16.403 Parlamentarische Initiative Familiennachzug. Gleiche Regelung für Schutzbedürftige wie für vorläufig Aufgenommene Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerates vom 25. Oktober 2019

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf für eine Änderung des Asylgesetzes. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt Ihnen, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

25. Oktober 2019

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Pascale Bruderer Wyss

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Übersicht Schutzbedürftige Personen im Sinne des Asylrechts sollen ihre Familien unter den gleichen Bedingungen nachziehen können wie vorläufig aufgenommene Personen.

Die Staatspolitische Kommission (SPK) des Ständerates schlägt vor, den im Asylgesetz vorgesehenen Status der Schutzbedürftigkeit (S-Status) so zu ändern, dass Schutzbedürftigen für ein Gesuch auf Familiennachzug künftig eine Wartefrist von drei Jahren gesetzt wird, wie dies bei den Personen mit einer vorläufigen Aufnahme (F-Status) der Fall ist. Ausserdem sollen an Schutzbedürftige die gleichen Integrations- und Wohnerfordernisse gestellt werden wie an vorläufig Aufgenommene.

Die Kommission erachtet die Anpassung für nötig, weil nach dem geltenden Recht Personen mit S-Status, wie anerkannte Flüchtlinge mit Asylstatus Anspruch auf eine sofortige Zusammenführung mit ihren Familienangehörigen haben. Die Rechtslage hat den Bundesrat bislang davon abgehalten, den S-Status anzuwenden.

Die vorgeschlagene Gesetzesänderung soll es den Bundesbehörden ermöglichen, Kriegsvertriebenen ohne Perspektive auf eine sofortige Heimkehr vorübergehenden Schutz zu gewähren, ohne das schweizerische Asylsystem mit zahlreichen individuellen Asylverfahren zu belasten.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Parlamentarische Initiative zur Revision des Status der Schutzbedürftigkeit (S-Status)

Die von Ständerat Philipp Müller am 2. März 2016 eingereichte parlamentarische Initiative fordert, dass die rechtlichen Grundlagen so zu ändern sind, dass der Familiennachzug von Schutzbedürftigen gemäss Artikel 4 des Asylgesetzes gleich geregelt wird wie bei vorläufig aufgenommenen Personen.

In seiner Begründung stellt der Initiant fest, dass Flüchtlinge gemäss der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention von 19511 heute nur noch einen Teil der Asylsuchenden in der Schweiz stellen. Die Anzahl der Kriegsvertriebenen hat in den letzten Jahren dagegen stark zugenommen. Derweil ist unser Asylsystem nach wie vor darauf ausgerichtet, die klassische Flüchtlingseigenschaft in einem aufwändigen Verfahren zu prüfen. Es erscheint sinnvoll, für Kriegsvertriebene den Schutzstatus gemäss Artikel 4 des Asylgesetzes2 (S-Status) vorzusehen.

Nach dem geltendem Recht sieht der S-Status weitreichende Rechte beim Familiennachzug vor. Personen mit S-Status haben wie anerkannte Flüchtlinge mit Asylstatus Anspruch auf Zusammenführung mit ihren Familienangehörigen. Sie sind damit bessergestellt als vorläufig Aufgenommene, die ihre Angehörigen frühestens nach drei Jahren nachziehen dürfen.

Die erweiterten Rechte beim Familiennachzug sind einer der Gründe, weshalb der S-Status seit seiner Einführung im Jahr 1998 im Zuge der Balkan-Kriege durch den Bundesrat nie angewandt wurde. Er wäre eigentlich konzipiert, um das Asylsystem im Falle einer Massenflucht zu entlasten. Durch die parlamentarische Initiative soll der S-Status so korrigiert werden, dass er durch die Bundesbehörden tatsächlich angewandt werden kann.

1.2

Vorprüfung durch die Staatspolitischen Kommissionen

Die Staatspolitische Kommission (SPK) des Ständerates gab der Initiative am 25. August 2016 mit 9 zu 3 Stimmen Folge. Am 21. Oktober 2016 stimmte die nationalrätliche Schwesterkommission diesem Beschluss mit 15 zu 6 Stimmen bei einer Enthaltung zu, wobei die Minderheit der Ansicht ist, dass der Initiativvorschlag die Integration der Betroffenen erschwert.

