20.026 Botschaft zur Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung) vom 26. Februar 2020

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf einer Änderung der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung).

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2014

P

14.3804

2015

M 14.4008

Anpassung der Zivilprozessordnung (S 19.03.15, Kommission für Rechtsfragen SR; N 08.09.15)

2015

P

Bekanntmachung von Willensäusserungen und Entscheiden von Behörden. Analyse der heutigen Praxis (N 21.09.15, [Poggia] Golay)

2018

M 17.3868

13.3688

Zivilprozessordnung. Erste Erfahrungen und Verbesserungen (N 12.12.14, Vogler)

Zugang zu den Zivilgerichten erleichtern (S 13.12.17, Janiak; N 12.06.18)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

26. Februar 2020

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2019-0243

2697

Übersicht Die Schweizerische Zivilprozessordnung hat sich in der Praxis insgesamt bewährt.

Durch punktuelle Verbesserungen sollen ihre Praxistauglichkeit und die Rechtsdurchsetzung weiter verbessert werden. Insbesondere sollen das Prozesskostenrecht angepasst und so der Zugang zum Gericht erleichtert werden. Daneben sollen hauptsächlich die Verfahrenskoordination erleichtert, das Schlichtungsverfahren gestärkt, das Familienverfahrensrecht verbessert sowie punktuelle Unklarheiten gesetzlich geklärt oder präzisiert werden. Die in der Vernehmlassung stark kritisierten Vorschläge für eine Stärkung der kollektiven Rechtsdurchsetzung werden aus dieser Vorlage herausgelöst und sollen separat behandelt werden.

Ausgangslage Am 1. Januar 2011 wurde mit der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) das Zivilprozessrecht schweizweit kodifiziert und vereinheitlicht. Nach neun Jahren ist die ZPO heute im praktischen Alltag der Gerichte, Anwältinnen und Anwälte und der Rechtsunterworfenen etabliert. Das Parlament hat den Bundesrat mit einer Motion beauftragt, die Praxistauglichkeit der ZPO zu prüfen und eine entsprechende Gesetzesvorlage vorzulegen. Daneben verlangen weitere parlamentarische Vorstösse zusätzliche Anpassungen der ZPO.

Inhalt der Vorlage Die Prüfung der Praxistauglichkeit hat gezeigt, dass sich die ZPO insgesamt bewährt hat. Punktuell festgestellte Schwachpunkte sollen durch entsprechende Anpassungen eliminiert werden, um die Anwendung der ZPO weiter zu verbessern. Dieser Befund und diese Vorgehensweise wurden in der Vernehmlassung unterstützt.

Abbau von Kostenschranken Durch die Halbierung der Gerichtskostenvorschüsse und eine Anpassung der Kostenliquidationsregelung sollen die festgestellten Mängel im Kostenrecht und damit ein zentraler Kritikpunkt beseitigt werden, ohne dass dabei in die kantonale Tarifhoheit eingegriffen wird. Gegenüber dem Vorentwurf werden Ausnahmen von der Halbierung der Kostenvorschüsse vorgesehen.

Erleichterung der Verfahrenskoordination Die koordinierte und damit effiziente Geltendmachung von mehreren Ansprüchen und die gemeinsame Entscheidung darüber sollen erleichtert werden; dazu sind die Bestimmungen über die Streitgenossenschaft, die Streitverkündungsklage, die Klagenhäufung und die Widerklage punktuell anzupassen.

2698

Stärkung des Schlichtungsverfahrens Das bewährte Schlichtungsverfahren soll punktuell gestärkt werden. So soll es in zusätzlichen Streitigkeiten zum Zuge kommen, und die Kompetenz der Schlichtungsbehörden zu Entscheidvorschlägen soll ausgebaut werden.

Verbesserungen im Familienverfahrensrecht Neben den bereits im Vorentwurf vorgeschlagenen punktuellen Anpassungen (insb.

ein genereller Verzicht auf das Schlichtungsverfahren mehr bei Klagen in Kinderbelangen) soll das Familienverfahrensrecht in weiteren Punkten verbessert werden.

Damit trägt der Bundesrat Rückmeldungen aus der Vernehmlassung Rechnung.

Weitere punktuelle Anpassungen Mit weiteren punktuellen Anpassungen sollen die Rechtssicherheit und Rechtsklarheit verbessert und damit die Anwenderfreundlichkeit weiter gestärkt werden. So sollen wichtige Erkenntnisse der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gesetzlich verankert werden. Neu soll ein Mitwirkungsverweigerungsrecht für Unternehmensjuristinnen und -juristen geschaffen werden. Schliesslich sollen im Bundesrecht die Grundlagen für eine zukünftige Einrichtung besonderer internationaler Handelsgerichte in den Kantonen geschaffen werden.

Separate Behandlung des kollektiven Rechtsschutzes Weil die Vorschläge für eine Stärkung der kollektiven Rechtsdurchsetzung von Massen- und Streuschäden in der Vernehmlassung im Gegensatz zur übrigen Vorlage stark umstritten waren, sollen sie nicht im Rahmen dieser Vorlage weiterverfolgt, sondern davon abgespalten werden. Ihre separate Behandlung erlaubt eine Berücksichtigung der weiteren Entwicklungen und parlamentarischen Diskussionen.

2699

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

2698

1

Ausgangslage 1.1 Handlungsbedarf und Ziele 1.1.1 Erfolgreiche Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts 1.1.2 Parlamentarische Vorstösse unmittelbar nach Inkrafttreten 1.1.3 Motion 14.4008 «Anpassung der Zivilprozessordnung» und Postulat 14.3804 «Zivilprozessordnung.

Erste Erfahrungen und Verbesserungen» 1.1.4 Motion 13.3931 «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung» 1.1.5 Praxistauglichkeit der ZPO 1.2 Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung 1.3 Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzierung sowie zu den Strategien des Bundesrates 1.4 Erledigung parlamentarischer Vorstösse

2702 2702 2702 2702

Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren 2.1 Vernehmlassungsvorlage 2.2 Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2.3 Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

2706 2706

3

Rechtsvergleich, insbesondere mit dem europäischen Recht

2710

4

Grundzüge der Vorlage 4.1 Die beantragte Neuregelung 4.1.1 Abbau von Kostenschranken: Halbierung der Gerichtskostenvorschüsse und Anpassung der Kostenliquidationsregelung 4.1.2 Erleichterung der Verfahrenskoordination 4.1.3 Punktueller Ausbau des Schlichtungsverfahrens 4.1.4 Schaffung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts für Unternehmensjuristinnen und -juristen 4.1.5 Verbesserungen im Familienverfahrensrecht 4.1.6 Schaffung der bundesrechtlichen Grundlagen für internationale Handelsgerichte 4.1.7 Differenzierte Aufnahme der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in das Gesetz 4.1.8 Weitere punktuelle Massnahmen zur Verbesserung der Anwenderfreundlichkeit 4.2 Kollektiver Rechtsschutz: Abspaltung und separate Behandlung 4.3 Verzicht auf Bestimmungen des Vorentwurfs 4.4 Umsetzungsfragen

2712 2712

2

2703 2704 2704 2705 2706 2706

2707 2709

2712 2714 2715 2716 2717 2718 2719 2719 2721 2722 2723 2700

BBl 2020

5

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln 5.1 Zivilprozessordnung 5.2 Änderung anderer Bundesgesetze 5.2.1 Bundesgerichtsgesetz (BGG) 5.2.2 Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG)

2723 2723 2778 2778 2779

6

Auswirkungen 6.1 Auswirkungen auf den Bund 6.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete 6.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft 6.4 Auswirkungen auf die Gesellschaft 6.5 Auswirkungen auf die Umwelt

2780 2780

Rechtliche Aspekte 7.1 Verfassungsmässigkeit 7.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 7.3 Erlassform 7.4 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 7.5 Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz 7.6 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen 7.7 Datenschutz

2782 2782 2782 2783 2783

7

Schweizerische Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung) (Entwurf)

2780 2781 2782 2782

2783 2783 2784

2785

2701

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Botschaft 1

Ausgangslage

1.1

Handlungsbedarf und Ziele

1.1.1

Erfolgreiche Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts

Die Zivilprozessordnung1 (ZPO) ist am 1. Januar 2011 in Kraft getreten. Als Teil der sogenannten Justizreform 1999/2000 vereinheitlichte sie das (Zivil-)Prozessrecht schweizweit.2 Weiterhin Sache der Kantone blieb grundsätzlich die Organisation der Gerichte und damit die Regelung der sachlichen und funktionellen Zuständigkeit sowie die Tarifhoheit zur Festsetzung der Prozesskosten, soweit die ZPO nicht ausnahmsweise etwas anderes bestimmt (vgl. Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 96 ZPO sowie Art. 122 Abs. 2 Bundesverfassung3 [BV]). Neun Jahre nach Inkrafttreten der ZPO lässt sich heute feststellen, dass die schweizweite Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts erfolgreich war: Die ZPO als bundesrechtliche Kodifikation und Konsolidierung des Prozessrechts ist heute etabliert, im praktischen Alltag der Gerichte, Anwältinnen und Anwälte und der Rechtsunterworfenen erprobt und insgesamt als praxistauglich anerkannt (vgl. dazu auch nachfolgend unter Ziff. 1.1.5).

