99.027 Botschaft zum Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (Anwaltsgesetz, BGFA) vom 28. April 1999

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen hiermit Botschaft und Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir beantragen ferner, den folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 1996 P

94.3305

Interkantonale Freizügigkeit beim Rechtsanwaltsberuf (N 20.12.95, Stamm Luzi; S 3.6.96)

Wir versichern Sie sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglicher Hochachtung.

28. April 1999

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Ruth Dreifuss Der Bundeskanzler: François Couchepin

1999-4697

6013

Übersicht Anfang dieses Jahrhunderts gab es in der Schweiz kaum mehr als 200 Anwälte; 1998 waren es mehr als 6000 Anwältinnen und Anwälte. Deren Mobilität nimmt immer mehr zu und die Notwendigkeit einer Harmonisierung der Voraussetzungen für die Ausübung des Anwaltsberufs wird immer mehr spürbar. Nach Artikel 33 Absatz 2 BV (Art. 95 Abs. 2 nBV) hat der Bund dafür zu sorgen, dass die in einem Kanton erlangten Fähigkeitsausweise in der ganzen Schweiz gültig sind. Der vorliegende Gesetzesentwurf hat deshalb zum Ziel, die Modalitäten der Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte in der Schweiz festzulegen. Der Entwurf umfasst zwei Hauptteile: Einerseits verwirklicht er die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte mit Hilfe von kantonalen Registern; anderseits vereinheitlicht er als Folge dieser Freizügigkeit gewisse Aspekte der Ausübung des Anwaltsberufs, insbesondere im Bereich der Berufsregeln und der Disziplinaraufsicht.

Der Gesetzesentwurf verwirklicht die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte, indem er die Einrichtung kantonaler Anwaltsregister vorschreibt, welche das heutige Kontrollsystem mit kantonalen Berufsausübungsbewilligungen ersetzen sollen.

Die Anwältinnen und Anwälte, die Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten wollen, haben sich im Anwaltsregister desjenigen Kantons, in welchem sie über eine Geschäftsadresse verfügen, eintragen zu lassen. Für den Registereintrag haben sie ein Anwaltspatent vorzuweisen, das auf Grund bestimmter fachlicher Voraussetzungen erteilt wurde (Lizenziat, einjähriges Praktikum, das mit einem Examen abgeschlossen worden ist). Zudem müssen sie gewisse persönliche Voraussetzungen erfüllen.

Einmal im Register ihres Kantons eingetragen, können diese Anwältinnen und Anwälte ihren Beruf in der ganzen Schweiz ohne weitere Bewilligung ausüben. Der Gesetzesentwurf enthält Bestimmungen über die Führung und ständige Aktualisierung der kantonalen Anwaltsregister sowie über die Zusammenarbeit unter den Aufsichtsbehörden.

Der Gesetzesentwurf regelt zudem die wesentlichen Grundsätze für die Ausübung des Anwaltsberufs. Es handelt sich um eine Vereinheitlichung auf Bundesebene der heute bereits in den kantonalen Gesetzgebungen enthaltenen Berufsregeln. Die Vereinheitlichung der Disziplinarmassnahmen stellt eine weitere Begleitmassnahme zur Freizügigkeit dar.

Schliesslich
regelt der Gesetzesentwurf gestützt auf das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft (EG) sowie ihren Mitgliedstaaten über die Freizügigkeit die grundlegenden Modalitäten für die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) sind.

6014

Botschaft 1

Allgemeiner Teil

11

Ausgangslage

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Die interkantonale Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte

Die Kantone können die Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten von einem Fähigkeitsausweis abhängig machen. Der Anwaltsberuf ist ein wissenschaftlicher Beruf1. Mit Ausnahme des Kantons Solothurn behalten alle Kantone die Vertretung von Parteien vor allen oder gewissen Gerichtsbehörden Personen mit einem Anwaltspatent vor2. Artikel 33 Absatz 2 BV (Art. 95 Abs. 2 nBV) beauftragt den Bundesgesetzgeber, dafür zu sorgen, dass Fähigkeitsausweise für die wissenschaftlichen Berufsarten für die ganze Schweiz gültig erworben werden können. Der Bundesgesetzgeber ist seinem Auftrag in Bezug auf den Anwaltsberuf bislang nicht nachgekommen. Für die medizinischen Berufe hingegen hat er eidgenössische Fähigkeitsausweise geschaffen.

Die interkantonale Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte wird heute nach Artikel 5 UeB BV (Art. 196 Ziff. 5 nBV) und nach dem Bundesgesetz über den Binnenmarkt vom 6. Oktober 1995 (Binnenmarktgesetz, BGBM, SR 943.02) garantiert.

Auf Grund von Artikel 5 UeB BV gilt der von einem Kanton ausgestellte Fähigkeitsausweis auf dem gesamten Gebiet der Schweiz, wie wenn es sich um einen schweizerischen Fähigkeitsausweis im Sinne von Artikel 33 Absatz 2 BV handeln würde. Da es für den Anwaltsberuf keinen schweizerischen Fähigkeitsausweis im Sinne von Artikel 33 Absatz 2 BV gibt, hat das Bundesgericht in seiner Praxis die Mindestanforderungen festgelegt, denen ein kantonales Anwaltspatent genügen muss, um in einem anderen Kanton anerkannt zu werden 3.

112

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte

Das Bundesgericht hat schon vor längerer Zeit entschieden, dass Artikel 5 UeB BV die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte generell gewährleistet. Es verlangt, dass die Gesetzgebungen der Kantone alle Anwältinnen und Anwälte, die in der Schweiz niedergelassen sind und einen kantonalen Fähigkeitsausweis besitzen, gleich behandeln. Für kantonsfremde Anwältinnen und Anwälte kann ­ je nach Ersuchen der Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller generell oder für einen bestimmten Rechtsstreit ­ ein Bewilligungsverfahren vorgesehen werden4. Artikel 5 UeB BV untersagt aber jede diskriminierende Bedingung oder Auflage, welche den Zugang der Anwältinnen und Anwälte zu den Gerichten des Zulassungskantons verhindern 1 2 3 4

BGE 112 Ia 318; René Rhinow, Kommentar zur Bundesverfassung, Art. 31bis, Rz. 40.

Zu diesem Thema vgl. Felix Wolffers, Der Rechtsanwalt in der Schweiz, Zürich 1986, S. 79 ff.

BGE 111 Ia 108 E. 2.

BGE 89 I 366 E. 2.

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oder wesentlich erschweren könnte5. So ist es unzulässig, von kantonsfremden Anwältinnen und Anwälten zu verlangen, dass sie im Zulassungskanton eine Geschäftsadresse haben6. Ausserdem können kantonsfremde Anwältinnen und Anwälte, die nur in einem bestimmten Rechtsstreit Parteien vertreten wollen, nicht gezwungen werden, grössere Sicherheiten zu leisten7 oder Pflichtmandate zu übernehmen8.

Das Bundesgericht hat Freizügigkeitsbeschränkungen in Bezug auf die beruflichen Fähigkeiten (theoretische und praktische Ausbildung) als zulässig betrachtet. Angesichts der Bedeutung der Anwaltstätigkeit für die Rechtssuchenden und die Gerichte dürfen die Kantone Mindestvoraussetzungen sowohl für die wissenschaftliche Ausbildung als auch für die praktischen Kenntnisse und Erfahrungen der Anwältinnen und Anwälte aufstellen9. Das Bundesgericht ist der Auffassung, dass die Kantone dann verpflichtet sind, ein in einem anderen Kanton erworbenes Anwaltspatent als genügend anzuerkennen, wenn dieser Ausweis bestätigt, dass die Anwältin oder der Anwalt ein Examen sowohl über die wissenschaftlichen Kenntnisse als auch über die praktischen Fähigkeiten bestanden hat. Die Kantone können es demzufolge ablehnen, ein Anwaltspatent für ihr Gebiet als genügend anzuerkennen, das ausschliesslich auf Grund eines Hochschulabschlusses erteilt worden ist10. Im Laufe der Zeit hat das Bundesgericht seine Anforderungen erhöht. Im Entscheid BGE 111 Ia 108 hat es festgehalten, dass «die ausserordentliche Grosszügigkeit der alten Praxis des Bundesgerichts sich wohl aus der Erwartung des baldigen Erlasses eines Bundesgesetzes im Sinne von Art. 33 Abs. 2 BV erklären lässt. Nach dieser Bestimmung hätte der Bundesgesetzgeber für den Erwerb des Fähigkeitsausweises einheitliche Vorschriften zu erlassen, die entweder in einer eidgenössischen Prüfung oder in einheitlichen gesetzlichen Anforderungen an kantonale Prüfungen bestehen könnten [...]. Nachdem sich diese Erwartung bis heute nicht erfüllt hat und in absehbarer Zeit kaum erfüllen wird, obliegt es der Praxis, einstweilen nach der Übergangsbestimmung der Bundesverfassung die Mindestanforderungen festzulegen, denen der Fähigkeitsausweis eines Kantons genügen muss, um in einem anderen Kanton anerkannt zu werden. [...] In Änderung der bisherigen Praxis ist somit die Abnahme einer Prüfung als
Standard im Sinne von Art. 5 UebBest. BV festzulegen.» Das Bundesgericht hat allerdings nicht präzisiert, welches die Mindestdauer der Ausbildung und des Praktikums sein soll11.

Die Kantone können die Ausübungsbewilligung für den Anwaltsberuf auch vom Nachweis abhängig machen, dass gewisse persönliche Voraussetzungen (z. B. Zahlungsfähigkeit) erfüllt sind, die aus polizeilichen Gründen gerechtfertigt und im überwiegenden öffentlichen Interesse geboten sind. Ausserdem dürfen die Kantone nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht verlangen, dass die Anwaltstätigkeit die Haupttätigkeit der Gesuchstellerin oder des Gesuchstellers darstellt12.

Auch das schweizerische Bürgerrecht kann nicht mehr als Voraussetzung für die Berufsausübungsbewilligung gefordert werden13.

5 6 7 8 9 10 11 12 13

BGE vom 10. April 1996 in Sachen L. W., M. und D. gegen den Kanton Waadt.

BGE 39 I 48, 65 I 4, 80 I 146.

BGE 42 I 277.

BGE 67 I 332.

BGE 84 I 24.

BGE 69 I 1.

Vgl. auch Fritz Rothenbühler, Freizügigkeit für Anwälte, Bern 1995, S. 222.

BGE 112 Ia 318.

BGE 119 Ia 35.

6016

Während des Vernehmlassungsverfahrens zu diesem Gesetzesentwurf hat das Bundesgericht einen wichtigen Entscheid zur Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte gefällt (Urteil vom 30. Mai 1997; BGE 123 I 313). Dieser Entscheid wurde in einem weiteren Urteil vom 31. August 1998 (BGE 125 II 56) präzisiert. Gestützt auf das Binnenmarktgesetz erklärte das Bundesgericht einerseits, dass für Anwältinnen und Anwälte, die in einem Kanton zur Berufsausübung zugelassen sind, die Vermutung gilt, dass sie die Voraussetzungen für die Ausübung des Anwaltsberufs in einem anderen Kanton erfüllen. Anderseits entschied das Bundesgericht, dass die Berufsausübungsbewilligung von nun an unentgeltlich zu erteilen ist. Das Bundesgericht hat demnach die Anforderungen für die Erteilung der Berufsausübungsbewilligung vereinfacht. In seiner Rechtsprechung geht das Bundesgericht allerdings nicht so weit wie der Entwurf des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (Anwaltsgesetz, BGFA), da es die kantonale Bewilligung als solche nicht aufhebt, sondern sich darauf beschränkt zu präzisieren, dass die Bewilligung kostenlos und ohne unnötige Erfordernisse (beispielsweise Prüfung des Leumunds oder Erfordernis eines aktuellen Strafregisterauszugs) zu erteilen ist. Das Anwaltsgesetz will zudem nicht nur die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte gewährleisten, sondern auch Grundsätze für die Ausübung des Anwaltsberufs in der Schweiz festlegen. Trotz dieses Bundesgerichtsentscheids bleibt das Anwaltsgesetz folglich nötig, damit jede Form einer Berufsausübungsbewilligung beseitigt wird, damit die Voraussetzungen der Freizügigkeit harmonisiert und damit gewisse Fragen in Zusammenhang mit der Ausübung dieses Berufs (Berufsregeln, Disziplinaraufsicht und -massnahmen, Berufsbezeichnung) geregelt werden.

113

Die Notwendigkeit eines Bundesgesetzes für Anwältinnen und Anwälte

Die Zahl der Anwältinnen und Anwälte nimmt kontinuierlich zu. Anfangs dieses Jahrhunderts gab es etwa zweihundert praktizierende Anwälte. 1977 zählte der Schweizerische Anwaltsverband (SAV) 2497 eingetragene Anwältinnen und Anwälte. 1997 waren es 5541, was einer Zunahme um 121,9 Prozent entspricht 14. Dieses Tempo scheint sich kurz- oder mittelfristig nicht zu verlangsamen. Die Mobilität der Anwältinnen und Anwälte wächst ebenfalls; heutzutage kommt es häufig vor, dass eine Anwältin oder ein Anwalt in mehreren Kantonen Parteien vor Gericht vertritt. Die relativ geringe Ausdehnung der Kantonsgebiete ­ im Vergleich beispielsweise mit den deutschen Ländern, die für deutsche Anwältinnen und Anwälte das Gebiet darstellen, in dem sie gerichtlich tätig sein dürfen (vgl. Ziff. 151.1) ­ führt fast zwangsläufig dazu, dass die Anwältinnen und Anwälte ihren Beruf auf dem Gebiet mehrerer Kantone ausüben.

Zurzeit müssen Anwältinnen und Anwälte, die in einem anderen Kanton als demjenigen, in dem sie ihr Anwaltsbüro haben, Parteien vertreten wollen, eine Berufsausübungsbewilligung beantragen. Auch wenn auf Grund des Binnenmarktgesetzes vermutet wird, dass sie die Voraussetzungen erfüllen, um in einem anderen Kanton Parteien zu vertreten, müssen sie ausser dem Anwaltspatent gewisse Dokumente vorweisen, die belegen, dass sie die persönlichen Voraussetzungen erfüllen (nament14

Vgl. Michael Pfeifer, Der Rechtsanwalt in der heutigen Gesellschaft, ZSR 115/1996, S. 282; Der Schweizer Anwalt 167/1997, S. 20.

6017

lich keine Disziplinarstrafen haben). Diese Voraussetzungen sind in formeller Hinsicht von Kanton zu Kanton verschieden. Sie sind in der Regel in den kantonalen Anwaltsgesetzen festgehalten. Die Berufsausübungsbewilligungen werden künftig auf Grund des Binnenmarktgesetzes kostenlos erteilt (BGE 123 I 313). Anwältinnen und Anwälte, die auf dem ganzen Gebiet der Schweiz tätig sein wollen, müssen in praktisch allen Kantonen ein Gesuch einreichen. Einzig der Kanton Solothurn verlangt für die Zulassung zum Anwaltsberuf keine Bewilligung. Eine Aufhebung dieser Berufsausübungsbewilligungsverfahren, die wegen ihres bürokratischen Charakters häufig kritisiert worden sind, die aber zur Konkretisierung von Artikel 5 UeB BV notwendig waren, ist deshalb wünschenswert.

Die heutzutage von den Kantonen mit dem System der Berufsausübungsbewilligungen ausgeübte Kontrolle wird durch eine Reihe von Massnahmen ersetzt werden müssen, welche es erlauben, die erforderlichen Auskünfte über Anwältinnen und Anwälte schnell und einfach einzuholen. Dafür ist die im Anwaltsgesetz vorgesehene Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden und Vereinheitlichung der Inhalte der kantonalen Anwaltsregister nötig. Oftmals üben Anwältinnen und Anwälte ihren Beruf nicht unmittelbar nach Erwerb des Anwaltspatents aus, sondern arbeiten als Angestellte in der Verwaltung oder in einem Unternehmen oder absolvieren beispielsweise ein Nachdiplomstudium. Eröffnen sie einige Jahre später dann tatsächlich ein Anwaltsbüro, ist nicht gewährleistet, dass sie die persönlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Anwaltsberufs in diesem Zeitpunkt noch erfüllen. Die Kantone können nicht dazu verpflichtet werden, Anwältinnen und Anwälte, die das Anwaltspatent mehrere Jahre zuvor in einem anderen Kanton erworben haben und die bis anhin in keinem Anwaltsregister eingetragen waren, ohne vorgängige Prüfung der persönlichen Voraussetzungen zuzulassen. Mit dem Anwaltsgesetz sollen nur diejenigen Anwältinnen und Anwälte ohne weitere Formalitäten in der ganzen Schweiz Parteien vertreten können, die tatsächlich in einem kantonalen Register eingetragen sind.

Ein Bundesgesetz sollte auch die zwischen den Kantonen bestehenden Unterschiede bei der Aufsicht und den Berufsregeln beseitigen. Auch wenn diese Disparitäten nicht überbewertet werden dürfen, werden sie von den
Anwältinnen und Anwälten gleichwohl als störend empfunden und von der Lehre kritisiert15. Bei den Berufsregeln und den Disziplinarmassnahmen ist eine Vereinheitlichung auch erwünscht, um gewisse kantonale Besonderheiten zu beseitigen, die heute kaum mehr gerechtfertigt sind. Eine Harmonisierung in diesen Bereichen ist von den Kantonen selbst gewünscht worden (vgl. Ziff. 172.2). Obwohl sich die kantonalen Gesetze voneinander unterscheiden, ist es möglich, einen «gemeinsamen Nenner» zu bestimmen, eine Art schweizerisches Anwaltsrecht16. Genau dies ist das Ziel des vorliegenden Gesetzesentwurfs, im Interesse der Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte.

Klare und vereinheitlichte Berufsregeln, eine dank der Zusammenarbeit der kantonalen Aufsichtsbehörden wirksame Kontrolle, welche den Zugang zu den notwendigen Informationen über Anwältinnen und Anwälte erleichtert, und die Möglichkeit für unabhängige Anwältinnen und Anwälte, ihren Eintrag in einem kantonalen Register zusammen mit ihrem Titel zu erwähnen, sind weitere Elemente, die eine Klärung der Beziehungen zwischen Anwältinnen und Anwälten und den «Rechtskonsumentinnen» und «Rechtskonsumenten» bringen und auch die Arbeit 15 16

Vgl. Rothenbühler, S. 221 ff.

Vgl. Wolffers, S. 17 f.

6018

der Aufsichtsbehörden vereinfachen werden. Damit werden die Anwältinnen und Anwälte ihre Einzigartigkeit gegenüber anderen Dienstleistungserbringern im Bereich des Rechts besser zur Geltung bringen können.

Schliesslich erfüllt der Bund mit diesem Gesetz seinen in Artikel 33 Absatz 2 BV festgehaltenen verfassungsmässigen Auftrag. Dieser sieht vor, dass auf dem Weg der Bundesgesetzgebung dafür zu sorgen ist, dass Personen, die einen wissenschaftlichen Beruf ausüben, Fähigkeitsausweise erwerben können, die in der ganzen Schweiz gültig sind.

114

Bisherige Bestrebungen für ein Bundesgesetz für Anwältinnen und Anwälte

Bereits im Jahre 1901 reichte der SAV dem Eidg. Justiz- und Polizeidepartement einen Gesetzesentwurf ein, der die Schaffung eines eidgenössischen Anwaltspatents vorsah. Im Jahre 1942 setzte der SAV eine Kommission ein mit dem Auftrag, einen Vorentwurf für ein eidgenössisches Anwaltsgesetz auszuarbeiten. Dieses Gesetz hätte sich auf einen neuen Artikel 33 Absatz 3 BV abgestützt, der eine Befugnis des Bundes vorgesehen hätte, «einheitliche Bestimmungen über die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes aufzustellen». Es handelte sich diesmal nicht mehr um die Einführung eines eidgenössischen Anwaltspatents, sondern darum, Mindestanforderungen festzulegen, nach denen weiterhin die Kantone die Anwaltspatente ausstellen sollten17. Dieses Vorhaben ist jedoch gescheitert.

Im Hinblick auf einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum belebte sich die Diskussion wieder. Am 16. Juli 1993 reichte der SAV den zuständigen Behörden des Bundes und der Kantone zwei Gesetzesskizzen ein: einen Entwurf «Eurolex», der den in diesem Bereich zu übernehmenden Bestimmungen des Acquis communautaire Rechnung trug und, als Folge der Ablehnung des EWR am 6. Dezember 1992, eine Gesetzesskizze «Swisslex».

Die im Rahmen der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren konsultierten Vorsteher der kantonalen Justizdepartemente sprachen sich am 15. April 1994 einstimmig bei drei Enthaltungen zu Gunsten eines Bundesrahmengesetzes an Stelle eines Konkordats aus. Mit Schreiben vom 17. Juni 1994 haben sie den Vorsteher des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements um Ausarbeitung eines Gesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte ersucht. Hinsichtlich der Anwaltsfreizügigkeit in Europa drückten sie den Wunsch aus, dass der Bund dieses Thema in den bilateralen Verhandlungen mit der Europäischen Union zur Sprache bringe. Die Konferenz der Kantonsregierungen und das Kontaktgremium BundKantone schlossen sich in dieser Sache am 24. Juni 1994 der Meinung der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren an.

Auf parlamentarischer Ebene reichte Nationalrat Luzi Stamm am 17. Juni 1994 eine Motion ein, mit der er die Schaffung eines öffentlichen Bundesregisters verlangte, in welchem alle Personen aufgeführt werden sollten, die ein Anwaltspatent in einem Kanton erworben haben (vgl. Ziff. 18). Diese Motion ist vom Nationalrat am

17

Vgl. Bois, Kommentar zur Bundesverfassung, Art. 33, Rz. 24 ff.

6019

20. Dezember 1995 angenommen18 und vom Ständerat am 3. Juni 1996 in ein Postulat umgewandelt worden19.

Schliesslich hat der Abschluss der sektoriellen Verträge mit der EG das Bedürfnis nach einem eidgenössischen Anwaltsgesetz gestärkt.

12

Komplementarität zum Binnenmarktgesetz

Da heute ein spezielles Bundesgesetz oder eine interkantonale Vereinbarung über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte fehlt, gilt für den Anwaltsberuf grundsätzlich das Binnenmarktgesetz. Dieses vermag jedoch die spezifischen Probleme (z. B. Disziplinaraufsicht, Berufsregeln, Berufsbezeichnung) nicht zu lösen.

Der vorliegende Gesetzesentwurf schliesst folglich eine Lücke in der Bundesgesetzgebung.

In Artikel 3 sieht das Binnenmarktgesetz vor, dass der freie Zugang zum Markt anderer Kantone nur dann nach Massgabe der Vorschriften des Bestimmungsorts eingeschränkt werden kann, wenn diese Beschränkungen gleichermassen auch für ortsansässige Personen gelten, zur Wahrung überwiegender öffentlicher Interessen unerlässlich sind und wenn sie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten. Damit fördert das neue Gesetz die tatsächliche Verwirklichung der Handels- und Gewerbefreiheit nach Artikel 31 BV (Art. 94 nBV). Es schliesst allerdings nicht aus, dass die Kantone für Zweifelsfälle ein einfaches, rasches und kostenloses Verfahren zur Prüfung der Gleichwertigkeit der Ausbildungen vorsehen (Art. 4 BGBM).

Die Eigentümlichkeit der Anwaltstätigkeit und die besondere Rolle der Anwältinnen und Anwälte im Justizverfahren haben zur Folge, dass die Kantone auf Grund ihrer Kompetenz im Bereich der Gerichtsorganisation ein Verfahren vorsehen könnten, das gewährleistet, dass die Anwältinnen und Anwälte aus anderen Kantonen dieselben Voraussetzungen erfüllen wie die «einheimischen» Anwältinnen und Anwälte.

Eine Überprüfung der Ausbildungsanforderungen wäre demnach theoretisch auf Grund von Artikel 4 Absatz 3 BGBM möglich; diese würde gegenüber der heutigen Situation allerdings einen Rückschritt bedeuten. Nach Artikel 3 Absatz 1 BGBM darf der freie Zugang zum Markt für ortsfremde Anbieterinnen und Anbieter jedoch nur dann nach Massgabe der Vorschriften des Bestimmungsorts eingeschränkt werden, wenn diese Beschränkungen gleichermassen auch für ortsansässige Personen gelten, zur Wahrung überwiegender öffentlicher Interessen unerlässlich und verhältnismässig sind. Diese Beschränkungen dürfen darüber hinaus in keinem Fall ein verdecktes Handelshemmnis zu Gunsten einheimischer Wirtschaftsinteressen beinhalten (Art. 3 Abs. 4 BGBM). Gestützt auf das Binnenmarktgesetz hat das Bundesgericht deshalb einerseits
entschieden, dass für Anwältinnen und Anwälte, die in einem Kanton zur Berufsausübung zugelassen sind, die Vermutung gilt, dass sie die Anforderungen für die Berufsausübung in einem anderen Kanton erfüllen. Anderseits hat es erklärt, dass die Bewilligung zur Berufsausübung künftig kostenlos zu erteilen ist20. Das Binnenmarktgesetz hebt die Bewilligungsverfahren als solche allerdings nicht auf. Als Ergänzung zum Binnenmarktgesetz und zur definitiven Aufhebung der Bewilligungsverfahren sowie zur Konkretisierung der Modalitäten der 18 19 20

AB 1995 N 2658 f.

AB 1996 S 292.

BGE 123 I 313 und Urteil 2P.17/1998 des Bundesgerichts vom 21. 8. 98.

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Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte muss deshalb festgelegt werden, welche fachlichen und persönlichen Voraussetzungen höchstens verlangt werden können, in welchem Zeitpunkt sie durch wen geprüft werden und schliesslich wie die Behörden die notwendigen Informationen über Anwältinnen und Anwälte aus anderen Kantonen einholen können.

13

Anwaltstätigkeit und Anwaltsmonopol

Alle Kantone mit Ausnahme des Kantons Solothurn behalten die Vertretung von Parteien vor Gericht ganz oder teilweise den Anwältinnen und Anwälten vor21. Es ist unmöglich, im vorliegenden Gesetzesentwurf eine Regelung zu diesem Monopol aufzustellen, das die kantonalen Besonderheiten in der Gerichtsorganisation widerspiegelt. Die Kompetenz der Kantone in diesem Bereich würde dies nicht zulassen.

Bei der Anwaltstätigkeit können drei Kategorien unterschieden werden22: die monopolisierte Anwaltstätigkeit, die nicht monopolisierte Anwaltstätigkeit und schliesslich die Tätigkeit ausserhalb des eigentlichen Anwaltsberufs. Der monopolisierte Anwaltstätigkeitsbereich lässt sich auf Grund des kantonalen Rechts relativ einfach abgrenzen. Schwieriger ist die Unterscheidung zwischen der nicht monopolisierten Anwaltstätigkeit und der Tätigkeit ausserhalb des Anwaltsberufs. Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung zum Umfang des Berufsgeheimnisses hierzu einige Grundsätze entwickelt, die weiter unten (Ziff. 233.22) dargestellt werden.