Die SPKs schlossen sich der Analyse des Initianten an, dass die Rechtsgrundlage des S-Status Mängel aufweist und mit Blick auf den Familiennachzug revidiert werden soll. Erst die Angleichung der Regelung des Familiennachzugs für Schutzbedürftige 1 2

SR 0.142.30 SR 142.31

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und vorläufig Aufgenommene erlaubt es, den S-Status überhaupt anzuwenden. Die unkomplizierte Anwendung des Schutzstatus auf Kriegsvertriebene ist geeignet, den Ankommenden rasch Schutz zu bieten und gleichzeitig das schweizerische Asylsystem zu entlasten. Die Regelung des Familiennachzugs soll nicht länger Grund dafür sein, dass in der Praxis keine Aufnahme von Schutzbedürftigen erfolgt, deren Asylgesuche nicht aufwendig und individuell geprüft werden müssen.

1.3

Umsetzung der Initiative durch die SPK

In Erwartung der Beschlüsse beider Räte zur Motion 17.3270 (SPK-NR. Ersatz des Status der vorläufigen Aufnahme) sowie zur Motion 18.3002 (SPK-SR. Punktuelle Anpassungen des Status der vorläufigen Aufnahme) setzte die Kommission ihre Umsetzungsarbeiten zur parlamentarischen Initiative vorerst aus. Nach der Annahme ihrer Kommissionsmotion (18.3002) durch beide Räte kam sie auf das Geschäft zurück und beauftragte an ihrer Sitzung vom 21. Juni 2018 das Kommissionssekretariat und die Verwaltung, den Vorentwurf für eine Gesetzesvorlage auszuarbeiten.

Die Option, die Umsetzung in Erwartung eines Erlassentwurfs des Bundesrates zur Umsetzung der Motion 18.3002 weiter zu sistieren, lehnte die Kommission ab. Am 21. Januar 2019 verabschiedete die Kommission ihren Vorentwurf mit 6 zu 1 Stimme bei 1 Enthaltung zuhanden der Vernehmlassung.

An ihrer Sitzung vom 25. Oktober 2019 nahm die SPK die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Kenntnis. Insgesamt gingen 49 Stellungnahmen ein. Unterstützt wurde die Vorlage durch 13 Kantone, die Schweizerische Volkspartei (SVP), die FDP. Die Liberalen (FDP), durch den Schweizerischen Gemeindeverband (SGV), den Schweizerischen Gewerbeverband (SGV/USAM) sowie den Centre Patronal. Abgelehnt wurde sie von 12 Kantonen, der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP), der Grünen Partei der Schweiz (GPS), dem Schweizerischen Städteverband (SSV), dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) sowie von einer überwiegenden Mehrheit der interessierten Kreise, die sich an der Vernehmlassung beteiligten.

Obschon die Vorlage von den Kantonen, Parteien und Wirtschaftsverbänden kontrovers aufgenommen wurde, hielt die Kommission an ihrem Entwurf fest und verabschiedete diesen mit 6 zu 3 Stimmen bei einer Enthaltung zuhanden der Bundesversammlung. Im Hinblick auf mögliche künftige Krisensituationen mit grossen Flüchtlingsströmen erachtete sie es für angezeigt, den Status der Schutzbedürftigkeit so anzupassen, dass er für die Schweiz tatsächlich anwendbar wird. Kriegsvertriebenen ohne Aussicht auf eine sofortige Rückkehr soll vorübergehender Schutz gewährt werden können, ohne das schweizerische Asylsystem zusätzlich zu belasten.

Eine Minderheit der Kommission beantragte, auf die Vorlage nicht einzutreten. Es sei unnötig,
einen Status neu zu regeln, der noch nie angewandt wurde. Ausserdem sei zweifelhaft, ob die Bestimmungen zum Familiennachzug den einzigen Grund darstellten, weshalb der Status S nie zur Anwendung kam.