1.1.2

Parlamentarische Vorstösse unmittelbar nach Inkrafttreten

Bereits kurze Zeit nach Inkrafttreten der ZPO wurden im Parlament Vorstösse zu spezifischen Einzelfragen und Problemstellungen eingereicht; diese betrafen vorab Fragen der Mediation4, des Schlichtungsverfahrens5, der sachlichen Zuständigkeit6, 1 2

3 4

5

6

SR 272 Vgl. dazu ausführlich die Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) vom 28. Juni 2006, BBl 2006 7221 ff., 7233 ff. sowie den Bericht zum Vorentwurf der Expertenkommission ZPO, S. 5 (abrufbar unter www.bj.admin.ch > Staat und Bürger > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Abgeschlossene Rechtsetzungsprojekte > Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts).

SR 101 Pa. Iv. Hiltpold 11.437 «Änderung des ZGB und der ZPO. Mediation in kindesrechtlichen Angelegenheiten» (am 31.07.2012 zurückgezogen); Mo. Bernasconi 11.3094 «Mediation.

Gemeinsame elterliche Verantwortung fördern» (vom NR am 13.12.2012 abgelehnt); Ip. von Graffenried 12.3558 «Wie wird die Mediation in den Kantonen angewendet?» (erledigt).

Pa. Iv. (Poggia) Golay 12.424 «Zivilprozess. Schutz vor unverhältnismässiger und ungerechtfertigter Strenge» (keine Folge gegeben; erledigt); Mo. Romano 13.3845 «Unterbrechung der Verjährung in Verfahren ohne Schlichtungsversuch nach der Zivilprozessordnung» (abgeschrieben; erledigt).

Pa. Iv. (Poggia) Golay 13.441 «Zivilprozess. Klagen betreffend Zusatzversicherungen zur obligatorischen Unfallversicherung gleich behandeln wie solche betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung» (Folge gegeben; vgl. dazu Ziff. 4.1.8).

2702

BBl 2020

der Verfahrensleitung7 und des kollektiven Rechtsschutzes8. Zwischenzeitlich sind die meisten dieser Vorstösse erledigt. In vielen Fällen haben sich die aufgeworfenen Fragen als verfrüht, zu isoliert betrachtet, nicht grundlegend oder nicht unmittelbar regelungsbedürftig erwiesen.

1.1.3

Motion 14.4008 «Anpassung der Zivilprozessordnung» und Postulat 14.3804 «Zivilprozessordnung. Erste Erfahrungen und Verbesserungen»

Um zu verhindern, dass ständig weitere neue Vorstösse zu einzelnen Punkten eingereicht werden, und um stattdessen eine Gesamtüberprüfung und Gesamtschau der ZPO zu ermöglichen, hat die Rechtskommission des Ständerats (RK-S) am 17. November 2014 die Motion 14.4008 «Anpassung der Zivilprozessordnung» eingereicht. Der Bundesrat beantragte in seiner Stellungnahme vom 21. Januar 2015 deren Überweisung. Durch ihre Annahme am 19. März 2015 (Ständerat)9 und am 8. September 2015 (Nationalrat)10 haben sich die eidgenössischen Räte dafür entschieden, die allfälligen Anpassungen der ZPO nicht in Einzelprojekten, sondern im Rahmen einer Gesamtschau zu ermitteln und anzugehen. Der Bundesrat wurde beauftragt, nach einer Prüfung der Praxistauglichkeit dem Parlament bis Ende 2018 eine entsprechende Vorlage mit den erforderlichen Gesetzesanpassungen zu unterbreiten.

Parallel dazu reichte Nationalrat Karl Vogler am 24. September 2014 das Postulat 14.3804 «Zivilprozessordnung. Erste Erfahrungen und Verbesserungen» ein.

Dieses beauftragt den Bundesrat, in Zusammenarbeit mit den Kantonen, den Gerichten sowie den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und weiteren Stakeholdern zu prüfen und in einem Bericht darzulegen, wie eine erste Zwischenbilanz zur ZPO ausfällt und gestützt darauf aufzuzeigen, wie bereits heute erkannte Mängel und Schwachpunkte beseitigt werden können und das Zivilprozessrecht weiter vereinheitlicht und verbessert werden kann. Dieses Postulat hat der Nationalrat am 12. Dezember 2014 diskussionslos angenommen 11, nachdem der Bundesrat am 5. November 2014 die Annahme beantragt hatte.

7

8

9 10 11

Mo. (Ribaux) Feller 13.3447 «Keine SMS und Tweets aus Gerichtssälen» (vom NR am 05.05.2015 abgelehnt); Mo. Caroni 13.3684 «Kein Begründungszwang vor zweitinstanzlichen Gerichten gegen den Parteiwillen» (vom NR am 13.12.2013 abgelehnt).

Mo. Birrer-Heimo 11.3977 «Erleichterung der Rechtsdurchsetzung in kollektiven Verfahren» (abgeschrieben; erledigt); Mo. Schwaab 13.3052 «Recht zur Sammelklage bei Datenschutzverletzungen, insbesondere im Internet» (abgeschrieben; erledigt); Mo. Birrer-Heimo 13.3931 «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung» (angenommen; vgl. dazu Ziff. 1.1.4 und 4.2).

AB SR 2015 293 AB NR 2015 1374 AB NR 2014 2355

2703

BBl 2020

1.1.4

Motion 13.3931 «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung»

Der Bundesrat hat am 3. Juli 2013 einen Bericht «Kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz ­ Bestandesaufnahme und Handlungsmoglichkeiten»12 vorgelegt. Darin wird aufgezeigt, dass die bestehenden Instrumente des geltenden Rechts zur effizienten und effektiven Durchsetzung von Massen- und Streuschäden in der Praxis ungenügend und teilweise untauglich sind, so dass diesbezüglich eine Lücke im geltenden Rechtsschutzsystem besteht. Unter Hinweis auf diesen Bundesratsbericht verlangt die Motion 13.3931 von Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo «die Ausarbeitung der notwendigen Gesetzesänderungen, die es einer grossen Anzahl gleichartig Geschädigter erleichtern, ihre Ansprüche gemeinsam vor Gericht geltend zu machen. Es sollen einerseits die bereits bestehenden Instrumente ausgebaut und andererseits auch neue Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes geschaffen werden.

Deren Ausgestaltung trägt den spezifischen schweizerischen Gegebenheiten sowie der Verhinderung von Missbräuchen Rechnung und orientiert sich an den Erfahrungen, die in anderen europäischen Ländern mit solchen Modellen gesammelt wurden.» Nachdem der Bundesrat am 29. November 2013 die Annahme der Motion empfohlen hatte, wurde sie von beiden Räten oppositionslos angenommen. 13

1.1.5

Praxistauglichkeit der ZPO

Zur Ermittlung der Praxistauglichkeit fand zwischen Vertreterinnen und Vertretern aller massgeblichen Stakeholder ein vielfältiger Austausch statt: ­

Die vom Bundesamt für Justiz geführte Arbeitsgruppe ZPO aus Vertreterinnen und Vertretern kantonaler Zivilgerichte erster und zweiter Instanz (bestehend seit 2011 und hervorgegangen aus der bereits 2010 gebildeten früheren «Arbeitsgruppe Gerichtsurkunden») hat an ihren Sitzungen vom 7. Mai 2015, 20. März 2017 und 19. Juni 2017 über die Praxistauglichkeit der ZPO und mögliche Anpassungen diskutiert.