Noch vor wenigen Jahrzehnten betraf der grösste Teil der Anwaltstätigkeit die Vertretung von Parteien vor Gericht und somit das Anwaltsmonopol. Heutzutage gewinnt die aussergerichtliche Tätigkeit der Anwältinnen und Anwälte ständig an Bedeutung. Im Bereich der Rechtsberatung können die Anwältinnen und Anwälte vom Monopol, das ihnen im Allgemeinen für ihre gerichtliche Tätigkeit zugute kommt, nicht profitieren, obwohl sie auch hier den Aufsichtsbehörden unterstellt sind und die Berufsregeln in ihrer gesamten Berufstätigkeit, einschliesslich der Rechtsberatung, beachten müssen. Die unabhängigen Anwältinnen und Anwälte stehen somit im Bereich der Rechtsberatung in Konkurrenz mit juristisch gebildeten Personen, die oft selbst ein Anwaltspatent erworben haben, aber in Rechtsberatungsunternehmen, Treuhandgesellschaften, Banken usw. tätig sind und den Berufs- und Standesregeln (namentlich im Bereich der Werbung) und der Kontrolle der Aufsichtsbehörden nicht unterworfen sind. Ob für die Rechtsberatung die Berufsregeln und die disziplinarische Aufsicht zur Anwendung kommen, hängt demnach davon ab, ob die betreffenden Anwältinnen und Anwälte unabhängig tätig sind (zum Begriff der Unabhängigkeit vgl. Ziff. 172.1 und 233.21).

Die Unterstellung unter die Berufsregeln und die disziplinarische
Aufsicht sind die unmittelbaren Folgen des Anwaltsmonopols. Zur Vermeidung von unlauterem Wettbewerb ist es notwendig, erkennbar zu machen, ob eine Person, die den Anwaltstitel verwendet, einer Aufsichtsbehörde untersteht und gehalten ist, die Berufsregeln zu beachten. Das Bundesgericht hat entschieden, dass der alte Artikel 5 des Genfer Anwaltsgesetzes, der das Führen des Anwaltstitels Anwältinnen und Anwälten verbot, die nicht im Verzeichnis der praktizierenden Anwältinnen und Anwälte 21 22

Vgl. Wolffers, S. 79 ff.; Rothenbühler, S. 66 ff.

Albert-Louis Dupont-Willemin, Le secret professionel et l'indépendance de l'avocat, in: Der Schweizer Anwalt, 101/1986, S. 9.

6021

aufgeführt waren, gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip verstiess23. Eine Lösung könnte darin bestehen, das Führen des Anwaltstitels den unabhängigen Anwältinnen und Anwälten, die den kantonalen Aufsichtsbehörden unterstellt sind, vorzubehalten. Die in einem Unternehmen oder in der Verwaltung angestellten Anwältinnen und Anwälte könnten nur darauf hinweisen, dass sie ein Anwaltspatent erworben haben. Nun ist es aber üblich, dass Anwältinnen und Anwälte, die in der Verwaltung oder als Angestellte im privaten Sektor arbeiten, von ihrem Titel Gebrauch machen.

Das Gleiche gilt auch für Anwältinnen und Anwälte, die altershalber verlangen, dass ihr Name im Verzeichnis der praktizierenden Anwältinnen und Anwälte gestrichen wird. Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf wird folgende Lösung vorgeschlagen: Die unabhängigen Anwältinnen und Anwälte erwähnen ihren Eintrag in einem Anwaltsregister. Mit dieser Erwähnung wird ersichtlich, dass sie den Berufsregeln und den Aufsichtsbehörden unterstehen. Die in einem Register eingetragenen Anwältinnen und Anwälte haben folglich mit der Erwähnung ihres Registereintrags zu zeigen, dass sie sich von anderen Anwältinnen und Anwälten unterscheiden.

Nach den Artikeln 3 und 5 des Gesetzesentwurfs müssen alle Anwältinnen und Anwälte, die im Rahmen des kantonalen Monopols zur Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden zugelassen sind und die Voraussetzungen nach den Artikeln 6 und 7 erfüllen, in einem kantonalen Register eingetragen sein. Zudem wird die Angabe des Registereintrags, der den unabhängigen Anwältinnen und Anwälten vorbehalten ist, durch das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 19. Dezember 1986 (UWG, SR 241, Art. 3 Bst. c und 23) geschützt. Der vorliegende Gesetzesentwurf schafft auf diese Weise ein einfaches und wirksames System, mit dem Anwältinnen und Anwälte, die Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten (monopolisierte Tätigkeit), von den übrigen Anwältinnen und Anwälten unterschieden werden können. Anwältinnen und Anwälte, die nicht in einem kantonalen Register eingetragen sind, können e contrario auf Grund dieses Gesetzes in anderen Kantonen von der monopolisierten Anwaltstätigkeit ausgeschlossen werden.

14

Die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte in der Europäischen Union

Der Abschluss des Abkommens zwischen der Schweiz und der EG über den freien Personenverkehr macht es notwendig, im Entwurf des Anwaltsgesetzes die Modalitäten des Zugangs zum Anwaltsberuf für Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, zu regeln.

Die Anerkennung von Berufsdiplomen, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU erworben worden sind, ist eine wesentliche Stützungsmassnahme, die für die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr in der EU unerlässlich ist.

Für die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU gelten drei Richtlinien, die insbesondere in Anwendung der Artikel 49, 57 und 66 des EG-Vertrags erlassen worden sind: ­

23 24

Richtlinie 77/249/EWG vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte24;

BGE 112 Ia 318.

ABl. Nr. L 78 vom 26. 3. 1977, S. 17.

6022

­

Richtlinie 89/48/EWG vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschliessen25;

­

Richtlinie 98/5/EG vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde26.

Die Richtlinie 77/249/EWG, welche die vorübergehende Ausübung der Anwaltstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat regelt, legt keine Voraussetzungen für die Anerkennung von Diplomen fest. Sie verlangt bloss, dass jede im Herkunftsstaat unter einer der Bezeichnungen nach Artikel 1 Absatz 2 zur Ausübung des Anwaltsberufs befähigte Person zur Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat ermächtigt ist (Rechtsberatung und gerichtliche Tätigkeit). Die Anwältinnen und Anwälte können nur dazu verpflichtet werden, ihre Eigenschaft als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt nachzuweisen. Für die Ausübung der Tätigkeiten, die mit der Vertretung und Verteidigung von Parteien im Bereich der Rechtspflege verbunden sind, kann der Aufnahmestaat ausserdem verlangen, dass die auswärtigen Anwältinnen und Anwälte zusammen mit einer Anwältin oder einem Anwalt handeln, die oder der beim angerufenen Gericht zugelassen ist. Die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte verwenden die Berufsbezeichnung des Staats, in dem sie niedergelassen sind. Neben den im Herkunftsstaat obliegenden Verpflichtungen unterstehen sie zudem für die vorübergehend ausgeübten Tätigkeiten den Berufsregeln des Aufnahmestaats.

Die Anwendung dieser Richtlinie löste eine umfangreiche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus. Unter den neueren Entscheiden ist vor allem das wichtige Urteil vom 30. November 1995 in Sachen Reinhard Gebhard gegen Consiglio dell'Ordine degli Avvocati e Procuratori di Milano hervorzuheben27. Zur Abgrenzung der Dienstleistungserbringung von der Niederlassung präzisierte der EuGH, dass der vorübergehende Charakter der Dienstleistungen unter Berücksichtigung ihrer Dauer, ihrer Häufigkeit, ihrer regelmässigen Wiederkehr oder ihrer Dauerhaftigkeit zu beurteilen sei. Der vorübergehende Charakter der Leistung schliesst die Möglichkeit für Dienstleistungserbringer nicht aus, sich im Aufnahmestaat mit einer bestimmten Infrastruktur (Büro, Anwaltspraxis oder Anwaltskanzlei) auszustatten, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der Leistungen erforderlich ist. Übt demgegenüber ein Angehöriger eines Mitgliedstaats in stabiler und kontinuierlicher Weise eine Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat aus, indem er sich von einem Berufsdomizil aus u. a. an die Angehörigen dieses Staats
wendet, fällt er unter das Niederlassungsrecht und nicht unter das Recht über die Dienstleistungen.

Die Richtlinie 89/48/EWG enthält ein allgemeines System zur Anerkennung der Hochschuldiplome. Sie stellt den allgemeinen Grundsatz auf, wonach jede Inhaberin und jeder Inhaber eines nach drei Jahren Studium erteilten Diploms den Beruf in den anderen Mitgliedstaaten der EU ausüben darf, soweit diese Ausbildung im Herkunftsstaat für die Zulassung zum betreffenden Beruf ausreicht. Unterscheidet sich die Ausbildung oder der Beruf im Staat, der das Diplom ausgestellt hat, wesentlich von den Anforderungen des Aufnahmestaats, kann dieser von der Antragstellerin 25 26 27

ABl. Nr. L 19 vom 24. 1. 1989, S. 16.

ABl. Nr. L 77 vom 14. 3. 1998, S. 36.

Rs. C-55/94, Slg. 1996, S. I-4165.

6023

oder dem Antragsteller zusätzliche Ausbildungsmassnahmen verlangen, die je nach Wunsch der Antragstellerin oder des Antragstellers in der Form einer Eignungsprüfung oder eines Anpassungslehrgangs absolviert werden können. Bei den Rechtsberufen ist der Aufnahmestaat jedoch befugt, entweder einen Anpassungslehrgang oder eine Eignungsprüfung vorzuschreiben. In Bezug auf die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte haben sich alle Mitgliedstaaten der EU mit Ausnahme von Dänemark dazu entschlossen, von den Antragstellerinnen und Antragsteller, die sich niederlassen wollen, eine Eignungsprüfung im Landesrecht des Aufnahmestaats zu verlangen. Haben die auswärtigen Anwältinnen und Anwälte die Eignungsprüfung bestanden und nachgewiesen, dass sie die anderen allfällig geforderten persönlichen Voraussetzungen erfüllen, sind sie ihren Kolleginnen und Kollegen im Aufnahmestaat vollständig gleichgestellt, namentlich hinsichtlich der Zulassung zur Parteienvertretung vor Gericht, der Unterstellung unter die Berufsregeln und der Berufsbezeichnung.

Die Anwendung der Richtlinie 89/48/EWG auf Anwältinnen und Anwälte hat in der EU gewisse Probleme verursacht. Die Einführung der Eignungsprüfung liess grosse Unterschiede zwischen den Staaten sichtbar werden. Eine Eignungsprüfung kann sich zudem auch als protektionistische Massnahme erweisen. Für Anwältinnen und Anwälte mit Berufserfahrung ist die Prüfungspflicht häufig abschreckend, zumal nicht alle primär Parteien vor Gericht vertreten wollen oder Rechtsberatung im Recht des Aufnahmestaats erteilen wollen. Weil das allgemeine System zur Anerkennung der Hochschuldiplome die Situation der Anwältinnen und Anwälte nicht in befriedigender Weise regelt, sahen sich der Rat der Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft (Conseil des barreaux de la Communauté Européene, CCBE) und schliesslich die Europäische Kommission veranlasst, einen Vorschlag für eine spezielle Richtlinie über die Niederlassung der Anwältinnen und Anwälte auszuarbeiten.

Die Richtlinie 98/5/EG erleichtert die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde.

Sie soll die Niederlassungsmöglichkeiten erweitern. Die weltweite Ausdehnung des wirtschaftlichen Austausches und der Dienstleistungen hat einen neuen Kontext geschaffen, in dem
Handel getrieben und Verträge abgeschlossen werden und Personen sich gegebenenfalls verteidigen müssen ­ eine Entwickung, die nicht unterschätzt werden darf. Die Veränderungen des wirtschaftlichen und finanziellen Umfeldes hat bereits eine Vermehrung der grossen Anwaltskanzleien nach angelsächsischem Vorbild zur Folge, was in zahlreichen Ländern der EU zu einer grundlegenden Umwälzung der traditionellen Voraussetzungen für die Berufsausübung geführt hat. Die Richtlinie trägt diesen Veränderungen Rechnung und schafft einen Rahmen für die neuen Formen der Berufsausübung.

Die Richtlinie ermöglicht den Anwältinnen und Anwälten eines Mitgliedstaats, unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung in jedem anderen Mitgliedstaat die gleichen beruflichen Tätigkeiten auszuüben wie die Anwältinnen und Anwälte, die mit der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats praktizieren. Voraussetzung für die Berufsausübung unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung ist, dass die zuwandernden Anwältinnen und Anwälte sich bei der zuständigen Stelle des Aufnahmestaats registrieren lassen. Neben den Berufs- und Standesregeln des Herkunftsstaats haben die zuwandernden Anwältinnen und Anwälte für die dort ausgeübten Tätigkeiten auch die Berufs- und Standesregeln des Aufnahmestaats zu beachten. Nach drei Jahren können die Anwältinnen und Anwälte ohne Eignungsprüfung nach der Richtli-

6024

nie 89/48/EWG ihre Eingliederung in den Berufsstand im Aufnahmestaat beantragen, wenn sie nachweisen, dass sie während mindestens drei Jahren effektiv und regelmässig im Recht des Aufnahmestaats tätig gewesen sind. Schliesslich regelt die Richtlinie die Modalitäten, nach denen der Anwaltsberuf gemeinsam in einer Gruppe ausgeübt werden kann und gewährleistet den Grundsatz der Unabhängigkeit der im Rahmen einer Gruppe tätigen Anwältinnen und Anwälte.

15

Rechtsvergleich

151

Deutschland

151.1

Freizügigkeit der deutschen Anwältinnen und Anwälte

Der Rechtsanwaltsberuf wird in Deutschland von der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom 1. August 1959 und dem Deutschen Richtergesetz (DRiG) vom 19. April 1972 geregelt. Diese beiden Erlasse enthalten auch Bestimmungen über die Freizügigkeit. § 5 BRAO sieht vor, dass die Anwältinnen und Anwälte, die in einem deutschen Land die Befähigung zum Richteramt nach dem DRiG erlangt haben, auch in den anderen Ländern die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beantragen können. Das DRiG legt die fachlichen Voraussetzungen zur Erlangung der Befähigung zum Richteramt fest. Es bestimmt insbesondere die Dauer und den Inhalt des Studiums, den Ablauf des Vorbereitungsdienstes (obligatorisches Praktikum) und den Verlauf der Prüfungen. Mit dem Nachweis der fachlichen Voraussetzungen kann Antrag auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft gestellt werden. Die Zulassung darf nur verweigert werden, wenn ein Versagungsgrund nach § 7 BRAO besteht.

Die Versagungsgründe sind persönliche Eigenschaften, die für eine Zulassung nicht vorliegen dürfen. Sie entsprechen grundsätzlich den persönlichen Voraussetzungen im vorliegenden Entwurf für ein Anwaltsgesetz.

Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte müssen bei einem bestimmten Gericht zugelassen sein. Sie dürfen nur vor demjenigen Gericht auftreten, bei dem sie örtlich zugelassen sind. Dieses so genannte Lokalisationsprinzip gilt noch bis zum Jahre 2000. Das Verfahren für die Zulassung bei einem Gericht wird in den §§ 18­36 BRAO geregelt. Jedes Gericht führt eine Liste mit den bei ihm zugelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten (§ 31 BRAO).

151.2

Erbringung von Dienstleistungen durch Anwältinnen und Anwälte aus den EU- und EWR-Staaten

Das Rechtsanwaltsdienstleistungsgesetz (RADG)28 regelt die Stellung der Anwältinnen und Anwälte, die Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staats sind. Diese können grundsätzlich sämtliche Anwaltstätigkeiten auf allen Rechtsgebieten, einschliesslich des deutschen Rechts, ausüben.

28

Gesetz vom 16. August 1980 zur Durchführung der Richtlinie 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte.

6025

151.3

Niederlassung der Anwältinnen und Anwälte aus den EU- und EWR-Staaten

Anwältinnen und Anwälte, die Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staats sind, können unter einer der anwaltlichen Berufsbezeichnungen der EU-/EWR-Staaten (§ 1 RADG) Rechtsberatung und Parteivertretung auf dem Gebiet des ausländischen und des internationalen Rechts vornehmen, wenn sie in die für den Ort ihrer Niederlassung zuständige Rechtsanwaltskammer aufgenommen worden sind und binnen dreier Monate nach ihrer Aufnahme eine Anwaltskanzlei eingerichtet haben (§§ 206 Absatz 1 und 207 BRAO).

Das Gesetz vom 6. Juli 1990 und die Verordnung vom 18. Dezember 1990 über die Eignungsprüfung für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft regeln die Anforderungen für die Eignungsprüfung für Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staats, die bereits über ein Diplom im Sinne der Richtlinie 89/48/EWG verfügen. Bestehen diese die Eignungsprüfung, sind sie den deutschen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten gleichgestellt und können auch in deutschem Recht tätig sein. Sie müssen sich aber nicht notwendigerweise in Deutschland niederlassen. Sie können sich darauf beschränken, in ihrem Herkunftsstaat den Titel «Rechtsanwalt» zu tragen.

151.4

Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO)

Üben Anwältinnen und Anwälte aus einem Mitgliedstaat der WTO einen dem Rechtsanwalt nach BRAO entsprechenden Beruf aus, haben sie in Deutschland die Befugnis zur Rechtsberatung im Recht des Herkunftsstaats und des Völkerrechts (unter Ausschluss des EU-Rechts). Sie müssen jedoch in die örtliche Rechtsanwaltskammer aufgenommen werden und binnen dreier Monate nach ihrer Aufnahme eine Anwaltskanzlei einrichten (§§ 206 Absatz 2 und 207 BRAO).

151.5

Andere Anwältinnen und Anwälte

Anwältinnen und Anwälten, die Angehörige anderer Staaten sind, können nur im Recht ihres Herkunftsstaats tätig sein, vorausgesetzt, sie üben einen dem Rechtsanwalt nach BRAO entsprechenden Beruf aus und die Gegenseitigkeit mit dem Herkunftsstaat ist gewährleistet. Eine Verordnung wird die Staaten und Berufe festlegen, die das Gegenseitigkeitserfordernis erfüllen. Die Anwältinnen und Anwälte müssen in die örtliche Rechtsanwaltskammer aufgenommen werden und binnen dreier Monate nach Aufnahme eine Anwaltskanzlei einrichten (§§ 206 III und 207 BRAO).

6026

152

Frankreich

152.1

Freizügigkeit der französischen Anwältinnen und Anwälte

Der wichtigste Erlass unter den zahlreichen Gesetzen, Verordnungen und Dekreten über den Anwaltsberuf ist das Gesetz Nr. 71-1130 vom 31. Dezember 197129, welches durch das Gesetz Nr. 90-1259 vom 31. Dezember 199030 geändert worden ist und eine Reform gewisser Gerichts- und Rechtsberufe mit sich gebracht hat.

Artikel 3bis des Gesetzes Nr. 71-1130 erlaubt Anwältinnen und Anwälten, sich für die Ausübung ihres Berufs frei niederzulassen. Anwältinnen und Anwälte, welche die gesetzlichen Vorschriften erfüllen, können grundsätzlich auf dem gesamten Gebiet Frankreichs tätig sein. Das französische Gesetz unterscheidet zwischen persönlichen und fachlichen Voraussetzungen, auch wenn es dies nicht ausdrücklich festhält. Die Artikel 8-1 und 8-2 des Gesetzes Nr. 71-1130 und die Artikel 165­169 des Dekrets Nr. 91-1197 vom 27. November 1991 über die Organisation des Anwaltsberufs31 legen die zusätzlichen Voraussetzungen für die Berufsausübung fest. Die Anwältinnen und Anwälte sind verpflichtet, ihr Geschäftsdomizil im Bereich des Obergerichts zu errichten, bei dem sie zugelassen sind. Sie können ausserhalb des Bereichs ihrer Anwaltskammer ein zweites Büro einrichten. Treten sie vor einem Gericht ausserhalb des Bereichs ihrer Anwaltskammer auf, sind sie verpflichtet, sich dem Präsidenten oder der Präsidentin, der Magistratsperson von der Staatsanwaltschaft und der Gegenanwältin oder dem Gegenanwalt vorzustellen.

152.2

Dienstleistungserbringung durch Anwältinnen und Anwälte aus den EU- und EWR-Staaten

Die Artikel 200­204 des Dekrets Nr. 91-1197 gelten für Anwältinnen und Anwälte aus einem Mitgliedstaat der EU oder des EWR, die dauernd in einem dieser Staaten ausserhalb Frankreichs niedergelassen sind und die ihren Beruf gelegentlich in Frankreich ausüben. Sie können unter den gleichen Bedingungen wie die bei einer französischen Anwaltskammer eingetragenen Anwältinnen und Anwälte Parteien vor Gericht oder öffentlichen Behörden vertreten oder verteidigen. Ist die Vertretung vor einem Obergericht in Zivilsachen obligatorisch, müssen die Anwältinnen und Anwälte ein Domizil bei einer Anwältin oder einem Anwalt wählen, die oder der beim zuständigen Gericht zugelassen ist und der oder dem die Verfahrensakten rechtsgültig eröffnet werden können. Vor dem Appellationsgericht müssen sie zusammen mit einer Anwältin oder einem Anwalt dieses Appellationsgerichts oder einer zur Vertretung von Parteien vor diesem Appellationsgericht befähigten Person handeln.

Die Anwältinnen und Anwälte aus den EU- und EWR-Staaten haben die französischen Berufsregeln zu beachten. Für die Ausübung von Tätigkeiten ausserhalb des oben erwähnten Bereichs gelten für sie die Ausübungsbedingungen und die Berufsregeln desjenigen Staats, in dem sie niedergelassen sind.

29 30 31

Journal officiel vom 5. Januar 1972.

Journal officiel vom 5. Januar 1991.

Journal officiel vom 28. November 1991.

6027

152.3

Eintragung der Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU und des EWR bei der Anwaltskammer

Artikel 11 des Gesetzes Nr. 71-1130 über die Reform gewisser Gerichts- und Rechtsberufe umschreibt die Voraussetzungen für die Zulassung zum Anwaltsberuf.

Artikel 99 des Dekrets Nr. 91-1197 über die Organisation des Anwaltsberufs präzisiert die besonderen Voraussetzungen für die Eintragung der Anwältinnen und Anwälte aus EU-Staaten bei einer Anwaltskammer. Die Kandidatinnen und Kandidaten müssen eine Fähigkeitsprüfung bestehen, deren Umfang entsprechend ihrer Ausbildung und praktischen Erfahrung variiert. Der nationale Rat der Anwaltskammern bestimmt die Gegenstände, zu denen die Kandidatinnen und Kandidaten befragt werden sollen, von Fall zu Fall. Diese Vorschriften gelten auf Grund des EWRAbkommens auch für Anwältinnen und Anwälte aus den EWR-Staaten.

152.4

Anwältinnen und Anwälte aus Staaten, die nicht Mitglied der EU oder des EWR sind

Personen, die einen Anwaltstitel in einem Staat erworben haben, welcher nicht zur EU oder zum EWR gehört, können ­ neben den Möglichkeiten, die ihnen im Rahmen des GATS offen stehen ­ unter bestimmten Voraussetzungen eine Prüfung vor einer Jury ablegen, um das Recht auf Eintragung bei einer französischen Anwaltskammer zu erwerben. Artikel 11 des Gesetzes Nr. 71-1130 verlangt als Voraussetzung die Gegenseitigkeit. Artikel 93 desselben Gesetzes fordert den Erwerb eines Fähigkeitsausweises oder das Bestehen einer Prüfung über die Fachkenntnisse. Eine Verordnung vom 7. Januar 199332 regelt das Programm und die Modalitäten der Prüfung.

153

Italien

153.1

Allgemeines

Bis zum Inkrafttreten des Legge vom 24. Februar 1997, Nr. 27 (Soppressione dell'albo dei procuratori legali e norme in materia di esercizio della professione forense) wurde in Italien zwischen «procuratore legale» und «avvocato» unterschieden. Diese Berufe wurden im regio decreto-legge vom 27. November 1933, Nr. 1578 (legge professionale forense) und im regio decreto vom 22. Januar 1934, Nr. 37 geregelt.

Ein procuratore legale musste gewisse Anforderungen in Bezug auf seine theoretischen und praktischen Kenntnisse erfüllen (Lizenziat, Praktikum, Staatsexamen).

Zudem hatte er sich in einem Berufsregister (albo professionale) eintragen zu lassen.

Der procuratore legale war für die Vertretung von Parteien vor Gericht und für die aussergerichtliche Rechtsberatung zuständig.

Wer den Beruf des avvocato ausüben wollte, musste die Ausbildung eines procuratore legale absolvieren. Nach zweijähriger Berufsausübung konnte der procuratore 32

Journal officiel vom 29. Januar 1993.

6028

legale das Staatsexamen für avvocati ablegen. Nach sechsjähriger Tätigkeit wurde er auch ohne Staatsexamen direkt ins Register der avvocati eingetragen. Der avvocato übernahm in einem Prozess nicht die Parteivertretung, sondern besorgte die «difesa tecnica», die eigentliche Planung des Prozesses. In der Praxis wurde diese Unterscheidung dadurch abgeschwächt, dass jeder avvocato auch im Register der procuratori legali eingetragen sein musste und deshalb auch Parteivertretungen übernehmen konnte.

Mit der Abschaffung der Register der procuratori legali hat das Gesetz vom 24. Februar 1997 nun die Unterscheidung zwischen procuratori legali und avvocati beseitigt. Künftig gibt es nur noch avvocati. Artikel 2 des Gesetzes bestimmt, dass in den italienischen Gesetzgebungen der Begriff des procuratore legale durch den Begriff des avvocato ersetzt wird. Die procuratori legali, die bisher noch nicht avvocati waren, werden von Amtes wegen in das Register der avvocati eingetragen und erhalten den Titel «avvocato».

Vor höheren Gerichtsinstanzen (Corte di cassazione, Consiglio di Stato, Corte dei conti usw.) sind nur avvocati zugelassen, die in einem Spezialregister (albo speciale delle giurisdizioni superiori) eingetragen sind. Dieser Eintrag ist ohne Prüfung nach zwölfjähriger Berufsausübung oder mit Prüfung nach mindestens zweijähriger Berufsausübung möglich.

153.2

Freizügigkeit der italienischen Anwältinnen und Anwälte

Der avvocato muss sein Anwaltsbüro in dem Gerichtsbezirk führen, in dessen Register er eingetragen ist. Er kann seinen Beruf in ganz Italien ausüben.

153.3

Dienstleistungserbringung durch Anwältinnen und Anwälte aus den EU- und EWR-Staaten

Das Gesetz Nr. 31 vom 9. Februar 1982 regelt die Stellung der Anwältinnen und Anwälte aus den EU-Staaten. Haben diese ihr Diplom in einem EU-Staat erworben, dürfen sie ohne weitere Bewilligung in Italien arbeiten, vorausgesetzt, sie arbeiten dort nur vorübergehend. Artikel 2 des Gesetzes Nr. 31 verbietet Anwältinnen und Anwälten aus anderen EU-Staaten ­ und auf Grund des EWR-Abkommens auch denjenigen aus den EWR-Staaten ­ ausdrücklich, in Italien ein Anwaltsbüro oder auch nur eine zweite Kanzlei einzurichten. Diese Bestimmung muss jedoch in Zusammenhang mit dem EuGH-Urteil vom 30. November 1995 in Sachen Reinhard Gebhard gegen Consiglio dell'Ordine degli Avvocati e Procuratori di Milano (vgl.

