Meinung,, in der notwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Problematik der vereinnahmenden Gruppen darstellen. Deshalb ist es wichtig, dass der angewendete Massstab mit den von der Rechtsordnung geschützten Werten bzw. dem grundrechtlich verankerten Menschen- und Gesellschaftsbild übereinstimmt. Der Massstab muss auch offen deklariert werden.

Bei der Einrichtung einer Informations- und Beratungsstelle ist auf folgende Punkte zu achten41: Gesamtschweizerische Stelle Bisher existiert keine gesamtschweizerische Institution, die sich mit den vorliegenden Problemen befasst. Diese betreffen aber sämtliche Landesteile, sodass es beim Aufbau regionaler Stellen zu Überschneidungen führen würde und der Einsatz der Mittel unwirtschaftlich wäre. Bei der Errichtung dieser Stelle ist eine Zusammenarbeit des Bundes mit den Kantonen anzustreben.

Ideelle Ausrichtung der Stelle Soweit eine staatliche Beteiligung bzw. Unterstützung zur Diskussion steht, ist es unabdingbar, dass die Informations- und Beratungsstelle konfessionsunabhängig ausgerichtet ist, damit die Unterstützung durch die öffentliche Hand nicht mit der staatlichen Neutralität in Religionsfragen in Konflikt gerät.42 Die Information und Beratung geschieht unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Bevölkerung mit dem Ziel, eine engagierte, aber sachliche Diskussion über vereinnahmende Gruppen, deren Methoden und Gefahren zu ermöglichen. Die Tätigkeit hat sich nach den geltenden Gesetzen zu richten. Die verfassungsmässigen Rechte, und zwar nicht nur jene 40

41

42

Eine solche Stelle erhielte auch im Zusammenhang mit der diskutierten Öffnung der TVLandschaft für religiöse Fernsehveranstalter eine Funktion, ist doch kaum anzunehmen, dass die Einhaltung von Zulassungskriterien und Konzessionsauflagen vom Konzessionsgeber selbst beurteilt werden kann. S. hiezu: ,,Religiöse Fernsehveranstalter,,, Schlussbericht.

Auch die deutsche Enquete-Kommission empfiehlt die ,,Einrichtung einer Stiftung im Bereich `Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen',,, ESB S. 363 ff.

Zudem entspricht dieser Vorschlag einer Handelsempfehlung der EU an ihre Mitgliedstaaten, vgl. ,,Bericht über die Sekten in der Europäischen Union, Berichterstatterin Frau Maria Berger vom 11. Dezember 1997, Dok. A4-0408/97, Ziff. 5 S. 8 `fordert ... Mitgliedstaaten ... auf, ... durch unabhängige Gremien, Informations-, Aufklärungs- und Beratungsaktivitäten ... zu beauftragen, die ohne inhaltliche Parteinahme dem Einzelnen eine freie und informierte Entscheidung zu erleichtern und austrittswilligen Sektenmitgliedern und ihren Familien Hilfsstrukturen anzubieten'.,, Die Handlungen einer privaten Informationsstelle können nicht unmittelbar dem (mit-) finanzierenden Staatswesen zugerechnet werden, BGE 118 Ia 57.

9920

der kritisierten Gruppen bzw. deren Anhänger, sondern auch jene der andern Beteiligten43, müssen dabei gewahrt werden.

Aufgaben der Stelle Neben der Erfüllung der Informations- und Beratungsbedürfnisse leistet sie präventive Arbeit, beobachtet, wie sich Gruppen und deren Aktivitäten entwickeln und verändern, und sie koordiniert die Nachsorge bei ehemaligen Mitgliedern der vereinnahmenden Gruppen und der fachlichen Begleitung von Selbsthilfegruppen. 44 Wesentlich erscheint, dass die Informationsaufgabe und die Beratungstätigkeit bei der gleichen Stelle angesiedelt sind ­ beide bedingen einander: Informationen über vereinnahmende Gruppen und deren Methoden sind für die adäquate Beratung unentbehrlich, während die konkrete Erfahrung mit den Problemen der Betroffenen in die Aufklärungsarbeit zurückfliesst.

Gemäss heutiger Auffassung der Lehre und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gilt das Legalitätsprinzip nicht nur für die Eingriffs-, sondern in gewissem Umfang auch für die Leistungsverwaltung. Eine regelmässige staatliche Unterstützung der in Frage stehenden Stelle bedarf einer gesetzlichen Grundlage45, welche die Voraussetzungen und den Zweck der Leistungen hinreichend klar umschreibt.46 Die Finanzierung ist deshalb den Aufgaben entsprechend sicherzustellen.

Aus naheliegenden Gründen wäre eine Datenbank resp. ein Archiv bei dieser Stelle anzusiedeln, die somit eine Scharnierfunktion für Forschung, Beratung und staatliche Stellen (Bund und Kantone) wahrnimmt.

43

44

45

46

Das Bundesgericht hat in BGE 118 Ia 56 festgehalten, dass auch die Kritik an Glaubensinhalten ­ selbstverständlich im Rahmen der geltenden straf- und zivilrechtlichen Grenzen ­ grundrechtlich geschützt sei. Zudem werde mit der Unterstützung einer derartigen Informationsstelle ein ,,fürsorgerischer, humaner Zweck,, verfolgt, ,,indem Missbräuchen bei der Ausübung der Religionsfreiheit,, entgegengetreten werde. a. a. O. S. 60 In Deutschland sollte nach dem Willen der Enquetekommision die Stiftung äusserst umfassende Aufgabenfelder abdecken: Neben der an letzter Stelle genannten Beratung von Einzelpersonen und Beratungsstellen, v. a. Schaffung eines ,,inhaltlichen und finanziellen Rahmens,, für die einschlägigen Beratungsstellen, öffentliche Aufklärung sowie Koordination und Weiterbildung der übrigen Beratungsstellen; Anregung, Durchführung oder Vergabe von Forschungsaufträgen; systematische Erfassung des bestehenden Materials, welches der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden soll; Aufarbeitung der sozialpädagogischen bzw. psychologischer Literatur, etc. ESB S. 364 Auch die deutsche Enquetekommission empfiehlt die Einführung einer klaren gesetzlichen Grundlage, nachdem das Bundesverwaltungsgericht mit Entscheid vom 27.3.1992 (vgl. NJW 1992 S. 2496) die damalige Unterstützung des Dachverbandes deutscher Elterninitiativen AGPF mangels besonderer gesetzlicher Rechtsgrundlagen als rechtswidrig erklärt hatte. vgl. ESB S. 364-368. In Österreich wurde am 20. 8. 1998 ein Bundesgesetz über die Einrichtung einer Bundesstelle für ,,Sekten,,-Fragen erlassen (BGBl 1998, Nr. 150, S. 1799). Die Stelle hat ihre Tätigkeit bereits im November 1998 aufgenommen.

BGE 118 Ia 46 ff., insb. 61 f. = ,,infoSekta-Entscheid,,. Scientology und die Vereinigungskirche machten die Verletzung verfassungsmässiger Rechte durch den vom Kanton Zürich gewährten Starthilfebeitrag an infoSekta geltend. Die staatsrechtliche Beschwerde wurde abgewiesen.

9921

23

Förderung von Forschung und Zusammenarbeit

Die Notwendigkeit, die wissenschaftliche Forschung in verschiedenen Fachrichtungen bzw. die Rezeption ausländischer Forschungsergebnisse47 zu fördern und zu koordinieren, wurde bereits dargestellt. Gesichertes Wissen über die Wirkungsweise und die Gefahren der verschiedenen Methoden der Beeinflussung, Indoktrination bzw. Manipulation, d. h. der sog. Psychotechniken, wäre in verschiedener Hinsicht hilfreich. Einerseits liefern solche Erkenntnisse die Grundlagen, um die Grenzen der gesellschaftlich tolerierten Beeinflussung zu definieren48 und Massnahmen gegen die unerwünschten Auswirkungen solcher Techniken zu ergreifen. Schliesslich verbessern wissenschaftlich erhärtete Fakten die Durchsetzung der geltenden (und allenfalls zu schaffenden) Gesetze, indem die Beweislage allfälliger Geschädigter bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche verbessert wird.

Angesichts der knapper werdenden Mittel ist bei der Auswahl der Forschungsthemen grundsätzlich darauf zu achten, dass für die Praxis relevante und umsetzbare Ergebnisse zu erwarten sind ­ nicht zuletzt wegen der seit einigen Jahren erhobenen Forderung, die Universitäten müssten sich stärker an den gesellschaftlichen Realitäten und Bedürfnissen orientieren. Um diesem Anliegen gerecht zu werden, muss die Zusammenarbeit zwischen universitären Forschungsstellen mit kirchlichen und privaten Beratungsstellen (oder eines eventuell zu schaffenden Dachverbandes) sowie der vorgeschlagenen Informations- und Beratungsstelle institutionalisiert werden.

Weil praxisrelevante Ergebnisse nur auf einer gemeinsamen Handlungsbasis umgesetzt werden können, die ihrerseits gegebenenfalls von einer Harmonisierung der kantonalen Gesetzgebung abhängt, wie sie auch von einer Interpellation verlangt wird49, sind bei den Forschungsbemühungen zudem die strafrechtliche Optik sowie die Kantone, aber auch das internationale Umfeld mit zu berücksichtigen.

24

Schutzmassnahmen

Die Kommission ist nicht der Meinung, die Bekämpfung der schädlichen Auswirkungen vereinnahmender Gruppen habe in erster Linie auf dem Weg der Gesetzgebung zu erfolgen. Sie erachtet die bestehenden gesetzlichen Vorschriften im Grossen und Ganzen als genügend; auf den mangelnden Vollzug wurde mehrmals hingewiesen. Die Kommission betrachtet überdies polizeiliche Mittel nicht als primäres Mittel, um gegen Auswüchse vorzugehen; eine präventiv-polizeiliche Beobachtung einzelner Gruppen drängt sich erst recht nicht auf. In diesem Punkt teilt die Kommission die Meinung der Konsultativen Staatsschutzkommission.

Die Kommission ist aber dennoch der Ansicht, dass einzelne Aspekte der Gesetzgebung oder deren Anwendung verbessert werden können und müssen, um ­ auch hier als politisches Signal ­ die ,,Sekten,,-Politik des Bundes zu unterstützen.

47

48 49

Ein Beispiel ist die Dissertation von Ulrich Knoepfel, Willensbildung, Beeinflussung und Vertragsschluss (Diss. Zürich, Verlag Paul Haupt Bern und Stuttgart 1989), wo die Erkenntnisse der amerikanischen Kommunkations- und Persuasionswissenschaften referiert werden.

Vgl. zu den Schwierigkeiten, die ohne solche klare Abgrenzung entstehen: unten Ziff. III 2.3.2 Interpellation Wirksame Bekämpfung sektiererischer Auswüchse vom 20. März 1998 (98.3136)

9922

Vom mangelnden Vollzug der Gesetzgebung oder von punktuellen Verbesserungsmöglichkeiten mit entsprechendem Handlungsbedarf sind namentlich folgende Bereiche betroffen: ­

Schutz von Kindern (s. folgendes Kapitel 241);

­

Konsumentinnen- und Konsumentenschutz in Form einer Regelung der gewerbsmässigen Lebensbewältigungshilfe (s. folgendes Kapitel 242);

­

Gesundheitsgesetzgebung (s. folgendes Kapitel 243).