­

Am 15. Juni 2017 führte das Bundesamt für Justiz in Bern einen «Experten Round Table» mit den Mitgliedern der Schweizerischen Hochschulkonferenz der Zivilprozessrechtslehrerinnen und -lehrer durch.

­

Mit einer Delegation der beiden zivilrechtlichen Abteilungen des Schweizerischen Bundesgerichts fand am 20. Juni 2017 eine Diskussion über die ZPO aus der Sicht des Bundesgerichts statt.

­

Am 21. Juni 2017 empfingen Vertreter des Bundesamts für Justiz eine Delegation des Schweizerischen Anwaltsverbands zum Austausch über die ZPO.

Zudem hat das Bundesamt für Justiz zwischen Ende 2016 und Anfang 2017 mittels eines Fragebogens an die kantonalen Gerichte eine Praxisauswertung der ZPO mit Geschäftszahlen und Statistiken durchgeführt.

12 13

VPB 2013.7a, S. 59­112, abrufbar unter www.ejpd.admin.ch > Publikationen und Service > Berichte, Gutachten und Verfügungen > Berichte und Gutachten.

NR 13.12.2013, AB NR 2013 2204; SR 12.06.2014, AB SR 2014 539.

2704

BBl 2020

Die Prüfung der Praxistauglichkeit hat aufgezeigt, dass die Funktionsfähigkeit der ZPO unbestritten und allgemein anerkannt ist. Heute steht ausser Frage, dass die ZPO ihre Tauglichkeit im praktischen Alltag der Anwenderinnen und Anwender auf allen Seiten bewiesen hat. Dies wurde auch durch die Vernehmlassung bestätigt (vgl. nachfolgend Ziff. 2.2). Für die Funktionsfähigkeit spricht auch, dass seit ihrem Inkrafttreten die landesweiten Fallzahlen sowohl in erster als auch in zweiter Instanz stabil sind (vgl. dazu die Statistiken und Zahlen im erläuternden Bericht zum Vorentwurf vom 2. März 201814 [Erläuternder Bericht VE], S. 10 ff.). Punktuell hat die Prüfung hingegen durchaus Verbesserungspotential und damit Anpassungsbedarf gezeigt, so namentlich in Bezug auf die Prozesskosten (vgl. Ziff. 4.1.1) und die Möglichkeiten der Verfahrenskoordination (vgl. Ziff. 4.1.2), aber auch den kollektiven Rechtsschutz (vgl. Ziff. 4.2).

1.2

Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung

Angesichts der festgestellten Praxistauglichkeit der ZPO kann es zum heutigen Zeitpunkt nicht um tiefgreifende oder grundsätzliche Anpassungen oder gar eine Totalrevision gehen, sondern lediglich um punktuelle Anpassungen zur Verbesserung im Lichte der bisherigen Erfahrung und Praxis, wie dies insbesondere auch die Motion 14.4008 sowie die weiteren genannten parlamentarischen Vorstösse (vgl.

Ziff. 1.1.3 und 1.1.4) vom Bundesrat verlangen.

Die ursprünglich der ZPO zugrunde gelegten Prinzipien sollen daher weiterhin gelten. Dies gilt auch für die bestehende Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen, insbesondere die kantonale Zuständigkeit zur Regelung der Gerichtsorganisation und der Tarife für die Prozesskosten, selbst wenn diese Zuständigkeit teilweise in einem Spannungsverhältnis zum Vereinheitlichungsgedanken steht. Für weitergehende Anpassungen an den Kernelementen der ZPO, zum Beispiel in Bezug auf die Verfahrensarten und ihre Ausgestaltung, ist es derzeit zu früh: Zum einen sind weitere Konkretisierungen und Weiterentwicklungen der Rechtsprechung zu erwarten, denen der Gesetzgeber nicht vorgreifen sollte. Zum andern erscheinen solche Revisionen aufgrund einer neunjährigen praktischen Erfahrung und ohne umfassende Evaluation der gesamten praktischen Umsetzung und Implementierung der ZPO voreilig und im Widerspruch zur Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.

14

Abrufbar unter www.bj.admin.ch > Staat und Bürger > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Änderung ZPO.

2705

BBl 2020

1.3

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzierung sowie zu den Strategien des Bundesrates

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 27. Januar 201615 zur Legislaturplanung 2015­2019 noch im Bundesbeschluss vom 14. Juni 201616 über die Legislaturplanung 2015­2019 angekündigt. Mit der Vorlage erfüllt der Bundesrat jedoch verschiedene Motionen und Postulate (vgl. dazu nachfolgend Ziff. 1.4).

Die Vorlage hat keine direkten Schnittstellen mit den Strategien des Bundesrates für die Legislatur. Eine funktionsfähige und praxistaugliche Zivilprozessordnung gehört jedoch in einem weiteren Sinne zu den bestmöglichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Ziel 2) der Leitlinie 1 der Botschaft zur Legislaturplanung 2015­2019.17

1.4

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Mit der beantragten Neuregelung werden die Aufträge der eingangs zur Abschreibung beantragten parlamentarischen Vorstösse erfüllt: 2014

P

14.3804

2015

M 14.4008

Anpassung der Zivilprozessordnung (S 19.03.15, Kommission für Rechtsfragen SR; N 08.09.15)

2015

P

Bekanntmachung von Willensäusserungen und Entscheiden von Behörden. Analyse der heutigen Praxis (N 21.09.15, [Poggia] Golay)

2018

M 17.3868

13.3688

Zivilprozessordnung. Erste Erfahrungen und Verbesserungen (N 12.12.14, Vogler)

Zugang zu den Zivilgerichten erleichtern (S 13.12.17, Janiak; N 12.06.18)

2

Vorverfahren, insbesondere Vernehmlassungsverfahren

2.1

Vernehmlassungsvorlage

Auf der Grundlage der Ergebnisse der Prüfung der Praxistauglichkeit der ZPO (vgl.

Ziff. 1.1.5 sowie Erläuternder Bericht VE, S. 10 ff.) hat die Verwaltung einen Vorentwurf zu ihrer Änderung ausgearbeitet. Dabei wurde das Bundesamt für Justiz bezüglich kollektivem Rechtsschutz durch eine Expertengruppe aus Spezialistinnen

15 16 17

BBl 2016 1105 BBl 2016 5183 BBl 2016 1162

2706

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und Spezialisten aus Wissenschaft, Justiz und Anwaltschaft unterstützt und beraten.18 Kernpunkte dieses Vorentwurfs waren die folgenden: ­

Änderungen beim Kostenrecht: Abbau der Kostenschranken durch Halbierung der maximalen Vorschüsse auf die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten (Art. 98 VE-ZPO) sowie Anpassung der Regelung über die Liquidation der Prozesskosten (Art. 111 VE-ZPO);

­

Stärkung der kollektiven Rechtsdurchsetzung: Neuregelung und Erweiterung der Verbandsklage (Art. 89 f. VE-ZPO) und Schaffung eines Gruppenvergleichsverfahrens (Art. 352a ff. VE-ZPO);

­

Erleichterung und Erweiterung der Möglichkeiten der Verfahrenskoordination (Streitgenossenschaft, Klagenhäufung, Widerklage und Streitverkündungsklage);

­

Stärkung des Schlichtungsverfahrens;

­

Schaffung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts für Unternehmensjuristinnen und -juristen (Art. 160a VE-ZPO);

­

Weitere punktuelle Anpassungen, insbesondere durch differenzierte Aufnahme der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ins Gesetz.

Am 2. März 2018 hat der Bundesrat vom Vorentwurf und erläuternden Bericht Kenntnis genommen und die Vernehmlassung dazu eröffnet. 19 Diese dauerte bis zum 11. Juni 2018. Im Rahmen der Vernehmlassung sind 107 Stellungnahmen eingegangen, darunter von allen Kantonen, sechs politischen Parteien sowie 75 Organisationen und weiteren Teilnehmenden.