Ziff. 142) relativiert werden.

153.4

Niederlassung der Anwältinnen und Anwälte aus den EU- und EWR-Staaten

Das Gesetz Nr. 115 vom 27. Januar 1992 regelt die Voraussetzungen für Anwältinnen und Anwälte aus EU-Staaten, die ins Register der avvocati eingetragen werden wollen. Sie haben ein Diplom vorzuweisen, das gewissen Anforderungen zu genü-

6029

gen hat. Zudem haben sie eine Fähigkeitsprüfung zu bestehen. Mit der Registereintragung sind sie den avvocati gleichgestellt. Auch wenn das Gesetz vom 27. Januar 1992 Anwältinnen und Anwälte aus den EWR-Staaten nicht ausdrücklich erwähnt, können sich diese auf Grund des EWR-Abkommens ebenfalls auf dieses Gesetz berufen.

153.5

Anwältinnen und Anwälte aus anderen Staaten

Unter Vorbehalt des GATS gibt es in Italien keine Regelung über die Anwaltstätigkeit von Angehörigen aus Staaten, die nicht zur EU oder zum EWR gehören. Auf Grund des bestehenden Rechts sind sie grundsätzlich von der Vertretung von Parteien vor Gericht ausgeschlossen. Sie dürfen aber Rechtsberatung vornehmen, soweit diese nicht den italienischen avvocati vorbehalten ist. Anwältinnen und Anwälte aus Staaten, die nicht zur EU oder zum EWR gehören, dürfen in Italien keine Anwaltskanzlei (weder Hauptsitz noch Zweitsitz) einrichten.

16

Vorarbeiten für das Anwaltsgesetz

Am 7. November 1994 verschickte das Bundesamt für Justiz einen Fragebogen an die Justizdepartemente der Kantone, an die kantonalen Gerichte und an die juristischen Fakultäten der Universitäten. Mit diesem Fragebogen wurde erstens bezweckt, einen Überblick über die kantonalen Regelungen für die Erlangung des Anwaltspatents und die Berufsausübung zu erhalten; zweitens sollte in Erfahrung gebracht werden, wie sich die Adressaten des Fragebogens zu den Vorschlägen des SAV für ein Anwaltsgesetz im Einzelnen stellen.

Das Bundesamt für Justiz hat daraufhin zwei Varianten für ein Bundesgesetz geprüft. Die erste Variante sah die Schaffung eines zentralen Anwaltsregisters auf Bundesebene vor, während die zweite sich darauf beschränkte, die kantonalen Register auszubauen und zu harmonisieren. Es wurde schliesslich aus verschiedenen Gründen an der zweiten Variante festgehalten. Ein Bundesregister würde sich allenfalls rechtfertigen, wenn der Anwaltsberuf umfassend auf Bundesebene geregelt würde. Solange die Kantone für die Erteilung der Anwaltspatente zuständig sind und die Disziplinaraufsicht ausüben, müssen die kantonalen Register unabhängig von einem zentralen Register weitergeführt werden. Ein Bundesregister wäre demnach nur ein Doppel der kantonalen Register. Zudem kann die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte auch ohne die Schaffung eines Bundesregisters garantiert werden. Der Informationsaustausch unter den Kantonen kann ebenso wirksam durch die Harmonisierung und den Ausbau der kantonalen Register gewährleistet werden. Schliesslich hat der Rückgriff auf bestehende Register weniger Kosten und administrativen Aufwand zur Folge als die Schaffung eines zusätzlichen Instruments. Die doppelte Führung von Registern auf verschiedenen Ebenen wäre darüber hinaus einmalig in Europa. Das Modell eines Ausbaus der kantonalen Register führt zu einer weniger weit gehenden Intervention des Bundes.

Der SAV hat mit einer Ad-hoc-Kommission an der Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs mitgewirkt. Diese hat die Redaktionsarbeiten am Vorentwurf intensiv begleitet. Es war unerlässlich, die mit dem Gesetz direkt Angesprochenen frühzeitig in die Vorarbeiten einzubeziehen. Schliesslich sind auch Vertreter der Konferenz der 6030

kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren vor der Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens angehört worden.

17

Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

171

Zusammenfassung

Am 16. April 1997 hat der Bundesrat den Entwurf für ein Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte in die Vernehmlassung geschickt. Das Vernehmlassungsverfahren dauerte bis zum 31. August 1997. Hundert Vernehmlassungsadressaten (eidgenössische Gerichte, Bundesbehörden, Kantonsregierungen und Kantonsgerichte, politische Parteien und verschiedene Organisationen) waren eingeladen, zum Entwurf Stellung zu nehmen. In Anbetracht des Gegenstands des Gesetzesentwurfs wurden die Kantonsgerichte direkt begrüsst. Sie erteilen in der Regel die Anwaltspatente und sind für die Disziplinaraufsicht über die Anwältinnen und Anwälte zuständig. Aus diesem Grunde waren sie besonders betroffen.

Dreiundsiebzig Stellungnahmen sind beim EJPD eingegangen. Davon stammen siebenundsechzig von offiziell konsultierten Kreisen, sechs Antworten erfolgten von nicht offiziell begrüssten Vernehmlassern. Von den kantonalen Behörden haben nur drei Regierungen und drei Gerichte nicht geantwortet. Vier politische Parteien (FDP, CVP, SP, LPS) haben geantwortet, während eine Partei (SVP) ausdrücklich auf eine Stellungnahme verzichtet hat.

Insgesamt ist der Gesetzesentwurf sehr positif aufgenommen worden. Alle konsultierten Kreise haben den Vorschlag begrüsst, zur Verwirklichung der Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte in der Schweiz ein Bundesgesetz zu erlassen, mit Ausnahme einer einzigen Partei (LPS), die ein Konkordat vorgezogen hätte, ohne jedoch ein Eintreten auf den Gesetzesentwurf abzulehnen.

Gewisse Punkte des Gesetzesentwurfs wurden von den konsultierten Kreisen allerdings kritisiert, zum Teil auch verworfen. Dies betrifft zur Hauptsache das Verhältnis der eidgenössischen Berufsregeln zu den kantonalen Berufsregeln (der in die Vernehmlassung gegebene Entwurf sah eine gewisse Anzahl eidgenössischer Berufsregeln vor, überliess aber den Kantonen die Möglichkeit, zusätzliche Berufsregeln zu erlassen), die Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte (nur als Berufsregel vorgesehen) und schliesslich die Frage der Honorare (der Entwurf sah vor, dass die Kantone Empfehlungen abgeben). Auf diese drei Punkte wird weiter unten eingegangen (vgl. Ziff. 172).

Die Verfassungsmässigkeit des Teils des Gesetzesentwurfs über die Berufsregeln, die Disziplinaraufsicht und die Honorare ist von der LPS und der CVP bezweifelt
worden. Ihrer Auffassung nach bietet Artikel 31bis Absatz 2 BV hierfür keine genügende Verfassungsgrundlage. Dieser Frage wird unter Ziffer 6 nachgegangen.

Bundesgericht Das Bundesgericht begrüsste eine Regelung der Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte in einem Bundesgesetz sowie die eidgenössische Rahmengesetzgebung betreffend Berufsregeln, Disziplinaraufsicht und Honorare grundsätzlich. Es wies indessen darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen kantonalen und eidgenössischen Berufsregeln sowie die fehlenden Bestimmungen über den Rechtsschutz verschiedene heikle Fragen aufwerfen und zu Auslegungsproblemen führen könnten.

6031

Kantone Mit Ausnahme des Kantonsgerichts des Kantons Zürich begrüssen sämtliche Kantonsregierungen und Kantonsgerichte eine Normierung der Berufsregeln und der Disziplinaraufsicht. Zwei Kantonsregierungen (BE, BS) und zwei Kantonsgerichte (FR, GL) vertraten jedoch die Meinung, dass das Verhältnis zwischen den eidgenössischen und den kantonalen Berufsregeln geklärt werden sollte, da ihre gleichzeitige Anwendbarkeit problematisch sei. In Bezug auf die kantonalen Empfehlungen für die Honorare wünschten vier Kantonsregierungen (LU, TG, UR, OW) und vier Kantonsgerichte (BS, OW, SG, TG), dass die Lösung mit staatlichen Tarifen beibehalten wird, während vier andere Kantonsgerichte (AG, GL, BL, SO) sich gegen den Erlass staatlicher Tarife und auch gegen Empfehlungen für die Honorare aussprachen.

Politische Parteien Von den politischen Parteien ist der Gesetzesentwurf bezüglich der Berufsregeln, der Disziplinaraufsicht und der Honorare deutlich weniger gut aufgenommen worden. Zwei Parteien (LPS und CVP) zweifelten an der Verfassungsmässigkeit dieses Teils des Entwurfs. Für die CVP schafft die halbherzige Zentralisierung nur Unklarheiten und Verwirrungen. Zwei Parteien (SP und FDP) befürworteten das Gesetz vollumfänglich; für die SP gilt dies indessen nur, wenn dieses Gesetz den ersten Schritt in Richtung einer abschliessenden gesetzlichen Regelung des Anwaltsberufs bildet.

Organisationen Bei den Organisationen schliesslich begrüssten der Schweizerische Gewerbeverband (SGV), der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SBG), die Vereinigung Rechtsstaat, der Schweizerische Anwaltsverband (SAV), die Vereinigung Schweizerischer Unternehmensjuristen (VSUJ), die Treuhand-Kammer, der Schweizerische Verband freier Berufe (SVFB), die Wettbewerbskommission, der Schweizerische Versicherungsverband (SVV), die Schweizerische Bankiervereinigung (SBV) und der Vorort die vorgenommenen Harmonisierungsbestrebungen grundsätzlich. Ihre wichtigsten Bemerkungen betrafen ebenfalls die drei bereits erwähnten Punkte: Unabhängigkeit, Berufsregeln und Honorare.

Im Herbst 1998 wurden die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, die Wettbewerbskommission, der Schweizerische Anwaltsverband und die Vereinigung Schweizerischer Unternehmensjuristen eingeladen, um über mögliche Lösungen für drei im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens
relativ umstrittene Punkte zu diskutieren: die Unabhängigkeit, das gleichzeitige Bestehen eidgenössischer und kantonaler Berufsregeln sowie das Bestehen kantonaler Tarife im Bereich der Honorare.

6032

172

Wesentliche Punkte

172.1

Unabhängigkeit

172.11

Problemstellung

Der umstrittenste Punkt des Vernehmlassungsentwurfs war der Umfang der Unabhängigkeit, der von den Anwältinnen und Anwälten nach Bundesrecht verlangt werden soll, damit sie sich im Register eintragen und folglich ohne weitere Formalitäten in der ganzen Schweiz Parteien vor Gericht vertreten können. Da die Anforderungen an die Unabhängigkeit von Kanton zu Kanton verschieden sind, befürchten verschiedene konsultierte Kreise, dass angestellte Anwältinnen und Anwälte, die in einigen «liberalen» Kantonen Parteien vor Gericht vertreten dürfen, dies dann mittels des Registereintrags in der ganzen Schweiz tun können. Diese Frage stellt sich allerdings bereits heute auf Grund des Binnenmarktgesetzes. Danach gilt die Vermutung, dass Anwältinnen und Anwälte, die in einem Kanton Parteien vor Gericht vertreten dürfen, die Voraussetzungen erfüllen, um den Beruf auch in einem anderen Kanton auszuüben (BGE 123 I 313). Wenn Anwältinnen und Anwälte, die in einem Kanton mit liberaler Praxis (beispielsweise ZH) zur Vertretung von Parteien vor Gericht zugelassen sind, in einem anderen Kanton mit einem engeren Unabhängigkeitsbegriff (beispielsweise GE) keine entsprechende Bewilligung erhalten, können sie bereits heute Beschwerde einreichen wegen Verletzung des Binnenmarktgesetzes. Das Problem der verschiedenen kantonalen Auffassungen der Unabhängigkeit stellt sich deshalb unabhängig vom Inkrafttreten des Anwaltsgesetzes.

172.12

Der Grundsatz der Unabhängigkeit

Es ist allseits unbestritten, dass die Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte eine wesentliche Voraussetzung für die Ausübung des Anwaltsberufs ist. Sie ist in den Standesregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Gemeinschaft (Ziff. 2.1), in den Richtlinien des SAV (Art. 1), dem Ethik-Kode der «International Bar Association» (Art. 3) und in den Grundsätzen für den Anwaltsberuf der «Union internationale des avocats» ausdrücklich vorgesehen. Auch in den Anwaltsgesetzen der welschen Kantone sowie der Kantone Bern, St. Gallen, Thurgau und Tessin wird die Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte erwähnt. Sie wird aber auch in den übrigen Kantonen vermutet und aus anderen Berufsregeln, namentlich im Zusammenhang mit Interessenkollisionen, abgeleitet.

172.13

Kantonale Praxis

In der Praxis hat die Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte zahlreiche Diskussionen ausgelöst, insbesondere in Zusammenhang mit der Frage der Vereinbarkeit mit einer Anstellung. Die Kantone haben hierfür unterschiedliche Lösungen gefunden. In Übereinstimmung mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung können Anwältinnen und Anwälte in sämtlichen Kantonen neben ihrer anwaltlichen Tätigkeit in einem Unternehmen angestellt sein. Es ist jedoch nur in drei Kantonen unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, dass angestellte Anwältinnen und Anwälte Klientinnen und Klienten ihres Arbeitgebers vor Gericht vertreten: Thur-

6033

gau33, St. Gallen34 und Zürich35. Diese Kantone mit «liberaler» Praxis gehen allerdings ebenfalls vom Grundsatz aus, dass die Anwältinnen und Anwälte unabhängig sind und bleiben. Ihrer Meinung nach bleibt diese Unabhängigkeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses möglich, wenn gewisse Garantien im Arbeitsvertrag geregelt sind. Nach Ansicht der Kantone BL und LU ist dies hingegen ausgeschlossen (vgl.

BGE 123 I 197). LU vertritt sogar die Auffassung, dass es auf Grund des für den Arbeitsvertrag begriffswesentlichen Abhängigkeitsverhältnisses eine tatsächliche Unabhängigkeit einer angestellten Anwältin oder eines angestellten Anwalts gar nicht geben könne36.

172.14

Internationale Aspekte

Auf internationaler Ebene kann ein Unterschied festgestellt werden zwischen den angelsächsischen Ländern, in denen die Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte ein Anstellungsverhältnis nicht ausschliesst, und den Ländern, deren Gesetzgebung sich aus dem französischen Recht herleitet, die den Begriff der Unabhängigkeit sehr eng auslegen. In Frankreich beispielsweise können Anwältinnen und Anwälte von anderen Anwältinnen und Anwälten oder von einer Anwaltsgemeinschaft angestellt sein37. Angestellte Anwältinnen und Anwälte können keine persönlichen Klientinnen und Klienten haben. Bei der Erfüllung der ihnen anvertrauten Mandate sind sie gemäss ihrem Eid unabhängig und stehen nur bezüglich der Arbeitsbedingungen in einem Unterordnungsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber38. Der Arbeitsvertrag einer Anwältin oder eines Anwalts bedarf in jedem Fall der Schriftlichkeit und hat die Modalitäten der Entlöhnung aufzuführen39.

In Deutschland sind die Anwältinnen und Anwälte unabhängige Organe der Rechtspflege (§ 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung, BRAO). Angestellte Anwältinnen und 33

34

35

36 37

38 39

Ein bei einer Treuhandgesellschaft angestellter Anwalt darf Dritte vor den Gerichten vertreten (Rechenschaftsbericht des Obergerichts des Kantons Thurgau, 1982, Nr. 10: Entscheid der Rekurskommission vom 26. April 1982).

Das Kantonsgericht St. Gallen erachtet es als zulässig, dass ein bei einer Treuhandfirma angestellter Anwalt Mandate für die Klientschaft des Arbeitgebers übernimmt (Entscheid vom 27. Februar 1994, zitiert bei Wolffers, S. 59). Im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens hat sich die Regierung des Kantons St. Gallen allerdings für eine enge Definition des Begriffs der Unabhängigkeit ausgesprochen im Sinne von Artikel 21 des sanktgallischen Anwaltsgesetzes vom 11. November 1993. Derzeit ist eine Beschwerde beim Kantonsgericht St. Gallen hängig gegen einen Entscheid der Anwaltskammer, wonach einem bei einer Treuhandfirma angestellten Anwalt die Berufsausübungsbewilligung verweigert worden ist.

Im Kanton Zürich verlangt die Aufsichtsbehörde, dass angestellte Anwältinnen und Anwälte einem Arbeitsvertrag unterstellt sind, der eine Reihe von Anforderungen zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit enthält (die Standesregeln der Anwaltskammer müssen respektiert werden; die Treuepflicht gegenüber der Klientschaft hat Vorrang vor der Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber; der Arbeitgeber hat kein Recht, Abrechnungen von den Angestellten zu verlangen oder ihre Unterlagen zu prüfen usw.).

Luzerner Gerichts- und Verwaltungsentscheide 1985 I Nr. 33; Dominique Dreyer, L'avocat dans la société actuelle, ZSR 115/1996, S. 416.

Art. 136 des Dekrets Nr. 91-1197 vom 27. November 1991 über den Anwaltsberuf; vgl.

Jacques Hamelin/André Damien, Les règles da la profession d'avocat, Paris 1995, S. 69 ff.

Artikel 7 des Gesetzes Nr. 71-1130 vom 31. Dezember 1971 über die Reform gewisser juristischer Berufe.

Vgl. Hamelin/Damien, S. 69.

6034

Anwälte sind von der monopolisierten Tätigkeit grundsätzlich ausgeschlossen. Soweit kein Anwaltszwang besteht, können angestellte Anwältinnen und Anwälte («Syndikusanwältinnen und -anwälte») ihren Arbeitgeber vor Gericht vertreten, allerdings nicht in ihrer Eigenschaft als Anwältin oder Anwalt (§ 46 Abs. 1 BRAO).

§ 43 Absatz 1 BRAO präzisiert, dass Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte keine Bindungen eingehen dürfen, die ihre berufliche Unabhängigkeit gefährden40.

In Dänemark hingegen ist 1996 ein Abkommen zwischen der Regierung, der Vereinigung der Unternehmensjuristinnen und -juristen sowie der Anwaltskammer zu Stande gekommen. Dieses Abkommen erlaubt den Unternehmensjuristinnen und -juristen, sich bei der Anwaltskammer eintragen zu lassen und damit wie unabhängige Anwältinnen und Anwälte behandelt zu werden41.

Wegen der Verschiedenheit der nationalen Regelungen in den EU-Staaten behält das europäische Recht den Mitgliedstaaten die Möglichkeit vor, ihren ­ bei einem Anwaltsbüro oder einem privaten Unternehmen ­ angestellten Anwältinnen und Anwälten die Vertretung von Parteien vor Gericht zu erlauben. Nach Artikel 8 der Richtlinie 98/5/EG über die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat können Anwältinnen und Anwälte im Aufnahmestaat unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung als Angestellte einer anderen Anwältin oder eines anderen Anwalts, eines Zusammenschlusses von Anwältinnen und Anwälten, einer Anwaltssozietät oder eines öffentlichen oder privaten Unternehmens tätig sein, wenn der Aufnahmestaat dies für die unter der Berufsbezeichnung dieses Mitgliedstaats eingetragenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gestattet.

Die Frage, ob im Herkunftsstaat angestellte Anwältinnen und Anwälte im freien Dienstleistungsverkehr Parteien vor Gericht eines anderen Mitgliedstaats vertreten dürfen, wird in Artikel 6 der Richtlinie 77/249/EWG geregelt. Danach kann jeder Mitgliedstaat «die im Gehaltsverhältnis stehenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die durch einen Arbeitsvertrag an ein staatliches oder privates Unternehmen gebunden sind, von der Ausübung der Tätigkeiten der Vertretung und Verteidigung im Bereich der Rechtspflege für dieses Unternehmen insoweit ausschliessen, als die in diesem Staat ansässigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte diese Tätigkeit nicht ausüben dürfen».

172.15

Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens

Der in die Vernehmlassung gegebene Gesetzesentwurf beschränkte sich auf den als Berufsregel ausgestalteten Grundsatz, wonach Anwältinnen und Anwälte zur Unabhängigkeit verpflichtet sind, sobald sie nach kantonalem Recht zur Parteienvertretung vor Gerichtsbehörden zugelassen sind. Wie die kantonalen Anwaltsgesetze umschrieb er den Begriff der Unabhängigkeit nicht näher. Nach dem Vernehmlassungsentwurf war es für angestellte Anwältinnen und Anwälte nicht ausdrücklich ausgeschlossen, sich ins Anwaltsregister eintragen zu lassen. Angestellte Anwältinnen und 40

41

Jessnitzer/Blumberg, Bundesrechtsanwaltsordnung, Köln/Berlin/Bonn/München 1995, Rz.16 ff. zu § 7, der lautet: «Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ist zu versagen, [...]

wenn der Bewerber eine Tätigkeit ausübt, die mit dem Beruf des Rechtsanwalts, insbesondere seiner Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege nicht vereinbar ist oder das Vertrauen in seine Unabhängigkeit gefährden kann; [...]».

European Counsel, September 1996, S. 29.

6035

Anwälte waren ebenfalls zur Unabhängigkeit verpflichtet und handelten in ihrem eigenen Namen und auf ihre eigene Verantwortung. Wären aber angestellte Anwältinnen und Anwälte auf Grund der «liberalen» Praxis eines Kantons im Anwaltsregister eingetragen worden, hätten Kantone mit einer strengeren Praxis ihnen das Recht, auf ihrem Gebiet Parteien vor Gericht zu vertreten, nicht auf Grund der Tatsache, dass sie angestellt sind, verweigern können. Sie hätten gegen diese angestellten Anwältinnen und Anwälte allerhöchstens ein Disziplinarverfahren einleiten können wegen Verletzung der (eidgenössischen) Berufsregel der Unabhängigkeit. Im Falle einer Beschwerde hätte schliesslich das Bundesgericht die Frage entscheiden müssen Sämtliche Kreise, die sich zur Unabhängigkeit geäussert haben, forderten eine präzisere Umschreibung der Unabhängigkeit auf Bundesebene und demnach eine einheitliche Lösung für die ganze Schweiz. Im Übrigen waren die Meinungen unterschiedlich und können in drei Kategorien eingeteilt werden: ­

Vernehmlasser, die ohne weitere Präzisierung eine einheitliche Lösung befürworteten [zwei Kantonsregierungen (SH und TG), fünf Kantonsgerichte (GL, LU, SO, UR, TG), eine politische Partei (FDP)];

­

Vernehmlasser, die angestellten Anwältinnen und Anwälten die Vertretung von Parteien vor Gericht verbieten wollten, wenigstens, wenn ihr Arbeitgeber nicht selber im Register eingetragen ist [zehn Kantonsregierungen (AR, BE, BL, FR, GE, NE, SG, SO, UR, VD), vier Kantonsgerichte (JU, BL, VD und ZG), zwei politische Parteien (SP und CVP), der SAV, der SVFB, die SVR und die ACSI]; sie befürchteten, dass die in Kantonen mit «liberaler» Praxis angestellten Anwältinnen und Anwälte auf Grund des Registereintrags auch in Kantonen Parteien vor Gericht hätten vertreten können, in denen ein Anstellungsverhältnis mit der monopolisierten Tätigkeit unvereinbar ist;

­

und schliesslich Vernehmlasser, die für eine liberale Lösung eintraten [die Kantonsregierung SZ, die VSUJ, der SVV, der Vorort, die SBV, die Wettbewerbskommission].

172.16

Rechtsprechung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hatte Gelegenheit, sich zu verschiedenen Anforderungen im Bereich der Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte zu äussern.

1. Parallele Ausübung einer Tätigkeit im Angestelltenverhältnis und in unabhängiger Stellung, ohne dass zwischen diesen beiden Tätigkeiten eine Beziehung besteht.

Im Entscheid Sauvin vom 18. Oktober 1985 (RDAF 1986, S. 157 ff.) sowie im Urteil vom 12. Dezember 1996 in Sachen G. hielt das Bundesgericht ausdrücklich fest, dass ein angestellter Anwalt unabhängig von seinem Arbeitsverhältnis Parteien vor Gericht vertreten kann. Die Ausübung einer parallelen Erwerbstätigkeit tangiere die Qualität der als Anwalt erbrachten Leistungen und die Unabhängigkeit des Anwalts nicht, auch wenn diese zusätzliche Erwerbstätigkeit die Anwaltstätigkeit überwiege.

Ein lohnabhängiger Zweitberuf neben der Anwaltstätigkeit sei verfassungsrechtlich

6036

gestattet (BGE 123 I 193)42. Im Kanton Bern werden Beamtinnen und Beamte, die sich nebenberuflich als Fürsprecherinnen und Fürsprecher betätigen, auch zur Prozessführung zugelassen, obwohl das Berner Gesetz formell die Unabhängigkeit fordert43.

2. Vertretung der Klientschaft eines Arbeitgebers durch Anwältinnen und Anwälte, die bei diesem Arbeitgeber angestellt sind.

Dieser Fall ist heikler und stellt den wirklichen Kern der Diskussion über die Unabhängigkeit dar. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu dieser Frage ist differenziert. In den Entscheiden Ilg und Clivaz hat das Bundesgericht festgehalten, dass Anwältinnen und Anwälte, die bei einer juristischen Person angestellt sind, rechtsgültig Parteien vor Gericht vertreten können, während es im bisher letzten Entscheid (BGE 123 I 193) einem von einer Rechtsschutzversicherung angestellten Anwalt das Recht absprach, die Klientschaft der Versicherung vor Gericht zu vertreten.

­

Entscheid Ilg vom 17. Oktober 1980 (nicht publiziert) In diesem Entscheid hatte das Bundesgericht zu prüfen, ob das Unabhängigkeitsgebot bei einem Anwalt gewahrt ist, der von einer Gewerkschaft angestellt ist und im Rahmen dieser Tätigkeit die rechtliche Beratung und Vertretung der Gewerkschaftsmitglieder ausübt. Das Bundesgericht hielt fest, dass die finanzielle Unabhängigkeit des Anwalts gegenüber seiner Klientschaft gewahrt war, da die Entschädigung durch die Gewerkschaft und nicht durch die vertretenen Klientinnen und Klienten erfolgte.