241

Schutz von Kindern

Die neue Bundesverfassung sieht ausdrücklich vor, dass sich Bund wie Kantone für den Schutz und die Förderung von Kindern einsetzen (Art. 41 Abs. 1 Bst. g; Art. 67 Abs. 1). Die Schweiz hat zudem die UNO-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Wie bereits (insbesondere in Kapitel II, 444) ausgeführt, sind im Zusammenhang mit vereinnahmenden Gruppen öfters die Interessen von Kindern gefährdet oder verletzt.

Staatliche Eingriffe sind aber nur beschränkt möglich, weil neben der Religionsfreiheit (im religiösen Kontext) und dem Schutz des Familienlebens gemäss Artikel 8 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Artikel 23 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte auch die Elternrechte zu berücksichtigen sind. Das elterliche Sorgerecht berechtigt und verpflichtet die Eltern dazu, für das unmündige Kind die nötigen Entscheide zu treffen. Diese elterliche Entscheidungsbefugnis ist begrenzt durch das Kindeswohl als oberste Maxime im gesamten Kindesrecht, durch die eigene Handlungsfähigkeit des Kindes sowie durch spezielle Schutzbestimmungen zu Gunsten des Kindes. Auch die öffentliche Ordnung kann Anlass bilden, die Ausübung der elterlichen Gewalt einzuschränken.

Weil aber die elterliche Entscheidungsbefugnis zum geschützten Familienleben gehört, muss jede einschränkende Massnahme die Voraussetzung für zulässige Grundrechtsbeschränkungen erfüllen.50 Bei der Beurteilung der Frage, ob ein staatlicher Eingriff im Interesse des Kindeswohles liegt, ist zu berücksichtigen, dass einer der Faktoren des Kindeswohls darin besteht, nicht in einen Loyalitätskonflikt mit den Eltern gedrängt zu werden.51 Das Bundesgericht hat die Eingriffsschwelle wie folgt umschrieben: ,,Erst wenn das Kindeswohl unter der Befolgung von Glaubensvorschriften konkret und massgeblich belastet würde, rechtfertigte es sich, das Kindesinteresse über das Elternrecht zu stellen. Dies träfe etwa zu, wenn die Gesundheit des Kindes gefährdet würde oder wenn es in seiner Ausbildung in einem Masse eingeschränkt würde, dass die Chancengleichheit ­ einschliesslich derjenigen zwischen den Geschlechtern ­ nicht mehr gewährleistet wäre, bzw. wenn es Lerninhalte nicht vermittelt erhielte, die in der hiesigen Wertordnung als unverzichtbar gelten.,,52 Die Kommission erachtet eine Ausweitung der Eingriffsmöglichkeiten im geltenden Recht (d. h. richterliche Kompetenzen im Rahmen von Trennung/Scheidung, Kin50

51 52

Das heisst öffentliches Interesse, gesetzliche Grundlage, Verhältnismässigkeit; vgl. Peter Hänni/Eva Maria Belser, Die Rechte der Kinder, AJP 2/98, S. 139 ff., insbesondere S. 152.

Das Bundesgericht erwähnt diesen Aspekt im Zusammenhang mit den Entscheiden über den Schuldispens aus religiösen Gründen, vgl. BGE 114 Ia 129; BVP 1992, 264.

BGE 119 Ia 178

9923

desschutzmassnahmen) als nicht notwendig. Die Empfehlung zielt vielmehr darauf ab, dass in jenen Fällen, in denen der Richter oder eine Verwaltungsbehörde Entscheide über Kindesverhältnisse bzw. Massnahmen zum Schutze des Kindes zu treffen haben, die Interessen des Kindes auch umfassend festgestellt und nach den Grundsätzen des fairen Verfahrens hinreichend vorgebracht werden können.

242

Konsumenten- und Konsumentinnenschutz: Regelung der gewerbsmässigen Lebensbewältigungshilfe

Zum Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten auf dem Psychomarkt und jenem der Lebensbewältigungshilfe ist nach Ansicht der Kommission eine gesetzliche Regelung anzustreben, welche sie in die Lage versetzt, die finanziellen, zeitlichen und persönlichen Konsequenzen eines Engagements klar zu erkennen. Dies kann mit ähnlichen Mitteln geschehen, wie sie bereits seit längerem im Abzahlungs- bzw.

Konsumkreditrecht in Kraft sind. Daneben ist insbesondere gesundheitlichen Gefährdungen Rechnung zu tragen, zumal bei verschiedenen vereinnahmenden Gruppen Heilungsverheissungen einen wichtigen Platz in Lehre und Praxis einnehmen, aber auch eine grosse Rolle bei der Begründung und Festigung von Abhängigkeitsverhältnissen spielen (s. folgendes Kapitel 243).

Zur sorgfältigen Erfüllung der Aufgabe des Anbieters gehört, dass er Abklärungen über allfällige Risiken der von ihm angewendeten Methoden trifft, wobei er auch Erkenntnisse ausserhalb seiner eigenen Lehrrichtung (z. B. aus der Schulmedizin) zu berücksichtigen hat. Die Kommission schlägt keine Verschärfung der üblichen Haftung für sorgfältige Ausführung des Veranstaltungsvertrages (meist Auftrag) vor, wohl aber eine gesetzliche Aufklärungspflicht über Risiken als Voraussetzung für die rechtmässige Anwendung von Methoden, welche mit potentiellen Gesundheitsgefährdungen verbunden sind. Bei Verletzung der Aufklärungspflicht ist die Behandlung widerrechtlich und es besteht ­ sofern die übrigen Haftungsvoraussetzungen gegeben sind ­ eine Haftung für eingetretene Schäden.

Mit einer solchen Regelung entsteht kein zusätzlicher staatlicher Kontrollaufwand und insbesondere muss der Staat auch nicht Stellung nehmen zur Wünschbarkeit und Wirksamkeit von Methoden. Die Anbieter gewerbsmässiger Lebensbewältigungshilfen werden nur mit einem vertretbaren administrativen Mehraufwand belastet, aber in ihrer Tätigkeit nicht eingeschränkt. Es ist davon auszugehen, dass seriöse Anbieter die wesentlichen Anforderungen des Konsumentenschutzes bereits heute erfüllen, die Konsumenten aber bei riskanten oder nicht seriösen Angeboten erheblich besser geschützt sind. Die Kommission hält fest, dass mit einer solchen Regelung die bestehenden und zukünftigen Angebote weder eingeschränkt, noch einer staatlichen Kontrolle oder gar einer Überprüfung der Methode unterzogen werden sollen.

Im Einzelnen sollte eine gesetzliche Regelung folgende Punkte umfassen: ­

53

Geltungsbereich: entgeltliche Verträge über Dienstleistungen mit dem Ziel der Feststellung oder Verbesserung der seelischen Befindlichkeit bzw. der geistig-seelischen Fähigkeiten;53

Diese Formulierung ist (verkürzt) § 1des Entwurfes des deutschen Bundesrates entnommen.

9924

­

Schriftform des Vertrages und Aushändigung eines Doppels als Gültigkeitsvoraussetzung54

­

evtl. Kündigungsrecht

­

Widerrufsrecht

­

nicht wegbedingbarer Gerichtsstand am Wohnsitz des Teilnehmers oder am Ort der Durchführung des Angebotes

­

Aufklärung über allfällige gesundheitliche Risiken des Angebotes verbunden mit der Sanktion, dass der Anbieter bei unterbliebener Aufklärung für den eingetretenen Schaden haftet.55 Der vorliegende Vorschlag beinhaltet keine Beweislastumkehr56, indem der Geschädigte nach wie vor zu beweisen hätte, dass der Anbieter den Schaden verursacht hat, lediglich die Widerrechtlichkeit und allenfalls das Verschulden wären mit der unterlassenen Aufklärung erfüllt. Eventuell könnte die Aufklärungspflicht auf ,,bekannte,, Risiken beschränkt werden. Damit würden die Anbieter von der Haftung für nicht erforschte Risiken befreit; gleichzeitig wird aber verhindert, dass sie sich über bestehende Erkenntnisse zu den Gefahren im blinden Vertrauen auf die angewendete ,,Lehre,, hinwegsetzen.

243

Gesundheitsgesetzgebung

Es ist eine Tatsache, dass bei verschiedenen vereinnahmenden Gruppen Heilungsverheissungen einen wichtigen Platz in Lehre und Praxis einnehmen. Auch wenn sie sich durchaus bewusst ist, dass in der Schweiz die Kompetenz zur Regelung des Gesundheitswesens im Wesentlichen Sache der Kantone ist,57 sieht die Kommission Handlungsbedarf des Bundes im Bereich der Koordination der kantonalen Gesetzgebung.

Die meisten Kantone haben die Feststellung und Behandlung körperlicher und geistiger Krankheiten den Ärzten und allenfalls weiteren anerkannten Berufen vorbehalten. Im Zusammenhang mit den Problemen mit vereinnahmenden Gruppen fällt auf, dass viele dieser Kantone diese Gesetzeslage nur unzureichend durchsetzen. Es entsteht ein Graubereich, in welchem eine Vielzahl von Personen und Organisationen offen oder kaschiert Heilbehandlungen ausführen, obwohl sie dies eigentlich 54

55

56

57

Mit folgenden Angaben: genaue Bezeichnung des Anbieters und einer eventuell assoziierten Mutterorganisation; Beschreibung der Leistung, der Art der Durchführung sowie des Zieles; Hinweis auf die angewandte Methode bzw. die theoretischen Grundlagen; zeitlicher Umfang des Angebotes; Preis von Einzelleistungen und Gesamtpreis; Hinweis auf Neben- bzw. Folgepflichten und deren Kosten (Material, Unterkunft, weitere Leistungen bei Dritten usw.)

Dieser Vorschlag ist der heutigen Situation bei der Arzthaftung nachgebildet. Der Arzt haftet bei unterlassener Aufklärung sogar für jeden, also auch einen zufälligen Schaden des Eingriffes, da letzterer ohne gültige Einwilligung erfolgt und damit widerrechtlich ist.

In Deutschland war im Vorschlag von Hamburg ursprünglich eine generelle Beweislastumkehr bei Schädigung eines Teilnehmers (unabhängig von einer Aufklärung) enthalten.

Der Anbieter hätte also beweisen müssen, dass er den eingetretenen Schaden nicht verursacht hat. Dies wurde später fallen gelassen, da die ,,Risikoprofile von Methoden und Techniken,, zu wenig erforscht seien. ESB S. 370.

Vgl. Art. 3 BV, die Bundeskompetenzen sind relativ eng eingegrenzt, z. B. Kranken- und Unfallversicherung, Epidemiegesetz, Giftgesetz, Fachausweise, vgl. Honsell, Handbuch des Arztrechtes, S. 216, 216 ff., 236 ff.

9925

nicht dürften. Zur Klarheit sei darauf hingewiesen, dass nicht alle diese Tätigkeiten im Graubereich als unseriös zu betrachten sind.58 Die Begründung und Festigung von Abhängigkeitsverhältnissen beruht auf verschiedenen Elementen: erhebliche Leiden, keine Besserung nach bisherigen Hilfsangeboten (z. B. Schulmedizin), Vorschuss an Dankbarkeit der Patientinnen und Patienten gegenüber den Linderung und Heilung versprechenden Gruppen, von diesen hervorgerufene enorme (oft rational nicht nachvollziehbare) Opferbereitschaft der Patienten sowie eine besondere Faszination, weil meist eine schnelle, umfassende und mit Gewissheit eintretende Heilung verheissen wird.