2.2

Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Eine grosse Mehrheit anerkannte sowohl die Praxistauglichkeit der ZPO als auch den Handlungsbedarf und begrüsste die Revision grundsätzlich (16 Kantone20, 18

19 20

Ihr gehörten folgende Personen an: Prof. Dr. Samuel Baumgartner, ordentlicher Professor für Zivilprozessrecht, vergleichendes Zivilprozessrecht, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, Privatrecht und Mediation an der Universität Zürich, Dr. Martin Bernet, Rechtsanwalt in Zürich, Prof. Dr. Alexander Brunner, emeritierter Professor an der Universität St. Gallen und ehemaliger Oberrichter am Handelsgericht Zürich, Prof. Dr. Isabelle Chabloz, assoziierte Professorin bei Universitäre Fernstudien Schweiz und Lehrbeauftragte an den Universitäten Bern und Fribourg, Prof. Dr. Tanja Domej, ordentliche Professorin für Zivilverfahrensrecht, Privatrecht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich, Prof. Dr. Nicolas Jeandin, ordentlicher Professor an der Universität Genf und Rechtsanwalt in Genf, Prof. Dr. Karin Müller, ordentliche Professorin für Privatrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Zivilverfahrensrecht an der Universität Luzern und Dr. Meinrad Vetter, Oberrichter und Vizepräsident des Handelsgerichts Aargau.

Die Vernehmlassungsunterlagen sind abrufbar unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2018 > EJPD.

AG, AI, BE, BL, BS, FR, GE, GL, GR, JU, NE, SO, TG, TI, ZG, ZH.

2707

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5 Parteien21 und 46 Organisationen22), wobei die Standpunkte und Mehrheiten je nach Themenbereich des Vorentwurfs unterschiedlich waren:23

21 22

23

­

Die Vorschläge zum Kostenrecht wurden von fünf Parteien und 37 Organisationen befürwortet, während sich 16 Kantone dagegen aussprachen. Die Ablehnung durch die Kantone wird mit der zu erwartenden finanziellen Mehrbelastung und mit problematischen Aspekten begründet, die im Vorentwurf nicht behandelt werden (Höhe der Gerichtskosten und Parteientschädigung).

­

Beim kollektiven Rechtsschutz gingen die Auffassungen innerhalb der Teilnehmerkategorien auseinander: Acht Kantone, vier Parteien und 23 Organisationen waren dafür, während ein Kanton, zwei Parteien und 26 Organisationen dagegen waren. Den einschlägigen Bestimmungen widersetzten sich vor allem die Vertreter der Wirtschaft. An erster Stelle wurde insbesondere auf die Abkehr von den Grundprinzipien des Zivilverfahrens hingewiesen (individueller Entscheid zur Klage und ein Verfahren für jeden Einzelfall).

Hervorgehoben wurden aber auch die damit verbundenen Risiken und der Druck auf die Unternehmen sowie die Missbrauchsrisiken und die politischen Beweggründe, die einige klageberechtigte Organisationen haben könnten.

­

Die Bestimmungen zur Erleichterung der Verfahrenskoordination (Streitgenossenschaft, Klagenhäufung, Widerklage und Streitverkündungsklage) wurden zwar im Grundsatz begrüsst, aber einige Aspekte waren gleichwohl umstritten.

­

Der im Vorentwurf enthaltenen Kompromissfassung des Mitwirkungsverweigerungsrechts von Unternehmensjuristinnen und -juristen, das bereits vorgängig Gegenstand langer Diskussionen und politischer Kontroversen war, stimmten drei Kantone, vier Parteien und 20 Organisationen zu, während sich sieben Kantone und neun Organisationen dagegen aussprachen.

­

Bei den vielfältigen weiteren im Entwurf behandelten Themen, die von geringerer Tragweite und grundsätzlich politisch weniger heikel sind, bestanden unterschiedliche Auffassungen. Grössere und grundsätzliche Einwände wurden aber nur punktuell in Bezug auf bestimmte Vorschläge vorgebracht.

­

Schliesslich wurden zahlreiche weitere Änderungsvorschläge gemacht, die im Vorentwurf nicht enthalten waren, so beispielsweise verschiedene Vorschläge zu familienrechtlichen Verfahren, ein Vorschlag zu internationalen Handelsstreitigkeiten und weitere Anregungen zu einer Ausweitung der unentgeltlichen Rechtspflege.

CVP, FDP, glp, GPS, SP.

ACSI, Amcham, CP, DJS, DVSP, economiesuisse, FER, FRC, FVE, Greenpeace, HEV, JBVD, KKJPD, KMU-Forum, Konsumentenschutz, Meier, MV Zürich, Nivalion, OGer SH, Peter, SBS, SBV, scienceindustries, SGAV, SGB, SGHVR, SGV, SKG, SLAW, SLV, SMV, SPO, Suisseculture, SVC, SVR, Swico, Swisscom, SwissHoldings, TCS, UBS, UNIBAS, UNIBE, UNIFR, UNIL, USPI, VSI.

Bericht Vernehmlassung, S. 6 ff.; abrufbar unter www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > 2018 > EJPD.

2708

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2.3

Würdigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens

Ansatzpunkt, Zielsetzung und Stossrichtung der Vorlage wurden von einer grossen Mehrheit der Kantone, Parteien und Organisationen ausdrücklich unterstützt. Lediglich eine Minderheit der Kantone24 und eine politische Partei25 lehnten die Vorlage gesamthaft ab, wobei sich auch diese Ablehnung mehr gegen konkrete inhaltliche Vorschläge als gegen die Revision als solche richtete.

Politisch umstritten waren die Vorschläge zum Kostenrecht: Eine Mehrheit der Kantone hat sich primär unter Hinweis auf die finanzielle Zusatzbelastung gegen die Neuregelung der Prozesskostenliquidation, aber auch gegen die Halbierung der Gerichtskostenvorschüsse ausgesprochen. Umgekehrt hat sich eine klare Mehrheit von Parteien und Organisationen, aber auch vier Kantone, für die vorgeschlagenen Änderungen ausgesprochen oder gar deutlich weitergehende Erleichterungen gefordert. Gleichzeitig war aber in der Vernehmlassung unbestritten, dass in Bezug auf die Kosten im geltenden Recht Probleme bestehen, wobei gerade die Kantone zur Lösung dieser Probleme teilweise andere Massnahmen vorschlugen. Bei dieser Ausgangslage hält der Bundesrat grundsätzlich an seinen Vorschlägen fest. Gleichzeitig ist den Vorbehalten der Kantone bei der konkreten Ausgestaltung der neuen Regelungen Rechnung zu tragen, namentlich durch verschiedene Ausnahmen vom Grundsatz der Halbierung der Gerichtskostenvorschüsse (vgl. dazu Ziff. 4.1.1 sowie die Erläuterungen zu Art. 98 E-ZPO). Umgekehrt erscheinen Vorschläge zu einer weitergehenden Reduktion der Vorschüsse, aber auch der Gerichtskosten, deren schweizweite Vereinheitlichung oder Harmonisierung sowie Erleichterungen bei der unentgeltlichen Rechtspflege derzeit nicht mehrheitsfähig.

Politisch stark umstritten und kontrovers diskutiert wurden die Vorschläge zum kollektiven Rechtsschutz, die der Bundesrat in Erfüllung der Motion 13.3931 BirrerHeimo «Förderung und Ausbau der Instrumente der kollektiven Rechtsdurchsetzung» machte (Erweiterung der Verbandsklage und Schaffung eines neuen Gruppenvergleichsverfahrens). Auf der einen Seite sprachen sich acht Kantone, vier politische Parteien und 23 Organisationen für die vorgeschlagene Erweiterung des kollektiven Rechtsschutzes aus, weil der diesbezügliche Handlungsbedarf ausdrücklich anerkannt wurde. Auf der anderen Seite sprachen sich ein Kanton, zwei Parteien
und 26 Organisationen dezidiert gegen die Vorschläge aus, wobei diese Ablehnung primär aus der Wirtschaft oder wirtschaftsnahen Kreisen kam und sowohl prinzipiell als auch inhaltlich begründet wurde. Angesichts dieses Vernehmlassungsergebnisses sollen die Vorschläge zum kollektiven Rechtschutz und damit der parlamentarische Auftrag gemäss Motion 13.3931 Birrer-Heimo nicht im Rahmen dieser ZPO-Vorlage, sondern separat behandelt werden.26 Mit dieser Abspaltung kann der vielfältigen Kritik beim kollektiven Rechtsschutz am besten Rechnung getragen werden (vgl. dazu ausführlich Ziff. 4.2).