­

Entscheid Clivaz vom 22. Oktober 1987 (BGE 113 Ia 279) Im Fall eines Anwalts, der bei einer sozialen Institution tätig war (Gewährung unentgeltlicher Rechtsberatung für Bedürftige und Vertretung im Prozess bei der Durchführung von Alimenteninkassi), vertrat die Anwaltskammer des Kantons Bern die Auffassung, dass das Unabhängigkeitsgebot des bernischen Fürsprechergesetzes verletzt war. Das Bundesgericht kritisierte, dass eine Verletzung der Unabhängigkeit des Anwalts vorgeschoben wurde, um rein standespolitische Interessen zu verteidigen, die mit der Handelsund Gewerbefreiheit nicht vereinbar sind. Das Bundesgericht hob somit den Entscheid der Anwaltskammer des Kantons Bern auf.

­

Entscheid I. vom 18. April 1997 (BGE 123 I 193) In seinem jüngsten Entscheid zur Unabhängigkeit hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung präzisiert. Im Fall eines Anwalts, der bei einer Rechtsschutzversicherung angestellt war und die Kundinnen und Kunden dieser Versicherung vor Gericht vertreten wollte, hielt das Bundesgericht die erforderliche Unabhängigkeit des Anwalts für gefährdet, obwohl ihm im Arbeitsvertrag bei der Mandatsausübung vollständige Unabhängigkeit gewährt wurde. Zwischen den Interessen der Rechtsschutzversicherung und denjenigen ihrer Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer könnten Kollisionen entstehen. Dem Interesse der Rechtsschutzversicherung, den finanziellen Aufwand für die gerichtliche Vertretung in Grenzen zu halten,

42 43

Da die im Anwaltsgesetz enthaltene Aufzählung der Voraussetzungen für den Registereintrag erschöpfend ist, braucht dieser Punkt im Gesetz nicht präzisiert zu werden.

Entscheid des bernischen Verwaltungsgerichts vom 15. April 1985; vgl. Wolffers, S. 59.

6037

kann das Interesse der Kundinnen und Kunden gegenüber stehen, optimalen Rechtsschutz zu erhalten.

3. Zusammenfassung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Es lassen sich folgende Thesen aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ableiten: ­

Die Anwaltstätigkeit muss nicht vollzeitlich sein; eine zusätzliche Erwerbstätigkeit im Angestelltenverhältnis ist zulässig.

­

Grundsätzlich ist es angestellten Anwältinnen und Anwälten nicht verboten, Klientinnen und Klienten ihres Arbeitgebers vor Gericht zu vertreten.

­

Angestellte Anwältinnen und Anwälte dürfen Klientinnen und Klienten ihres Arbeitgebers vor Gericht vertreten, solange keine Interessenkollision zwischen der Klientschaft und dem Arbeitgeber möglich ist.

­

Ein Interessenkonflikt ist im Fall von Anwältinnen und Anwälten, die bei einer Rechtsschutzversicherung angestellt sind, ausreichend wahrscheinlich, um ihnen die Berufsausübung im Rahmen des Monopols zu untersagen.

172.17

Kriterien für eine Regelung der Frage der Unabhängigkeit

Die Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte muss sowohl im Moment des Registereintrags als auch bei der Berufsausübung garantiert sein. Wie vorne erläutert, stellt sich das Problem der verschiedenen Auslegungen des Begriffs der Unabhängigkeit durch die kantonalen Behörden bereits heute auf Grund des Binnenmarktgesetzes. Es ist sehr heikel, zwischen dem allgemeinen Ausschluss von angestellten Anwältinnen und Anwälten vom Registereintrag und ihrer allgemeinen Zulassung zum Registereintrag eine differenziertere Lösung zu finden, die den vom Bundesgericht entwickelten Gundsätzen entspricht. Es gibt auch kein kantonales Gesetz, dass heute eine genaue Definition der Unabhängigkeit enthält.

Das Anwaltsgesetz strebt vor allem die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte an. Die Lösung im Anwaltsgesetz sollte insbesondere:

44

­

eine mögliche Entwicklung in diesem Bereich nicht blockieren44;

­

die Kasuistik des Bundesgerichts berücksichtigen;

­

in der Frage der angestellten Anwältinnen und Anwälte im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU eurokompatibel, ja europafreundlich sein (einfach, transparent);

­

im Interesse der Rechtssuchenden sein;

­

und schliesslich eine Umschreibung der Unabhängigkeit ermöglichen, die in der ganzen Schweiz gültig ist.

Die Frage der Organisation von Anwaltskanzleien (beispielsweise in Form einer Aktiengesellschaft) wird sich ­ wie bereits in zahlreichen anderen Staaten ­ wahrscheinlich bald auch in der Schweiz stellen (vgl. Dreyer, S. 514).

6038

Die Beachtung dieser Kriterien führt zu einer relatif einfachen und offenen Lösung.

Ohne ausdrücklich auf den Begriff «angestellte Anwältinnen und Anwälte» abzustellen, beschränkt sich der vorliegende Gesetzesentwurf darauf vorzusehen, dass die Behörde, die das Register führt, im Zeitpunkt des Antrags auf Eintragung im Register bereits prüft, ob die Anwältin oder der Anwalt in der Lage ist, den Beruf unabhängig auszuüben. Im Unterschied zum Vernehmlassungsentwurf wird folglich bereits eine erste Prüfung der Unabhängigkeit im Zeitpunkt des Antrags auf Registereintrag eingeführt. Die kantonalen Aufsichtsbehörden haben im Einzelfall zu prüfen, ob eine Anwältin oder ein Anwalt «unabhängig» ist, insbesondere im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichts. Die Unabhängigkeit bleibt selbstverständlich eine Berufsregel, der die Anwältinnen und Anwälte während ihrer gesamten beruflichen Tätigkeit unterstehen.

Diese Lösung überlässt es den Aufsichtsbehörden und den Gerichten, die Konturen der Unabhängigkeit zu bestimmen und vor allem auch dem Problem der Interessenkollision Rechnung zu tragen. Sie beeinträchtigt die Entwicklung der kantonalen Praxis in diesem Bereich nicht. Sie begünstigt auf dem Weg der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Entstehung eines in der Schweiz einheitlichen Begriffs der Unabhängigkeit und führt damit zu einer fortschreitenden Harmonisierung der kantonalen Praxis. Schliesslich trägt diese Lösung auch der Rechtsprechung des Bundesgerichts vollumfänglich Rechnung.

172.2

Berufsregeln

Im Vernehmlassungsverfahren haben mehrere Vernehmlasser kritisiert, dass der Gesetzesentwurf direkt anwendbare eidgenössische Berufsregeln aufstellte und den Kantonen die Möglichkeit vorbehielt, zusätzliche kantonale Berufsregeln zu erlassen. Diese doppelte Reglementierung könne praktische Probleme hervorrufen. Im Falle einer Beschwerde beispielsweise müsse eine Anwältin oder ein Anwalt, die oder der wegen Verletzung einer eidgenössischen und einer kantonalen Berufsregel gleichzeitig disziplinarisch bestraft worden ist, zwei Beschwerden ans Bundesgericht richten: Eine Verwaltungsbeschwerde wegen Verletzung der eidgenössischen Berufsregel und eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der kantonalen Berufsregel.

Um dieses doppelte System von Berufsregeln zu vermeiden, regelt der vorliegende Gesetzesentwurf die Berufsregeln für Anwältinnen und Anwälte abschliessend. Damit können Anwältinnen und Anwälte aus der Schweiz und der EU, die in einem anderen Kanton Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten, sicher sein, dass sie sich im Bereich der Berufsregeln nicht mehr um kantonale Besonderheiten kümmern müssen. Ein Nebeneinander von 26 verschiedenen Berufsregelungen für den Anwaltsberuf in der Schweiz ist auch mit Blick auf die europaweite Freizügigkeit nicht mehr gerechtfertigt. Bemerkenswerterweise ist der Anwaltsberuf in allen Nachbarstaaten auf nationaler Ebene geregelt.

Eine Vereinheitlichung der Berufsregeln wird auch die Mobilität der Anwältinnen und Anwälte begünstigen und eine transparentere Praxis der Aufsichtsbehörden in Beschwerdefällen ermöglichen. Diese Lösung würde zudem die Bedeutung der Standesregeln begrenzen, die von den Berufsverbänden erlassen werden und die vor allem der allenfalls notwendigen Auslegung der Berufsregeln dienen würden. Gegen diese Standesregeln ist Kritik aufgekommen, da es manchmal fraglich ist, ob sie im 6039

öffentlichen Interesse liegen. Das Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen vom 6. Oktober 1995 (Kartellgesetz, KG, SR 251) hat im Übrigen die Fragwürdigkeit von Standesregeln noch vermehrt zu Tage gebracht45.

Durch die bundesrechtliche Vereinheitlichung der Berufsregeln, die alle Anwältinnen und Anwälte in der Schweiz beachten müssen, verhindert das Anwaltsgesetz nicht nur Konkurrenzprobleme zwischen kantonalen Berufsregeln, sondern schafft auch eine klare Unterscheidung zwischen (staatlichen) Berufsregeln und Standesregeln.

172.3

Honorare

Im Bereich der Honorare sah der Vernehmlassungsentwurf vor, dass die Kantone nur Empfehlungen hätten erlassen können. Staatliche Tarife wären abgeschafft worden. Einige Vernehmlasser vertraten die Meinung, dass staatliche Tarife notwendig seien, um eine gewisse Transparenz zu gewährleisten, andere wiederum hielten Empfehlungen für unnötig oder sogar kontraproduktiv46. Die Mehrheit der Vernehmlasser, die sich zu dieser Frage geäussert haben, waren für eine Liberalisierung der Honorare, auch wenn die Meinungen über das zu bevorzugende System auseinander gingen47.

In der Praxis besteht heute schon ein Wettbewerb. Selbst wenn staatliche Tarife existieren, können im gleichen Kanton bemerkenswerte Unterschiede in der Berechnung der Honorare festgestellt werden, da diese Tarife flexibel sind und grosses Ermessen bei der Art und Weise der Berechnung der Honorare zulassen. Dies relativiert die Bedeutung solcher staatlicher Tarife.

Auf Grund der unterschiedlichen Meinungen der Vernehmlasser und der geringen Beziehung zwischen Freizügigkeit und Honorare, wird darauf verzichtet, im vorlie45 46

47

Benoît Chappuis, Signification et fonction des règles déontologiques, in Droit suisse des avocats, Walter Fellmann éd., Bern 1998, S. 140.

Vier Kantonsregierungen (LU, TG, UR, OW) finden, dass die Rechtssuchenden aus Transparenzgründen zum Voraus abschätzen können sollen, was sie die anwaltliche Vertretung ungefähr kosten wird. Es brauche deshalb staatliche Tarife und keine unverbindlichen Empfehlungen. Die Kantonsregierung NE findet demgegenüber, dass die Kantone nur die Möglichkeit und nicht die Verpflichtung zum Erlass von Empfehlungen haben sollten. Die Regierung des Kantons BE hält die staatlichen Tarife für die unentgeltliche Prozessführung und die amtliche Verteidigung für notwendig. Vier Kantonsgerichte (BS, OW, SG, TG) ziehen ebenfalls eine Lösung mit staatlichen Tarifen vor (vorbehältlich jedoch der Vereinbarung eines tieferen Honorars zwischen Anwältin oder Anwalt und der Klientschaft).

Obwohl der Kanton AG noch Zwangstarife kennt, findet die Regierung AG, dass eine staatliche Intervention in diesem Bereich kontraproduktiv ist. Sie ist deshalb gegen eine Regelung, auch wenn sie unverbindlich ist. Für die Kantonsregierung SO soll es Sache der Berufsorganisationen bleiben, Tarife im Rahmen des Kartellgesetzes aufzustellen; ob der Tarif «richtig» ist, soll der Markt entscheiden. Vier Kantonsgerichte (AG, BL, GL, SO) sind gegen Empfehlungen für die Honorare. Nach Ansicht des Kantonsgerichts AG stehen staatliche Honorarempfehlungen dem freien Wettbewerb entgegen. Das Kantonsgericht GL vertritt dieselbe Ansicht und ist sowohl gegen staatliche Tarife als auch gegen Empfehlungen. Das Kantonsgericht BL hält staatliche Tarife hingegen für notwendig für die unentgeltliche Prozessführung und die Pflichtverteidigung. Das Kantonsgericht GL wünscht zudem für den Fall, dass staatliche Empfehlungen vorgesehen werden, dass die Funktion im Gesetz klarer herausgearbeitet wird. Eine politische Partei (CVP) schlägt vor, diese Bestimmung zu streichen, da ihr das System wenig klar erscheint.

6040

genden Gesetzesentwurf den Kantonen eine einheitliche Regelung im Bereich der Honorare zu auferlegen. Jeder Kanton kann bei der Revision seines Anwaltsgesetzes das Problem der Honoare prüfen und das System wählen, das ihm am besten erscheint.

18

Vernehmlassungsverfahren zur Umsetzung des relevanten Gemeinschaftsrechts im Gesetzesentwurf

Der Bundesrat hat am 15. März 1999 beschlossen, ein Vernehmlassungsverfahren zu den sektoriellen Verträgen Schweiz ­ EG sowie den damit verbundenen Rechtsanpassungen und flankierenden Massnahmen durchzuführen. Das Vernehmlassungsverfahren dauerte bis zum 13. April 1999. In diesem Zusammenhang ist auch der neue Teil des Gesetzesentwurfs, in dem das für den Anwaltsberuf relevante Gemeinschaftsrecht umgesetzt worden ist (Art. 19­32), in die Vernehmlassung geschickt worden. Begrüsst wurden das Bundesgericht, die Kantonsregierungen und die Kantonsgerichte, die politischen Parteien, die Spitzenverbände sowie diejenigen Organisationen, die im Rahmen des ersten Vernehmlassungsverfahrens Stellung genommen haben (vgl. Ziff. 171).

Von Seiten des Bundesgerichts, den Kantonsregierungen (mit Ausnahme von BS und SO), den politischen Parteien und den Spitzenverbänden wurden keine besonderen Bemerkungen zum Gesetzesentwurf vorgebracht. Der Vorort unterstützt die Vorlage jedoch ausdrücklich. Elf Kantonsgerichte (ZH, BE, LU, OW, ZG, SO, BS, BL, AR, SG, VD) sowie der SAV haben Stellung genommen. Fünf Kantonsgerichte (UR, GL, FR, SH, GR) haben ausdrücklich auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Neben einigen Einzelbemerkungen ist vor allem das Gespräch zur Prüfung der beruflichen Fähigkeiten (Art. 30) kritisiert worden. Zwei Kantonsgerichte (OW, SO) hätten lieber auf ein solches Gespräch verzichtet. Drei Kantonsgerichte (ZH, LU, SG) machten darauf aufmerksam, dass im Katalog der Berufsregeln, die nun ausschliesslich auf Bundesebene geregelt werden, eine Generalklausel fehlt. Der SAV hat erneut seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht, wonach die Voraussetzung der Unabhängigkeit restriktiver umschrieben werden sollte.

19

Abschreibung eines parlamentarischen Vorstosses

Das Postulat 94.335 Stamm Luzi «Interkantonale Freizügigkeit beim Rechtsanwaltsberuf», das vom Nationalrat am 20. Dezember 1995 als Motion angenommen und vom Ständerat am 3. Juni 1996 in ein Postulat umgewandelt worden ist, kann abgeschrieben werden. Der vorliegende Gesetzesentwurf erfüllt die Anliegen des Postulats vollumfänglich, indem es allen Anwältinnen und Anwälten, die in einem Anwaltsregister eingetragen sind, erlaubt, den Anwaltsberuf in irgendeinem Kanton ohne Kosten oder Fomalitäten auszuüben. Aus den unter Ziffer 16 dargelegten Gründen verzichtet das Anwaltsgesetz allerdings darauf, ein eidgenössisches Register einzurichten, um dieses Ziel zu erreichen.

6041

2

Besonderer Teil

21

Bemerkungen zur Terminologie

Die Begriffe «Fähigkeitsausweis», «Patent» und «Berufsausübungsbewilligung» können in den kantonalen Gesetzgebungen verschiedene Bedeutungen haben. Es muss deshalb präzisiert werden, welchen Sinn sie im vorliegenden Gesetz haben.

Die folgenden Definitionen sind von der Lehre48 und der Mehrheit der Kantone entwickelt worden.

Unter «Fähigkeitsausweis», dem in Artikel 33 BV verwendeten Begriff, wird der Ausweis verstanden, mit dem das theoretische und praktische Fachwissen bestätigt wird. Das «Patent» dagegen wird nach Prüfung der fachlichen Kenntnisse und gewisser persönlicher Voraussetzungen (guter Ruf, Zahlungsfähigkeit usw.) erteilt.

Der Begriff «Berufsausübungsbewilligung» schliesslich bezeichnet die Ermächtigung einer Anwältin oder eines Anwalts, in einem anderen Kanton als dem, in welchem sie oder er das Anwaltspatent erhalten hat, Parteien vor Gericht vertreten zu dürfen49.

22

Konzept des Gesetzes

Das Anwaltsgesetz gewährleistet die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte in der Schweiz und legt gewisse Grundsätze und Mindestanforderungen für die Ausübung des Anwaltsberufs fest. Das allgemeine Konzept des Gesetzes geht von den Umstrukturierungen aus, die für die Verwirklichung des Grundsatzes der Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte und die Aufhebung der kantonalen Bewilligungsverfahren für die Berufsausübung notwendig sind. Wenn die in einem kantonalen Register eingetragenen Anwältinnen und Anwälte ohne vorgängige Kontrolle durch die andern kantonalen Behörden ihren Beruf auf dem ganzen Gebiet der Schweiz frei ausüben können und Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU unter gewissen Bedingungen in der Schweiz tätig sein können, sollten gewisse Punkte auf Bundesebene vereinheitlicht werden: ­

die Voraussetzungen der interkantonalen Freizügigkeit für Inhaberinnen und Inhaber von kantonalen Anwaltspatenten;

­

die kantonalen Anwaltsregister;

­

die Berufsregeln;

­

die Disziplinaraufsicht;

­

die Regelung der Berufsbezeichnung;

­

Zugang zum Anwaltsberuf für Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind.

Da kein eidgenössisches Anwaltspatent vorgesehen ist, müssen die kantonalen Strukturen für die Disziplinaraufsicht beibehalten und harmonisiert werden. Das Anwaltsgesetz geht von kantonalen Aufsichtsbehörden aus. An Stelle des Systems 48 49

Vgl. Wolffers, S. 63; vgl. auch Rothenbühler, S. 59.

Einige Kantone erteilen diese Berufsausübungsbewilligung in Form des eigentlichen kantonalen Patents (vgl. beispielsweise Art. 36 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 24. September 1978 des Kantons Graubünden).

6042

mit den Berufsausübungsbewilligungen sieht das Anwaltsgesetz einen Ausbau der kantonalen Anwaltsregister vor sowie den Austausch von Informationen über die im Register eingetragenen Anwältinnen und Anwälte. Diese Register werden von den Behörden geführt, die mit der Disziplinaraufsicht betraut sind.

23

Kommentar zu den Gesetzesbestimmungen

231

Gegenstand und Geltungsbereich (1. Abschnitt)

231.1

Gegenstand (Art. 1)

Die interkantonale Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte wird heute in Artikel 5 UeB BV und im Binnenmarktgesetz gewährleistet. Künftig soll das Anwaltsgesetz diese Freizügigkeit für Anwältinnen und Anwälte, die in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragen sind, in der ganzen Schweiz garantieren (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3). Es legt zudem die wichtigsten Grundsätze für die Ausübung des Anwaltsberufs in der Schweiz fest.

Das Anwaltsgesetz will die kantonalen Anwaltsgesetzgebungen nicht vollständig ersetzen. Diese bleiben weiterhin notwendig. Mit dem neuen Gesetz sollen gewisse Punkte vereinheitlicht werden, weil die bis heute im Zeitpunkt der Ausstellung der Berufsausübungsbewilligungen durch die Kantone ausgeübte Kontrolle der Anwältinnen und Anwälte wegfällt.

Der Abschluss der Vertragsverhandlungen mit der EG, namentlich das Abkommen über den freien Personenverkehr hat zur Folge, dass das relevante Gemeinschaftsrecht (Richtlinien 77/249/EWG, 89/48/EWG und 98/5/EG, vgl. Ziff. 14) im schweizerischen Recht umgesetzt werden muss. Diese Umsetzung hat im Wesentlichen auf Bundesebene zu erfolgen. Deshalb bestimmt der vorliegende Gesetzesentwurf nach Artikel 1 Absatz 2 die Modalitäten für die Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden durch Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind.

231.2

Persönlicher Geltungsbereich (Art. 2)

Das Anwaltsgesetz gilt nur für Personen, die über ein Anwaltspatent verfügen und im Rahmen des vom kantonalen Recht definierten Monopols tatsächlich Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten50. Es handelt sich um Anwältinnen und Anwälte, die unabhängig arbeiten (zum Begriff der Unabhängigkeit vgl. Ziff. 172.1). Der persönliche Geltungsbereich des Gesetzes umfasst folglich nicht alle Personen mit einem Anwaltspatent. In zahlreichen Fällen üben Anwältinnen und Anwälte eine Tätigkeit als Richter oder Gerichtsschreiber aus, arbeiten in Verwaltungen oder sind Angestellte von Banken, Treuhandgesellschaften usw.; diese werden sich demnach nicht ins Register eintragen lassen und nicht der Kontrolle der Aufsichtsbehörde unterstehen. Dieses Gesetz findet auch keine Anwendung für Anwältinnen und Anwälte, die 50

Der Kanton Solothurn kennt kein Monopol für die Parteienvertretung vor Gericht. Personen, die über ein Anwaltspatent verfügen und im Kanton Solothurn Parteien vertreten, werden sich ebenfalls im kantonalen Register eintragen müssen, wenn sie von der interkantonalen Freizügigkeit profitieren wollen.

6043

keine Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten, sondern nur rechtsberatend tätig sein wollen, und die sich nicht in einem kantonalen Anwaltsregister eintragen lassen.

Diese können folglich in ihrem Titel auch nicht erwähnen, dass sie im Register eingetragen sind; dies wird sie in den Augen der Öffentlichkeit von den Anwältinnen und Anwälten unterscheiden, die im Register eingetragen sind.

Die Kompetenz zur Festlegung des Tätigkeitsbereichs vor den kantonalen Gerichtsbehörden, der zum «Anwaltsmonopol» gehört, liegt nach wie vor bei den Kantonen.

Ermächtigen gewisse Kantone Anwältinnen und Anwälte, die beispielsweise von Banken, Treuhandgesellschaften oder Rechtsschutzversicherungen angestellt sind, zur Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden, sind diese Anwältinnen und Anwälte dem vorliegenden Gesetz unterstellt und müssen sich in ein kantonales Register eintragen lassen. In diesem Fall unterstehen sie den Berufsregeln und der Kontrolle durch die kantonalen Aufsichtsbehörden.

Das Gesetz kann auch für Personen gelten, die kein schweizerisches Bürgerrecht besitzen, da ein kantonales Anwaltspatent auch Ausländerinnen und Ausländern erteilt werden kann. Vor einigen Jahren hielt das Bundesgericht kantonale Gesetzgebungen, die das Recht zur Ausübung des Anwaltsberufs nur Schweizer Bürgerinnen und Bürger vorbehielten, noch für verfassungsmässig. Im Jahre 1993 fand jedoch eine Umkehr der Rechtsprechung statt51. Nach der neuen Auffassung des Bundesgerichts liegt es zwar im öffentlichen Interesse, dass Anwältinnen und Anwälte mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen des Landes vertraut sind. Es geht aber davon aus, dass Ausländerinnen und Ausländer zum Nachweis zugelassen werden müssten, dass sie die Schweiz wie Schweizer Bürgerinnen und Bürger kennen und ihnen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes ebenso vertraut sind. Das Festhalten am Erfordernis des Schweizerbürgerrechts sei mit der in Artikel 31 BV (Art. 27 nBV) garantierten Handels- und Gewerbefreiheit nicht vereinbar. Im Rahmen dieser Rechtsprechung bleiben die Kantone frei, die übrigen Voraussetzungen zu bestimmen, die für die Erteilung des Anwaltspatents erfüllt sein müssen.

Das Anwaltsgesetz gilt selbstverständlich auch für Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU, die auf Grund dieses
Gesetzes zur gerichtlichen Vertretung von Parteien in der Schweiz zugelassen werden. Zudem gelten die relevanten Bestimmungen des Anwaltsgesetzes (Berufsregeln, Disziplinaraufsicht und -massnahmen) auch für ausländische Anwältinnen und Anwälte, die nicht aus Mitgliedstaaten der EU kommen und die von einem kantonalen Gericht ausnahmsweise zur Parteienvertretung in einer bestimmten Sache zugelassen werden.

232

Interkantonale Freizügigkeit und kantonales Anwaltsregister (2. Abschnitt)

232.1

Grundsatz der interkantonalen Freizügigkeit (Art. 3)

Artikel 3 garantiert Anwältinnen und Anwälten, die in einem kantonalen Register eingetragen sind, die Möglichkeit, in der Schweiz ohne Bewilligung Parteien vor Gerichtsbehörden zu vertreten. Die Kantone können von Anwältinnen und Anwälten, die bereits in einem kantonalen Register eingetragen sind, nicht mehr verlangen, 51

BGE 119 Ia 35 und Urteil des Bundesgerichts vom 27. April 1993 in der Rechtssache Tim Brockmann gegen den Staatsrat des Kantons Genf, siehe auch BGE 123 I 19.

6044

dass sie andere fachliche oder persönliche Voraussetzungen erfüllen als diejenigen, die im Anwaltsgesetz vorgesehen sind. Diese Voraussetzungen werden bei der Eintragung ins kantonale Register geprüft. Sind Anwältinnen und Anwälte einmal eingetragen, können sie ohne weitere Formalitäten in der ganzen Schweiz Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten. Will eine Behörde im Zweifelsfall überprüfen, ob eine Person zur Ausübung des Anwaltsberufs zugelassen ist, kann sie sich darüber informieren, indem sie das Register des Kantons konsultiert, in welchem diese Person eingetragen ist (Art. 9). Erhalten beispielsweise die Gerichtsbehörden des Kantons X eine Rechtsschrift eines Anwalts, der im Register des Kantons Y eingetragen ist, können sie sich bei der Aufsichtsbehörde des Kantons Y erkundigen, ob der Anwalt dort eingetragen ist und die fachlichen und persönlichen Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind. Die Gerichtsbehörden können sich auch vergewissern, ob der Anwalt nicht disziplinarisch bestraft worden ist. Als Konsequenz dieses Freizügigkeitsgrundsatzes ergibt sich, dass die Kantone berechtigt sind, Anwältinnen und Anwälten, die nicht in einem kantonalen Register eingetragen sind, die Berechtigung zur Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden zu verweigern.

Zwei Vernehmlasser (Kantonsgericht BS und VD) sprachen sich dafür aus, dass Anwältinnen und Anwälte ihren Eintrag in einem kantonalen Register nachweisen sollten, wenn sie das erste Mal vor einer Gerichtsbehörde auftreten. Auf die Verankerung einer solchen Verpflichtung im Gesetz wird jedoch verzichtet. Wenn nötig und im Zweifelsfall können die Gerichtsbehörden verlangen, dass eine Anwältin oder ein Anwalt den Registereintrag nachweist oder sie können sich direkt bei der Aufsichtsbehörde des Kantons, in dem die Anwältin oder der Anwalt eingetragen ist, darüber informieren.