Deshalb ist es nach Ansicht der Kommission offensichtlich, dass die Patienten des staatlichen Schutzes bedürfen, und zwar vor ­

gesundheitsgefährdenden Praktiken (neben der direkten zusätzlichen Gesundheitsgefährdung auch die Bemühungen, den Patienten von der Inanspruchnahme der anerkannten, z. B. ärztlichen Hilfe abzuhalten).

­

finanzieller Ausbeutung

­

Täuschung bzw. Irreführung

­

der Vereinnahmung durch Verknüpfung von Heilpraktiken mit weitergehenden, die Selbstbestimmung und Freiheit einschränkenden Lehrinhalten.

In Bezug auf das oben dargestellte Schutzbedürfnis sollte sich der Bundesrat im Rahmen seiner Koordinationsaufgabe dafür einsetzen, dass die Kantone ihr staatliches Handeln im Gesundheitsbereich an folgenden Leitlinien orientieren59:

58 59

­

Die geltende Gesetzeslage ist durchzusetzen oder den veränderten Bedürfnissen oder Auffassungen anzupassen.

­

Wenn sich ein Kanton entschliesst, ausserwissenschaftliche Heilpraktiken zu tolerieren, muss sichergestellt werden, dass die Bewilligung, Registrierung oder blosse Zulassung von den Ausübenden dieser Heilmethoden nicht dazu missbraucht werden kann, beim Publikum den Eindruck zu erwecken, der Staat habe die Wirksamkeit bzw. Unbedenklichkeit der Methoden geprüft.

­

Gesetzliche Aufklärungspflicht über die mit den ausserwissenschaftlichen Heilpraktiken verbundenen Risiken.

­

Verbot, nicht beweisbare, falsche oder sonst irreführende Angaben über die eigene Heilmethode sowie über konkurrierende Methoden (z. B. Schulmedizin) zu machen (in der Werbung, in Publikationen oder im Patientengespräch).

­

Verpflichtung, die angewendete Methode bzw. eine allenfalls dahinterstehende Lehre bekannt zu geben, verbunden mit einem Verbot, nicht deklarierte Methoden (z. B. Hypnose) anzuwenden.

In jenen Kantonen, in welchen die selbstständige Tätigkeit von Psychologen noch nicht geregelt ist, sind auch die seriösen Psychologen in diesem Graubereich tätig.

Der Grosse Rat des Kantons Basel Stadt hat diese Grundsätze in einer Revision des kantonalen ,,Gesetzes betreffend Ausübung des Berufs der Medizinalpersonen,,, mit welcher die Zulassung von Akupunktur, Ayurveda, der Heilpraktik, der traditionellen chinesischen Medizin und weiterer ausserwissenschaftlicher Heilmethoden geregelt werden sollte, übernommen. Das Gesetz wurde im Mai 1997 verabschiedet, die Referendumsfrist ist unbenützt verstrichen. Die oben dargelegten Leitlinien sind im Gesetz und in der per 1. Juli 1999 in Kraft getretenen Verordnung enthalten.

9926

­

Es ist dafür zu sorgen, dass die Regelung nicht umgangen werden kann, indem die Heilbehandlungen nicht im direkten Verhältnis zwischen Anbieter und Patient, sondern innerhalb einer Gruppe mit arbeitsteiliger Organisation vorgenommen werden.

Diese Grundsätze schränken die seriösen Ausübenden der Heilkunde kaum ein; gleichzeitig könnte mit ihnen den Auswüchsen im Zusammenhang mit vereinnahmenden Gruppen wirksam begegnet werden.

25

Weitere Massnahmen

Die Kommission hat sich am Rande mit weiteren möglichen Massnahmen befasst, namentlich mit dem Schutz der Bezeichnung ,,Kirche,,, der Eintragungspflicht für Vereine (Vorschlag des Kt. Genf), einer allfälligen neuen Strafnorm zur Anwendung von Techniken der Bewusstseinskontrolle, der Einführung eines Kinderanwalts, der Ausdehnung der Opferhilfe (Vorschlag des Kt. Genf) oder der Einführung der Strafbarkeit juristischer Personen. Einzelne Massnahmen wurden bzw. werden bereits im Rahmen von kantonalen Gesetzgebungsverfahren thematisiert. Die Massnahmen wurden vom beigezogenen Experten auch unterschiedlich beurteilt. Die Kommission ist der Ansicht, dass einzelne Massnahmen nicht im Zusammenhang mit vereinnahmenden Bewegungen thematisiert werden sollen, auch wenn sie deren Zweckmässigkeit in diesem Rahmen durchaus als gegeben betrachtet (namentlich die Einführung der Strafbarkeit juristischer Personen), und sie erachtet andere Massnahmen als nicht beschlussreif.

IV

Empfehlungen

Die Kommission unterbreitet dem Bundesrat folgende Empfehlungen: 1.

Der Bundesrat formuliert eine ,,Sekten,,-Politik.

2.

Der Bundesrat koordiniert deren Umsetzung.

3.

Der Bundesrat schafft eine Informations- und Beratungsstelle und informiert regelmässig die Öffentlichkeit. Er leitet eine entsprechende Informationskampagne ein.

4.

Der Bundesrat fördert die interdisziplinäre Forschung über vereinnahmende Bewegungen und koordiniert die dafür notwendige Zusammenarbeit von Forschung und Beratung.

5.

Der Bundesrat sorgt dafür, dass die bestehenden Gesetze insbesondere zum Schutz von Kindern, Konsumentinnen und Konsumenten vermehrt beachtet werden, und bemüht sich um eine einheitlichere Praxis der Kantone im Bereich der Gesundheitsgesetzgebung.

9927

V

Weiteres Vorgehen

Die Geschäftsprüfungskommission ersucht den Bundesrat, zu diesem Bericht und zu den Empfehlungen bis Ende September 2000 Stellung zu nehmen.

1. Juli 1999

Die Sektion Behörden Der Präsident: Fulvio Pelli Die Geschäftsprüfungskommission Der Präsident: Alexander Tschäppät Die Sekretärin der Geschäftsprüfungskommission: Mariangela Wallimann-Bornatico

VI

Anhänge

­

PVK-Bericht vom 20. Februar 1998 (Anhang A)

­

Entschliessung des europäischen Parlaments zu den Sekten in Europa vom 29. Februar 1996 (Anhang B)

9928

Liste der angehörten Personen Agner Peter, Abteilung Rechtswesen Direkte Bundessteuer, Eidgenössische Steuerverwaltung Prof. Campiche Roland, Soziologe, Institut für Sozialethik, Lausanne Del Ponte Carla, Bundesanwältin Dr. Eschmann Urs, Anwalt des Vereins Informations- und Beratungsstelle für Sekten und Kultfragen (InfoSekta) Frasa Mario, Sektion allgemeine kulturelle Fragen, Abt. Jugendfragen, Bundesamt für Kultur Dr. Guntern Odilo, Eidgenössischer Datenschutzbeauftragter Haller Susanne, Grossrätin, Kt. Basel-Stadt Huber-Schlatter Andreas, Generalsekretär EJPD, Präsident der Konsultativen Staatsschutzkommission Lötscher Bruno, Departementssekretär, Justizdepartement Kt. Basel-Stadt Mayer Jean-François, Zentralstelle für Gesamtverteidigung, Sektion Grundlagenstudium (Sekretär der Lagekonferenz) Kaplan Müller Joachim, Ökumenische Arbeitsgruppe "Neue religiöse Bewegungen in der Schweiz" Pitteloud Jacques, Referat Gst, Zentralstelle Gesamtverteidigung, EMD (resp. VBS) Schaaf Susanne, Verein Informations- und Beratungsstelle für Sekten und Kultfragen (InfoSekta) Dr. Schmid Georg, Informationsstelle der evangelischen deutschschweizer Kirchen, Greifensee Stamm Hugo, Redaktor "Tages-Anzeiger" Tanner Samuel, Stv. Direktor Eidgenössische Steuerverwaltung

Liste der angehörten Gruppen und deren Vertreter: Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz: Hr. U. Friederich, Hr. E. Wildbolz Zeugen Jehovas: Hr. F. Borys, Hr. M. Wörnhard Scientology: Hr. J. Stettler, Frau G. Arm Pfingstgemeinde: Hr. M. Schläpfer

9929

Abkürzungen AGPF

Aktion für geistige und physische Freiheit (Vereinigung von Elterninitiativen)

BGE

Bundesgerichtsentscheid

BV

Bundesverfassung

EDI

Eidgenössisches Departement des Innern

EDSB

Eidgenössischer Datenschutzbeauftragter

EJPD

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement

EMD

Eidgenössisches Militärdepartement (seit 1.1.1998: VBS: Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport)

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

ESB

Enquête Kommission Schlussbericht

EVED

Eidgenössisches Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (seit 1.1.1998: UVEK: Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation)

EZB

Enquête Zwischenbericht

GG

Grundgesetz

GPK-N

Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates

InfoSekta

Verein Informations- und Beratungsstelle für Sekten und Kultfragen

KSK

Konsultative Staatsschutzkommission

NB

notabene

NJW

Neue juristische Wochenzeitschrift

PVK

Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle

Stgb

Schweizerisches Strafgesetzbuch (SR 311.0)

SVG

Strassenverkehrsgesetz (SR 741.0)

UWG

Bundesgesetz vom 19. Dezember 1986 gegen den unlauteren Wettbewerb (SR 241)

VPM

Verein für psychologische Menschenkenntnisse

ZGB

Schweizerisches Zivilgesetzbuch (SR 210)

ZR

Zeitschrift für Zürcherische Rechtsprechung

9930

Anhang A

"Sekten"-Phänomen in der Schweiz: Bedeutung für staatliche Verwaltungsstellen und nicht-staatliche Institutionen Arbeitsbericht zuhanden der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates

vom 20. Februar 1998

9931

1

Einleitung

11

Auftrag und Fragestellung

Nach der Erstellung einer ersten Arbeitsunterlage zum "Sekten"-Phänomen in der Schweiz hat die Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle (PVK) vom Präsidenten der Sektion "Behörden" der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPKN) am 15. Oktober 1997 den Auftrag erhalten, ihre diesbezüglichen Abklärungen zu vertiefen. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden: 1.

Wer setzt sich in welcher Form mit der "Sekten"-Bewegung bzw. -Entwicklung in der Schweiz auseinander (Verwaltungsstellen auf Bundesebene sowie wichtigste Stellen in den Kantonen, bei Kirchen, privaten Organisationen usw.)?

2.

Gibt es Formen der Unterstützung (z. B. Steuererleichterungen, Subventionen) von "Sekten" auf Bundes- bzw. Kantonsebene?

3.

Sind auf Bundesebene Instrumente oder Massnahmen im Umgang mit dem "Sekten"-Phänomen denkbar? Wenn ja, welche?