Betreffend die Erleichterungen der Verfahrenskoordination hält der Bundesrat angesichts des Vernehmlassungsergebnisses grundsätzlich an seinen Vorschlägen 24 25 26

LU, NW, OW, SG, SZ, UR.

SVP Vgl. Bericht Vernehmlassung, Ziff. 3.1.

2709

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fest. Der teilweise geäusserten Kritik, aber auch den diesbezüglichen Änderungswünschen ist aber mit entsprechenden Anpassungen Rechnung zu tragen. Namentlich auch bei den Kantonen umstritten war demgegenüber der Vorschlag für ein Mitwirkungsverweigerungsrecht von Unternehmensjuristinnen und -juristen. Dennoch ist nach Ansicht des Bundesrates mangels ersichtlicher Alternativen an der vorgeschlagenen Kompromissfassung festzuhalten, zumal sie auf einer parlamentarischen Initiative beruht (vgl. dazu auch Ziff. 4.1.4).

Die übrigen Vorschläge gemäss Vorentwurf waren nicht grundsätzlich umstritten; vielmehr gab es viele Bemerkungen und zahlreiche Änderungs- sowie Ergänzungsvorschläge zu einzelnen Bestimmungen, welche bei den jeweiligen Artikeln zu berücksichtigen sind.

3

Rechtsvergleich, insbesondere mit dem europäischen Recht27

Am 4. Juli 2017 hat das Europäische Parlament eine Entschliessung mit Empfehlungen an die EU-Kommission zu gemeinsamen Standards des Zivilprozessrechts in der Europäischen Union verabschiedet.28 Mittelfristig sollen gemeinsame Mindeststandards in der Form einer EU-Richtlinie für faire und wirksame Zivilverfahren und zur Wahrung des Zugangs zu den Gerichten und zum Recht das bestehende «regulatorische Puzzle» aus umfangreicher EuGH-Rechtsprechung, sektorspezifischen Verfahrensvorschriften und Regelungen der justiziellen Zusammenarbeit ersetzen. In diesem Zusammenhang ist auch auf die aktuellen Arbeiten im Rahmen eines bereits seit 2014 laufenden gemeinsamen Projekts des European Law Institute mit UNIDROIT betreffend «European Rules of Civil Procedure» hinzuweisen. 29 Das Zivilprozessrecht ist nicht nur in der Schweiz in letzter Zeit kontinuierlichen Anpassungen unterworfen. So kann insbesondere auf folgende Neuerungen in anderen Ländern hingewiesen werden: ­

27 28

29 30 31

32

In Frankreich wurde der Code de procédure civile in den Jahren 2016/2017 durch das Justizmodernisierungsgesetz30 sowie dessen Ausführungsgesetze 31 revidiert. Diese sehen Instrumente der Verfahrensvereinfachung und der Entlastung der Justiz sowie zur Erleichterung des Zugangs zum Gericht vor.

Mit dem Justizreformgesetz 201932 soll die Justiz vereinfacht, effizienter, Für den Rechtsvergleich bezüglich kollektivem Rechtsschutz wird auf die Ausführungen im Erläuternden Bericht zum Vorentwurf, Ziff. 1.4.2 verwiesen.

Europäisches Parlament, Gemeinsame Mindeststandards des Zivilprozessrechts, Entschliessung vom 4. Juli 2017 mit Empfehlungen an die Kommission zu gemeinsamen Mindeststandards des Zivilprozessrechts in der Europäischen Union (2015/2084(INL)), P8_TA (2017)0282.

Vgl. dazu die Informationen unter www.europeanlawinstitute.eu > Projects and Publications > Current Projects, Feasibility Studies and Other Activities > Current Projects.

Loi no 2016-1547 du 18 novembre 2016 de modernisation de la justice du XXIe siècle.

Insb. Décret n° 2017-892 du 6 mai 2017 portant diverses mesures de modernisation et de simplification de la procédure civile und Décret no 2017-891 du 6 mai 2017 relatif aux exceptions d'incompétence et à l'appel en matière civile.

Loi n° 2019-222 du 23 mars 2019 de programmation 2018-2022 et de réforme pour la justice.

2710

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moderner und der Zugang zur Justiz weiter verbessert werden. Durch zwei Protokolle33 wurden zudem auf den 1. März 2018 besondere Regelungen für die «International Chamber of the Paris Commercial Court» und die neu gebildete «International Chamber of the Paris Court of Appeal» für Verfahren über internationale Handelsstreitigkeiten in englischer Sprache vor diesen Gerichten erlassen.

33

34 35 36 37 38

39

­

In Deutschland hat die Zivilprozessordnung zuletzt wesentliche Anpassungen durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten34, das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs35, das Gesetz zur Änderung von Vorschriften im Bereich des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts36 und insbesondere durch das Musterfeststellungsklagengesetz37 erfahren. Sodann besteht seit dem 1. Januar 2018 eine besondere Kammer für internationale Handelssachen des Landgerichts Frankfurt in englischer Sprache.

­

Die österreichische Zivilprozessordnung hat in den letzten Jahren mit dem Bundesgesetz vom 3. August 2015, mit dem die Zivilprozessordnung, das Disziplinarstatut für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter sowie das Gerichtsorganisationsgesetz geändert wurden, und dem 2. Erwachsenenschutzgesetz vom 25. April 201738 wesentliche Änderungen erfahren.

­

In den Niederlanden wurde die Zivilprozessordnung auf den 1. Januar 201939 geändert und damit der «Netherlands Commercial Court» als beson-

Protocole relatif à la procédure devant la Chambre internationale du tribunal de commerce de Paris du 7 février 2018; Protocole relatif à la procédure applicable devant la Chambre internationale de la cour d'appel de Paris du 7 février 2018; beide abrufbar unter www.tribunal-de-commerce-de-paris.fr > la chambre internationale > les protocoles.

Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013.

Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5. Juli 2017.

Gesetz zur Änderung von Vorschriften im Bereich des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts vom 11. Juni 2017.

Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage vom 12. Juli 2018.

Bundesgesetz, mit dem das Erwachsenenvertretungsrecht und das Kuratorenrecht im Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch geregelt werden und das Ehegesetz, das Eingetragene Partnerschaft-Gesetz, das Namensänderungsgesetz, das Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten, das Außerstreitgesetz, die Zivilprozessordnung, die Jurisdiktionsnorm, das Rechtspflegergesetz, das Vereinssachwalter-, Patientenanwalts- und Bewohnervertretergesetz, das Unterbringungsgesetz, das Heimaufenthaltsgesetz, die Notariatsordnung, die Rechtsanwaltsordnung, das Gerichtsgebührengesetz und das Gerichtliche Einbringungsgesetz geändert werden (2. Erwachsenenschutz-Gesetz ­ 2. ErwSchG) vom 25. April 2017.

Wet van 12 december 2018 tot wijziging van het Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering en de Wet griffierechten burgerlijke zaken in verband met het mogelijk maken van Engelstalige rechtspraak bij de internationale handelskamers van de rechtbank Amsterdam en het gerechtshof Amsterdam, abrufbar unter: https://zoek.officielebekendmakingen.nl/stb-2018-474.pdf.

2711

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dere Kammer für Verfahren über internationale Handelsstreitigkeiten in englischer Sprache eingeführt.40

4

Grundzüge der Vorlage

4.1

Die beantragte Neuregelung

4.1.1

Abbau von Kostenschranken: Halbierung der Gerichtskostenvorschüsse und Anpassung der Kostenliquidationsregelung

Die vielstimmige Kritik am geltenden Prozesskostenrecht ist berechtigt und wurde auch in der Vernehmlassung von einer Mehrheit der Teilnehmenden bekräftigt. Zur Verbesserung der Situation, insbesondere zur Gewährleistung des Zugangs zum Recht auch für Personen und Parteien, die weder besonders begütert sind noch in den Genuss der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Artikel 117 ff. ZPO kommen, schlägt der Bundesrat folgende Massnahmen vor:

40 41

­

Die Kostenvorschüsse gemäss Artikel 98 ZPO sind im Grundsatz auf maximal die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten zu begrenzen, wie es auch teilweise im früheren kantonalen Recht und dem damaligen Vernehmlassungsentwurf zur ZPO vorgesehen war. Damit reduziert sich diese faktische Zutrittsschranke erheblich, ohne dass insbesondere die Warn- und Filterfunktion eines solchen Vorschusses in Frage gestellt würden. Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung von einer klaren Mehrheit der Teilnehmenden unterstützt. Der fast ausschliesslich von den Kantonen vorgebrachten Kritik wird dahingehend Rechnung getragen, dass Ausnahmen vom Grundsatz der Halbierung der Gerichtskostenvorschüsse vorgesehen werden für Verfahren, die entweder aufgrund nur geringer mutmasslicher Gerichtskosten auch nur geringe Vorschüsse zur Folge haben oder in denen höhere Vorschüsse sachlich gerechtfertigt erscheinen (so insb. für das Schlichtungsverfahren, summarische Verfahren und das Rechtsmittelverfahren; vgl.