232.2

Kantonales Anwaltsregister (Art. 4)

Aus den oben dargelegten Gründen (vgl. Ziff. 16) ist auf die Schaffung eines eidgenössischen Anwaltsregisters verzichtet worden; dafür sollen die kantonalen Register gesamtschweizerisch ausgebaut werden. Wegen der Aufhebung der Bewilligungsverfahren für die Berufsausübung werden die Kantone in Zukunft nicht mehr über Unterlagen verfügen, die nachweisen, dass Anwältinnen und Anwälte aus anderen Kantonen die fachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllen. Es ist jedoch unerlässlich, dass die kantonalen Behörden nach Artikel 9 nötigenfalls schnell überprüfen können, ob eine Anwältin oder ein Anwalt diese Voraussetzungen erfüllt.

Der Aufbau des Anwaltsregisters soll deshalb in allen Kantonen identisch sein.

Jeder Kanton hat ein Register der Anwältinnen und Anwälte zu führen, die Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten, auf dem Kantonsgebiet eine Geschäftsadresse haben und die fachlichen und persönlichen Voraussetzungen nach den Artikeln 6 und 7 erfüllen. Anwältinnen und Anwälte, die gelegentlich oder regelmässig in einem Kanton gerichtlich tätig sind, dort aber kein Anwaltsbüro haben, müssen nicht im Register eingetragen sein. Personen mit einem Anwaltspatent, die nicht unabhängig sind ­ und die deshalb nicht zur Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden zugelassen sind ­ werden ebenfalls nicht im Register aufgeführt und auch nicht der kantonalen Aufsichtsbehörde unterstellt. Lassen hingegen gewisse Kantone unter bestimmen Voraussetzungen angestellte Anwältinnen und Anwälte zur Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden zu, müssen sich diese im Register eintragen lassen und unterstehen dann auch der Kontrolle durch die Aufsichtsbehörde.

6045

Artikel 4 Absatz 2 präzisiert den Inhalt des Registers. Es handelt sich um gewisse persönliche Daten im Sinne von Artikel 3 Buchstabe a des Datenschutzgesetzes (DSG, SR 235.1): den Namen, den Vornamen, das Geburtsdatum, den Heimatort für Schweizer Anwältinnen und Anwälte oder die Staatsangehörigkeit für Anwältinnen und Anwälte, die das Schweizer Bürgerrecht nicht besitzen, eine Kopie des Anwaltspatents (aus welcher die Berufsbezeichnung der Anwältin oder des Anwalts ersichtlich ist), die Bescheinigungen, welche belegen, dass die Voraussetzungen nach Artikel 7 erfüllt sind, die Geschäftsadressen sowie gegebenenfalls den Namen des Anwaltsbüros, in dem sie arbeiten (verfügen die Anwältinnen und Anwälte auch in einem anderen Kanton über ein Anwaltsbüro, muss dieses ebenfalls angegeben werden) und schliesslich die nicht gelöschten Disziplinarmassnahmen. Nach Artikel 14 Absatz 3 wird die Aufsichtsbehörde des Kantons, in dessen Register eine Anwältin oder ein Anwalt eingetragen ist, über die in einem anderen Kanton ausgesprochenen Disziplinarmassnahmen informiert und trägt diese, sobald sie in Kraft getreten sind, ins Register ein.

Schliesslich bestimmt Artikel 4 Absatz 3, dass das Anwaltsregister von der Aufsichtsbehörde geführt wird. Damit sowohl die Aufsicht über die Anwältinnen und Anwälte als auch die Mitteilung von Informationen über sie möglichst einfach durchgeführt werden können, ist es wünschbar, dass eine einzige kantonale Behörde mit der Aufsicht und der Führung des Registers betraut ist.

232.3

Eintragung ins Register (Art. 5)

Anwältinnen und Anwälte, die Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten wollen, müssen sich ins Register eintragen lassen, sobald sie über eine Geschäftsadresse (Anwaltsbüro) in einem Kanton verfügen. Das Kriterium für die Eintragung in ein kantonales Register ist demnach die geografische Lage des Anwaltsbüros und nicht der Herkunftsort des Anwaltspatents. Eine Person, die im Kanton X ihr Anwaltspatent erworben hat und ein Anwaltsbüro im Kanton Y einrichtet, wird nur im Kanton Y eingetragen. Hat sie mehrere Anwaltsbüros, so hat sie sich in dem Kanton eintragen zu lassen, in dem sie ihr Hauptbüro hat.

Der Vernehmlassungsentwurf sah vor, dass die Anwältinnen und Anwälte sich in jedem Kanton eintragen lassen mussten, in dem sie eine Geschäftsadresse haben. Die Anwältinnen und Anwälte, die in mehreren Kantonen eine Geschäftsadresse haben52, hätten sich in all diesen Kantonen eintragen lassen müssen, damit es nicht zwei Anwaltskategorien innerhalb desselben Kantons gegeben hätte: diejenigen, die in diesem Kanton ihre Hauptkanzlei führen und diejenigen, die hier eine «Zweitadresse» haben. Der vorliegende Gesetzesentwurf verzichtet auf diese Lösung, da er gegenüber dem Vernehmlassungsentwurf in zwei Punkten geändert worden ist: Einerseits werden die Berufsregeln nun auf eidgenössischer Ebene vereinheitlicht (Art. 11); anderseits gilt ein Berufsausübungsverbot, das die Aufsichtsbehörde eines Kantons angeordnet hat, in dessen Register die Anwältin oder der Anwalt nicht eingetragen ist, nun auf dem gesamten Gebiet der Schweiz (Art. 16).

52

Nach der Statistik des SAV gab es 1998 160 Anwältinnen/Anwälte in der Schweiz, die bei zwei kantonalen Anwaltskammern eingetragen waren und nur drei Anwältinnen/Anwälte, die in drei Kantonen eingetragen waren.

6046

Das Gesetz sieht keine ausdrückliche Strafe vor für Anwältinnen und Anwälte, die sich in keinem Register eintragen lassen: Diese Anwältinnen und Anwälte würden sich selbst bestrafen, da ihnen die Möglichkeit verweigert werden könnte, Parteien vor Gerichtsbehörden anderer Kantone zu vertreten.

Es ist denkbar, wenn auch unwahrscheinlich, dass ein Kanton weiterhin Anwaltspatente erteilt, die den Anforderungen nach den Artikeln 6 und 7 nicht genügen. Ein Kanton könnte Anwältinnen und Anwälte mit einem solchen Anwaltspatent zur Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden zulassen, ohne dass diese das Recht auf Eintragung in ein Anwaltsregister hätten.

Nach Artikel 11 Buchstabe i haben die in einem Register eingetragenen Anwältinnen und Anwälte der registerführenden Behörde ­ der Aufsichtsbehörde ­ jede Änderung der sie betreffenden Daten im Register mitzuteilen (Adressänderung, Eröffnung oder Schliessung eines Anwaltsbüros in einem anderen Kanton usw.). Unterlassen sie diese Mitteilung, haben sie mit einer Disziplinarmassnahme zu rechnen, die von der Aufsichtsbehörde ausgesprochen wird.

Die Aufsichtsbehörde prüft, ob die Anwältinnen und Anwälte die fachlichen und persönlichen Voraussetzungen (Art. 6 und 7) erfüllen. Die Verweigerung eines Eintrags wird mit einer Verfügung mitgeteilt. Diese Verfügung kann Gegenstand einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht sein, da sie in Anwendung von Bundesrecht ergeht.

Schliesslich können Kantone, die bereits über Register oder Verzeichnisse mit den notwendigen Angaben über die Anwältinnen und Anwälte mit Geschäftsadresse auf ihrem Gebiet verfügen, darauf verzichten, von den bereits eingetragenen Anwältinnen und Anwälte nochmals Bescheinigungen im Sinne von Artikel 4 zu verlangen.

232.4

Fachliche Voraussetzungen (Art. 6)

Für die Freizügigkeit müssen zwei Arten von Voraussetzungen erfüllt sein: fachliche Voraussetzungen und persönliche Voraussetzungen. Das Anwaltsgesetz legt nur diejenigen Anforderungen fest, welche die Kantone für die Anerkennung der Anwaltspatente anderer Kantone verlangen können. Für den Erwerb ihres eigenen Anwaltspatents steht es den Kantonen hingegen frei, strengere Anforderungen aufzustellen, da die Ausbildung der Anwältinnen und Anwälte weiterhin in der Zuständigkeit der Kantone bleibt. Damit ein kantonales Anwaltspatent jedoch in anderen Kantonen anerkannt wird, muss es den Voraussetzungen nach Artikel 6 genügen.

232.41

Juristisches Hochschulstudium (Art. 6 Bst. a)

Heute schreiben die meisten Kantone keine Mindestdauer des Studiums vor, sondern verlangen einen Hochschulabschluss (Lizenziat der Rechte), um das für den Erhalt eines Anwaltspatents erforderliche Praktikum antreten zu können53. Die Dauer der Ausbildung ist somit diejenige, die für die Erwerbung eines Lizenziats der Rechte an einer schweizerischen Hochschule erforderlich ist; sie ist in keinem Fall

53

AR, OW, SZ und TG verlangen hingegen kein Hochschuldiplom im formellen Sinn.

6047

kürzer als drei Jahre und dauert oft sogar vier Jahre. Der Kanton Graubünden54 verlangt eine Studiendauer von mindestens drei Jahren, während der Kanton Schwyz eine ausreichende juristische Ausbildung verlangt, «wovon wenigstens vier Semester an schweizerischen Universitäten»55. Der Kanton Waadt fordert neben dem Lizenziat der Rechte, dass die Anwaltskandidatin oder der Anwaltskandidat eine der drei folgenden Voraussetzungen erfüllt: Ermächtigung zur Verfassung einer Dissertation an einer schweizerischen oder ausländischen Rechtsfakultät, ein nach mindestens zwei Semestern abgeschlossenes juristisches Nachdiplomstudium an einer schweizerischen oder ausländischen Hochschule oder eine mindestens zweijährige anerkannte juristische Praxis56. Die Voraussetzung einer juristischen Ausbildung von mindestens drei Jahren, die mit einem Hochschuldiplom abgeschlossen wird, sollte folglich in den meisten Kantonen keine praktischen Probleme bieten. Sie entspricht den Anforderungen der Richtlinie 89/48/EWG über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschliessen (vgl. Ziff. 14).

232.42

Praktikum (Art. 6 Bst. b)

In den deutschschweizerischen Kantonen beträgt die Mindestdauer des Praktikums in der Regel ein Jahr. Die Kantone Bern und Thurgau schreiben eine Dauer von 18 Monaten vor. Die welschen Kantone und der Kanton Tessin fordern hingegen eine Dauer von zwei Jahren. Ein einziger Kanton, nämlich Obwalden, begnügt sich mit einem sechsmonatigen Praktikum, auch wenn die Kandidatinnen und Kandidaten in der Praxis oft ein einjähriges Praktikum absolvieren. Das Anwaltsgesetz sieht deshalb ein mindestens einjähriges Praktikum vor. Folglich muss nur der Kanton Obwalden seine Gesetzgebung in diesem Punkt anpassen, damit sein Anwaltspatent den Anforderungen des Anwaltsgesetzes entspricht.

Die welschen Kantone und der Kanton Tessin sind der Auffassung, dass diese Praktikumsdauer zu kurz ist, während die deutschschweizerischen Kantone eine länger dauernde Hochschulausbildung vorziehen würden (vgl. Ziff. 16). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Anwaltsgesetz nur die Anforderungen festlegt, die ein Kanton von den Anwältinnen und Anwälten, die ihr Patent in einem anderen Kanton erworben haben, höchstens verlangen kann. Bereits heute erteilen die welschen Kantone Anwältinnen und Anwälten aus Kantonen, in denen die Dauer des Praktikums nur ein Jahr beträgt, die Bewilligung zur Berufsausübung. Da die welschen Kantone und der Kanton Tessin zudem frei bleiben, für den Erwerb ihres eigenen Anwaltspatents eine längere Praktikumsdauer vorzuschreiben, brauchen die Anforderungen an das Praktikum für die interkantonale Anerkennung des Anwaltspatents nicht erhöht zu werden. Dies hätte zudem zur Folge, dass die Praktikumsdauer für die Mehrheit der Kantone verlängert würde. Dieselben Überlegungen können den deutschschweizerischen Kantonen, die eine längere Studiendauer als drei Jahre bevorzugen würden, entgegengehalten werden.

54 55 56

Art. 3 Ziff. 3 der Verordnung vom 1. Dezember 1955 über den Fähigkeitsausweis und die Berufsausübung der Anwälte.

§ 4 Bst. d des Reglements vom 28. Oktober 1952 für die Erteilung und den Entzug des Rechtsanwaltspatentes (GS des Kantons Schwyz 238).

Art. 20 des waadtländischen Anwaltsgesetzes vom 22. November 1944.

6048

Der Vernehmlassungsentwurf sah vor, dass Kantone, in denen Italienisch Amtssprache ist (Tessin und Graubünden), ausnahmsweise ein dem Lizenziat gleichwertiges Diplom einer italienischen Hochschule hätten anerkennen können. Es ist in der Tat wünschbar, dass Personen mit italienischer Muttersprache ihre Ausbildung in ihrer Sprache absolvieren können. Dies ist in der Schweiz zurzeit nicht möglich. Der Kanton Tessin lässt zum Anwaltspraktikum bereits heute Personen zu, die ihr juristisches Diplom in Italien erworben haben. Auf Grund des sektoriellen Abkommens über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EG und der neuen Formulierung von Artikel 6 des vorliegenden Gesetzesentwurfs ist es nicht mehr nötig, eine spezielle Ausnahme für Kantone vorzusehen, in denen Italienisch Amtssprache ist.

Das Praktikum, das in der Schweiz zu absolvieren ist, muss mit einem Examen über die theoretischen und praktischen Rechtskenntnisse abgeschlossen werden.

232.5

Persönliche Voraussetzungen (Art. 7)

Wie bei den fachlichen Voraussetzungen bleiben die Kantone grundsätzlich frei, eine Reihe von persönlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Anwaltpatents zu verlangen. Im Zusammenhang mit der interkantonalen Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte und im Zeitpunkt der Eintragung in ein kantonales Anwaltsregister sind jedoch einzig die persönlichen Voraussetzungen nach Artikel 7 des Anwaltsgesetzes massgebend. Diese entsprechen allerdings weitgehend den persönlichen Voraussetzungen, die von den Kantonen heute schon verlangt werden57.

Der Vernehmlassungsentwurf sah neben den im vorgeschlagenen Artikel 7 aufgeführten persönlichen Voraussetzungen auch die Voraussetzung des «guten Leumunds» vor. Es gibt allerdings keinen bundesrechtlichen Begriff des «guten Leumunds». Ein guter Leumund ist zwar eine Bedingung, welche die meisten Kantone für die Ausübung des Anwaltsberufs verlangen58. Das Bundesgericht erklärte, dass bei der Frage, ob eine Person mit Rücksicht auf ihren Leumund zu einem bestimmten Beruf zuzulassen ist, geprüft werden muss, ob die Lebensführung dieser Person mit einem Makel behaftet ist, der sie für die Ausübung des betreffenden Berufs ungeeignet erscheinen lässt. Diese Prüfung habe auf Grund des aus Artikel 4 BV abgeleiteten Verhältnismässigkeitsgrundsatzes zu erfolgen59. Der gute Leumund muss somit im Hinblick auf die Natur der Anwaltstätigkeit beurteilt werden. Sind die vorgeworfenen Tatsachen strafrechtlich nicht relevant, muss aber grosse Zurückhaltung geübt werden60. Im Vernehmlassungsverfahren wurde die Voraussetzung des guten Leumunds von verschiedenster Seite als veraltet kritisiert. Gewisse Kantone erteilen keine «Leumundszeugnisse» mehr. Da die Anwältinnen und Anwälte dieser Kantone ihren guten Leumund nicht mehr mit einer offiziellen Bescheinigung nachweisen können, ist im vorliegenden Entwurf auf diese Voraussetzung verzichtet worden.

57 58 59 60

Vgl. Rothenbühler, S. 60 f.

Vgl. Wolffers, S. 72 f.

BGE 104 Ia 189.

BGE 106 Ia 105.

6049

232.51

Handlungsfähigkeit (Art. 7 Bst. a)

Mehrere kantonale Gesetze schreiben ausdrücklich vor, dass die Anwältinnen und Anwälte handlungsfähig sein müssen. Die einhellige Lehre ist der Auffassung, dass das Erfordernis der Handlungsfähigkeit selbst dann gefordert werden kann, wenn es in der kantonalen Gesetzgebung nicht ausdrücklich erwähnt wird61. Es wäre in der Tat unverständlich, dass eine Person eine andere vertreten könnte, wenn sie nicht einmal in der Lage wäre, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu besorgen. Da es theoretisch möglich ist, dass eine Anwältin oder ein Anwalt die übrigen persönlichen Voraussetzungen erfüllt, aber für handlungsunfähig erklärt worden ist, muss die Voraussetzung der Handlungsfähigkeit in das Gesetz aufgenommen werden. Die Handlungsfähigkeit muss jedoch nicht bewiesen werden; sie wird vielmehr vermutet.

232.52

Keine strafrechtliche Verurteilung, wegen Handlungen, die mit dem Anwaltsberuf nicht zu vereinbaren sind (Art. 7 Bst. b)

Das Vertrauensverhältnis, das zwischen einer Anwältin oder einem Anwalt und der Klientschaft bestehen muss, kann gestört sein, wenn die Anwältin oder der Anwalt nicht vollumfänglich für Seriosität und Ehrenhaftigkeit bürgt. Allerdings ist nicht jede strafrechtliche Verurteilung geeignet, dieses Vertrauensverhältnis zu beeinträchtigen. Anwältinnen und Anwälten, die wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen gebüsst worden sind, kann das Recht zur Berufsausübung in einem Kanton nicht aus diesem Grund verweigert werden. Es können nur solche Verurteilungen Auswirkungen auf die Ausübung des Anwaltsberufs haben, die mit dem Anwaltsberuf nicht vereinbar sind (zum Beispiel Vermögensdelikte). Das Gesetz bestimmt zudem, dass ein gelöschter Strafregistereintrag einer Anwältin oder einem Anwalt nicht entgegengehalten werden kann.

232.53

Keine gegen sie bestehenden Verlustscheine und kein Konkurs in den vergangenen zehn Jahren (Art. 7 Bst. c und d)

Die Voraussetzung der Zahlungsfähigkeit der Anwältinnen und Anwälte findet sich ebenfalls in mehreren kantonalen Gesetzgebungen. Vertrauen Klientinnen und Klienten ihren Anwältinnen und Anwälten ihr Vermögen an, sollten diese selber zahlungsfähig sein. Anwältinnen und Anwälte sollten in finanzieller Hinsicht alle wünschbaren Garantien geben können. Artikel 26 Absatz 1 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs62 sieht ausdrücklich vor, dass die fruchtlose Pfändung und die Konkurseröffnung öffentlichrechtliche Folgen haben können, wie beispielsweise die Unfähigkeit, einen bewilligungspflichtigen Beruf oder bewilligungspflichtige Tätigkeiten auszuüben. Nach Artikel 7 Buchstabe c dürfen gegen Anwältinnen und Anwälte weder provisorische noch definitive Verlustscheine bestehen.

Nach Artikel 7 Buchstabe d dürfen diese zudem in den vergangenen zehn Jahren 61 62

Vgl. Wolffers, S. 67 und die dort zitierten Hinweise.

SR 281.1

6050

nicht persönlichen Konkurs gemacht haben, auch wenn gegen sie (beispielsweise im Falle eines Nachlassvertrags) keine Verlustscheine ausgestellt worden sind.

232.54

Unabhängigkeit (Art. 7 Bst. e)

Die Aufsichtsbehörde prüft bereits im Zeitpunkt des Antrags auf Eintragung in das kantonale Anwaltsregister, ob die Anwältin oder der Anwalt die Voraussetzung der unabhängigen Berufsausübung erfüllt (vgl. Ziff. 172.1).

232.6

Löschung des Registereintrags (Art. 8)

Stellt die Aufsichtsbehörde fest, dass eine Anwältin oder ein Anwalt eine der Voraussetzungen für den Registereintrag nicht mehr erfüllt, hat sie die Löschung des Eintrags von Amtes wegen vorzunehmen. Da die Löschung auf Grund von Bundesrecht vollzogen wird, steht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht offen. Die Löschung hat demnach in Form einer Verfügung zu ergehen, gegen welche auf kantonaler Ebene Gerichtsbeschwerde eingereicht werden kann.

232.7

Einsicht in das Register (Art. 9)

Nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben a und b ist die Einsicht in das Anwaltsregister den eidgenössischen und kantonalen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden (im Bundesrecht sind die Gemeindebehörden im Begriff «kantonale Behörden» miteingeschlossen) sowie den Verwaltungs- und Gerichtsbehörden der Mitgliedstaaten der EU vorbehalten, vor denen eine Anwältin oder ein Anwalt auftritt. Eine Behörde kann folglich nicht grundlos Registereinsicht verlangen. Die Anwältin oder der Anwalt muss sich im Zusammenhang mit der Ausübung des Anwaltsberufs an diese Behörde gewendet haben. Handelt eine Anwältin oder ein Anwalt ausserhalb des Anwaltsberufs als Privatperson, hat die Behörde kein Recht auf Einsicht in das Register. Die kantonalen Aufsichtsbehörden hingegen können uneingeschränkt Registereinsicht verlangen (Art. 9 Bst. c).

Im Anwaltsgesetz muss vorgesehen werden, dass die betroffenen Personen ­ die Anwältinnen und Anwälte ­ in Bezug auf ihren Eintrag im Register Einsicht verlangen können (Art. 9 Bst. d, analog zu Art. 8 Abs. 1 DSG). Da die kantonalen Register nicht von Bundesstellen geführt werden, gilt das Datenschutzgesetz für die Behandlung der Daten in den kantonalen Register grundsätzlich nicht, es sei denn, die Kantone hätten noch keine Datenschutzbestimmungen erlassen. Nach Artikel 37 Datenschutzgesetz gelten nämlich für das Bearbeiten von Personendaten durch kantonale Organe beim Vollzug von Bundesrecht, soweit keine kantonalen Datenschutzvorschriften bestehen, die Artikel 1­11, 16­23 und 25 Absätze 1­3 Datenschutzgesetz. Gegenwärtig verfügen sechzehn Kantone63 über eigene Datenschutzgesetze. Ein Kanton64 hat einige Mindestbestimmungen in sein Verwaltungsverfah-

63 64

BBl 1997 I 723.

St. Gallen.

6051

rensgesetz aufgenommen. Vier Kantone65 haben hingegen nur Richtlinien erlassen und fünf Kantone66 haben überhaupt keine Regelung. Nach Artikel 37 Datenschutzgesetz gilt in diesen neun Kantonen folglich derzeit67 das Datenschutzgesetz.

Auch wenn der Inhalt des Registers nicht öffentlich ist, sollte jede Person bei der Aufsichtsbehörde anfragen können, ob eine Anwältin oder ein Anwalt im Register eingetragen ist und ob gegen sie oder ihn ein Berufsausübungsverbot verhängt ist.

Eine Klientschaft, selbst eine potenzielle, muss sich vergewissern können, ob die Anwältin oder der Anwalt, die oder den sie konsultiert, befähigt ist, den Beruf auszuüben. Ein Berufsausübungsverbot muss im Zeitpunkt der Antwort allerdings wirksam sein; ein früher ergangenes provisorisches Verbot darf nicht mitgeteilt werden.

Die Aufsichtsbehörde kann eine Liste mit den im Register eingetragenen Anwältinnen und Anwälte veröffentlichen. Mehrere Kantone veröffentlichen bereits heute auf unterschiedliche Arten Listen mit den Anwältinnen und Anwälten, die zur Berufsausübung zugelassen sind68. Jede Person kann sich folglich bei der Aufsichtsbehörde vergewissern, dass eine Anwältin oder ein Anwalt, die oder der vorgibt, im Register eingetragen zu sein, es tatsächlich auch ist.

232.8

Berufsbezeichnung (Art. 10)

Während in der französischen und in der italienischen Schweiz die Anwältinnen und Anwälte alle dieselbe Berufsbezeichnung haben (französisch: avocat; italienisch: avvocato), findet man in der deutschen Schweiz je nach Kanton unterschiedliche Titel: «Rechtsanwalt», «Fürsprecher», «Fürsprech» oder «Advokat». Will sich beispielsweise eine Person, welche die Berufsbezeichnung «Fürsprecher» erhalten hat, ins Register eines Kantons eintragen lassen, in dem die Berufsbezeichnung «Rechtsanwalt» lautet, sollte sie die Möglichkeit haben, den gleichwertigen Titel dieses Kantons zu verwenden. Nach dem Anwaltsgesetz ist das Recht, die Berufsbezeichung eines Kantons zu verwenden, vom Registereintrag abhängig. Anwältinnen und Anwälte, die nur gelegentlich in einem anderen Kanton Parteien vor Gericht vertreten, in dem sie nicht eingetragen sind, dürfen die Berufsbezeichnung dieses Kantons nicht verwenden.

Damit erkennbar ist, dass eine Anwältin oder ein Anwalt in einem Register eingetragen ist und dass sie oder er folglich die Berufsregeln einzuhalten hat, muss sie oder er im Geschäftsverkehr den Registereintrag angeben. Um den Gewohnheiten und der Praxis in den welschen Kantonen Rechnung zu tragen, sollen Anwältinnen und Anwälte auch die Zugehörigkeit zu einem «barreau» statt dem Registereintrag erwähnen dürfen. Diese Möglichkeit bezieht sich demnach nur auf den französischen Text des Anwaltsgesetzes.

65 66 67 68

SO, AR, GR, AG.

OW, NW, GL, ZG, AI.

In NW, GL, ZG, SO und GR wird ein Gesetz ausgearbeitet.

Beispielsweise veröffentlicht der Kanton Neuenburg jedes Jahr im offiziellen Jahrbuch der Republik und des Kantons Neuenburg die Liste der offiziell beim "rôle officiel du barreau" eingetragenen Anwältinnen und Anwälte. Die Liste der Anwältinnen und Anwälte anderer Kantone, die zur Parteienvertretung zugelassen sind, können beim Kantonsgericht angefordert werden.

6052

Die Berufsbezeichnung für Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU wird in den Artikeln 22 (im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs und im Rahmen der ständigen Ausübung des Anwaltsberufs unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung vgl. Art. 25 Abs. 2) und 31 (nach dem Registereintrag) geregelt.