12

Vorgehen der PVK

Zur Beantwortung der ersten beiden Fragen hat die PVK einschlägige Dienststellen auf Bundesebene und in ausgewählten Kantonen sowie landeskirchliche Anlaufstellen, private Organisationen etc. nach einem einheitlichen Fragenkatalog telefonisch befragt. Erste Anhaltspunkte für relevante Dienst- und Anlaufstellen ergaben sich aus den Protokollen der GPK-Anhörungen zu dieser Thematik (Sitzungen vom 28. Mai 1997, vom 14./15. August 1997 und vom 15./16. Oktober 1997). Anschliessend wurde nach der Reputationsmethode vorgegangen, d. h. die Kontaktierten wurden jeweils danach gefragt, welche weiteren Personen oder Stellen für die Fragestellung relevant sein könnten. Die PVK hat auf diese Weise hauptsächlich zwischen September und Dezember 1997 rund 70 Stellen inner- und ausserhalb der Bundesverwaltung kontaktiert. Der vorliegende Arbeitsbericht enthält die Synthese der Befragungsergebnisse.

Für die Beantwortung der dritten Frage wurden die Protokolle der GPK-Anhörungen beigezogen sowie ergänzend dazu die Meinungen einiger fachkundiger Personen auf dem Gebiet "Sekten" eingeholt. Zur Kontrolle und Vervollständigung hat die PVK ihren Bericht schliesslich einer Konsultation bei Experten unterzogen.

Wir machen darauf aufmerksam, dass aus Gründen des Personenschutzes auf eine namentliche Nennung der befragten Personen verzichtet wird.

13

Umfang und Grenzen der Abklärungen

Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich die PVK nicht inhaltlich mit dem "Sekten"-Phänomen auseinander gesetzt hat. Dementsprechend und angesichts dessen, dass weder eine wissenschaftliche noch eine rechtsgültige Definition des Begriffes "Sekten" existiert, haben wir darauf verzichtet, festzuhalten, welche Gruppierungen oder Bewegungen als solche zu bezeichnen sind. Vielmehr lag diese Einschätzung im jeweiligen Verständnis oder Ermessen unserer Gesprächspartner. Fer9932

ner ist darauf hinzuweisen, dass die PVK im Folgenden der Einfachheit halber stets den Begriff "Sekten" verwendet. Obwohl diese Bezeichnung in gewissem Sinne stigmatisierend ist60, ist sie im Vergleich zu anderen Begriffen, die im Zusammenhang mit dem hier interessierenden Phänomen verwendet werden (z. B. vereinnahmende Gruppierungen, destruktive Kulte oder religiöse Sondergruppen), im umgangssprachlichen Gebrauch am geläufigsten.

Die Bestandesaufnahme der sich mit einzelnen Aspekten der Thematik beschäftigenden Stellen ist bezüglich der Bundesebene möglichst erschöpfend. Demgegenüber gibt der vorliegende Arbeitsbericht in Bezug auf die Lage ausserhalb des Bundes (Kantone, Kirchen, private Organisationen usw.) lediglich einen Überblick über die wichtigsten ­ d. h. bei der Befragung wiederholt erwähnten ­ Anlauf- und Dienststellen.

Was die Frage nach den möglichen Unterstützungsformen von "Sekten" betrifft, gilt es darauf hinzuweisen, dass eine umfassende Abklärung bezüglich sämtlicher Steuersysteme bzw. Subventionsbeiträge den Rahmen unserer Arbeit bei weitem gesprengt hätte. Die PVK hat deshalb das Augenmerk auf die Möglichkeit einer direkten Unterstützung in Form von denkbaren Subventionen oder Beiträgen an "Sekten" sowie im Sinne einer allfälligen steuerlichen Privilegierung (Befreiung von der direkten Bundessteuer) gelegt61.

Die Beantwortung der Frage nach den möglichen bundesstaatlichen Instrumenten oder Massnahmen im Umgang mit dem "Sekten"-Phänomen erfolgt im Sinne der Präsentation einer Palette von denkbaren Handlungsmöglichkeiten. Die PVK hat dabei weder eine Bewertung vorgenommen, noch wurden Überlegungen im Hinblick auf die Verfassungskonformität der Vorschläge sowie hinsichtlich ihrer potenziellen Auswirkungen angestellt.

14

Aufbau des Arbeitsberichtes

Im zweiten Kapitel wird kurz der verfassungsrechtliche Hintergrund zum Verhältnis von Staat und Kirche bzw. religiöse Gemeinschaften beleuchtet und dargestellt, wie dieser bis anhin durch den Bundesrat interpretiert wurde.

Das dritte Kapitel zeigt zusammenfassend auf, wie sich die befragten (Dienst-) Stellen auf Bundesebene sowie in ausgewählten Kantonen, bei Kirchen, privaten Organisationen etc. mit dem "Sekten"-Phänomen befassen. Zudem wird in diesem Kapitel die Frage behandelt, ob eine staatliche Unterstützung von "Sekten" identifiziert werden kann.

Das vierte Kapitel beinhaltet die Präsentation der von Experten genannten denkbaren bundesstaatlichen Instrumenten oder Massnahmen im Umgang mit der Thematik.

60

61

Zur Problematik der Verwendung des Begriffes "Sekte" vgl. FLAMMER Philipp (1996), "Sekte": Können wir auf dieses Wort verzichten? In: InfoSekta, Tätigkeitsbericht 1996, S. 20­27.

Ausgiebig zum Thema "Steuern und 'Sekten'" Auskunft gibt OBERSON Xavier (1997), Les problèmes fiscaux liés aux activités de certains mouvements sectaires et de leurs adeptes, in: Audit sur les dérives sectaires, Rapport du groupe d'experts genevois au Département de Justice et Police et des Transports du Canton de Genève, p. 179­223.

9933

Der Überblick in Anhang I zeigt auf, in welcher Form sich die kontaktierten Verwaltungsstellen auf Bundesebene mit der "Sekten"-Thematik bzw. einzelnen Aspekten derselben auseinander setzen. Anhang II besteht aus einer Liste der weiteren befragten Stellen (in ausgewählten Kantonen, bei Landeskirchen, privaten Organisationen, Hochschulinstituten etc.). Der bei der telefonischen Befragung verwendete Fragebogen findet sich im Anhang III62.

2

Verfassungsrechtlicher Hintergrund

Das Verhältnis von Staat und Kirche ist Gegenstand von Art. 49 und 50 der Bundesverfassung (BV). In unserem Zusammenhang interessieren insbesondere folgende Bestimmungen: Art. 49 Abs. 1: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich.

Art. 49 Abs. 4: Die Ausübung bürgerlicher oder politischer Rechte darf durch keinerlei Vorschriften oder Bedingungen kirchlicher oder religiöser Natur beschränkt werden.

Art. 49 Abs. 5: Die Glaubensansichten entbinden nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten.

Art. 50 Abs. 1: Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet.

Art. 50 Abs. 2: Den Kantonen sowie dem Bunde bleibt vorbehalten, zur Handhabung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften sowie gegen Eingriffe kirchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und des Staates die geeigneten Massnahmen zu treffen.

Der Bundesrat hat seinen Standpunkt zur Frage, wie der Bund sein Verhältnis zu Kirchen bzw. religiösen Gemeinschaften gestalten soll, in der Botschaft über die Volksinitiative betreffend die vollständige Trennung von Staat und Kirche vom 6. September 1978 sowie in Beantwortung verschiedener parlamentarischer Vorstösse zusammengefasst wie folgt dargelegt: ­

Religiöse Gemeinschaften und "Sekten" stehen unter dem Schutz der verfassungsmässigen Rechte, insbesondere der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 49 BV) sowie der Kultusfreiheit (Art. 50 BV)63.

­

Nach der bundesstaatlichen Kompetenzausscheidung (Art. 3 BV) liegt die Kirchenhoheit bei den Kantonen, d. h. es sind die Kantone, welche in den Schranken der Bundesverfassung (vor allem der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Kultusfreiheit) das Verhältnis von Kirche und Staat ordnen.

Unter Anführung dieser Kompetenzordnung hat der Bundesrat unter anderem die Volksinitiative zur Trennung von Staat und Kirche von 1978 abge-

62 63

Wir verzichten aus Platzgründen darauf, die mehr als 70 ausgefüllten Fragebögen diesem Arbeitsbericht beizulegen.

Vgl. vor allem die Stellungnahme des Bundesrates zur EA Petitpierre 88.1068 vom 6. März 1989. Ferner von Interesse sind die bundesrätlichen Stellungnahmen zur Mo Zisyadis 93.3606 vom 28. Februar 1994, zur Ip Borer 96.3505 vom 25. November 1996 sowie zur Ip Gonseth 97.3274 vom 10. September 1997.

9934

lehnt und sich im Jahre 1994 gegen die Schaffung eines Bundesamtes für religiöse Fragen bzw. einer Fachstelle für Religionsfragen zur Beobachtung religiöser Strömungen in der Schweiz ausgesprochen64.

3

Bedeutung des "Sekten"-Phänomens für staatliche Verwaltungsstellen und nichtstaatliche Institutionen

31

Bestandesaufnahme auf Bundesebene

Die erste Frage in Bezug auf die Lage in der Bundesverwaltung lautet: Wer setzt sich in welcher Form mit der "Sekten"-Bewegung bzw. -Entwicklung in der Schweiz auseinander (Verwaltungsstellen auf Bundesebene)?

Die telefonische Umfrage bei diversen Dienststellen auf Bundesebene hat bestätigt, was auf Grund des Verfassungsrechts bzw. dessen Interpretation durch den Bundesrat zu erwarten war: Es gibt keine Dienststelle in der Bundesverwaltung, die sich systematisch mit dem "Sekten"-Phänomen bzw. einzelnen Aspekten desselben auseinander setzt.

Trotz dieser Ausgangslage besteht innerhalb der Bundesverwaltung eine Reihe von Berührungspunkten mit der Thematik: Verschiedene Verwaltungsstellen sind nämlich im Rahmen ihres Aufgabengebietes bereits mit "sekten"-spezifischen Fragen konfrontiert worden. Die grosse Mehrheit dieser Stellen hat sich indessen nur am Rande und sehr selten damit befasst. Die folgende Auflistung zeigt zusammenfassend auf, welche Formen die Auseinandersetzung mit diesen Fragen bei den kontaktierten Stellen einnahm (vgl. ausführlicher dazu den Überblick in Anhang I):

64

­

Erstellen von Dokumentationen und Führen von Dossiers mit öffentlich zugänglichem Informationsmaterial zu verschiedenen Gruppierungen und/oder zur Thematik allgemein (Bsp. Bundesamt für Polizeiwesen: Nachforschung nach vermissten Personen; Bundesamt für Statistik: Einrichten einer Datenbank zur religiösen Ausrichtung der Schweizer Bevölkerung im Rahmen der Volkszählung).

­

Bearbeitung von Gesuchen, bei denen "sekten"-spezifische Aspekte hineinspielen können (Bsp. Bundesamt für Gesundheit: Behandlung von Gesuchen von Organisationen um Unterstützung ihrer Drogenentzugstherapien; Sektion Wehrpflicht des VBS: Beurteilung von Dienstbefreiungsgesuchen).

­

Fallweises Tätigen von Abklärungen (Bsp. Bundespolizei: Durchführen des Sonderauftrages der Konsultativen Staatsschutzkommission betreffend der Frage der möglichen staatlichen Überwachung von Scientology; Bundesamt für Kommunikation: Einsetzung einer Expertenkommission zu religiösen Fernsehveranstaltern).