Art. 98 Abs. 2 E-ZPO sowie die Erläuterungen dazu unter Ziff. 5.1).

­

Die Regelung über die Liquidation der Prozesskosten (Art. 111 ZPO) soll dahingehend angepasst werden, dass die Gerichtskosten ausser in den Ausnahmefällen von Artikel 98 Absatz 2 E-ZPO mit den geleisteten Vorschüssen der kostenpflichtigen Partei verrechnet werden; für den Saldo wird entweder ein Fehlbetrag nachgefordert oder ein Überschuss zurückerstattet.

Damit tragen nicht mehr die Parteien das Inkassorisiko der Gegenpartei, sondern der Staat. Dies entspricht in vielen Kantonen einer Rückkehr zum bewährten System vor Inkrafttreten der ZPO. Auch dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung mehrheitlich unterstützt, jedoch von einer Mehrheit der Kantone unter Hinweis auf die finanziellen Folgen abgelehnt.41 Dennoch hält der Bundesrat aus prinzipiellen Gründen an seinem Vorschlag fest: Es Vgl. dazu Friederike Henke, Netherlands Commercial Court ­ englischsprachige Gerichtsverfahren in den Niederlanden, RIS 5/2019, S. 273 ff. m.w.H.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.1.1 f.

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lässt sich weder mit der Privatautonomie noch mit fiskalischen Interessen rechtfertigen, dass die Parteien das Inkassorisiko für die vom Staat verlangten Gerichtskosten tragen sollen, handelt es sich doch bei der Justiz um eine essentielle Staatsaufgabe. Der geltenden Regelung erwuchs bereits im Zuge der Schaffung der ZPO Kritik, die seither nicht verstummt ist. So hielt die damalige Expertenkommission eine solche Regelung für unzulässig, weil «der Staat [...] sein Inkassorisiko nicht auf die vorschiessende ­ aber nachträglich «kostenbefreite» ­ Partei überwälzen [darf].»42 Dass der Entwurf in der Folge aufgrund der diesbezüglichen Forderungen der Kantone dennoch die Überbindung auf die Parteien vorsah, wurde ebenfalls stark kritisiert. 43 Weil in dieser Regelung eine unbillige Schranke des Zugangs zum Gericht und damit der Rechtsdurchsetzung gesehen wird, hielt die Kritik an 44 und wurde eine Revision gefordert.45 Diese Vorschläge lagen in zentralen Punkten bereits bei der Schaffung der ZPO vor, wurden aber in den politischen Diskussionen damals primär aus fiskalischen Gründen abgelehnt. Nichts hindert den Gesetzgeber aber daran, mit der neunjährigen Erfahrung auf seine damaligen Entscheide zurückzukommen und heute in Bezug auf die Kostenvorschüsse und Prozessliquidation zu besseren Lösungen zu kommen: Denn die bestehende Lösung führt in Verbindung mit den in verschiedenen Kantonen teilweise deutlich gestiegenen Prozesskostentarifen einerseits und der Regelung über die Liquidation der Prozesskosten (vgl. Art. 111 ZPO) andererseits zu einer übermässigen Einschränkung des Zugangs zum Gericht, zumal die Regelung nach der derzeitigen Auslegung als eigentliche Pflicht der klagenden Partei ausgelegt wird, obwohl sie vom damaligen Gesetzgeber klar als Kann-Vorschrift konzipiert wurde.

Demgegenüber sieht der Bundesrat wie bereits im Vorentwurf von der Schaffung schweizweit einheitlicher Gebührentarife oder zumindest eines Rahmen- oder Maximaltarifs und damit von einem Eingriff in die kantonale Tarifhoheit ab. In der Vernehmlassung wurden zwar von verschiedener Seite vielfältige Vorschläge dazu gemacht46 und es gibt durchaus Gründe, zumindest die Möglichkeit eines schweizweit harmonisierten Rahmentarifs zu prüfen. Hier stehen nach Ansicht des Bundesrates aber die Kantone in der Pflicht, im Rahmen ihrer Tarifautonomie auch weiterhin eine erschwingliche Zivilgerichtsbarkeit zu gewährleisten.

42 43

44

45

46

Bericht zum Vorentwurf der Expertenkommission, S. 57.

Vgl. z.B. Thomas Gabathuler, Zivilprozessordnung: Nachbesserungen nötig, plädoyer 4/2008, S. 24 ff.; Thomas Gabathuler, Jede Klage wird zum finanziellen Grossrisiko, plädoyer 1/2008, S. 27 f.

Vgl. zum Beispiel in jüngster Zeit Arnold Marti, Teures Prozessieren, NZZ 2017, S. 2; Dheden C. Zotsang, Prozesskosten nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, Diss. Zürich 2015, S. 257 f.; Martin H. Sterchi, Art. 111 N 2 f., in: BK ZPO, Bern 2012.

Zum Beispiel Arnold Marti, Teures Prozessieren: Rechtsschutz auch für NichtGutbetuchte, NZZ 26. Februar 2016, S. 12; Beda Stähelin, Gerichtskostenvorschusspflicht und Zugang zum Recht, «Justice ­ Justiz ­ Giustizia» 2017/3.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.1.1 und 5.16. Vgl. auch Martin Hablützel, Schweizerische ZPO, eine Anleitung, wie man Rechtssuchende vom Gang zum Gericht abhält, HAVE 2019, S. 134 ff., 141.

2713

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Mit diesen Vorschlägen wird auch der zentrale Punkt der zwischenzeitlich überwiesenen47 Motion 17.3868 Janiak «Zugang zu den Zivilgerichten erleichtern», die im Kern eine wesentliche Reduktion der Gerichtskostenvorschüsse verlangt, umgesetzt und der Zugang zum Gericht wesentlich erleichtert. Eine weitergehende Reduktion auf eine simple «Warngebühr» oder auf maximal 20 Prozent der mutmasslichen Gerichtskosten48 sowie die Befreiung von der Pflicht zur Bezahlung einer Parteientschädigung an die Gegenpartei bei der unentgeltlichen Rechtspflege ist jedoch nach Ansicht des Bundesrates derzeit auch angesichts des Vernehmlassungsergebnisses nicht angezeigt. Ebenso soll aufgrund der grossmehrheitlichen Ablehnung in der Vernehmlassung auf den Vorschlag einer Ausdehnung der gerichtlichen Aufklärungspflicht über die Prozesskosten und über die Möglichkeiten der Prozessfinanzierung verzichtet werden (Art. 97 VE-ZPO; vgl. dazu auch Ziff. 4.3).

4.1.2

Erleichterung der Verfahrenskoordination

Die geltenden Regeln zur Verfahrenskoordination sollen optimiert werden, damit vermehrt eine gemeinsame und damit koordinierte Behandlung und Entscheidung mehrerer Streitgegenstände beziehungsweise Klagen oder Gesuche möglich wird.

Die entsprechenden Vorschläge des Bundesrates wurden in der Vernehmlassung insgesamt von einer Mehrheit unterstützt.49 In einigen Punkten wurde jedoch auch Kritik geäussert; die Vorschläge wurden entsprechend überarbeitet.

Die Regelung der einfachen Streitgenossenschaft soll formal und inhaltlich unter Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Praxis überarbeitet werden, ohne dass dabei an den Grundsätzen des geltenden Rechts etwas geändert wird; im Unterschied zum Vorentwurf soll dabei an der Voraussetzung der gleichen Verfahrensart festgehalten werden (vgl. Art. 71 Abs. 1 E-ZPO und dessen Erläuterungen). Die Regelungen der Klagenhäufung und der Widerklage sollen dahingehend überarbeitet und angepasst werden, dass zukünftig in bestimmten Fällen auch eine verfahrensüberschreitende Kumulation beziehungsweise Koordination möglich wird. Angesichts der diesbezüglichen Kritik in der Vernehmlassung soll die Zulässigkeit der Klagenhäufung nicht von einem sachlichen Zusammenhang abhängig gemacht werden.