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Grundzüge der Vorlage

2.1

Der Schutzbedürftigen-Status im geltenden Asylrecht

In den 1990er Jahren sah sich die Schweiz mit einem grossen Zustrom an schutzsuchenden Personen konfrontiert, die vor den bewaffneten Konflikten im ehemaligen Jugoslawien flohen. Viele dieser Personen erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht, ihre Rückweisung war jedoch aus humanitären oder völkerrechtlichen Gründen nicht möglich. In seiner Botschaft von 1995 zur Totalrevision des Asylgesetzes3 ging der Bundesrat davon aus, dass immer mehr Menschen in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, die zwar keine Flüchtlinge im Sinne der Flüchtlingskonvention oder des Asylgesetzes sind, die aber als Schutzbedürftige oder sogenannte Gewaltflüchtlinge den Folgen von Kriegen entfliehen wollen. Weil die individuelle Prüfung von Gesuchen einer solch grossen Zahl von Schutzsuchenden das Asylsystem überfordern kann, wurde bei der Totalrevision des Asylgesetzes von 19984 die «Gewährung des vorübergehenden Schutzes» in das Gesetz aufgenommen (Art. 4, vgl. BBl 1996 II 43). Dieses Instrument erlaubt es, grösseren Gruppen von Personen vorübergehend Schutz zu gewähren, ohne die Asylgesuche individuell zu prüfen.

Der Entscheid über die Gewährung vorübergehenden Schutzes für Personen, die einer schweren allgemeinen Gefährdung ausgesetzt, jedoch nicht notwendigerweise Flüchtlinge sind, liegt im Ermessen des Bundesrates (Art. 66 ff., vgl. BBl 1996 II 78). Das System des vorübergehenden Schutzes wurde während des bewaffneten Konflikts in Ex-Jugoslawien geschaffen, um auf einen ausserordentlich grossen Zustrom von Personen in die Schweiz reagieren zu können, welcher die Kapazität des schweizerischen Asylsystems zur Bewältigung der hängigen Asylgesuche zu überfordern drohte.

Bis anhin hat die Schweiz auch erhöhte Gesuchszahlen stets in den Regelstrukturen bewältigen können, weshalb dieses Schutzsystem nie angewendet wurde. Hinzu kommt, dass die Anwendung der Schutzbedürftigenregelung auch mit gewissen Schwierigkeiten und Nachteilen verbunden ist: Es handelt es sich um ein Instrument, welches als vorübergehende Schutzgewährung konzipiert ist. Aus diesem Grund wird im Grundsatz davon ausgegangen, dass die entsprechende schwere allgemeine Gefährdung von relativ kurzer Dauer ist und die Personen nach deren Ende wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Jedoch gestaltet sich die Beurteilung der voraussichtlichen Dauer eines
bewaffneten Konflikts naturgemäss als schwierig. Die jüngsten Erfahrungen mit den Konflikten in Syrien oder Afghanistan zeigen, dass ein Ende oftmals kaum absehbar ist bzw. die Konflikte sehr lange dauern können.

Auch werden bei der Schutzbedürftigenregelung spätere erst- oder zweitinstanzliche Verfahren nicht ausgeschlossen, in welchen die betroffenen Personen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von Asyl beantragen. Selbst wenn die Verfügungen der vorübergehenden Schutzgewährung in Rechtskraft erwachsen, können die Betroffenen nach fünf Jahren verlangen, dass ihr Asylverfahren wieder aufgenommen wird (Art. 69 Abs. 3 und Art. 70 AsylG). Dies zeigt, dass 3 4

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die Schutzbedürftigenregelung zwar ein geeignetes Instrument ist, um in einer akuten Krisensituation in verfahrensrechtlicher Hinsicht rasch handeln zu können, jedoch als langfristige Folge einen Mehraufwand im Asylverfahren mit sich bringen kann. Schliesslich ist festzuhalten, dass in Anwendung der Schutzbedürftigenregelung ein vereinfachtes Verfahren durchgeführt wird und damit beispielsweise die Identifizierung von Personen, die sich möglicherweise Verbrechen gemäss Völkerstrafrecht haben zuschulden kommen lassen, erschwert werden kann.

2.2

Grundzüge der Vorlage

Die Kommission unterbreitet eine Gesetzesvorlage, nach welcher der Familiennachzug von Personen mit dem Status der Schutzbedürftigkeit (S-Status) nach den gleichen Regeln erfolgen soll wie bei vorläufig aufgenommenen Ausländerinnen und Ausländern (F-Status). Das heisst, dass die Betroffenen nach der Gewährung des S-Status bis zur Zusammenführung der Familie eine Frist von drei Jahren abwarten müssen. Die Möglichkeit einer Zusammenführung der Familie wird davon abhängig gemacht, dass im Sinne des neuen Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) die Familie keine Sozialhilfe und keine Ergänzungsleistungen bezieht und dass sie über eine bedarfsgerechte Wohnung verfügt. Schliesslich müssen sich die Gesuchstellenden in einer Landessprache verständigen oder zumindest ihre Bereitschaft zum Spracherwerb glaubhaft machen können.