Eine Regelung der Berufsbezeichnung für ausländische Anwältinnen und Anwälte, die nicht aus Mitgliedstaaten der EU kommen, ist nicht nötig. Es gibt zurzeit zwei mögliche Fallbeispiele: Sind erstens ausländische Anwältinnen und Anwälte im Rahmen des GATS tätig, sind sie von der monopolisierten Anwaltstätigkeit ausgeschlossen und können nur Rechtsberatung im internationalen Recht und im Recht ihres Herkunftsstaats vornehmen. Nach Artikel 2 unterstehen sie diesem Gesetz nicht. Zweitens können ausländische Anwältinnen und Anwälte, die nicht aus Mitgliedstaaten der EU kommen, ausnahmsweise von einem Kanton die Bewilligung zur Vertretung von Parteien vor Gericht erhalten. Sie kommen jedoch nicht in den Genuss der interkantonalen Freizügigkeit und können demnach in den anderen Kantonen nicht Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten. Es handelt sich folglich um ein ausschliesslich kantonales Problem.

233

Berufsregeln und Disziplinaraufsicht (3. Abschnitt)

233.1

Allgemeines

Die Berufsregeln sind von den Standesregeln zu unterscheiden69. Die Berufsregeln werden von einer Behörde erlassen, um einen bestimmten Beruf im öffentlichen Interesse zu reglementieren. Die Standesregeln hingegen werden von den Berufsorganisationen (Anwaltsverbände, Anwaltskammern) beschlossen. Während die Berufsregeln für alle praktiziernden Anwältinnen und Anwälte gelten, sind die Standesregeln nur für Mitglieder der betreffenden Berufsorganisation direkt anwendbar70. 1974 hat der SAV «Richtlinien für die Pflichten-Codices der kantonalen Anwaltsverbände» erlassen. In diesem Zusammenhang sind auch die «Standesregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Gemeinschaft»71 zu erwähnen, die von den Delegationen der Mitgliedstaaten, welche die Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft (Conseil des barreaux de la Communauté Européenne, CCBE) vertreten, angenommen worden sind. Diese Standesregeln sind vom SAV übernommen worden. Sie gelten für die Beziehungen zwischen den Schweizer Anwältinnen und Anwälten und den Anwältinnen und Anwälten der EU.

In der Praxis sind die Berufsregeln allerdings oft sehr allgemein formuliert und werden im Lichte der Standesregeln ausgelegt. Das Bundesgericht ist der Auffassung, dass die Standesregeln von den Aufsichtsbehörden in dem Masse herangezogen werden können, als sie eine Präzisierung des Inhalts der Berufsregeln erlauben 72.

Ein einfacher Verweis in einem kantonalen Gesetz auf die Standesregeln führt je69 70

71 72

Vgl. Wolffers, S. 11 ff.; Rothenbühler, S. 55 ff.

Im Kanton Tessin und im Kanton Jura sind die Anwaltsverbände öffentlichrechtlicher Natur und der Beitritt ist obligatorisch. Die Standesregeln gelten deshalb für alle Anwältinnen und Anwälte. Im Kanton Bern fordert Artikel 8 des Gesetzes über die Fürsprecher, dass die Fürsprecherinnen und Fürsprecher «die allgemein anerkannten Regeln ihres Berufsstandes und des kollegialen Verhaltens» befolgen; ist eine Standesregel tatsächlich eine allgemein anerkannte Regel, gilt sie folglich für alle Anwältinnen und Anwälte.

Vgl. Statuten und Richtlinien des SAV, Heft Nr. 90, S. 56.

BGE 98 Ia 356 E. 3.

6053

doch zu gewissen Problemen hinsichtlich der gesetzlichen Grundlage73. Indem das vorliegende Anwaltsgesetz die Berufsregeln für die Anwaltstätigkeit auf Bundesebene festlegt, trägt es zur Klärung der Beziehung zwischen den Berufsregeln und den Standesregeln in der ganzen Schweiz bei. Eine solche Vereinheitlichung drängt sich umso mehr auf, als mit dem Abschluss der bilateralen Verhandlungen Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU nach den Modalitäten der Richtlinien 77/249/EWG, 89/48/EWG und 98/5/EG auf dem Gebiet der Schweiz praktizieren werden können. Aus Transparenzgründen sollten auch nicht mehr 26 verschiedene kantonale Regelungen nebeneinander bestehen ­ weder der Form noch dem Inhalt nach; diese sollten vielmehr durch eine klare Regelung ersetzt werden, die sich auf das Wesentliche beschränkt. Die Standesregeln sind nach wie vor nützlich, um die eidgenössischen Berufsregeln und die Verpflichtungen der Anwältinnen und Anwälte bei der Mandantsführung zu präzisieren.

233.2

Berufsregeln (Art. 11)

Das Anwaltsgesetz vereinheitlicht auf Bundesebene die Berufsregeln für den Anwaltsberuf abschliessend (vgl. Ziff. 172.2).

233.21

Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit (Art. 11 Bst. a)

Der Katalog der Berufsregeln enthält als Erstes eine Generalklausel, wonach die Anwältinnen und Anwälte ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft auszuüben haben. Die Pflicht zur Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bei der Berufsausübung beschränkt sich nicht nur auf die Beziehung zwischen ihnen und ihren Klientinnen und Klienten; sie gilt auch für ihr Verhalten gegenüber den Gerichtsbehörden. Nach Artikel 11 Buchstabe a wird von den Anwältinnen und Anwälten folglich bei ihrer gesamten Anwaltstätigkeit ein korrektes Verhalten verlangt. Eine entsprechende Generalklausel findet sich heute auch in den Berufsregeln mehrerer Kantone.

233.22

Unabhängigkeit (Art. 11 Bst. b)

Die Problematik der Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte ist unter Ziffer 172.1 umfassend erläutert worden. Das Anwaltsgesetz schliesst grundsätzlich nicht aus, dass angestellte Anwältinnen und Anwälte ins Register eingetragen werden können, solange kein Konflikt zwischen den Interessen des Arbeitgebers und den Interessen der Klientschaft entstehen kann. Der Status angestellter Anwältinnen und Anwälte kann allerdings ein Risiko für die Interessen der Klientinnen und Klienten darstellen. Es ist deshalb wichtig, dass die Unabhängigkeit der Anwältinnen und Anwälte objektiv gewährleistet werden kann. Eine formelle Garantie dieser Unabhängigkeit im Arbeitsvertrag genügt nicht, wenn der Arbeitgeber objektiv ein direktes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat74. Es ist jedoch zu betonen, dass die Forderung der Unabhängigkeit sich nicht nur im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses 73 74

Vgl. Dominique Dreyer, L'avocat dans la société actuelle, ZSR 115/1996, S. 504.

BGE 123 I 193; vgl. auch Franz Werro, Les conflits d'intérêt de l'avocat, in: Schweizerisches Anwaltsrecht, W. Feldmann (Hrsg.), Bern 1998, S. 241.

6054

stellt. Anwältinnen und Anwälte haben im Allgemeinen jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und den Interessen von Personen, mit denen sie geschäfltich oder privat in Beziehung stehen, zu vermeiden.

Das Anwaltsgesetz stellt den Grundsatz auf, dass alle Anwältinnen und Anwälte zur Unabhängigkeit verpflichtet sind, sobald sie nach kantonalem Recht zur Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden zugelassen sind. Auch angestellte Anwältinnen und Anwälte sind verpflichtet, unabhängig, in eigenem Namen und auf eigene Verantwortung zu handeln. Werden in einem Unternehmen angestellte Anwältinnen und Anwälte auf Grund der «liberalen» Praxis eines Kantons in dessen Anwaltsregister eingetragen, können die anderen Kantone ihnen das Recht zur Parteienvertretung auf ihrem Gebiet nicht auf Gund der Tatsache, dass sie angestellt sind, verweigern.

Die Unabhängigkeit wird vermutet, sobald ein Kanton zulässt, dass Anwältinnen und Anwälte in dem ihnen vorbehaltenen Monopolbereich tätig werden. Bestehen Zweifel an der Unabhängigkeit einer Anwältin oder eines Anwalts, kann die Aufsichtsbehörde ein Disziplinarverfahren eröffnen.

233.23

Berufsgeheimnis (Art. 11 Bst. c)

Das Bundesgericht hatte Gelegenheit, die wichtigsten Elemente zu bestimmen, die das Berufsgeheimnis begründen und rechtfertigen75. Das Berufsgeheimnis liegt sowohl im Interesse der Klientschaft, die sich ganz auf die Diskretion ihrer Anwältin oder ihres Anwalts verlassen können muss, als auch im Interesse der Anwältinnen und Anwälte selbst und in demjenigen der Justiz, für welche die Anwältinnen und Anwälte Hilfspersonen sind76. Nach Artikel 321 des Strafgesetzbuches77 ist die Verletzung des Berufsgeheimnisses strafbar.

Die Bestimmung des Umfangs der Tätigkeiten, die unter das Berufsgeheimnis fallen, ist manchmal schwierig. Die Tätigkeit im Rahmen des Anwaltsmonopols ist zweifellos geschützt. So umfasst das Berufsgeheimnis sämtliche der Anwältin oder dem Anwalt anvertrauten Tatsachen und Dokumente, die einen gewissen Bezug zur Ausübung des Anwaltsberufs haben. Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts78 können sich Anwältinnen und Anwälte, die für eine Klientschaft andere Tätigkeiten als spezifische Anwaltstätigkeiten ausüben, demgegenüber nicht auf das Anwaltsgeheimnis berufen. Wirtschaftliche Tätigkeiten von Anwältinnen und Anwälten, wie beispielsweise die Verwaltung von Gesellschaften und Vermögen, die Betreuung von Fonds, also Tätigkeiten, die auch von Vermögensverwaltern, Treuhändern und Bankiers ausgeübt werden können, werden vom Anwaltsgeheimnis nicht geschützt.

Es muss deshalb von Fall zu Fall geprüft werden, ob die Tätigkeit der Anwältin oder des Anwalts wirklich spezifisch ist oder ob sie eher zu den Tätigkeiten eines Treuhandbüros, einer Bank oder einer Vermögensverwaltung gehört (vgl. auch Ziff. 13).

Nach Artikel 101 des Obligationenrechts (OR)79 sind Anwältinnen und Anwälte für den Schaden verantwortlich, den Hilfspersonen bei der Erfüllung der anvertrauten 75 76 77 78 79

BGE 112 Ib 607.

BGE 117 Ia 348.

SR 311.0 BGE 87 IV 108; BGE 112 Ib 606; BGE vom 11. April 1996 in der Rechtssache K. gegen die Anklagekammer des Kantons Genf.

SR 220

6055

Aufgabe begehen. Artikel 11 Buchstabe c auferlegt den Anwältinnen und Anwälten deshalb die Pflicht, dafür zu sorgen, dass ihre Hilfspersonen das Berufsgeheimnis wahren. Der Begriff der Hilfsperson ist mit demjenigen in Artikel 101 OR identisch.

233.24

Werbung (Art. 11 Bst. d)

Die Frage der Werbung für Anwältinnen und Anwälte war in der Lehre bereits Gegenstand zahlreicher Ausführungen und Kontroversen 80. Die Tendenz geht allerdings in Richtung einer klaren Lockerung des grundsätzlichen Verbots. Zahlreiche Faktoren tragen hierzu bei81: ­

Ein Teil der Anwaltstätigkeit, der immer wichtiger wird, betrifft die Rechtsberatung, für die kein Anwaltsmonopol besteht; die Anwältinnen und Anwälte fühlen sich gegenüber den Treuhandbüros und den Banken deshalb benachteiligt82;

­

Anwältinnen und Anwälte der Kantone, in denen Werbung verboten ist, sind gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen, die in Kantonen mit einer liberaleren Praxis arbeiten, diskriminiert; der Wettbewerb unter den Anwältinnen und Anwälten, eine unmittelbare Folge der Freizügigkeit, ist deshalb verfälscht;

­

in Anbetracht der Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte ist es für Klientinnen und Klienten unerlässlich, über gewisse Informationen für die Auswahl ihrer Anwältin oder ihres Anwalts zu verfügen;

­

ein Werbeverbot ist mit dem Kartellgesetz nicht vereinbar83;

­

in den meisten europäischen Staaten hat in den letzten Jahren in diesem Bereich eine klare Liberalisierung stattgefunden, namentlich in Deutschland, in Grossbritannien, in Irland, in den Niederlanden und in Dänemark; nur Italien, Spanien, Portugal und Griechenland kennen noch ein absolutes Werbeverbot84.

Ein generelles Werbeverbot ist folglich weder für Anwältinnen und Anwälte noch für die Klientschaft mehr zu rechtfertigen. Es besteht folglich kaum mehr ein öffentliches Interesse an einem Werbeverbot. Die Möglichkeit, Hinweise auf Spezialisierungen in die Anwaltsverzeichnisse aufzunehmen, besteht in einigen Kantonen bereits, in anderen Kantonen hingegen nicht85. In Bezug auf die Standesregeln hat der SAV am 6. Juni 1997 Ziffer 6 seiner Richtlinien geändert, die nun lautet: «Die anwaltliche Werbung ist innerhalb der eidgenössischen und kantonalen gesetzlichen 80

81 82 83 84 85

Vgl. insbes. Wolffers, S. 150 ff.; Dreyer, S. 459 ff.; Mirco Ros, Anwalt und Werbung ­ Ein Tabu im Wandel der Zeit, in: Schweizerisches Anwaltsrecht, W. Fellmann (Hrsg.), Bern 1998, S. 307.

Vgl. Philippe Richard, La publicité personnelle de l'avocat, in: Schweizerisches Anwaltsrecht, W. Fellmann (Hrsg.), Bern 1998, S. 327 ff.

Max Oesch, Bekanntmachung der Tätigkeitsgebiete der Rechtsanwälte, in: Der Schweizer Anwalt, 145/1993, S. 5 ff.

Pierre Tercier, Les avocats et la concurrence, in: Der Schweizer Anwalt, 160/1996, S. 12 ff.

Vgl. Ros, S. 318 ff.

Vgl. Lelio Vieli, Spezialisierung oder bevorzugtes Tätigkeitsgebiet ­ Werbung oder Information, in: Der Schweizer Anwalt, 145/1993, S. 9 ff.; Pierre Jomini, L'avocat vaudois et la publicité, in: Der Schweizer Anwalt, 145/1993, S. 14 ff.

6056

Schranken unter Wahrung der Würde des Anwaltsberufes und Respektierung des Berufsgeheimnisses erlaubt. Es bleibt den kantonalen Verbänden vorbehalten, im Rahmen dieser Grundsätze präzisierende Vorschriften zu erlassen.»86 Die Standesregeln der Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft (CCBE) beschränken sich darauf, den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten die persönliche Werbung zu verbieten, «wo dies unzulässig ist» (Ziff. 2.6). Im Mai 1997 haben die Rechtsanwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft eine Empfehlung betreffend die persönliche Werbung von Anwältinnen und Anwälten angenommen. Danach sollen im Bereich der individuellen oder kollektiven Anwaltswerbung sämtliche Anwaltskammern Regeln beschliessen, die der Öffentlichkeit das Recht auf Informationen über die Identität und Qualifikationen der Anwältinnen und Anwälte gewähren. Dabei sollten aber die Grundsätze des Anwaltsberufs, namentlich das Berufsgeheinmis, die Unabhängigkeit, die Zurückhaltung und Würde, streng beachtet werden, ohne jedoch den freien Wettbewerb zu behindern.

Das Anwaltsgesetz trägt diesen neueren Entwicklungen Rechnung und ermöglicht allen in der Schweiz praktizierenden Anwältinnen und Anwälten, Werbung zu machen. In materieller Hinsicht hat diese Werbung jedoch immer objektiv zu bleiben und beispielsweise besondere Kenntnisse, bevorzugte Tätigkeitsbereiche oder Tarife aufzuzeigen. Das Anwaltsgesetz verzichtet auf den Bezug zur «Berufswürde», um die Grenzen der Werbung festzulegen, da dieser Begriff zu unklar ist. Es versteht sich von selbst, dass Anwältinnen und Anwälte bei der Werbung sämtliche Berufsregeln, namentlich das Berufsgeheimnis, wahren müssen.

233.25

Andere Berufsregeln (Art. 11 Bst. e­j)

Artikel 11 Buchstaben e­j betreffen eher technische Punkte, die weitest gehend mit den heutigen kantonalen Regeln übereinstimmen. In gewissem Sinne handelt es sich um eine Kodifikation des kantonalen Rechts. Das Verbot des pactum de quota litis (Bst. e) ist in den meisten kantonalen Gesetzen enthalten. Die Verpflichtung, eine ausreichende Berufshaftpflichtversicherung abzuschliessen (Bst. f), ist im formellen Sinne hingegen neu87, obwohl in der Praxis die meisten Anwältinnen und Anwälte bereits entsprechend versichert sind. Die Verpflichtung, amtliche Pflichtverteidigungen und unentgeltliche Rechtsvertretungen zu übernehmen, wird künftig auf die Kantone beschränkt, in deren Register die Anwältinnen und Anwälte eingetragen sind (Bst. g). Nach Buchstabe h sind sie verpflichtet, die ihnen anvertrauten Gelder getrennt von ihrem Vermögen aufzubewahren. Einerseits haben die Gläubiger einer Anwältin oder eines Anwalts keine Möglichkeit, auf die anvertrauten Gelder zu greifen, wenn diese mit dem persönlichen Vermögen nicht vermischt worden sind.

Andererseits müssen die anvertrauten Gelder und das persönliche Vermögen aus fiskalischer Sicht getrennt bleiben. Zur Vermeidung von Streitigkeiten über die Höhe der Honorare verpflichtet Artikel 11 Buchstabe i die Anwältinnen und Anwälte, ihre 86

87

Die alte Ziffer 6 der Richtlinien des SAV lautete: «Der Anwalt unterlässt jegliche Reklame und jeglichen Kundenfang. Bei Erklärungen an Radio, Presse oder Fernsehen übt er Zurückhaltung.» Im Kanton Genf beispielsweise enthält Artikel 16 des Genfer Anwaltsgesetzes eine Bestimmung, wonach der Regierungsrat in einem Reglement beschliessen kann, dass die Anwältinnen und Anwälte eine Berufshaftpflichtversicherung abschliessen müssen. Der Regierungsrat hat von dieser Möglichkeit allerdings keinen Gebrauch gemacht.

6057

Klientinnen und Klienten periodisch über die Höhe des geschuldeten Honorars zu informieren. Diese Obliegenheit besteht in einigen Kantonen bereits, manchmal in Form einer Bestimmung, die den Anwältinnen und Anwälten vorschreibt, von ihrer Klientschaft nach Massgabe der Entwicklung des Rechtsstreits ausreichende Vorschüsse zu verlangen. Schliesslich soll die Verpflichtung der Anwältinnen und Anwälte, der Aufsichtsbehörde jede Änderung der sie betreffenden Daten im Register mitzuteilen, dazu dienen, das Anwaltsregister auf dem neuesten Stand zu halten (vgl.

Ziff. 232.3).

233.3

Kantonale Aufsichtsbehörde (Art. 12)

Die Beachtung der Berufsregeln muss durch Disziplinarbehörden sichergestellt werden. Die Kantone kennen derzeit verschiedene Systeme: Entweder haben sie diese Aufgabe der Exekutive (Regierungsrat oder Justizdepartement) oder den Gerichtsbehörden (Kantonsgericht) oder auch Kommissionen, die aus Richterinnen und Richtern sowie Anwältinnen und Anwälten zusammengesetzt sind (Anwaltskammern, die in der Regel dem Kantonsgericht angehängt sind), übertragen. Einige Kantone haben die Disziplinaraufsicht Berufsorganisationen (Anwaltsverbände) übertragen. Das Anwaltsgesetz schreibt nur vor, dass die Kantone eine Aufsichtsbehörde schaffen müssen. Die Zusammensetzung und die Organisation dieser Behörde sowie die Regelung des Verfahrens werden den Kantonen überlassen. Diese können die Zuständigkeit zur Ausübung der Disziplinaraufsicht auch einem Anwaltsverband übertragen.

Da die Berufsregeln und die Disziplinarmassnahmen künftig bundesrechtlich geregelt sind, können diesbezügliche Entscheide der kantonalen Aufsichtsbehörden Gegenstand einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht nach den Artikeln 97 ff. des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG)88 sein. Wenn die Aufsichtsbehörde keine gerichtliche Instanz ist, müssen die Kantone demnach eine richterliche Rekursbehörde vorsehen (Art. 98a OG).

Die Frage, ob eine Disziplinarmassnahme «strafrechtlicher Natur» im Sinne von Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)89 ist, kann somit offen bleiben. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat allerdings entschieden, dass nach den Grundsätzen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Engel90 entwickelt hatte, ein Disziplinarverfahren, das gegenüber einer Anwältin oder einem Anwalt eröffnet wird und das zu einer Verwarnung führt, keine strafrechtliche Sanktion im Sinne von Artikel 6 EMRK darstellt91. Der ­ wenn auch befristete ­ Entzug der Bewilligung zur Ausübung eines freien Berufs stellt hingegen eine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne von Artikel 6 EMRK dar und muss deshalb einem Gericht unterbreitet werden können, das den Anforderungen von Artikel 6 EMRK genügt92.

88 89 90 91 92

SR 173.110 SR 0.101 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Engel vom 8. Juni 1976, Serie A Nr. 22, S. 34.

Requête no 8249/79, X c/Belgique, déc. 5. 5. 80, D. R. 20, S. 40.

BGE 123 I 87 ff.; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil H. c/Belgique vom 30. November 1987, Serie A Nr. 97, S. 14 ff.

6058

Nach Artikel 12 des vorliegenden Gesetzesentwurfs ist jede Aufsichtsbehörde verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Berufsregeln beachtet werden. Für Vorfälle, die sich in ihrem Kantonsgebiet ereignet haben, hat sie gegebenenfalls ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Die Aufsicht wird über die gesamte Anwaltstätigkeit ausgeübt und nicht nur über die Tätigkeit im Rahmen des kantonalen Monopols.

233.4

Meldepflicht (Art. 13)

Nach Artikel 13 Absatz 1 haben die kantonalen Gerichts- und Verwaltungsbehörden der Aufsichtsbehörde ihres Kantons ­ und nicht der Aufsichtsbehörde des Kantons, in dessen Register die betroffene Person eingetragen ist ­ die ihnen bekannt werdenden Vorfälle, die eine Verletzung der Berufsregeln beinhalten könnten, unverzüglich mitzuteilen. Das Anwaltsgesetz erwähnt die Möglichkeit für die Klientinnen und Klienten einer Anwältin oder eines Anwalts, sich an die Aufsichtsbehörde zu wenden, nicht ausdrücklich; dies versteht sich von selbst. Die eidgenössischen Gericht- und Verwaltungsbehörden haben Vorfälle der Aufsichtsbehörde desjenigen Kantons zu melden, in dem eine Anwältin oder ein Anwalt im Register eingetragen ist (Abs. 2).

233.5

Disziplinarverfahren in einem anderen Kanton (Art. 14)

In Übereinstimmung mit der Mehrheit der kantonalen Gesetze93 sieht das Anwaltsgesetz vor, dass sich die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörden auf sämtliche Anwältinnen und Anwälte erstreckt, die ihren Beruf auf dem Kantonsgebiet ausüben, unabhängig davon, ob diese dort eine Geschäftsadresse haben oder nicht (Art. 12). Artikel 14 Absatz 1 des Gesetzesentwurfs schreibt allerdings vor, dass die Aufsichtsbehörde, die gegen eine Anwältin oder einen Anwalt, die oder der nicht im Register dieses Kantons eingetragen ist, ein Disziplinarverfahren eröffnet, die Aufsichtsbehörde des Kantons, in dessen Register die Anwältin oder der Anwalt eingetragen ist, darüber informieren muss. Wird beabsichtigt, eine Disziplinarmassnahme auszusprechen, hat jene das Recht, zum Ergebnis der Untersuchung Stellung zu nehmen.

Eine allfällige Intervention jener Aufsichtsbehörde kann sich zu Gunsten, aber auch zu Ungunsten der betroffenen Anwältin oder des betroffenen Anwalts auswirken.

Dieses System stellt sicher, dass die «zur Hauptsache» zuständige Aufsichtsbehörde über den Verlauf eines Disziplinarverfahrens in einem anderen Kanton auf dem Laufenden ist. Dadurch soll die Zusammenarbeit unter den Aufsichtsbehörden verstärkt und im Bereich der Disziplinarmassnahmen möglichst eine einheitliche Praxis entwickelt werden. Das Ergebnis des Disziplinarverfahrens ist der «zur Hauptsache» zuständigen Aufsichtsbehörde mitzuteilen (Abs. 3). Ist eine Disziplinarmassnahme ausgesprochen worden, wird sie, sobald sie in Kraft getreten ist, von der «zur Hauptsache» zuständigen Aufsichtsbehörde ins Register eingetragen (Art. 4 Abs. 2).

93

Vgl. beispielsweise Art. 48 Abs. 2 des Genfer Anwaltsgesetzes.

6059

233.6

Disziplinarmassnahmen (Art. 15)

Zwecks Harmonisierung der Praxis im Bereich des Disziplinarrechts und parallel zur Einführung abschliessender Berufsregeln auf Bundesebene, vereinheitlicht das Anwaltsgesetz die Disziplinarmassnahmen.

In einigen kantonalen Gesetzen wird die Verwarnung nicht als Disziplinarmassnahme betrachtet. Das Bundesgericht ist aber zu Recht der Auffassung, dass gewissenhafte Anwältinnen und Anwälte eine Verwarnung als ebenso strenge Massnahme empfinden können wie einen Verweis94. Würde man den disziplinarischen Charakter der Verwarnung ablehnen, hätte dies zur Folge, dass Anwältinnen und Anwälte, welche die Sanktion für ungerechtfertigt hielten, keine Beschwerdemöglichkeit hätten. Das Anwaltsgesetz sieht deshalb die Verwarnung als schwächste Disziplinarmassnahme vor.

Artikel 15 Absatz 2 verdeutlicht, dass eine Busse zusätzlich zu einem befristeten oder dauernden Berufsausübungsverbot angeordnet werden kann.

Nach Artikel 15 Absatz 3 kann die Aufsichtsbehörde die Berufsausübung nötigenfalls vorsorglich verbieten. Eine solche vorsorgliche Massnahme darf selbstverständlich nur dann ergriffen werden, wenn schwerwiegende Gründe es rechtfertigen, d. h. wenn die Anordnung eines Berufsausübungsverbots als Disziplinarmassnahme als sehr wahrscheinlich erscheint und ein Berufsausübungsverbot bereits während der Dauer des Disziplinarverfahrens im Interesse der Öffentlichkeit angezeigt erscheint. Heute sehen mehrere kantonale Regelungen ebenfalls ein solches vorsorgliches Verbot der Berufsausübung vor.

233.7

Geltung des Berufsausübungsverbots (Art. 16)

Das befristete oder dauernde Verbot der Berufsausübung stellt die strengste Disziplinarmassnahme dar, da es Anwältinnen und Anwälte daran hindert, im Rahmen des Anwaltsmonopols Parteien vor Gerichtsbehörden zu vertreten. Den übrigen Tätigkeiten können sie aber weiterhin nachgehen und beispielsweise Rechtsberatungen vornehmen95. Ein dauerndes Berufsausübungsverbot kann nur ausgeprochen werden, wenn auf Grund einer Gesamtbewertung der bisherigen Berufstätigkeit der Anwältin oder des Anwalts eine andere Sanktion als ungenügend erscheint, um für die Zukunft ein korrektes Verhalten zu gewährleisten96.