Vgl. Botschaft des Bunderates über die Volksinitiative "betreffend die vollständige Trennung von Staat und Kirche" vom 6. September 1978, BBl 1978 II, 665­698; Stellungnahmen des Bundesrates zur Mo Zisyadis 93.3606 vom 28. Februar 1994 sowie zur Ip Zisyadis 94.3418 vom 23. November 1994.

9935

­

Bearbeitung von Bürgerbriefen und parlamentarischen Vorstössen zur Thematik (Bsp. Bundesamt für Justiz).

­

Auskunfts- und Vermittlungstätigkeit, vor allem im Sinne der Weiterleitung von Anfragen betreffend "Sekten" an private Informationsstellen (Bsp. Armeeseelsorge im VBS, Sektion für konsularischen Schutz der Politischen Abteilung II im EDA).

­

Ansätze von Aufklärungsarbeit (Bsp. einmalige Pressemitteilung des Bundesamtes für Polizeiwesen zur "Moon"-Bewegung in den USA).

Bei den oben genannten Aktivitäten ist zu berücksichtigen, dass sie lediglich einen marginalen Teil der Verwaltungsarbeit ausmachen. Die Auseinandersetzung mit "Sekten" auf Bundesebene erfolgt punktuell und ist in der Regel nicht vernetzt. Das "Sekten"-Phänomen wird zudem von den Personen der kontaktierten Bundesstellen im Rahmen ihrer Aufgabengebiete kaum als schwerwiegendes Problem wahrgenommen. Dies wird u. a. dadurch illustriert, dass es im Rahmen des laufenden Projektes zur Erstellung einer umfassenden Risikoanalyse der Schweiz ("SwissRisk"), bei dem sämtliche Bundesämter angehalten waren, Risiken im Bereich ihrer Tätigkeitsgebiete anzugeben, nicht thematisiert wird.

32

Überblick über die Lage ausserhalb der Bundesverwaltung

In diesem Kapitel wird die erste Frage in Bezug auf die Lage ausserhalb des Bundes beantwortet: Wer setzt sich in welcher Form mit der "Sekten"-Bewegung bzw. -Entwicklung in der Schweiz auseinander (wichtigste Stellen in den Kantonen, bei Kirchen, privaten Organisationen usw.)?

321

Kantone

Die stichprobenmässige telefonische Umfrage bei verschiedenen kantonalen Dienststellen hat ergeben, dass die Beschäftigung mit der Thematik bzw. einzelnen Aspekten derselben von Kanton zu Kanton sehr verschieden ist. Grundsätzlich gilt auch hier, was bereits auf Bundesebene festgestellt wurde: Die Auseinandersetzung erfolgt punktuell und kaum departements- bzw. direktionsübergreifend (Ausnahmen sind der Kanton Genf sowie Basel-Stadt, vgl. unten). Zumeist reagierten die angefragten kantonalen Stellen dabei auf konkrete Vorkommnisse, was in einigen Fällen auch entsprechende juristische Verfahren nach sich zog. Probleme im Zusammenhang mit "Sekten" in den Kantonen ergaben sich bisher vor allem im Erziehungswesen (Bsp. Mitgliedschaft von Lehrern in entsprechenden Gruppierungen; Gründung von Privatschulen), im Gesundheitswesen (Bsp. Beschlagnahmung umstrittener Medikamente, Probleme im Zusammenhang mit Drogenentzugstherapien einzelner Vereinigungen) oder bei der Benützung von öffentlichem Grund durch "Sekten" (Bsp. Anwerben von Passanten in der Stadt Zürich oder in Basel-Stadt).

Im Anschluss an die Sonnentemplerdramen in den Jahren 1994 und 1995 besonders aktiv in der "Sekten"-Frage war der Kanton Genf, der 1996 eine Expertengruppe 9936

damit beauftragt hat, die Rechtslage im Zusammenhang mit illegalen sektiererischen Aktivitäten auszuloten65. Nebst dem Kanton Genf, in dem verschiedene Gesetzesprojekte bestehen66, ist auch der Kanton Basel-Stadt gesetzgeberisch aktiv67, während andere Kantone bis anhin explizit nicht in diesem Sinne aktiv sind oder werden wollen (z. B. Aargau).

Schliesslich wurde auf Initiative des Kantons Genf im Juni 1997 eine interkantonale Arbeitsgruppe, bestehend aus Delegationen der Westschweizer Kantone, dem Tessin und dem Kanton Bern, ins Leben gerufen. Ein Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, in der Romandie eine Informations- und Dokumentationsstelle zum Thema aufzubauen. Dabei handelt es sich um die erste derartige kantonale Zusammenarbeit auf einem Gebiet, das Glaubensfragen bzw. das Verhältnis zwischen Staat und Kirche zum Inhalt hat.

322

Kirchen

In der Schweiz befasst sich auf lokaler Ebene eine Vielzahl von kirchlichen Anlaufstellen mit "Sekten". Die römisch-katholischen, evangelisch-reformierten, christkatholischen und ökumenischen Angebote umfassen im Wesentlichen Betreuung und Beratung von Betroffenen sowie Aufklärung und Weiterbildung über "sekten"-spezifische Belange68.

Ein seit 1983 bestehender Dachverband, die ökumenische Arbeitsgruppe "Neue religiöse Bewegungen in der Schweiz" der Schweizerischen Bischofskonferenz und des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, in der auch die christkatholische Kirche sowie eine ökumenische Beratungsstelle vertreten sind, hat den Auftrag, religiöse und weltanschauliche Strömungen zu studieren und darüber zu informieren.

Die Arbeitsgruppe koordiniert zudem die Tätigkeiten der landeskirchlichen Delegationen in diesem Bereich und bemüht sich, unter ihren Mitgliedern einen Konsens bezüglich der Einschätzung von "Sekten" zu erreichen.

323

Private Organisationen

Private Organisationen, die sich mit dem "Sekten"-Phänomen beschäftigen, sind in erster Linie beratend und informierend tätig. Zentraler Akteur, auf den unsere Gesprächspartner inner- und ausserhalb der Bundesverwaltung wiederholt verwiesen haben, ist die Zürcher Informations- und Beratungsstelle für Sekten- und Kultfragen InfoSekta. Diese unter anderem von Stadt und Kanton Zürich finanziell unterstützte Fachstelle ist seit 1991 schwerpunktmässig in der (konfessionell unabhängigen) 65 66

67 68

Vgl. Audit sur les dérives sectaires, Rapport du groupe d'experts genevois au Département de Justice et Police et des Transports du Canton de Genève, Février 1997.

Angekündigt wurde beispielsweise ein entsprechendes Vorgehen im Gesundheitsbereich (Heilpraktiker) oder die Verbesserung der Opferhilfe. Ferner erwägt der Kanton Genf laut Zeitungsmeldungen eine Standesinitiative, die mittels einer Änderung des Zivilgesetzbuches erreichen will, dass "Sekten" ins Handelsregister eingetragen werden.

Gesetzesprojekt gegen die (rücksichtslose) Anwerbung durch private Organisationen oder Personen auf öffentlichem Grund.

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist das reichhaltige Informationsangebot der Evangelischen Informationsstelle: Kirchen­Sekten­Religionen auf Internet (http:\\www.ref.ch/zh/infoksr/index.html).

9937

Aufklärungsarbeit tätig. Im Weitern beraten die Mitarbeiter von InfoSekta konkrete Einzelfälle, pflegen den Informationsaustausch mit anderen in der Thematik tätigen Institutionen und führen ein umfangreiches Archiv zu "Sekten"-Fragen. Zu nennen ist ferner der im Raum Basel aktive Verein INFOREL, Information Religion. Diese konfessionell unabhängige Organisation ist schwergewichtig in den Bereichen Information und Beratung tätig. Ihr Projekt zur Erstellung eines Inventars sämtlicher religiösen Bewegungen in Basel wird unter anderem von den beiden Halbkantonen Basels (Lotteriefonds) finanziell unterstützt. Im Gegensatz zu InfoSekta nimmt INFOREL mit "Sekten" auch direkten Kontakt auf (Besuche, Gespräche).

Abgesehen von InfoSekta und INFOREL bestehen einige Vereinigungen ehemaliger Betroffener und ihrer Familienangehörigen, die informierend und beratend tätig sind (Bsp. Aufklärungsgemeinschaft über Scientology und Dianetik, Schweizerische Arbeitsgemeinschaft gegen destruktive Kulte, Association suisse pour la défense de la famille et de l'individu, Groupement de protection de la famille et de l'individu [Kanton Genf]).

324

Hochschulinstitute

Verschiedene Fachrichtungen setzen sich wissenschaftlich mit der Thematik auseinander. Zu nennen sind namentlich Angehörige theologischer Fakultäten (Bsp.

Evangelisch-theologische Fakultät an der Universität Bern), aber auch Wissenschaftler anderer Fachrichtungen, die sich in Form von Gutachten oder forschend mit der Religionsfreiheit allgemein oder spezifischen Aspekten der "Sekten"-Thematik befassen (Bsp. Institut für öffentliches Recht an der Universität Bern, Institut für Sozialethik an der Universität Lausanne).

Grundsätzlich gilt, dass die universitäre Forschung auf dem hier interessierenden Gebiet stark von den jeweiligen Wissenschaftlern und deren Forschungsschwerpunkten abhängig ist. Es gibt an den Schweizer Universitäten zurzeit kaum einen Wissenschaftler, der sich kontinuierlich und schwerpunktmässig mit dem "Sekten"Phänomen auseinander setzt. Kontinuität ist ­ zumindest was den Bereich der Dokumentation betrifft ­ allenfalls an der Universität Fribourg gegeben, wo eine Dokumentationsstelle "Neue religiöse Bewegungen" eingerichtet ist.

325

Weitere

Unsere Abklärungen haben ergeben, dass sich auch Grossbanken mit "Sekten" befassen, soweit ihre Geschäftsbeziehungen tangiert sind (Bsp. Schweizerischer Bankverein). Hingegen beschäftigen sich verschiedene konsumentenschützerische Organisationen (Bsp. Stiftung für Konsumentenschutz, Verein Schuldensanierung) nicht weiter mit der Thematik; die von uns kontaktierten Anlaufstellen verweisen bei entsprechenden Anfragen in der Regel an private Beratungsstellen (vor allem an die InfoSekta in Zürich).

9938

33

Mögliche Unterstützungsformen von "Sekten" auf Bundesbzw. Kantonsebene Gibt es Formen der Unterstützung (z. B. Steuererleichterungen, Subventionen) von "Sekten" auf Bundes- bzw. Kantonsebene?

Die Abklärungen der PVK haben keine Hinweise auf eine direkte Unterstützung oder eine steuerliche Privilegierung von "Sekten" erbracht (vgl. dazu Kap. 13: Umfang und Grenzen der Abklärungen).