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Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

3.1

Asylgesetz vom 26. Juni 1998

Art. 71 Abs. 1 und 1a Abs. 1 Absatz 1 enthält aus redaktionellen Gründen nur noch die bisherige Regelung von Absatz 1 Buchstabe a, welche materiell unverändert übernommen wird. Demnach wird Ehegatten von Schutzbedürftigen und ihren minderjährigen Kindern vorübergehender Schutz gewährt, wenn keine Ausschlussgründe nach Artikel 73 vorliegen.

Abs. 1a Die Familie einer schutzbedürftigen Person, welche aufgrund von Ereignissen wie Krieg, Bürgerkrieg sowie einer Situation allgemeiner Gewalt getrennt wurde (Art. 4 AsylG), soll sich in der Schweiz wiedervereinigen können. Dabei sollen die gleichen Voraussetzungen gelten wie beim Familiennachzug von vorläufig Aufgenommen nach Artikel 85 Absatz 7 bis 7ter des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom 16. Dezember 20055 (AIG).

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Eine Wiedervereinigung der Familie von Schutzbedürftigen ist demnach nur dann möglich, wenn seit der Gewährung des vorübergehenden Schutzes mindestens drei Jahre vergangen sind (vgl. Art. 85 Abs. 7 Einleitungssatz AIG). Weiter wird vorausgesetzt, dass die nachzuziehenden Ehegatten bzw. minderjährigen Kinder künftig mit der sich bereits in der Schweiz aufhaltenden Person in einer bedarfsgerechten Wohnung zusammenwohnen und die Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen ist (vgl. Art. 85 Abs. 7 Bst. a­c AIG).

Im Rahmen der letzten Änderung des AIG vom 16. Dezember 20166 wurden weitere Voraussetzungen für den Familiennachzug bei vorläufig aufgenommenen Personen festgelegt. Diese sollen für Schutzbedürftige ebenfalls sinngemäss Anwendung finden. So wird für einen Familiennachzug zusätzlich vorausgesetzt, dass vorläufig aufgenommene Personen keine jährlichen Ergänzungsleistungen nach dem Bundesgesetz vom 6. Oktober 20067 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG) beanspruchen oder wegen des Familiennachzugs beanspruchen könnten (vgl. Art. 85 Abs. 7 Bst. e AIG). Auch müssen sich die nachzuziehenden Ehegatten in der am Wohnort gesprochenen Landessprache verständigen können oder sich zu einem Sprachförderprogramm angemeldet haben (vgl. Art. 85 Abs. 7 Bst. d und Abs. 7bis AIG). Vom Erfordernis der Sprachkenntnisse kann lediglich dann abgewichen werden, wenn wichtige Gründe vorliegen, die zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Fähigkeit zum Spracherwerb führen (z.B.

Krankheit, vgl. Art. 49a Abs. 2 AIG und Art. 85 Abs. 7ter zweiter Satz AIG). Keine Anwendung findet das Erfordernis der Sprachkenntnisse zudem bei ledigen Kindern unter 18 Jahren (Art. 85 Abs. 7ter 1. Satz AIG).

Der Vollzug des Familiennachzugs bei vorläufig aufgenommenen Personen wird in der Verordnung vom 24. Oktober 20078 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) geregelt. Daher sollen die Bestimmungen der VZAE auch sinngemäss für den Familiennachzug von Schutzbedürftigen gelten. Diese Vollzugsbestimmungen wurden im Rahmen der Umsetzung der Änderungen des AIG vom 16. Dezember 2016 angepasst (z. B. Art. 74 und 74a VZAE in der Fassung vom 15. August 2018). Damit gelten auch auf Verordnungsebene beim Familiennachzug von vorläufig Aufgenommen und von Schutzbedürftigen die gleichen Voraussetzungen.