Gleichzeitig soll eine verfahrens- oder auch zuständigkeitsüberschreitende Häufung nur dann möglich sein, wenn eine unterschiedliche sachliche Zuständigkeit oder Verfahrensart lediglich auf dem Streitwert beruht. In diesen Fällen sollen die Klagen insgesamt im ordentlichen Verfahren beurteilt werden, um unerwünschte Verfahrenszersplitterungen zu vermeiden (vgl. Art. 90 Abs. 2 E-ZPO und dessen Erläuterungen). Auch die Widerklage soll zukünftig verfahrensüberschreitend möglich sein, wenn dafür lediglich aufgrund des Streitwerts das vereinfachte Verfahren anwendbar ist, sowie im besonderen Fall der negativen Feststellungswiderklage (vgl. Art. 224 Abs. 1bis E-ZPO und dessen Erläuterungen). Sodann schlägt der Bundesrat vor, die 47 48

49

AB SR 2017 983; AB NR 2018 987.

Vgl. dazu Isaak Meier, Hohe Prozesskosten: Den Zugang zu den Gerichten öffnen, NZZ 20. Juni 2017, S. 10; Arnold Marti, Die Kosten im heutigen Zivilprozess, «Justice­ Justiz ­ Giustizia» 2017/3, Rz. 35; a.A. demgegenüber Beda Stähelin, Gerichtskostenvorschusspflicht und Zugang zum Recht, «Justice ­ Justiz ­ Giustizia» 2017/3.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.3.

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Regelung der Streitverkündungsklage in Artikel 81 E-ZPO neu und klarer zu fassen, damit dieses mit der ZPO neu schweizweit geschaffene Institut attraktiver wird.

Auch weiterhin soll erforderlich sein, dass Haupt- und Streitverkündungsklage im ordentlichen Verfahren zu beurteilen sind (Art. 81 Abs. 1 Bst. c E-ZPO); dazu soll insbesondere auch festgehalten werden, dass die Streitverkündungsklage nicht zu beziffern ist, wenn sie auf Leistung dessen geht, wozu die streitverkündende Partei ihrerseits im Hauptverfahren verpflichtet wird (vgl. Art. 82 Abs. 1 dritter Satz E-ZPO und dessen Erläuterungen). Forderungen in der Vernehmlassung 50 nach einer Abschaffung dieses Instruments sind nach Ansicht des Bundesrates nicht gerechtfertigt.

4.1.3

Punktueller Ausbau des Schlichtungsverfahrens

Das Schlichtungsverfahren hat sich seit Inkrafttreten der ZPO als rasches, effizientes und kostengünstiges Streitbeilegungsverfahren bewährt: Die Stärkung der vorprozessualen beziehungsweise aussergerichtlichen Streitbeilegung war eines der Kernanliegen bei der Schaffung der ZPO. Sie ist sehr erfolgreich, können doch im Schlichtungsverfahren 50­80 Prozent der Streitigkeiten erledigt werden.51 Daher verlangte der Kanton Bern mit einer Standesinitiative, das Schlichtungsverfahren und die Schlichtungsverhandlung weiter zu stärken und auszubauen, namentlich indem die Kompetenzen der Schlichtungsbehörden erweitert werden.52 Das Schlichtungsverfahren soll daher in mehreren Punkten ausgebaut werden, was auch in der Vernehmlassung von einer grossen Mehrheit unterstützt und teilweise sogar noch zusätzlich verlangt wurde:53

50 51 52 53

­

Die Kompetenz der Schlichtungsbehörden, den Parteien einen Urteilsvorschlag zu unterbreiten, soll massvoll erweitert werden, indem ein solcher Urteilsvorschlag zukünftig in den übrigen vermögensrechtlichen Streitigkeiten gemäss Artikel 210 Absatz 1 Buchstabe c E-ZPO bis zu einem Streitwert von 10 000 Franken (statt wie bisher 5000 Franken) möglich sein soll. Trotz teilweiser Forderungen in der Vernehmlassung soll demgegenüber die Streitwertgrenze für Entscheide der Schlichtungsbehörden in vermögensrechtlichen Streitigkeiten unverändert bei 2000 Franken bleiben.

­

Neu soll ein Schlichtungsverfahren auch bei Streitigkeiten nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben b, d­i sowie nach den Artikeln 6 und 8 ZPO durchgeführt werden, sofern die klagende Partei dies durch Einreichung eines Schlichtungsgesuchs verlangt (Art. 199 Abs. 3 E-ZPO). Gleiches gilt für Streitigkeiten nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a und c, wenn der Streitwert mehr als 30 000 Franken beträgt. Damit soll diese Möglichkeit der aussergerichtlichen Streiterledigung auch in diesen Fällen zur Verfügung stehen, was auch unter dem Gesichtspunkt der effizienten Verjährungsunterbrechung sinnvoll erscheint.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.9.

Erläuternder Bericht VE, S. 10 ff.

16.302 Kt. Iv. Bern «Erfolgsmodell Schlichtungsverhandlung ausbauen».

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.5.

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4.1.4

Schaffung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts für Unternehmensjuristinnen und -juristen

Die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit sogenannte Unternehmensjuristinnen und -juristen ­ juristisch ausgebildete Personen, die im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses für ein Unternehmen juristische Dienstleistungen erbringen ­ nach Schweizer Recht besondere Geheimnis- oder Mitwirkungsverweigerungsrechte haben, ist seit langer Zeit Gegenstand juristischer und politischer Diskussion. Davon zeugen nicht zuletzt zahlreiche politische Vorstösse.54 Nach geltendem Recht kommen die besonderen strafrechtlichen Geheimnispflichten (vgl. Art. 321 Strafgesetzbuch55 [StGB]) und daran anknüpfend die besonderen Mitwirkungsverweigerungsrechte lediglich Anwältinnen und Anwälten zu (Art. 163 Abs. 1 Bst. b und Art. 166 Abs. 1 Bst. b sowie Art. 160 Abs. 1 Bst. b ZPO).56 Vor diesem Hintergrund wurde die Parlamentarische Initiative 15.409 Markwalder «Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen» eingereicht und ihr zwischenzeitlich Folge gegeben. Sie verlangt einen neuen Artikel 160a ZPO zur Schaffung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts für Unternehmensjuristinnen und -juristen im Zivilprozess. Damit soll eine mit dem Ausland vergleichbare Regelung geschaffen werden, die prozessuale Nachteile für Schweizer Unternehmen vermeiden soll.

Zukünftig sollen sich Juristinnen und Juristen, die im Angestelltenverhältnis bei einem Unternehmen beschäftigt sind, unter bestimmten Voraussetzungen in Zivilverfahren auf ein besonderes Mitwirkungsverweigerungsrecht berufen können (vgl.

Art. 160a E-ZPO und dessen Erläuterungen). Dieser Vorschlag entspricht dem Formulierungsvorschlag der parlamentarischen Initiative Markwalder 15.409, welcher beide Räte beziehungsweise die zuständigen Kommissionen Folge gegeben haben.57 Der Bundesrat hat den Vorschlag der parlamentarischen Initiative unverändert in die Vernehmlassungsvorlage übernommen, weil er ihn für die einzige erfolgsversprechende Kompromisslösung erachtete.58 Die Reaktionen in der Vernehmlassung waren zwar sehr gegensätzlich; insgesamt hat sich jedoch eine Mehrheit der Parteien und Organisationen sowie eine Minderheit der Kantone unter Hinweis auf die ­ mit Blick auf die Regelungen im Ausland ­ erkannte Notwendigkeit einer solchen Regelung im Interesse schweizerischer Unternehmen und ihrer 54

55 56

57 58

Vgl. Mo. RK-N 07.3281 «Pflichten und Rechte von rechtsberatend oder forensisch tätigen Angestellten. Gleichstellung mit freiberuflichen Anwältinnen und Anwälten» und zuletzt Po. RK-S 16.3263 «Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen».