Diese Einschätzung bezieht sich zum einen auf eine allfällige Befreiung von der direkten Bundessteuer. Grundsätzlich existiert zwar diese Möglichkeit für Organisationen, die gesamtschweizerisch Kultuszwecke verfolgen (Art. 56 Bst. h des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer [DBG] vom 14. Dezember 1990)69. Es ist auf Grund unserer Umfrage bei der Eidg. Steuerverwaltung sowie einigen kantonalen Steuerverwaltungen, die für die Veranlagung der direkten Bundessteuer zuständig sind, jedoch nicht anzunehmen, dass auch "Sekten" von dieser Regelung profitierten (die Eidg. Steuerverwaltung verfügt allerdings nicht über Angaben darüber, welche und wie viele Organisationen in den Genuss einer Steuerbefreiung auf Grund von Art 56 Bst. h DBG kommen).

Zum anderen ergeben sich auch bezüglich möglicher Subventionen oder Beiträge gemäss den Abklärungen der PVK keine Hinweise darauf, dass "Sekten" durch den Bund oder die Kantone direkt unterstützt würden (z. B. bei der Förderung von Jugendorganisationen oder im Sinne der Privilegierung einzelner religiöser Gemeinschaften durch die Kantone70). Demgegenüber könnte in gewissen Fällen von Drogenentzugsstationen privater Organisationen allenfalls von einer indirekten Unterstützung gesprochen werden. So übernimmt etwa in der Waadt die zuständige kantonale Stelle unter bestimmten Bedingungen die Aufenthaltskosten für SozialhilfeEmpfänger in einem Narconon-Therapiezentrum, dessen Behandlungsmethoden auf den Gründer von Scientology zurückgehen71.

4

Denkbare bundesstaatliche Instrumente oder Massnahmen Sind auf Bundesebene Instrumente oder Massnahmen im Umgang mit dem "Sekten"-Phänomen denkbar? Wenn ja, welche?

69 70

71

Vgl. dazu das Kreisschreiben Nr. 12 der Eidg. Steuerverwaltung vom 8. Juli 1994.

Kantonale Beiträge (so genannte "Kultusbudgets") und sonstige Privilegien erhalten lediglich die zumeist öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen (römisch-katholische sowie evangelisch-reformierte Kirche); in einigen Kantonen geniessen auch die christkatholische Kirche sowie die israelitische Gemeinde (Basel-Stadt) eine gewisse Bevorzugung.

Zu den verschiedenen kantonalen Regelungen, die das Verhältnis von Staat und Kirche betreffen: HÄFELIN Urs (1991): Art. 49 BV, in AUBERT Jean-François, EICHENBERGER Kurt, MÜLLER Jürg Paul, RHINOW René A. (Hrsg.) (1987 ff.), Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, Basel/Zürich/Bern, S. 10 ff.

Die Erteilung der Betriebsbewilligung an dieses Therapiezentrum war Gegenstand von zwei parlamentarischen Vorstössen im "Grand Conseil" des Kantons Waadt.

9939

Die Befragung einschlägiger Experten auf dem Gebiet "Sekten" sowie die Auswertung vorliegender Unterlagen (vor allem Protokolle der GPK-Anhörungen) hat ein grosses Meinungsspektrum in dieser Frage zu Tage gefördert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Folgenden lediglich die genannten "politischen" Massnahmen oder Instrumente aufgeführt werden. Die Frage der Anpassung oder Ergänzung verschiedener Rechtsbestimmungen wird an anderer Stelle behandelt (vgl. den Bericht der GPK).

Grundsätzlich sprach sich niemand für ein Verbot von "Sekten" aus, und das Instrument des präventiven Staatsschutzes im Falle eines von "Sekten" ausgehenden, die innere Sicherheit gefährdenden gewalttätigen Extremismus wurde mehrheitlich lediglich als letztmögliches Mittel verstanden. Abgesehen von dieser Einhelligkeit reichten die Meinungen hinsichtlich denkbarer Massnahmen oder Instrumente vom Standpunkt, der Bund solle eine eigentliche "Sektenpolitik" entwickeln oder zumindest eine klare Position in der "Sekten"-Frage (Ziele, Motive) erarbeiten und diese offen deklarieren, bis zur Ansicht, er habe sich aus diesem Bereich grundsätzlich ganz herauszuhalten (auf Grund der bundesstaatlichen Kompetenzausscheidung, angesichts der kantonal unterschiedlichen Sensibilitäten zum Thema "Staat und Kirche" oder wegen der verfassungsmässig garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit).

Die Mehrzahl der genannten Vorschläge bewegte sich indessen zwischen diesen Polen des Meinungsspektrums. So wurden von verschiedener Seite die Informationsdefizite in dem hier interessierenden Bereich beklagt und gefordert, der Bund solle die ­ möglichst interdisziplinär angelegte ­ universitäre Forschung mittels Nationalfondsgelder oder im Rahmen eines spezialisierten Instituts unterstützen.

Vereinzelt wurde dabei angeregt, den Blickwinkel nicht auf "Sekten" (Phänomen an sich, Wirkungsweisen und Methoden von "Sekten" usw.) einzuengen, sondern auf die religiöse Vielfalt in der Schweiz allgemein auszuweiten.

Eine Reihe weiterer Vorschläge betraf Massnahmen im Bereich der Prävention, worunter etwa die Notwendigkeit der staatlichen Aufklärung und Information sowie die Unterstützung entsprechender Anstrengungen im Bildungsbereich genannt wurden. Daneben wurde auch ein Bedarf nach (konfessionsunabhängigen, landesweiten) Beratungs- und Betreuungsangeboten
verortet. Unterschiedliche Auffassungen bestanden in diesem Zusammenhang in der Frage, ob der Bund in diesen Bereichen (Information, Beratung usw.) in eigener Aktion tätig werden sollte ­ beispielsweise über die Einrichtung einer spezialisierten Dienststelleneinheit (Ombuds- oder Informationsstelle) ­ oder ob er vielmehr diesbezügliche Anstrengungen der Kantone, Gemeinden und privater Organisationen (finanziell und/oder koordinierend) unterstützen sollte. Als weniger ambitiöse Variante zur Einrichtung einer spezialisierten Dienststelleneinheit wurde schliesslich die Idee der Bildung eines "Rates für religiöse Fragen", bestehend aus interessierten Experten aus der Bundesverwaltung, genannt.

9940

5

Zusammenfassung 1. Wer setzt sich in welcher Form mit der "Sekten"-Bewegung bzw. -Entwicklung in der Schweiz auseinander (Verwaltungsstellen auf Bundesebene sowie wichtigste Stellen in den Kantonen, bei Kirchen, privaten Organisationen usw.)?

Die Bestandesaufnahme auf Bundesebene hat ergeben, dass sich keine Dienststelle systematisch mit dem "Sekten"-Phänomen bzw. einzelnen Aspekten desselben auseinander setzt. Trotzdem kann diese Thematik die Aufgabengebiete verschiedener Verwaltungsstellen tangieren, wie unsere telefonische Umfrage gezeigt hat. Die angefragten Stellen befassen sich aber, falls überhaupt, lediglich in punktueller, marginaler und nicht vernetzter Weise mit verschiedenen Aspekten des Phänomens. Ein erster Einblick bezüglich der Lage in den Kantonen ergibt ein vielfältiges Bild: Während einige Kantone auf "sekten"-spezifische Vorkommnisse in verschiedenen Bereichen gesetzgeberisch reagieren (Bsp. im Gesundheitswesen oder bei der Benützung von öffentlichem Grund), entwickeln andere bis anhin gezielt keine diesbezüglichen Aktivitäten. Ausserhalb des Bundes und einiger kantonaler Verwaltungen beschäftigen sich verschiedene kirchliche und universitäre Stellen sowie spezialisierte private Organisationen (vor allem die InfoSekta in Zürich) mit diversen Aspekten des "Sekten"-Phänomens.

2. Gibt es Formen der Unterstützung (z. B. Steuererleichterungen, Subventionen) von "Sekten" auf Bundes- bzw. Kantonsebene?

Gemäss den Abklärungen der PVK ergeben sich keine Hinweise auf eine steuerliche Privilegierung bzw. direkte Unterstützung von "Sekten" im Sinne einer Befreiung von der direkten Bundessteuer bzw. der Entrichtung von Subventionen oder Beiträgen an sie.

3. Sind auf Bundesebene Instrumente oder Massnahmen im Umgang mit dem "Sekten"-Phänomen denkbar? Wenn ja, welche?

Die Auswertung bestehender Unterlagen und die Befragung einschlägiger Experten hat eine breite Palette von Meinungen in der Frage zu Tage gefördert, ob und wenn ja, welche bundesstaatlichen Instrumente oder Massnahmen im Umgang mit dem "Sekten"-Phänomen denkbar wären. Die Ansichten reichten von Nicht-TätigWerden über Förderung der universitären Forschung und Unterstützung der Informations-, Aufklärungs- und Beratungsarbeit privater Organisationen auf diesem Gebiet bis zur Einrichtung einer spezifischen Dienststelleneinheit in der Bundesverwaltung und dem Definieren einer eigentlichen "Sektenpolitik" des Bundes.

9941

Anhänge Anhang I

Die von der PVK kontaktierten Dienststellen in der Bundesverwaltung (Überblick)

Anhang II

Liste der kontaktierten Stellen ausserhalb der Bundesverwaltung

Anhang III

Der bei der telefonischen Befragung verwendete Antwortbogen

9942

Anhang I

Die von der PVK kontaktierten Dienststellen in der Bundesverwaltung (Überblick) Dienststelle

Anlass/Grund für die Auseinandersetzung bzw.

Nicht-Auseinandersetzung mit der Thematik

Rechtslage

Form der Auseinandersetzung

Parlamentsdienste, Wissenschaftliche Dienste der Bundesversammlung, Dokumentationszentrale Bundeskanzlei Eidg. Datenschutzbeauftragter, Presseund Informationsverantwortlicher

Anfragen von Parlamentarierinnen und Parlamentariern sowie Kommissionen.

Bundesbeschluss über die Parlamentsdienste vom 7. Oktober 1988.

Sammeln von Unterlagen und Erstellen von Dokumentationen zur Thematik.

vgl. Rechtslage.

Bundesgesetz über den Datenschutz vom 19. Juni 1992 insbesondere Anmeldepflicht von Datenbeständen sowie diverse Rechte von Betroffenen (Auskunfts-, Berichtigungs- und Löschungsrecht).

EDA Politische Direktion, Politische Abteilung II, Sektion für konsularischen Schutz

Anfragen von schweizerischen Vertretungen im Ausland sowie von öffentlichen oder privaten Stellen in der Schweiz zu einzelnen Gruppierungen.

"Sekten"-Fragen waren bis anhin kein Thema bei der Bewirtschaftung von Krediten.

Bisher wurden noch nie Förderungsgesuche von Gruppierungen behandelt, die bei ihren Aktivitäten Weltanschauungen zum Inhalt hatten.

"Neue religiöse Bewegungen" sind Bestandteil des Pflichtenhefts eines Sachbearbeiters.

Herausgabe von Empfehlungen an Organisationen, die Datenbestände halten (kann u. a. auch "Sekten" betreffen); Unterstützung von Privatpersonen, die Rechte geltend machen (AuskunftsBerichtigungs- und Löschungsrecht); Kontrolle von Organisationen bezüglich der Zulässigkeit ihrer Datenbearbeitung.

Sporadische Auskunftserteilung; im Allgemeinen wird dabei an die Informations- und Beratungsstelle InfoSekta in Zürich verwiesen.