Infolge der Vereinheitlichung der Berufsregeln und der Disziplinarmassnahmen auf Bundesebene kann die Geltung des Berufsausübungsverbots, das von einer kantonalen Aufsichtsbehörde über die Anwältinnen und Anwälte angeordet wird, auf das gesamte Gebiet der Schweiz ausgedehnt werden. Da gegen Disziplinarentscheide wegen Verletzung der Berufsregeln die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ergriffen werden kann, werden die Unterschiede in der Praxis der Kantone nicht allzu gross sein.

Damit das Berufsausübungsverbot tatsächlich wirksam ist, muss es den Aufsichtsbehörden der übrigen Kantone mitgeteilt werden (Abs. 2).

94 95 96

BGE 103 Ia 428.

Vgl. Wolffers, S. 188.

BGE 106 Ia 100.

6060

233.8

Verjährung (Art. 17)

Da die Berufsregeln und die Disziplinarmassnahmen vereinheitlicht werden, sind Unterschiede bei den Verjährungsfristen für die disziplinarische Verfolgung nicht mehr gerechtfertigt. Das Anwaltsgesetz vereinheitlicht deshalb auch die Verjährungsfristen auf Bundesebene.

Eine Disziplinarmassnahme kann nur angeordnet werden, wenn die Anwältin oder der Anwalt im kantonalen Register eingetragen und folglich der Aufsichtsbehörde unterstellt ist. Droht einer Anwältin oder einem Anwalt ein Disziplinarverfahren, kann sie oder er deshalb die Streichung im Register verlangen, um der disziplinarischen Verfolgung zu entgehen. Allfällige strafrechtliche oder zivilrechtliche Verfolgungen bleiben vorbehalten.

233.9

Löschung der Disziplinarmassnahmen (Art. 18)

Wie die Verjährung der disziplinarischen Verfolgung sollte auch die Löschung der Disziplinarmassnahmen einheitlich sein. Der vorliegende Gesetzesentwurf unterscheidet bei der Festsetzung der Frist für die Löschung der Disziplinarmassnahmen zwischen der Verwarnung, dem Verweis und der Busse einerseits und dem befristeten Berufsausübungsverbot anderseits. Diese unterschiedliche Behandlung rechtfertigt sich wegen dem ungleichen Schweregrad dieser beiden Kategorien von Disziplinarmassnahmen.

Das dauernde Berufsausübungsverbot wird selbstverständlich nicht gelöscht.

234

Zulassung von Anwältinnen und Anwälten aus Mitgliedstaaten der EU

234.1

Allgemeines

Das sektorielle Abkommen zwischen der Schweiz und der EG über den freien Personenverkehr bringt eine progressive Liberalisierung des Rechts auf Einreise, Aufenthalt und Zugang zum Arbeitsmarkt auf dem Gebiet der Vertragsparteien. Zur Erleichterung des Zugangs zu einer Arbeit ­ im Angestelltenverhältnis oder selbstständig ­ und deren Erfüllung ergreifen die Vertragsparteien diejenigen Massnahmen, die notwendig sind für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Ausweise und anderer Titel gemäss den Gemeinschaftsrichtlinien, die in Anhang III des Abkommens über den freien Personenverkehr enthalten sind. Die Richtlinien über die Anerkennung der Diplome gelten folglich nur, soweit die Voraussetzungen der Personenfreizügigkeit erfüllt sind.

In Zusammenhang mit dem Anwaltsberuf hat die Schweiz die Richtlinien 77/249/EWG, 89/48/EWG und 98/5/EG umzusetzen (vgl. Ziff. 142). Diese Umsetzung geschieht im Wesentlichen im Anwaltsgesetz; die kantonalen Gesetze müssen aber ebenfalls angepasst werden. Bei der Verteilung der Umsetzungsaufgaben auf Bund und Kantone wurden der Grundsatz der Subsidiarität, aber auch der Harmonisierungsbedarf auf nationaler Ebene sowie die Sorge um Transparenz unseren ausländischen Partnern gegenüber und der Handlungsspielraum, der dem nationalen

6061

Gesetzgeber im Abkommen gelassen wird, beachtet. Im Anwaltsgesetz sind demnach insbesondere die folgenden Punkte zu regeln: ­

die Ausübung des Anwaltsberufs durch Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU im freien Dienstleistungsverkehr;

­

die Modalitäten der ständigen Ausübung des Anwaltsberufs in der Schweiz durch Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung;

­

die Voraussetzungen für die Eintragung von Anwältinnen und Anwälten aus Mitgliedstaaten der EU in ein kantonales Anwaltsregister;

­

die Unterstellung unter die Berufsregeln und die Disziplinaraufsicht;

­

der Gebrauch der Berufsbezeichnung.

234.2

Ausübung des Anwaltsberufs im freien Dienstleistungsverkehr durch Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU (4. Abschnitt)

Artikel 19 bis 24 regeln die Ausübung des Anwaltsberufs im freien Dienstleistungsverkehr in der Schweiz durch Anwältinnen und Anwälte, die Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, gemäss der Richtlinie 77/249/EWG (vgl. Ziff. 14).

234.21

Grundsätze (Art. 19)

Die Richtlinie 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte regelt die in Form der Dienstleistung ausgeübten Anwaltstätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten der EU (Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie). Mit dem Abkommen zwischen der Schweiz und der EG über den freien Personenverkehr und dem Anhang III zu diesem Abkommen wird der Anwendungsbereich dieser Richtlinie auf die Schweiz ausgedehnt. Artikel 19 des vorliegenden Gesetzesentwurfs stellt dementsprechend den Grundsatz auf, dass Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, in der Schweiz im freien Dienstleistungsverkehr zugelassen werden.

Da die Richtlinie 77/249/EWG keine Diplomanerkennung beinhaltet, wird vorausgesetzt, dass der Aufnahmestaat ­ in diesem Fall die Schweiz ­ Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU als solche anerkennt, wenn diese in ihrem Herkunftsstaat ihre berufliche Tätigkeit unter einer der in Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 77/249/EWG aufgeführten Bezeichnungen auszuüben berechtigt sind. Artikel 19 Absatz 1 des vorliegenden Gesetzesentwurfs verweist in diesem Zusammenhang auf die im Anhang dieses Gesetzes aufgeführten Bezeichnungen, die denjenigen entsprechen, die auch in der Richtlinie enthalten sind (in der konsolidierten Fassung, d. h. vervollständigt mit den Berufsbezeichnungen der Staaten, die seit der Verabschiedung der Richtlinie Mitglied der EU geworden sind).

Nach der Richtlinie 77/249/EWG umfasst die Anwaltstätigkeit sowohl die Rechtsberatung als auch die gerichtliche Tätigkeit. Der vorliegende Gesetzesentwurf regelt demgegenüber nur die Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden, da die Rechtsberatung in der Schweiz nicht reglementiert ist. Artikel 19 beschränkt sich

6062

deshalb auf die Regelung der Zulassung von Anwältinnen und Anwälten aus Mitgliedstaaten der EU, die in der Schweiz Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten wollen.

Die grenzüberschreitende Ausübung des Anwaltsberufs im freien Dienstleistungsverkehr geschieht punktuell, d. h. vorübergehend und steht im Gegensatz zur ständigen Ausübung des Anwaltsberufs unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung gemäss der Richtlinie 98/5/EG. Nach Artikel 19 Absatz 2 werden die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte in den kantonalen Anwaltsregistern nicht eingetragen. Nach Artikel 5 des Abkommens über den freien Personenverkehr können sie während höchstens 90 Tagen pro Jahr in der ganzen Schweiz Dienstleistungen erbringen.

234.22

Nachweis der Anwaltsqualifikation (Art. 20)

Nach Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 77/249/EWG kann die zuständige Stelle des Aufnahmestaats von den Dienstleistungserbringenden verlangen, dass sie ihre Eigenschaft als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt nachweisen. Artikel 20 des vorliegenden Gesetzesentwurfs regelt dementsprechend, dass die eidgenössischen und kantonalen Gerichtsbehörden, vor denen die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte auftreten, verlangen können, dass diese ihre Anwaltsqualifikation nachweisen (Anwaltspatent, Bescheinigung über die Zulassung zum Anwaltsberuf im Herkunftsstaat usw.). Da Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU auch den Berufsregeln des vorliegenden Anwaltsgesetzes unterstehen (vgl. Art. 23), ist es unerlässlich, dass auch die kantonalen Aufsichtsbehörden über die Anwältinnen und Anwälte diesen Nachweis anfordern können.

234.23

Verpflichtung zur Handlung im Einvernehmen mit einer eingetragenen Anwältin oder einem eingetragenen Anwalt (Art. 21)

Nach Artikel 5 der Richtlinie 77/249/EWG kann ein Aufnahmestaat für die Ausübung der Tätigkeiten, die mit der Vertretung und der Verteidigung von Parteien im Bereich der Rechtspflege verbunden sind, als Bedingung auferlegen, dass die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte im Einvernehmen mit einer oder einem beim angerufenen Gericht zugelassenen Anwältin oder Anwalt handeln, die oder der gegebenenfalls diesem Gericht gegenüber die Verantwortung trägt.

Die Verpflichtung zum einvernehmlichen Handeln ist als Kannvorschrift formuliert.

Das schweizerische Recht könnte folglich auf eine solche Regelung verzichten. Aus Praktikabilitätsgründen ist es allerdings von Vorteil, wenn den Gerichtsbehörden eine Anwältin oder ein Anwalt als Ansprechperson zur Verfügung steht, die oder der im Anwaltsregister eingetragen und demnach in der Schweiz niedergelassen ist.

Im Urteil vom 25. Februar 1988 in Sachen Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Bundesrepublik Deutschland97 hat der EuGH präzisiert, dass die Verpflichtung, im Einvernehmen mit einer Anwältin oder einem Anwalt des Auf97

Rs. 427/85, Slg. 1988, S. 1123.

6063

nahmestaats zu handeln, nur besteht, wenn prozessrechtlich ein Anwaltszwang vorgeschrieben ist. Artikel 21 des vorliegenden Gesetzesentwurfs entspricht dieser Rechtsprechung.

Im Einvernehmen handeln heisst nach der Rechtsprechung des EuGH nicht, dass die im Register eingetragenen Anwältinnen und Anwälte, mit denen Einvernehmen bestehen muss, selbst Bevollmächtigte im Verfahren sein müssen. Es bedeutet auch nicht, dass die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte in einer Gerichtsverhandlung nur in Begleitung der Anwältinnen und Anwälte, mit denen Einvernehmen besteht, auftreten dürfen. Das Einvernehmen stellt eigentlich eher eine Formalität dar, welche die Anwältinnen und Anwälte des Aufnahmestaats auf die Rolle eines Korrespondenzanwalts reduziert98.

234.24

Berufsbezeichnung (Art. 22)

Artikel 22 übernimmt bei der Berufsbezeichnung den materiellen Gehalt des Artikels 3 der Richtlinie 77/249/EWG. Danach haben die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte im Aufnahmestaat ihre ursprüngliche Berufsbezeichnung in der Amtssprache ihres Herkunftsstaats unter Angabe der Berufsorgansation, deren Zuständigkeit sie unterliegen, oder des Gerichts, bei dem sie nach den Vorschriften dieses Staats zugelassen sind, zu verwenden. Damit können sie klar von den in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragenen Anwältinnen und Anwälten unterschieden werden.

234.25

Berufsregeln (Art. 23)

Nach Artikel 4 der Richtlinie 77/249/EWG unterstehen die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte im Bereich der Parteienvertretung im Aufnahmestaat neben den ihnen im Herkunftsstaat obliegenden Verpflichtungen auch den Berufsregeln des Aufnahmestaats. Damit sollen sie diese Anwaltstätigkeit unter denselben Bedingungen ausüben, wie die in diesem Staat niedergelassenen Anwältinnen und Anwälte.

Dementsprechend gelten die Berufsregeln des vorliegenden Anwaltsgesetzes (Art. 11) grundsätzlich auch für die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte. Ausdrücklich davon ausgenommen sind nach Artikel 23 die Bestimmungen betreffend die amtliche Pflichtverteidigung und die unentgeltliche Rechtsvertretung (Art. 11 Bst. g) sowie den Registereintrag (Art. 11 Bst. j). Diese Ausnahmen sind gerechtfertigt, da es unzweckmässig wäre, von Anwältinnen und Anwälten, die nur gelegentlich in der Schweiz Parteien vertreten, zu verlangen, dass sie amtliche Pflichtverteidigungen (bei denen sie zudem verpflichtet wären, gemäss Art. 21 im Einvernehmen mit einer oder einem im Register eingetragenen Anwältin oder Anwalt zu handeln) oder unentgeltliche Rechtsvertretungen übernehmen, da sie wahrscheinlich auf gewisse Rechtsgebiete spezialisiert sind und in der Schweiz im We98

Sobotta/Kleinschnittger, Freizügigkeit für Anwälte in der EU nach der Richtlinie 98/5/EG, EuZW 21/1998, S. 645 ff.; Séché Jean-Claude, La directive 98/5/CE sur le droit d'établissement des avocats, Journal des tribunaux, Droit européen, Bruxelles Januar 1999, S. 7 ff.

6064

sentlichen ausländische Klientinnen und Klienten vertreten werden. Die Bestimmung über den Registereintrag entfällt für sie, da sie in den kantonalen Anwaltsregistern gar nicht eingetragen sind.

234.26

Information über Disziplinarmassnahmen (Art. 24)

Artikel 7 der Richtlinie 77/249/EWG bestimmt, dass die zuständige Stelle des Aufnahmestaats bei Verletzung der im Aufnahmestaat geltenden Berufsregeln nach den eigenen Rechts- und Verfahrensregeln über die rechtlichen Folgen dieses Verhaltens entscheidet. Sie hat aber die zuständige Stelle des Herkunftsstaats von jeder Entscheidung, die sie getroffen hat, zu unterrichten.

Die Berufsregeln des vorliegenden Anwaltsgesetzes gelten auch für Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU, die in der Schweiz Dienstleistungen erbringen (vgl. Art. 23). Ordnet eine Aufsichtsbehörde bei Verletzung einer innerstaatlichen Berufsregel durch eine dienstleistungserbringende Anwältin oder durch einen dienstleistungserbringenden Anwalt eine Disziplinarmassnahme an, informiert sie nach Artikel 24 die zuständige Stelle des Herkunftsstaats.

Ein vorübergehendes oder dauerndes Berufsausübungsverbot, das gegenüber einer dienstleistungserbringenden Anwältin oder einem dienstleistungserbringenden Anwalt angeordnet wird, gilt auf dem gesamten Gebiet der Schweiz und wird den Aufsichtsbehörden über die Anwältinnen und Anwälte der übrigen Kantone mitgeteilt (vgl. Art. 16).

234.3

Ständige Ausübung des Anwaltsberufs durch Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung (5. Abschnitt)

Artikel 25 bis 27 regeln die ständige Ausübung des Anwaltsberufs durch Anwältinnen und Anwälte, die Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung gemäss der Richtlinie 98/5/EG (vgl. Ziff. 14).

234.31

Grundsätze (Art. 25)

Der Richtlinie 98/5/EG entsprechend können Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, in der Schweiz unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung dieselben beruflichen Tätigkeiten ausüben wie die in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragenen Anwältinnen und Anwälte. Sie können jedoch nicht in ein kantonales Anwaltsregister eingetragen werden. Sie haben sich bei einer kantonalen Aufsichtsbehörde in die Liste der Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU, die den Anwaltsberuf unter ihrer usprünglichen Berufsbezeichnung ständig in der Schweiz ausüben, eintragen zu lassen (vgl. Art. 26).

Besteht für ein Verfahren Anwaltszwang, sind sie wie die dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte verpflichtet, im Einvernehmen mit einer Anwältin oder einem Anwalt zu handeln, die oder der in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragen ist. Ebenso unterstehen sie den Berufsregeln nach Artikel 11 mit Aus-

6065

nahme der Bestimmungen über die amtliche Pflichtverteidigung und die unentgeltliche Rechtsvertretung (Bst. g) sowie den Registereintrag (Bst. j). Artikel 25 Absatz 2 verweist diesbezüglich auf die Artikel 21 und 23.

Artikel 25 Absatz 2 verweist hinsichtlich der Berufsbezeichnung auf Artikel 22. Der Richtlinie 98/5/EG entsprechend muss es möglich sein, die Anwältinnen und Anwälte des Aufnahmestaats allein auf Grund der Berufsbezeichnung von den Anwältinnen und Anwälten zu unterscheiden, die unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung ständig in der Schweiz praktizieren. Wie die im Rahmen der Richtlinie 77/249/EWG dienstleistungserbringenden Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU haben die Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU, die unter ihrer usrpünglichen Berufsbezeichnung ständig in der Schweiz tätig sind, ihre Berufsbezeichnung in der Amtssprache ihres Herkunftsstaats zu verwenden. Der Aufnahmestaat kann auch hier verlangen, dass die Anwältinnen und Anwälte zusätzlich die Berufsorganisation, deren Zuständigkeit sie unterliegen, oder das Gericht, bei dem sie nach den Vorschriften dieses Staats zugelassen sind, angeben (Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 98/5/EG). Im vorliegenden Gesetzesentwurf wird von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, damit keine Verwechslung mit einer Berufsbezeichnung der Anwältinnen und Anwälte, die in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragen sind, möglich ist.

234.32

Eintragung bei der Aufsichtsbehörde (Art. 26)

Anwältinnen und Anwälte, die unter ihrer usprünglichen Berufsbezeichnung tätig sein wollen, melden sich bei der Aufsichtsbehörde des Kantons, in dem sie eine Geschäftsadresse haben. Damit sie von der Aufsichtsbehörde in die Liste der Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU, die den Anwaltsberuf unter ihrer usprünglichen Berufsbezeichnung ständig in der Schweiz ausüben, eingetragen werden, müssen sie einzig eine Bescheinigung über ihre Eintragung bei der zuständigen Behörde ihres Herkunftsstaats vorlegen. Die Richtlinie schreibt in Bezug auf die Kosten für diese Eintragung nichts vor99. Die Liste enthält die Namen und Adressen der Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind und die unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung in der Schweiz praktizieren. Sie darf nicht mit dem Anwaltsregister verwechselt werden. Die Aufsichtsbehörde hat die zuständige Behörde des Herkunftsstaats über die Eintragung in die Liste zu informieren (Art. 3 Abs. 2 in fine der Richtlinie 98/5/EG). Die unter ihrer usprünglichen Berufsbezeichnung praktizierenden Anwältinnen und Anwälte werden nicht in das kantonale Anwaltsregister aufgenommen, da darin nur Anwältinnen und Anwälte aufgeführt werden, die über ein kantonales Anwaltspatent verfügen oder die eine Eignungsprüfung gemäss der Richtlinie 89/48/EWG bestanden haben oder die nach einer dreijährigen Berufsausübung unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung in der Schweiz integriert sind.

99

Jacques Pertek, Nouvelle étape vers l'Europe des avocats: la directive CE no 98-5 du 16 février 1998 sur l'exercice permanent dans un autre Etat membre, Recueil Dalloz 1998, 30e cahier, S. 287.

6066

234.33

Zusammenarbeit mit der zuständigen Stelle des Herkunftsstaats (Art. 27)

Die Richtlinie 98/5/EG verpflichtet die zuständigen Aufsichtsbehörden des Aufnahmestaats zu einer gewissen Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen des Herkunftsstaats. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Anwältinnen und Anwälte auch bei der zuständigen Stelle im Herkunftsstaat eingetragen sind. Diese doppelte Eintragung führt dazu, dass die Anwältinnen und Anwälte sowohl den Berufsregeln des Herkunftsstaats als auch denjenigen des Aufnahmestaats unterstehen. Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 98/5/EG sieht vor, dass die Aufsichtsbehörde des Aufnahmestaats die zuständige Stelle (Aufsichtsbehörde) des Herkunftsstaats der Anwältin oder des Anwalts vor Einleitung eines Disziplinarverfahrens davon in Kenntnis setzt. Diese Information hat nur formellen Charakter; die Eröffnung des Disziplinarverfahrens in der Schweiz wird dadurch nicht verzögert. Zur Form, in der diese Information zu erfolgen hat, macht die Richtlinie keine Angaben.

Durch die Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden wird der Grundsatz, wonach die Entscheidungsbefugnis in der alleinigen Kompetenz der Schweizer Behörden liegt, aber nicht beeinträchtigt. Die von einer schweizerischen Aufsichtsbehörde angeordnete Disziplinarmassnahme entfaltet ihre Wirkungen ausschliesslich in der Schweiz.

Die zuständige Behörde des Herkunftsstaats kann jedoch ihre eigenen Schlüsse aus der in der Schweiz gefällten Disziplinarentscheidung ziehen. Ein Berufsausübungsverbot, das gegenüber einer Anwältin oder einem Anwalt aus einem Mitgliedstaat der EU, die oder der unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung ständig in der Schweiz praktiziert, angeordnet worden ist, gilt auf dem gesamten Gebiet der Schweiz. Es wird den Aufsichtsbehörden der übrigen Kantone mitgeteilt (vgl. Art.

16).

234.4

Eintragung von Anwältinnen und Anwälten aus Mitgliedstaaten der EU in ein kantonales Anwaltsregister (6. Abschnitt)

234.41

Grundsätze (Art. 28)

Die Eintragung in ein kantonales Anwaltsregister führt dazu, dass Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, vollständig in den Anwaltsberuf der Schweiz integriert werden. Damit besteht kein materieller Unterschied mehr zwischen den Anwältinnen und Anwälten, die über ein kantonales Anwaltspatent verfügen und in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragen sind, und den Anwältinnen und Anwälten, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind und auf Grund von Artikel 28 in ein kantonales Anwaltsregister eingetragen worden sind. Die Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU unterstehen damit sämtlichen Berufsregeln und haben in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen (Art. 21 und 25 Abs. 2) nicht mehr im Einvernehmen mit einer Anwältin oder einem Anwalt, die oder der in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragen sind, zu handeln. Es gibt auch keine formelle Unterscheidung mehr, da die Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU nicht mehr verpflichtet sind, unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung zu praktizieren, sondern die Berufsbezeichnung des Kantons verwenden können, in dessen Register sie eingetragen sind.

6067

Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, haben zwei Möglichkeiten, um sich in ein kantonales Anwaltsregister eintragen zu lassen.

Sie können dieses Ziel entweder über die Absolvierung einer Eignungsprüfung erreichen (gemäss der Richtlinie 89/48/EWG) oder dadurch, dass sie während mindestens drei Jahren in der Schweiz praktiziert haben und in der Liste der Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU, die den Anwaltsberuf unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung ständig in der Schweiz ausüben, eingetragen waren (gemäss der Richtlinie 98/5/EG), und anschliessend ihre Eintragung in ein kantonales Anwaltsregister, allenfalls nach einem Gespräch über ihre beruflichen Fähigkeiten (Art. 30), beantragen. Die Anwaltsprüfungskommission entscheidet in den Fällen der Eignungsprüfung und des Gesprächs, ob die Anwältinnen und Anwälte von der Aufsichtsbehörde ins Register eingetragen werden. Die Aufsichtsbehörde prüft auch, ob die persönlichen Voraussetzungen (Art. 7) erfüllt sind. Beantragen die Anwältinnen und Anwälte die Registereintragung nach einer ständigen Berufsausübung unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung, müssen sie nachweisen, dass sie während einem Zeitraum von mindestens drei Jahren effektiv und regelmässig im schweizerischen Recht tätig gewesen sind. Unter effektiver Tätigkeit versteht man eine Tätigkeit, welche die Anwältinnen und Anwälte selber auf eigene Verantwortung ausüben. Unter regelmässiger Tätigkeit wird eine Tätigkeit verstanden, die einzig durch Ereignisse des täglichen Lebens unterbrochen werden 100. Ob die praktische Erfahrung in der Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden ausreicht, wird ebenfalls von der Anwaltsprüfungskommission beurteilt. Hat die Tätigkeit in der Schweiz während der drei Jahre nicht im schweizerischen Recht stattgefunden, haben die Anwältinnen und Anwälte sich einem Gespräch zur Prüfung ihrer beruflichen Fähigkeiten zu stellen.

234.42

Eignungsprüfung (Art. 29)

Der Anspruch auf Eintragung in ein kantonales Anwaltsregister auf Grund einer Eignungsprüfung fliesst aus Artikel 3 der Richtlinie 89/48/EWG. Danach dürfen Personen, die ein mindestens dreijähriges Studium absolviert und gegebenenfalls die über das Studium hinaus erforderliche berufliche Ausbildung abgeschlossen haben (z. B. Praktikum mit anschliessender Prüfung) und über ein Diplom verfügen, das sie zur Ausübung des entsprechenden Berufs im Herkunftsstaat berechtigt, diesen Beruf in den übrigen Mitgliedstaaten der EU ausüben. Der Aufnahmestaat darf allerdings zusätzliche Ausbildungsmassnahmen in Form einer Eignungsprüfung oder eines Anpassungslehrgangs verlangen, wenn die Ausbildung oder der Beruf im Staat, der das Diplom ausgestellt hat, sich wesentlich von dem unterscheidet, was im Aufnahmestaat vorausgesetzt wird (Art. 4 der Richtlinie 89/48/EWG). Für die Rechtsberufe kann der Aufnahmestaat bestimmen, ob er eine Eignungsprüfung oder einen Anpassungslehrgang verlangen will. Für den Anwaltsberuf haben alle Mitgliedstaaten der EU mit Ausnahme von Dänemark den Weg der Eignungsprüfung im nationalen Recht des Aufnahmestaats gewählt. Der vorliegende Gesetzesentwurf sieht ebenfalls eine Eignungsprüfung vor.

Die Organisation der Eignungsprüfung obliegt den Kantonen. Die kantonale Anwaltsprüfungskommission ­ dieselbe Kommission, welche die Kandidatinnen und 100

Pertek, S. 288.

6068

Kandidaten für das kantonale Anwaltspatent prüft ­ wird von Fall zu Fall zu entscheiden haben, über welche Sachgebiete die Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU geprüft werden sollen. Diese Sachgebiete müssen mit denjenigen übereinstimmen, die im Rahmen des kantonalen Anwaltspatents geprüft werden.

Von der Liste der Sachgebiete, die von der Ausbildung der Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU nicht abgedeckt sind, müssen diejenigen für die Eignungsprüfung gewählt werden, deren Kenntnis eine wesentliche Voraussetzung für die Ausübung des Anwaltsberufs in der Schweiz bildet. Die Berufserfahrung der Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU ist ebenfalls zu berücksichtigen.