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Finanzielle und personelle Auswirkungen

Da das System des vorübergehenden Schutzes bis heute noch nie angewendet wurde, lassen sich über die Auswirkungen der Anpassung der Regelungen zum Familiennachzug von Schutzbedürftigen an diejenigen von vorläufig aufgenommenen Personen keine präzisen Angaben machen. Wenn diese Anpassung angewendet wird, dürfte dies tendenziell entlastend auf den Bundeshaushalt wirken, indem weniger individuelle Asylgesuche geprüft werden müssen, zumindest solange die Schutzbedürftigkeit besteht. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass eine allfällige 6 7 8

AS 2017 6521 SR 831.30 SR 142.201

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Anwendung dieser neuen Regelung zu einem erhöhten Personalbedarf bei den kantonalen Migrationsbehörden führen könnte. So sollen künftig Gesuche um Familiennachzug von schutzbedürftigen Personen, aufgrund der sinngemässen Anwendung der VZAE zum Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen, bei den kantonalen Migrationsbehörden eingereicht werden. Diese sollen das entsprechende Gesuch mit ihrer Stellungnahme zur Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen für den Familiennachzug an das SEM weiterleiten (vgl. Art. 74 Abs. 1 und 2 VZAE).

Gesuche um Familiennachzug von Schutzbedürftigen sind nach geltendem Recht ans SEM zu richten. Mit der Anpassung der Regelung zum Familiennachzug von Schutzbedürftigen sollen die Gesuche neu bei den kantonalen Migrationsbehörden eingereicht werden. Da die entsprechenden Behörden diese anschliessend ans SEM weiterleiten und das SEM abschliessend über die einzelnen Gesuche entscheiden soll, ist mit keinen finanziellen und personellen Auswirkungen auf den Bund zu rechnen.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Die vorgeschlagenen Änderungen sind mit der Verfassung vereinbar.

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Die Konvention vom 28. November 1974 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) enthält kein Recht auf Einreise und Aufenthalt oder auf einen besonderen Aufenthaltstitel. Einschränkungen des Rechts auf Familiennachzug sind grundsätzlich mit dem in Artikel 8 EMRK geschützten Recht auf Familienleben vereinbar.9 So ist es in diesem Zusammenhang zulässig, die Einreise von Angehörigen an gewisse zeitliche Bedingungen zu knüpfen10, womit die vorgeschlagenen Anpassungen bei den Voraussetzungen zum Familiennachzug von Schutzbedürftigen, insbesondere die dreijährige Wartefrist mit dem Recht auf Familienleben, mit Artikel 8 vereinbar ist. Im Einzelfall hat die Umsetzung des Familiennachzugs von Schutzbedürftigen stets verfassungs- und völkerrechtskonform zu erfolgen. Bei den Schutzbedürftigen handelt es sich nicht um anerkannte Flüchtlinge im Sinne des Abkommens vom 21. April 195511 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention), da die Frage, ob eine schutzbedürftige Person auch die Flüchtlingseigenschaft erfüllt, während der Dauer des vorübergehenden Schutzes nicht individuell geprüft wird. Folglich finden die Rechte und Pflichten der Flüchtlingskonvention keine Anwendung auf Schutzbedürftige. Angesichts der Umstände, die zur Gewährung des vorübergehenden Schutzes Anlass geben, schafft der Auf9 10 11

Vgl. BGE 142 II 35 E. 6.1, BGE 126 II 335, Urteil BVGer vom 6. Dezember 2016 (F-2186/2015).

BGE 130 II 281 E. 3.1/BGE 126 II 335 E. 3c.

SR 0.142.30

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schub des Familiennachzuges für minderjährige Kinder indes ein gewisses Spannungsverhältnis zu Artikel 10 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes12, gemäss dessen Absatz 1 «von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet werden». Im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens hat der Kinderrechtsausschuss der Schweiz denn auch namentlich empfohlen, das System der Familienzusammenführung für vorläufig aufgenommene Personen zu überprüfen. Aufgrund des weiterhin geltenden Vorbehalts der Schweiz zu Artikel 10 Absatz 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes kann die Vereinbarkeit mit der Kinderrechtskonvention als gegeben erachtet werden.

Liegt offensichtlich und nachgewiesenermassen eine Verfolgung im Sinne von Artikel 3 AsylG vor, ist es bei Personen, die eigentlich vorübergehenden Schutz erhalten würden, auch weiterhin möglich, das Asylverfahren durchzuführen und die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen und gestützt darauf Asyl zu gewähren. Da diese Personen die Flüchtlingseigenschaft erfüllen und ihnen Asyl gewährt wird, haben sie grundsätzlich einen Anspruch auf Bewilligung des Familiennachzugs (vgl.

Art. 51 AsylG).

Folglich sind die vorgeschlagenen Änderungen bei den Voraussetzungen für den Familiennachzug von Schutzbedürftigen mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar.

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