EDI Bundesamt für Kultur, Allgemeine Förderungsfragen EDI Bundesamt für Kultur, Dienst für Jugendfragen

Budgetbeschlüsse des Parlamentes.

­

Bundesgesetz über die Förderung der ausserschulischen Jugendarbeit vom 6. Oktober 1989.

Fallweise Abklärungen, ob Organisationen, die ein Förderungsrecht geltend machen, den Förderungsbedingungen entsprechen (z. B. Argument der Persönlichkeitsentfaltung).

9943

Dienststelle

Anlass/Grund für die Auseinandersetzung bzw.

Nicht-Auseinandersetzung mit der Thematik

Rechtslage

EDI Bundesamt für Kultur, Sekretariat der Eidg. Kommission für Jugendfragen

Schwerpunktthemen der Kommission können das "Sekten" -Phänomen tangieren.

Bundesgesetz über die Förderung der ausserschulischen Jugendarbeit vom 6. Oktober 1989.

EDI Bundesamt für Gesundheit, Amtsleitung

EDI Bundesamt für Statistik, Abteilung Bevölkerung und Beschäftigung

EDI Bundesamt für Sozialversicherung, Zentralstelle für Familienfragen

9944

Form der Auseinandersetzung

Vertreter von "Sekten" wurden auf Initiative der Jugendverbände von der Teilnahme an der Jugendsession 1996 zum Thema "Drogen" ausgeschlossen; gegebenenfalls wird in der Kommission eine Diskussion darüber geführt werden, ob beim Schwerpunktthema "Jugend und Gewalt" auch "sekten"-spezifische Aspekte hineinspielen.

Grundsätzlich keine Bundesgesetz über Dokumentieren der Auseinandersetzung die Betäubungsmittel von verschiedenen mit der Thematik.

und die psychotropen Gruppierungen geDas Amt ist aber Stoffe vom 3. Okführten Angriffe geZielscheibe einiger tober 1951 (als gen das Amt; BeGruppierungen weSuchtmittel im Sinne handeln von Gesugen seiner AIDSdes Gesetzes gelten chen von OrganisaInformation und Dro- ausschliesslich tionen um Unterstütgenaufklärung.

Substanzen).

zung ihrer Drogenentzugstherapien (Erfüllen eines einheitlichen Kriterienkataloges).

Frage nach der reliBundesgesetz über Erstellen eines Klasgiösen Ausrichtung die eidg. Volkszähsifikationsrasters im der Bevölkerung ist lung vom 3. Februar Vorfeld der VolksBestandteil der 1860, zählung 1990; AufVolkszählung.

Verordnung über die bau einer Datenbank, eidg. Volkszählung die alle in der Volksvom 26. Oktober zählung genannten 1988.

Kirchen, Religionen und Weltanschauungen enthält, um ein adäquateres Klassifikationsraster erstellen zu können.

Die Stelle wurde bis ­ ­ anhin nicht mit der Thematik konfrontiert.

Der an einem Treffen der Familienminister des Europarates im Juni 1997 formulierte Vorschlag, ein europäisches Sektenüberwachungszentrum zu schaffen,

Dienststelle

Anlass/Grund für die Auseinandersetzung bzw.

Nicht-Auseinandersetzung mit der Thematik

Rechtslage

stammte vom österreichischen Vertreter und hat keine diesbezüglichen Folgearbeiten im Europarat/in der Schweiz ausgelöst.

Bis anhin keine Be­ fassung mit der Thematik.

EDI Bundesamt für Sozialversicherung, Sekretariat der Eidg.

Koordinationskommission für Familienfragen EDI Bisher wurden weder Gruppe für WissenAufträge erteilt noch schaft und Forschung Forschungsgelder zur "Sekten"-Thematik gesprochen.

EJPD Bürgerbriefe und Bundesamt für parlamentarische Justiz, Abteilung Vorstösse, die das RechtsetzungsproVerhältnis von Kirjekte und -methodik che und Staat zum Thema haben.

EJPD Bundesamt für Justiz, Abteilung für Gesetzgebungsprojekte EJPD Bundesamt für Polizeiwesen, Informationsdienst sowie Hauptabteilung Recht und Besondere Dienste (Dienst Ausweisschriften und Nachforschungen nach vermissten Personen) EJPD Bundesanwaltschaft, Bundespolizei, Information und Auswertung

Fragen im Zusammenhang mit "Sekten" spielen im Rahmen des Tätigkeitsgebietes keine Rolle.

Nachforschung nach vermissten Personen.

Aufgrund bestehender rechtlicher Grundlage keine Aktivität, d. h. keine Beobachtung von "Sekten".

Sonderauftrag der Konsultativen Staatsschutzkommission betreffend die Frage, ob bei Scientology die Voraussetzungen für eine staatliche

Form der Auseinandersetzung

­

­

­

Bundesverfassung (Verhältnis von Kirche und Staat ist Sache der Kantone; ebenso die Religionsfreiheit im Verhältnis zum Staat).

­

Beantwortung von Bürgerbriefen; Einholen von spezifischen Informationen bei der Informationsund Beratungsstelle InfoSekta in Zürich.

­

Keine gesetzlichen Anknüpfungspunkte.

Führen eines Dossiers zu "Sekten"; Publikation einer einmaligen Pressemitteilung (Warnung junger USA-Reisender vor den "Moonies" im Juli 1996).

Weisungen über die Durchführung des Staatsschutzes vom 9. September 1992, Entwurf des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit vom 21. März 1997.

Abklärungen im Zusammenhang mit dem Sonderauftrag der Konsultativen Staatsschutzkommission.

9945

Dienststelle

VBS Generalsekretariat, Zentralstelle für Gesamtverteidigung, Sektion Grundlagenstudien VBS Generalsekretariat, Zentralstelle für Gesamtverteidigung, Sektion Grundlagenstudien

VBS Oberauditorat

VBS Generalstab, Untergruppe Personelles der Armee, Abteilung Personalbewirtschaftung, Sektion Wehrpflicht

VBS Untergruppe Personelles der Armee, Abteilung Truppen, Dienststelle Armeeseelsorge

VBS Generalstab, Untergruppe Nachrichtendienst

9946

Anlass/Grund für die Auseinandersetzung bzw.

Nicht-Auseinandersetzung mit der Thematik

Überwachung gegeben sind.

"Sekten" werden nicht als Risiko im Sinne des Projektes SwissRisk (umfassende Risikoanalyse Schweiz) verstanden.

Keine, abgesehen davon, dass der Sekretär der Lagekonferenz sich mit Fragen der religiösen Vielfalt wissenschaftlich auseinandersetzt.

Urteile der Militärgerichte bezüglich Dienstverweigerung.

Rechtslage

Form der Auseinandersetzung

In Ausführung der Kommissionsmotion 90.061 zum periodischen Bericht über die Sicherheitspolitik vom 18. April 1991.

­ Verfassen von diversen Büchern und Expertisen (z. B. Mitarbeit beim Bericht der Konsultativen Staatsschutzkommission).

Bundesgesetz über die Armee und die Militärverwaltung vom 3. Februar 1995 Bundesgesetz über den zivilen Ersatzdienst vom 6. Oktober 1995.

Dienstbefreiungsgesuche von Dienstpflichtigen, die im zivilen Leben einer fest organisierten Religionsgemeinschaft oder religiösen Körperschaft angehören und denen dort das Amt eines Geistlichen übertragen ist.

Rekrutierung von Feldpredigern; Anfragen von verschiedenen Gemeinschaften, ob sie einen Feldprediger stellen können.

Bundesgesetz über die Armee und die Militärverwaltung vom 3. Februar 1995.

Zuständig für die Beschaffung, Auswertung und Verbreitung von sicherheitspolitisch bedeutsamen Informationen bezüglich des

Bundesgesetz über die Armee und die Militärverwaltung vom 3. Februar 1995.

Reglement für den Dienst der Armeeseelsorge vom 1. Januar 1997 (Feldprediger haben einer Landeskirche anzugehören).

Statistisch ausgewiesen sind lediglich die Mitglieder der Zeugen Jehova, die sich in den vergangenen Jahren vor Militärgericht glaubhaft auf ethische Grundwerte berufen haben (ansonsten existieren keine statistischen Angaben, da es sich um relativ seltene Einzelfälle handelt).

Beurteilung von Gesuchen um Dienstbefreiung.

Auskunftsstelle für Belange der Armeeseelsorge; Vermittlungstätigkeit bei Problemen von "Sekten"-Mitgliedern bei der Leistung ihres Militärdienstes.

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Dienststelle

EFD Eidg. Personalamt, Abteilung Personalwesen EFD Eidg. Steuerverwaltung, Abteilung Rechtswesen Direkte Bundessteuer

EFD Sekretariat der Eidg.

Bankenkommission EVD Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit, Regionalpolitik, Gewerbe, Tourismus, Abteilung Gewerbe, Sektion Handel und Gewerbe UVEK Bundesamt für Kommunikation, Abteilung Radio und Fernsehen

Anlass/Grund für die Auseinandersetzung bzw.

Nicht-Auseinandersetzung mit der Thematik

Auslands. Thematik wird dabei nicht tangiert.

"Sekten"-spezifische Fragen wurden bis anhin noch nie aufgeworfen.

Steuerbefreiungsgesuche juristischer Personen.

Bis anhin nicht mit der Thematik konfrontiert.

Beim Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb handelt es sich um ein privatrechtliches Gesetz, deshalb keine Aktivität.

Gesuch um ein religiöses Fernsehprogramm "Fenster zum Sonntag" der Alphavision AG.

Rechtslage

Form der Auseinandersetzung

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Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer vom 14. Dezember 1990 (insbesondere Art. 56 Bst. h: Steuerbefreiung von juristischen Personen, die gesamtschweizerisch Kultuszwecke verfolgen).

Verfassen eines Kreisschreibens zuhanden der Kantone, die für die Veranlagung zuständig sind (Kriterien bezüglich der Steuerbefreiung).

Es bestehen keine Angaben darüber, wie viele Organisationen auf Grund dieser Regelung Steuerbefreiung geniessen.

Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 19. Dezember 1986.

­

Bundesgesetz über Radio und Fernsehen vom 21. Juni 1991.

Einsetzung einer Expertenkommission "Religion und Fernsehen" (Abklärung, ob weltanschauliche Fernsehveranstalter in der Schweiz erwünscht sind und mit welchen rechtlichen, sozialen und politischen Folgen bei einer allfälligen Konzessionierung zu rechnen ist).

Der Schlussbericht "Religiöse Fernsehveranstalter" wurde im September 1997 publiziert.

9947

Dienststelle

Anlass/Grund für die Auseinandersetzung bzw.

Nicht-Auseinandersetzung mit der Thematik

Rechtslage

Form der Auseinandersetzung

Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Private, vom Bund (Bundesamt für Bildung und Wissenschaft) alimentierte Stiftung

Innerhalb des Nationalen Forschungsprogramms NFP 21 "Kulturelle Vielfalt und nationale Identität" wurde die Thematik in einem Projekt behandelt.

Bundesgesetz über die Forschung vom 7. Oktober 1983.

Ergebnis: Wissenschaftliche Arbeit von Jean-François Mayer zum Thema "Vers une mutation de la conscience religieuse?" (Laufzeit des Projektes: 1987­ 1990).