234.43

Gespräch zur Prüfung der beruflichen Fähigkeiten (Art. 30)

Anwältinnen und Anwälte, die in einer kantonalen Liste der Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU, die den Anwaltsberuf unter ihrer usprünglichen Berufsbezeichnung ständig in der Schweiz ausüben, eingetragen sind, können sich nach einer mindestens dreijährigen effektiven und regelmässigen Tätigkeit im schweizerischen Recht in ein kantonales Anwaltsregister eintragen lassen. Haben sie während dieser Minimaldauer von drei Jahren allerdings während eines kürzeren Zeitraums im schweizerischen Recht praktiziert, müssen sie sich einem Gespräch zur Prüfung der beruflichen Fähigkeiten stellen. Die kantonale Anwaltsprüfungskommission prüft gestützt auf die von den Anwältinnen und Anwälten vorzulegenden Informationen und Unterlagen (behandelte Dossiers, Teilnahme an Seminaren und Kursen usw.), ob sie im kantonalen Anwaltsregister eingetragen werden. In diesem Gespräch wird die bisherige Tätigkeit der Anwältinnen und Anwälte, insbesondere die praktische Erfahrung in der Vertretung von Parteien vor Gerichtsbehörden begutachtet und beurteilt, ob sie fähig sind, diese Tätigkeit als in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragene Anwältinnen und Anwälte weiterhin auszuüben. Dieses Gespräch darf jedoch nicht zu einer Art verkappter Eignungsprüfung im Sinne von Artikel 29 werden.

234.44

Berufsbezeichnung (Art. 31)

Die Anwältinnen und Anwälte können die Berufsbezeichnung des Kantons verwenden, in dessen Register sie eingetragen sind. So kann beispielsweise eine Anwältin, die im Register des Kantons Basel-Stadt eingetragen ist, den Titel «Advokatin» verwenden; ist sie im Register des Kantons Bern, der zwei offizielle Titel kennt, eingetragen, kann sie im Deutschen den Titel «Fürsprecherin» und im Französischen den Titel «avocate» verwenden. In beiden Fällen hat sie zudem ihren Eintrag im kantonalen Anwaltsregister anzugeben (Art. 10). Nach Artikel 10 Absatz 6 der Richtlinie 98/5/EG können die Anwältinnen und Anwälte neben der Berufsbezeichnung des Kantons, in dessen Register sie eingetragen sind, auch weiterhin von ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung in der Amtsprache ihres Herkunftsstaats Gebrauch machen.

6069

235

Schlussbestimmungen (7. Abschnitt)

235.1

Änderung bisherigen Rechts (Art. 32)

Nach der bisherigen Fassung von Artikel 29 Absatz 2 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege (Bundesrechtspflegegesetz, OG, SR 173.110) können vor Bundesgericht in Zivil- und Strafsachen grundsätzlich nur Anwältinnen und Anwälte mit einem kantonalen Anwaltspatent als Parteivertreterinnen und -vertreter auftreten. Diese Regelung ist mit dem sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG über den freien Personenverkehr nicht vereinbar und demnach auch nicht mit den Bestimmungen des vorliegenden Gesetzesentwurfs, nach denen Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, in der Schweiz Parteien vor Gerichtsbehörden vertreten dürfen. Sie muss daher geändert werden.

Nach dem neuen Artikel 29 Absatz 2 OG können Anwältinnen und Anwälte, die nach dem Anwaltsgesetz oder nach einem Staatsvertrag berechtigt sind, Parteien vor schweizerischen Gerichtsbehörden zu vertreten, in Zivil- und Strafsachen vor Bundesgericht auftreten. Es handelt sich folglich um Anwältinnen und Anwälte, die in einem kantonalen Anwaltsregister eingetragen sind, um Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU, die im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs oder ständig unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung ­ eingetragen in eine Liste ­ in der Schweiz praktizieren, sowie um Anwältinnen und Anwälte aus Staaten, die nicht zur EU gehören, mit denen aber ein Staatsvertrag über die Zulassung zur Parteienvertretung besteht.

Wie bisher sind Rechtslehrerinnen und Rechtslehrer schweizerischer Hochschulen auch ohne Anwaltspatent zur Vertretung vor Bundesgericht berechtigt (Art. 29 Abs. 2 Bst. b OG).

Nach dem geltenden Artikel 29 Absatz 3 OG können ausländische Anwältinnen und Anwälte ausnahmsweise unter Vorbehalt des Gegenrechts zugelassen werden. Diese Regelung ist für Anwältinnen und Anwälte aus Mitgliedstaaten der EU nicht mehr nötig, da sie bereits auf Grund des sektoriellen Abkommens zwischen der Schweiz und der EG über den freien Personenverkehr und des Anwaltsgesetzes zugelassen werden. Der Vorbehalt des Gegenrechts ist zudem nach dem GATS nicht mehr zulässig (zum GATS vgl. Ziff. 51). Werden Anwältinnen und Anwälte aus Staaten, die nicht zur EU gehören oder mit denen kein Staatsvertrag besteht, ausnahmsweise autonom zugelassen, besteht für die übrigen Mitgliedstaaten
der WTO die Möglichkeit nachzuweisen, dass die von ihnen erteilten Qualifikationen gleichwertig sind und damit ebenfalls von der Schweiz anerkannt werden müssen. Es gilt die bedingte Meistbegünstigungspflicht nach Artikel VII GATS. Wird hingegen ­ wie im vorliegenden Absatz 2 ­ ein Staatsvertrag verlangt, hat die Schweiz, nach wie vor gestützt auf Artikel VII GATS, den übrigen Staaten nur die Möglichkeit einzuräumen, ebenfalls einen vergleichbaren Staatsvertag auszuhandeln. Da diese Lösung für die Schweiz günstiger ist, wird Artikel 29 Absatz 3 OG gestrichen.

235.2

Übergangsrecht (Art. 33)

Personen, die auf Grund bisherigen kantonalen Rechts über ein Anwaltspatent verfügen, sollen ebenfalls von den Vorteilen des Anwaltsgesetzes profitieren können,

6070

auch wenn sie nicht allen geforderten Voraussetzungen für eine Eintragung in ein Register genügen. Bedingung ist, dass sie bis anhin auf Grund von Artikel 5 UeB BV eine Berufsausübungsbewilligung erhalten hätten. Haben beispielsweise Anwältinnen und Anwälte kein einjähriges Praktikum, sondern gemäss kantonalem Recht nur ein Praktikum von sechs Monaten absolviert, sollen sie durch das Inkrafttreten des Anwaltsgesetzes nicht bestraft werden, wenn sie mit ihrem Anwaltspatent vorher in den anderen Kantonen Parteien vor Gericht vertreten konnten. Diese Möglichkeit werden jedoch nur diejenigen Personen haben, die ihr Anwaltspatent auf Grund des alten kantonalen Rechts erworben haben, d. h. vor seiner Anpassung an das Anwaltsgesetz. Erteilt ein Kanton nach dem Inkrafttreten des Anwaltsgesetzes weiterhin Anwaltspatente, die den Voraussetzungen nach den Artikeln 6 und 7 nicht genügen, haben die anderen Kantone das Recht, die Anerkennung dieser Anwaltspatente zu verweigern.

235.3

Referendum und Inkrafttreten (Art. 34)

Als Bundesgesetz ist der vorliegende Gesetzesentwurf dem fakultativen Referendum nach Artikel 89 Absatz 2 BV (Art. 141 Abs. 1 nBV) unterstellt. Artikel 34 ermächtigt den Bundesrat, das Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes festzusetzen. Wegen der mit dem sektoriellen Abkommen über den freien Personenverkehr verbundenen Verpflichtung der Schweiz, das relevante Gemeinschaftsrecht umzusetzen, wird die Inkraftsetzung des Anwaltsgesetzes gleichzeitig mit der Inkraftsetzung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG stattfinden (voraussichtlich anfangs 2001).

Falls die sektoriellen Abkommen und damit insbesondere das für das Anwaltsgesetz relevante Personenfreizügigkeitsabkommen nicht in Kraft gesetzt werden können, sollte das Anwaltsgesetz, das zur Hauptsache die interkantonale Freizügigkeit der schweizerischen Anwältinnen und Anwälte verwirklichen will (Art. 33 Abs. 2 BV) und hierfür die wesentlichen Grundsätze für die Ausübung des Anwaltsberufs regelt, trotzdem in Kraft gesetzt werden können. Absatz 2 bestimmt deshalb, dass diejenigen Teile des Gesetzes, welche die Umsetzung des relevanten Gemeinschaftsrecht betreffen, von der Inkraftsetzung des Abkommens über den Personenverkehr abhängig sind.

3

Finanzielle und personelle Auswirkungen

31

Für den Bund

Das Anwaltsgesetz hat für den Bund weder finanzielle noch personelle Auswirkungen.

32

Für die Kantone

Die Kantone werden für Anwältinnen und Anwälte aus anderen Kantonen keine Bewilligungsverfahren für die Berufsausübung mehr durchführen müssen. Die Einrichtung kantonaler Register und die Schaffung eines Systems für die Diszipli-

6071

naraufsicht sollte weder in finanzieller noch in personeller Hinsicht nennenswerte Auswirkungen haben, da die meisten Kantone bereits vergleichbare Institutionen kennen. Bislang führten die Kantone im Allgemeinen drei Arten von Listen: eine Liste mit den Anwältinnen und Anwälten, denen ein Anwaltspatent erteilt worden ist, eine Liste mit den Anwältinnen und Anwälten, die auf dem Kantonsgebiet über eine Geschäftsadresse verfügen (und beispielsweise beim Anwaltsverband oder im Anwaltsverzeichnis des Kantons eingetragen sind), und eine Liste mit denjenigen Anwältinnen und Anwälten, die eine befristete oder dauernde Berufsausübungsbewilligung erhalten haben. Auf Grund des Anwaltsgesetzes werden die Kantone ein Anwaltsregister führen sowie eine Liste mit den unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung ständig in der Schweiz tätigen Anwältinnen und Anwälte, die Angehörige von Mitgliedstaaten der EU sind, und im Kanton eine Geschäftsadresse haben.

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das kantonale Recht bis zum 1. Januar 2001, dem voraussichtlichen Datum des Inkrafttretens der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG angepasst sein muss.

4

Legislaturplanung

Das Geschäft betreffend die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte ist im Bericht über die Legislaturplanung 1995­1999 unter der Rubrik Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit enthalten (BBl 1996 II 353).

5

Verhältnis zum internationalen Recht

51

GATS

Das Allgemeine Abkommen über den Dienstleistungsverkehr (General Agreement on Trade in Services, GATS) schliesst zum ersten Mal die Gesamtheit der Dienstleistungen in das multilaterale System ein, das den Welthandel regelt. Das GATS ist integraler Bestandteil des Abkommens über die Welthandelsorganisation (WTO).

Mit dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) und dem Übereinkommen über das geistige Eigentum (TRIPS) stellt das GATS eine der drei tragenden Säulen der WTO dar. Die Schweiz wurde mit der Unterzeichnung der Abkommen der Uruguay-Runde in Marrakesch am 15. April 1994 und der anschliessenden Ratifizierung Mitglied der WTO und damit des GATS. Diese Abkommen sind für die Schweiz seit dem 1. Juli 1995 in Kraft.

Das GATS ist grundsätzlich auf alle Dienstleistungssektoren und auf alle Erscheinungsformen des internationalen Dienstleistungsgeschäfts anwendbar (grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung, Errichtung einer Geschäftsniederlassung im Ausland, Grenzüberschreitung von Anbietern und Konsumenten von Dienstleistungen). Der Einschluss der freien Berufe («professional services») in die Verhandlungen der Uruguay-Runde, die zur Genehmigung des GATS geführt haben, stellt eine radikale Neuerung dar für diesen Sektor, der bis zu diesem Zeitpunkt durch keinen multilateralen Vertrag geregelt war.

6072

Das GATS besteht aus einem Rahmenabkommen, mehreren Anhängen sowie aus den Verpflichtungs- und den Ausnahmelisten der Mitgliedstaaten101. Das Rahmenabkommen enthält Bestimmungen und Verpflichtungen allgemeiner Art für die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs, die von allen Mitgliedern der WTO ab Inkrafttreten des Abkommens beachtet werden müssen. Dies gilt sowohl für die Gesamtheit der Dienstleistungen ­ hier gilt beispielsweise der Grundsatz der Meistbegünstigung ­ als auch für diejenigen Bereiche, in denen die Mitglieder der WTO spezielle Verpflichtungen in Bezug auf den Marktzutritt oder die Inländerbehandlung eingegangen sind. Die Anhänge regeln die Möglichkeiten nationaler Ausnahmen vom Grundsatz der Meistbegünstigung. Sie präzisieren den Geltungsbereich des GATS für natürliche Personen, die Dienstleistungen erbringen, und legen besondere Bestimmungen für einzelne Dienstleistungsbereiche fest. Die nationalen Ausnahmelisten betreffen die Gewährung der Meistbegünstigung. Die spezifischen Verpflichtungslisten der Mitgliedstaaten bestimmen die konkreten Rechte der ausländischen Erbringer von Dienstleistungen in Bezug auf den Marktzugang.

Für die Dienstleistungserbringung im rechtlichen Sektor sind die Artikel II, V und VII des Rahmenabkommens von besonderem Interesse.

Artikel II Absatz 1 GATS102 stellt den Grundsatz der Meistbegünstigung auf. Lässt ein Mitgliedstaat ausländische Dienstleistungen oder Dienstleistungserbringer auf seinem Gebiet zu, muss er auf Grund des Grundsatzes der Meistbegünstigung eine Behandlung gewähren, die nicht weniger günstig ist als diejenige, die er den gleichen Dienstleistungen oder Dienstleistungserbringern eines anderen Mitgliedstaats der WTO gewährt. Die Gleichbehandlung muss unverzüglich gewährt werden und darf nicht an Bedingungen geknüpft werden (wie zum Beispiel an ein Gegenrecht).

Von der Pflicht zur Anwendung des Grundsatzes der Meistbegünstigung sind zwei Ausnahmen möglich. Erstens müssen besondere Regelungen für unmittelbare Grenzgebiete nicht für Drittstaaten angewendet werden, sofern sie Dienstleistungen betreffen, welche nicht nur lokal produziert, sondern auch lokal konsumiert werden (Art. II Abs. 3 GATS). Zweitens können Mitglieder des GATS für einzelne Massnahmen vom Grundsatz der Meistbegünstigung befreit werden, allerdings nur im Zeitpunkt
des Inkrafttretens des GATS. Diese nationalen Befreiungen ermöglichen es, bestimmte Handelspartner auch nach Inkrafttreten des GATS weiter zu bevorzugen. Die Befreiungen müssen sich auf konkrete Einzelmassnahmen beziehen, die bei Verhandlungsabschluss bereits in Kraft gewesen sind. Sie sind grundsätzlich zeitlich begrenzt und werden Gegenstand zukünftiger Verhandlungen sein103.

Auch Artikel V GATS enthält eine besondere Ausnahme vom Grundsatz der Meistbegünstigung. Er erlaubt die Bildung von wirtschaftlichen Integrationsräumen und den Abschluss von präferenziellen Abkommen innerhalb dieser Wirtschaftsräume, welche vom fundamentalen Grundsatz der Meistbegünstigung abweichen können. Die Anwendung von Artikel V GATS ist an verschiedene Voraussetzungen gebunden: Ein Integrationsabkommen muss einen wesentlichen Teil des Dienstleistungshandels abdecken und alle wesentlichen Diskriminierungen innerhalb des Integrationsraums beseitigen. Sowohl der EWG-Vertrag als auch das EWR-Abkommen erfüllen diese Voraussetzungen. Bereits heute steht jedoch fest, dass der 101 102 103

Vgl. Botschaft zur Genehmigung der GATT/WTO-Übereinkommen, BBl 1994 IV 242 und SR 0.632.20, S. 327 ff.

SR 0.632.20, S. 306.

Vgl. Anhang zu den Ausnahmen von den Pflichten nach Artikel II, BBl 1994 IV 762.

6073

sektorielle Vertrag zwischen der Schweiz und der EG im Bereich des Personenverkehrs diesen Anforderungen nicht genügt104.

In der Liste der nationalen Befreiungen zu Artikel II GATS105 hat die Schweiz für Personen, die nicht in ihrer Verpflichtungsliste aufgeführt sind, eine Ausnahme vom Grundsatz der Meistbegünstigung ausgehandelt. Diese gilt zu Gunsten von EU- und EFTA-Staatsangehörigen bezüglich Einreise, Aufenthalt und Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine autonome oder eine auf einem Vertrag mit der EG oder den EFTA-Staaten beruhende Vorzugsbehandlung von EU- und EFTA-Staatsangehörigen bleibt in Bezug auf die Bestimmungen über den Aufenthalt und die Niederlassung ausländischer Personen weiterhin möglich106. Für die Anerkennung von Qualifikationen sind jedoch keine Ausnahmen ausgehandelt worden. Für diese bleibt der Grundsatz der Meistbegünstigung anwendbar.

Artikel VII GATS betrifft die Anerkennung von Qualifikationen der Dienstleistungserbringer. Diese Anerkennung kann durch Harmonisierung geschehen, sich auf einen Vertrag abstützen oder autonom erfolgen. Gewährt ein Mitgliedstaat die Anerkennung autonom, räumt er jedem Mitgliedstaat der WTO eine angemessene Möglichkeit ein nachzuweisen, dass die in seinem Land erworbene Ausbildung oder Berufserfahrung, von ihm ausgestellte Lizenzen oder Bescheinigungen, oder eingehaltene Vorschriften anerkannt werden müssen. Ist die Anerkennung Gegenstand eines Vertrags, müssen die am Vertrag beteiligten Mitgliedstaaten der WTO den anderen interessierten Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumen, dem Vertrag beizutreten oder einen vergleichbaren Vertrag auszuhandeln. Diese Bestimmung ist insofern wichtig, als sie auf das sektorielle Abkommen zwischen der Schweiz und der EG über den freien Personenverkehr, der auch die Anerkennung von Diplomen einschliesst, Anwendung finden wird (vgl. Ziff. 5). Bei der Anerkennung von Qualifikationen gilt folglich eine bedingte Pflicht zur Meistbegünstigung: Diejenigen Mitgliedstaaten, die in den Genuss der Meistbegünstigung kommen möchten, müssen nachweisen, dass ihre Qualifikationen gleichwertig sind mit denjenigen, die bereits anerkannt worden sind. In Bezug auf die Möglichkeit der Einräumung von Gegenrecht ­ ein Vorteil, der im Prinzip mit dem Grundsatz der Meistbegünstigung unvereinbar ist ­ ist die vertragliche Anerkennung
von Qualifikationen einem autonomen Vorgehen vorzuziehen, da es in der Praxis die Anerkennung der eigenen Qualifikationen durch diejenigen Staaten ermöglicht, die gestützt auf den Grundsatz der Meistbegünstigung Verhandlungen über ihren Beitritt zum bereits abgeschlossenen Vertrag oder Verhandlungen über den Abschluss eines vergleichbaren Vertrags verlangen.

In der Liste der spezifischen Verpflichtung107 hat sich die Schweiz verpflichtet, die Rechtsberatung auf dem Gebiet des Heimatrechts und des internationalen Rechts zu liberalisieren. Die EU ihrerseits hat eine analoge Verpflichtung übernommen, da für sie das Gemeinschaftsrecht nicht zum Völkerrecht gehört.

Das GATS ist für die Schweiz am 1. Juli 1995 in Kraft getreten. In seiner Botschaft108 hob der Bundesrat hervor, dass sich aus dem GATS für die Schweiz grundsätzlich keine schwer wiegenden Anpassungsprobleme ergeben, weil sie in ihre 104 105 106 107 108

BBl 1994 IV 252.

SR 0.632.20, S. 336.

Vgl. Botschaft zur Genehmigung der GATT/WTO-Übereinkommen, BBl 1994 IV 280.

SR 0.632.20, S. 326.

BBl 1994 IV 278.

6074

Verpflichtungsliste den im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehenden Marktzugang eingetragen hat. Deshalb sollten grundsätzlich keine Anpassungen des schweizerischen Rechts notwendig sein. Dies gilt auch für den Anwaltsberuf, da die Zulassung zur Rechtsberatung zurzeit in praktisch keinem Kanton geregelt ist.

52

Gemeinschaftsrecht

Der vorliegende Gesetzesentwurf ist mit dem relevanten Gemeinschaftsrecht vereinbar (vgl. Ziff. 142 und 234). Die Mitgliedstaaten der EU und die Schweiz bleiben in der Regelung der Ausbildung der Anwältinnen und Anwälte sowie der Ausübung des Anwaltsberufs auf ihrem Gebiet frei. Das Anwaltsgesetz setzt das Wesentliche der Gemeinschaftsrichtlinien betreffend den Anwaltsberuf um.

53

Zusammenhang zwischen dem sektoriellen Abkommen Schweiz-EG und dem GATS

Der Abschluss des Abkommens zwischen der Schweiz und der EG über den freien Personenverkehr ermöglicht den anderen Mitgliedstaaten der WTO, die Anwendung des in Artikel II GATS enthaltenen Meistbegünstigungsgrundsatzes zu fordern.

Zwar hat die Schweiz für sich eine Ausnahme von diesem Grundsatz ausgehandelt, indem sie sich in ihrer Befreiungsliste zu Artikel II GATS die Möglichkeit einer Vorzugsbehandlung für Angehörige der EU- und EFTA-Staaten vorbehalten hat109.

Diese Ausnahme betrifft jedoch nur das Recht auf Einreise, Aufenthalt und Zugang zum Arbeitsmarkt. Im Bereich der Anerkennung von Qualifikationen ist kein Vorbehalt angebracht worden. Nach Abschluss ihres sektoriellen Abkommens sind die Schweiz und die EG deshalb verpflichtet, den anderen WTO-Mitgliedern auf Wunsch eine angemessene Verhandlungsmöglichkeit einzuräumen, entweder über den Beitritt zu dem Teil des Abkommen, der die Anerkennung der Diplome betrifft oder über ein vergleichbares Abkommen. Bei der Anerkennung der Diplome gilt der Grundsatz der Meistbegünstigung nur bedingt (Art. VII GATS); dies bedeutet, dass die anderen WTO-Mitglieder nachweisen müssen, dass ihre Qualifikationen gleichwertig sind wie diejenigen, die Gegenstand des Abkommens zwischen der Schweiz und der EG sind. Im Übrigen bleiben Angehörige der WTO-Staaten, die mit der Schweiz ein solches Abkommen abschliessen wollen, den Beschränkungen des Ausländerrechts über den Aufenthalt, die Niederlassung und den Zugang zum Arbeitsmarkt unterstellt. Die Anwendung des Grundsatzes der Meistbegünstigung im Bereich der Anerkennung der Diplome wird deshalb nur eine beschränkte Tragweite haben.

6

Verfassungsmässigkeit

61

Der Gesetzgebungsauftrag in Artikel 33 Absatz 2 BV

Artikel 33 Absatz 2 BV erteilt dem Bundesgesetzgeber den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Fähigkeitsausweise für wissenschaftliche Berufe für die ganze Schweiz 109

Vgl. BBl 1994 IV 280.

6075

gültig erworben werden können. Ziel dieses Artikels ist die Gewährleistung der gesamtschweizerischen Freizügigkeit für Personen, die einen wissenschaftlichen Beruf ausüben. Der Anwaltsberuf zählt nach herrschender Lehre und Praxis zu den wissenschaftlichen Berufsarten und fällt demnach in den Anwendungsbereich des Artikels 33 Absatz 2 BV110 (vgl. Ziff. 111).

Artikel 33 Absatz 2 BV erteilt dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz, für den Erwerb eines gesamtschweizerisch gültigen Fähigkeitsausweises einheitliche Vorschriften zu erlassen. Der vorliegende Gesetzesentwurf regelt jedoch nicht nur die fachlichen, sondern auch die persönlichen Voraussetzungen, die Anwältinnen und Anwälte erfüllen müssen, damit sie ihren Beruf in der ganzen Schweiz frei ausüben können. Damit geht er über den in Artikel 33 Absatz 2 BV enthaltenen Gesetzgebungsauftrag hinaus. Dieser ermächtigt den Bundesgesetzgeber nur dazu, die fachlichen Voraussetzungen zu regeln, auf Grund derer Anwältinnen und Anwälte in der ganzen Schweiz Parteien vor Gericht vertreten können. Für die persönlichen Voraussetzungen wie auch für die Bestimmungen über die kantonalen Register, die Disziplinaraufsicht und die Berufsregeln bildet Artikel 31bis Absatz 2 BV (Art. 95 Abs.

1 nBV) die notwendige verfassungsrechtliche Grundlage.

62

Die Kompetenz des Bundesgesetzgebers im Rahmen von Artikel 31bis Absatz 2 BV

Artikel 31bis Absatz 2 BV erteilt dem Bund eine generelle Kompetenz, unter Wahrung der allgemeinen Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft Vorschriften über die Ausübung von Handel und Gewerben zu erlassen. Er ist dabei an den Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit gebunden. Artikel 31 bis Absatz 2 BV erstreckt sich auf die privatwirtschaftlichen Betätigungen insgesamt111 und gilt demnach auch für die freien Berufe. In dieser Hinsicht vervollständigt Artikel 31bis Absatz 2 BV den Auftrag, der in Artikel 33 Absatz 2 BV konkret und eingeschränkt formuliert ist. Die Kompetenz des Bundesgesetzgebers, Vorschriften über die Ausübung des Anwaltsberufs zu erlassen, geht folglich über den in Artikel 33 Absatz 2 BV enthaltenen Auftrag, die Anerkennung der Fähigkeitsausweise zu regeln, hinaus.

Die Bestimmungen des vorliegenden Gesetzesentwurfs respektieren im Übrigen die Handels- und Gewerbefreiheit.

Die Bundeskompetenz in Artikel 31bis Absatz 2 BV ist nach herrschender Lehre eine konkurrierende Zuständigkeit von Bund und Kantonen mit nachträglicher derogatorischer Wirkung. Solange der Bund seine Kompetenz nicht ausgeschöpft hat (vollständig oder, wie im vorliegenden Gesetzesentwurf, teilweise), gelten die entsprechenden Vorschriften der Kantone112.

63

Die Zuständigkeit der Kantone

Die Kantone sind befugt, die Ausübung wissenschaftlicher Berufe von einem Nachweis der Befähigung abhängig zu machen. Der Gesetzgebungsauftrag des Bundes in 110 111 112

Wolffers, S. 24; BGE 111 Ia 110.

Rhinow, Kommentar zur Bundesverfassung, Art. 31bis, Rz. 40.

Rhinow, Kommentar zur Bundesverfassung, Art. 31bis, Rz. 40.

6076

Artikel 33 Absatz 2 BV schränkt die Kompetenz der Kantone nicht ein, die Bedingungen für die Erteilung des Fähigkeitsausweises festzulegen. Es steht ihnen nach wie vor frei, auch weiter gehendere Voraussetzungen (beispielsweise ein länger dauerndes Praktikum, zusätzliche persönliche Voraussetzungen) oder sogar geringere Voraussetzungen für die Erlangung des Fähigkeitsausweises zu verlangen. Im zweiten Fall riskieren sie jedoch, dass die anderen Kantone diese Anwaltspatente nicht anerkennen und die Eintragung in ihr kantonales Anwaltsregister verweigern.

10444

6077