9948

Nachtrag Unzureichendem Informationsfluss ist zuzuschreiben, dass die PVK leider erst nach Abschluss ihrer Erhebung auf drei weitere Dienststellen in der Bundesverwaltung aufmerksam gemacht wurde, die sich mit dem ,,Sekten,,-Phänomen beschäftigen.

Im Folgenden sind diese drei Dienststellen angeführt. Die Passagen unseres Arbeitsberichtes zur Bestandesaufnahme auf Bundesebene müssen im Lichte dieser Ergänzungen gelesen werden.

Dienststelle

Anlass/Grund für die Auseinandersetzung bzw.

Nicht-Auseinandersetzung mit der Thematik

Rechtslage

Form der Auseinandersetzung

EDA Politische Abteilung IV, Sektion Menschenrechtspolitik

Weil die Religionsfreiheit ein wichtiges Menschenrecht ist, beschäftigt sich die Sektion mit der Thematik (bei Vorhandensein eines internationalen Aspektes).

Völkerrechtliche Verträge, die die Schweiz ratifiziert hat (wie z. B. den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte).

EDA Direktion für Völkerrecht, Sektion Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht

Auseinandersetzung mit den juristischen Aspekten der Menschenrechte.

Völkerrechtliche Verträge.

EDI Sekretariat der Eidg.

Kommission gegen Rassismus

Die Kommission ist im Rahmen ihres Mandates ­ sie befasst sich mit jeglicher Form der Rassendiskriminierung ­ mit der Frage konfrontiert.

Beschluss des Bundesrates vom 23.

August 1995 über Zusammensetzung und Mandat der Eidg. Kommission gegen Rassismus.

Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen (z. B.

Beantwortung von Umfragen zur Handhabung der Religionsfreiheit in der Schweiz); Führen eines Dossiers zur Thematik; Informationsaustausch mit ,,Sekten,,-Experten; Kontakte mit Vertretern einzelner Gruppierungen; Beantwortung von Bürgerbriefen.

Beantwortung von Bürgerbriefen und internationalen Umfragen zur Handhabung der Religionsfreiheit; fallweise juristische Abklärungen, falls die internationalen Menschenrechte tangiert werden.

Die Kommission befasst sich einerseits mit Gruppierungen, die rassistisches Gedankengut vertreten (1999 widmet sie z. B. ihr Bulletin dem Grenzbereich der Esoterik), andererseits wird sie von Gruppierungen kontaktiert, die eine Anerkennung als Religion anstreben.

9949

Anhang II

Liste der kontaktierten Stellen ausserhalb der Bundesverwaltung Kantone Aargau: Erziehungsdepartement Aargau: Finanzdepartement Appenzell Ausserrhoden: Erziehungs- und Kulturdirektion Appenzell Innerrhoden: Sanitätsdirektion Basel-Stadt: Finanzdepartement Bern: Direktion der Finanzen Bern: Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion Genf: Département de Justice et Police et des Transports St. Gallen: Erziehungsdepartement St. Gallen: Finanzdepartement St. Gallen: Justiz- und Polizeidepartement Waadt: Département de l'intérieur et de la santé publique Waadt: Département de la prévoyance sociale et des assurances Zürich: Direktion des Erziehungswesens Zürich: Direktion der Finanzen Zürich: Direktion der Justiz Zürich: Gewerbepolizei der Stadt Zürich Zug: Finanzdirektion Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel Schweiz. Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren Kirchliche Beratungs- und Informationsstellen Evangelische Informationsstelle: Kirchen­Sekten­Religionen, Greifensee Katholische Arbeitsstelle "Neue religiöse Bewegungen", Balgach Ökumenische Arbeitsgruppe "Neue religiöse Bewegungen in der Schweiz" Ökumenische Beratungsstelle "Religiöse Sondergruppen und Sekten", Luzern Private Institutionen und Organisationen Aufklärungsgemeinschaft über Scientology und Dianetik (AGSD), Zürich Caritas Schweiz, Luzern INFOREL, Information Religion, Basel InfoSekta, Verein Informations- und Beratungsstelle für Sekten und Kultfragen, Zürich Pro Juventute, Zürich 9950

Stiftung für Konsumentenschutz, Bern Verein Schuldensanierung, Bern Hochschulinstitute Universität Bern: Christkatholisch-theologische Fakultät Universität Bern: Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Bern Universität Bern: Seminar für öffentliches Recht Universität Fribourg: Dokumentationsstelle "Neue religiöse Bewegungen" Universität Lausanne: Institut für Sozialethik Weitere Beobachter, Zürich Credit Suisse Group, Zürich Schweizerischer Bankverein, Basel Schweizerische Bankiervereinigung, Basel Tages-Anzeiger, Zürich UBS, Zürich

9951

Anhang III

Der bei der telefonischen Befragung verwendete Fragebogen Name der Stelle: Kontakt am: Kontaktperson/en:

Adresse:

Anlass für Aktivität bzw. Nichtaktivität:

Rechtslage (bei Bundesstellen):

Beschreibung der Aktivität:

Internationale Verknüpfung:

Trägerschaft (bei Stellen ausserhalb der Verwaltung): Information über Stellen, die für die Fragestellung relevant sind:

Durchführung der Untersuchung Projektleiterin

P. Lanfranchi, lic. phil. I, Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle

Projektassistenz:

M. Fritsche, lic. rer. pol.

Sekretariat:

H. Heinis, Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle

Die PVK dankt den konsultierten Experten für die Teilnahme an der Untersuchung sowie allen Gesprächspartnern, die uns telefonisch zur Verfügung gestanden haben.

9952

Abkürzungsverzeichnis BV

Bundesverfassung

DBG

Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer

EDA

Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten

EDI

Eidg. Departement des Innern

EFD

Eidg. Finanzdepartement

EJPD

Eidg. Justiz- und Polizeidepartement

EVD

Eidg. Volkswirtschaftsdepartement

GPK-N Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates NFP

Nationales Forschungsprogramm

PVK

Parlamentarische Verwaltungskontrollstelle

UVEK

Eidg. Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation

VBS

Eidg. Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport

9953

Anhang B

Entschliessung zu den Sekten in Europa

Das Europäische Parlament,

72

­

unter Hinweis auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950,

­

unter Hinweis auf den Vertrag über die Europäische Union, insbesondere Artikel F Absatz 2, Artikel K.1 Absätze 2, 5, 6, 7 und 9 sowie Artikel K.3,

­

unter Hinweis auf seine Entschliessung vom 8. Juli 1992 zu einer Europäischen Charta der Rechte des Kindes72,

­

unter Hinweis auf die Empfehlung 1178 (1992) des Europarates zu Sekten und neuen religiösen Bewegungen,

A.

unter Bekräftigung seines Festhaltens an den Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaats wie Toleranz, Gewissens- und Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit sowie Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit,

B.

in der Erwägung, dass mit den jüngsten Ereignissen in Frankreich, insbesondere dem Tod von 16 Menschen, darunter 3 Kindern, am 23. Dezember 1995 in Vercors die gefährlichen Aktivitäten bestimmter, als Sekten bezeichneter Vereinigung deutlich geworden sind,

C.

in der Erwägung, dass die Aktivitäten der Gruppen von Sekten oder sektenähnlichen Vereinigungen ein sich ständig weiter verbreitendes Phänomen darstellen, das in immer diversifizierterer Form in der ganzen Welt zu beobachten ist,

D.

in der Erwägung, dass viele aktive religiöse und andere Sekten völlig legal sind und deshalb Anspruch darauf haben, dass ihre Organisationen und Aktivitäten durch die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Garantie der individuellen und Glaubensfreiheit geschützt werden,

E.

in der Erwägung, dass sich dagegen bestimmte Sekten, die innerhalb eines grenzüberschreitenden Netzes in der Europäischen Union operieren, illegalen oder kriminellen Aktivitäten hingeben und laufend Menschenrechtsverletzungen wie Misshandlung, sexuelle Belästigung, Freiheitsberaubung, Menschenhandel, Ermutigung zu aggressivem Verhalten, Verbreitung rassistischen Gedankenguts, Steuerbetrug, illegaler Kapitalverkehr, Waffenund Drogenhandel, Verletzung des Arbeitsrechts und illegale Ausübung des Arztberufs begehen,

1.

bekräftigt den Anspruch auf Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie auf Vereinigungsfreiheit in den Grenzen, die durch das Gebot der Achtung, der Freiheit und der Privatspäre des Einzelnen sowie durch den

ABI. C 241 vom 21.9.1992, S. 67.

9954

Schutz vor Handlungen wie Folter, unmenschliche und entwürdigende Behandlung, Sklaverei usw. gesetzt sind; 2.

fordert die Mitgliedstaaten auf, dafür Sorge zu tragen, dass die Gerichte und Polizeibehörden die bereits auf nationaler Ebene bestehenden Rechtsbestimmungen und -instrumente wirksam anwenden und aktiv und enger, insbesondere im Rahmen von Europol, zusammenarbeiten, um so gegen die Verletzungen der Grundrechte, deren sich bestimmte Sekten schuldig machen, vorzugehen;

3.

fordert die Mitgliedstaaten auf nachzuprüfen, ob ihre Rechtsprechungs-, Steuer- und Strafvorschriften ausreichen, um zu verhindern, dass die Aktivitäten solcher Gruppen gesetzwidrige Handlungen mit sich bringen;

4.

fordert die Mitgliedstaaten auf, den Status einer religiösen Gemeinschaft nicht automatisch zu verleihen und im Fall von Sekten, die an obskuren und kriminellen Machenschaften beteiligt sind, eine Aufhebung ihres Status einer religiösen Gemeinschaft zu erwägen, der ihnen Steuervorteile und einen gewissen Rechtsschutz beschert;

5.

fordert die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang auf, den gegenseitigen Austausch von Informationen zu verstärken, um Daten über Sektenphänomene zusammenzutragen;

6.

ersucht den Rat, alle Massnahmen zu prüfen, vorzuschlagen und einzuleiten, die aus einer wirksamen Anwendung des im Rahmen von Titel VI des EUVertrags vorgesehenen Instrumentariums und der bestehenden Rechtsvorschriften der Gemeinschaft folgen, um die illegale Tätigkeit der Sekten in der Union einzudämmen und zu bekämpfen; fordert den Rat auf, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten mit dem Ziel, vermisste Personen ausfindig zu machen und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern, zu fördern;

7.

fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten zu einem Höchstmass an Wachsamkeit auf, um zu verhindern, dass illegale Sekten in den Genuss gemeinschaftlicher Beihilfen gelangen;

8.

beauftragt seinen Ausschuss für Grundfreiheiten und innere Angelegenheiten, den zuständigen Ausschüssen der nationalen Parlamente vorzuschlagen, ihre nächste gemeinsame Sitzung dem Thema Sekten zu widmen; auf diese Weise könnten Informationen über die Organisation, die Arbeitsmethoden und das Verhalten von Sekten in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgetauscht und die besten Methoden zur Einschränkung unerwünschter Aktivitäten dieser Sekten sowie Strategien zur Aufklärung der Bevölkerung über sie aufgezeigt werden; die Schlussfolgerungen dieser Sitzungen sollten dem Plenum in Form eines Berichts vorgelegt werden;

9.

beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschliessung dem Rat, der Kommission, den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten sowie dem Europarat zu übermitteln.

10637

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