SR 311.0 Vgl. 07.3281 Mo. RK-N «Pflichten und Rechte von rechtsberatend oder forensisch tätigen Angestellten. Gleichstellung mit freiberuflichen Anwältinnen und Anwälten»; 15.409 Pa. Iv. Markwalder «Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen»; 16.3263 Po. RK-S «Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen» sowie Othmar Strasser, Das Legal Privilege des In-House-Counsel zum Schutz unternehmensinterner Risikoinformationen von Banken im Strafverfahren, ZSR 2018, S. 523 ff. und Ernst Staehelin, Das Legal Privilege de lege ferenda aus Sicht eines Vertreters des Anwaltsverbandes, in: Seitz/Wohlers (Hrsg.), Anwaltsgeheimnis, Basel 2019, S. 199 ff.

AB NR 2016 1496 Erläuternder Bericht VE, S. 21, 64.

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Mitarbeitenden für den Vorschlag ausgesprochen. Eine Minderheit erachtete den Vorschlag demgegenüber als problematisch und lehnte ihn insbesondere ab, weil damit eine Ungleichbehandlung verbunden sei und eine Erschwerung der Wahrheitsfindung und Rechtsdurchsetzung befürchtet wurde.59 Bei diesem Ergebnis übernimmt der Bundesrat den Vorschlag in seinen Entwurf, um damit auch derzeitige prozessuale Nachteile von Schweizer Unternehmen im Ausland zu beseitigen, 60 auch wenn er ein gewisses Verständnis für die Zweifel an der Notwendigkeit einer solchen Regelung hat. Demgegenüber verzichtet der Bundesrat auf die vereinzelt gewünschte Ausdehnung der Ausnahmeregelung auf Schadensdienste von Rechtsschutzversicherungen.

4.1.5

Verbesserungen im Familienverfahrensrecht

Bereits im Vorentwurf hatte der Bundesrat punktuelle Anpassungen im Familienverfahrensrecht vorgeschlagen, um damit auch in diesem besonders sensiblen Bereich des Zivilverfahrensrechts die Praxistauglichkeit und Anwenderfreundlichkeit der ZPO zu verbessern (vgl. insb. Art. 198 Abs. 1 Bst. bbis und Art. 296 VE-ZPO).

Nachdem in der Vernehmlassung von verschiedener Seite weitere Anpassungsvorschläge vorgebracht wurden,61 hält der Bundesrat weitere punktuelle Anpassungen in diesem Bereich für angezeigt. Damit soll aber gerade nicht einer weitergehenden Revision des gesamten Familienverfahrensrechts unter Einschluss des Organisationsrechts vorgegriffen werden; eine solche kann nur aufgrund einer spezifischen Gesamtschau sowie eines entsprechenden politischen Auftrags in Betracht kommen.62 Konkret schlägt der Bundesrat namentlich vor, dass streitige Verfahren des Familienrechts zukünftig im vereinfachten Verfahren behandelt werden sollen, soweit nicht das summarische Verfahren anwendbar ist. Das betrifft sowohl streitige Scheidungsverfahren (Art. 288 Abs. 2 und 291 Abs. 3 E-ZPO) als auch sämtliche selbständigen Klagen über Kinderbelange und über den Unterhalt des Kindes (Art. 295 E-ZPO). Für selbstständige Klagen über Kinderbelange inklusive Unterhalt von Kindern sollen zukünftig generell Untersuchungs- und Offizialgrundsatz gelten (Art. 296 E-ZPO). Daneben sollen weitere verfahrensrechtliche Komplikationen im Bereich der Unterhaltsstreitigkeiten behoben werden (vgl. Art. 304 Abs. 2 zweiter und dritter Satz E-ZPO und deren Erläuterungen).

59 60 61 62

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.4 und 5.28.

Vgl. dazu ausführlich Gutachten Nr. 16-156 des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung vom 11. September 2017.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.2 ff.

Vgl. Po. 19.3478 Schwander «Kinder ernst nehmen» und Po. 19.3503 Müller-Altermatt «Weniger Verletzungen beim Kampf ums Kind. Massnahmen für das Wohl von Kind, Mutter und Vater». Beide Postulate hat der Bundesrat zur Annahme empfohlen.

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4.1.6

Schaffung der bundesrechtlichen Grundlagen für internationale Handelsgerichte

Nachdem in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern (z.B. Frankreich, Niederlande, Deutschland, Singapur; vgl. Ziff. 3) Anstrengungen zur Schaffung spezialisierter internationaler Handelsgerichte zu beobachten waren,63 hält es der Bundesrat angesichts entsprechender Anregungen64 und Eingaben aus den Kantonen Genf und Zürich in der Vernehmlassung65 für angezeigt, im Rahmen dieser Vorlage auf Stufe Bundesrecht die entsprechenden Grundlagen zu schaffen, damit den Kantonen die Schaffung spezialisierter Gerichte beziehungsweise Gerichtskammern für internationale Handelsstreitigkeiten ermöglicht wird. Damit kann sich die Schweiz nicht nur als einer der gefragtesten Standorte für internationale Schiedsgerichte, sondern allgemein als internationaler Justizplatz in Handelssachen behaupten und positionieren. Gestützt darauf haben die für die Gerichtsorganisation zuständigen Kantone die Möglichkeit (keinesfalls aber die Pflicht), entsprechende Strukturen und Gerichte oder Gerichtskammern zu schaffen. So kann nicht nur der exzellente Ruf der Schweiz als neutraler und kompetenter «Rechtshub» weiter stimuliert werden, sondern auch ein sinnvoller Beitrag zum Justizdienstleistungsplatz Schweiz geleistet werden. In diesem Zusammenhang wird in Zukunft auch die Ratifikation des Haager Übereinkommens vom 30. Juni 200566 über Gerichtsstandsvereinbarungen durch die Schweiz zu prüfen sein.

Auch wenn es dem kantonalen Gerichtsorganisationsrecht überlassen sein wird, für die konkrete Ausgestaltung solcher Gerichte zu sorgen, sind im Rahmen dieser Vorlage punktuelle Anpassungen notwendig: So wird vorgeschlagen, mit der Ergänzung von Artikel 6 Absatz 4 ZPO die Grundlage zu schaffen, dass die Kantone ihre Handelsgerichte für bestimmte Fälle von internationalen Handelsstreitigkeiten für zuständig erklären können und Parteien ­ über die bestehende Möglichkeit von Artikel 8 ZPO (direkte Klage beim oberen Gericht) hinaus ­ in diesen Fällen somit ausnahmsweise die Handelsgerichte prorogieren können (Art. 6 Abs. 4 Bst. c E-ZPO sowie der Entwurf zu Art. 5 Abs. 3 Bst. c des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 198767 über das Internationale Privatrecht [IPRG]). Gleichzeitig sollen zukünftig grundsätzlich auch Verfahren in englischer Sprache sowie in Landessprachen, die am Gerichtsort nicht Amtssprache sind, möglich werden (Art. 129
Abs. 2 E-ZPO sowie der Entwurf zu Art. 42 Abs. 1bis des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200568 [BGG]). Schliesslich sollen verschiedene Anpassungen im Beweisrecht auch Einvernahmen von Zeugen und Parteibefragungen sowie die Erstattung von Gutach63

64

65 66 67 68

Vgl. Erläuternder Bericht VE, S. 15 f. sowie Gisela Rühl, Auf dem Weg zu einem europäischen Handelsgericht?, Zum Wettbewerb der Justizstandorte in Zeiten des Brexit, JZ 2018, S. 1073 ff. Ausführlich zum Standort Deutschland Gerhard Wagner, Rechtsstandort Deutschland im Wettbewerb, Impulse für Justiz und Schiedsgerichtsbarkeit, München 2017.

Vgl. z.B. Zoé Baches, Schweizer Recht als Exportprodukt ­ Was ein neues staatliches Gericht für international agierende Unternehmen dem Standort bringen könnte, NZZ 8. Juli 2017, S. 29.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.1.

Abrufbar unter www.hcch.net/de/home > Instrumente > Übereinkommen.

SR 291 SR 173.110

2718

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ten mittels Videokonferenz möglich machen (Art. 170a, 187 Abs. 1 dritter Satz und Abs. 2 und 193 E-ZPO). Demgegenüber wird es dem kantonalen Recht beziehungsweise Gesetzgeber obliegen, adäquate und den besonderen Umständen Rechnung tragende Regelungen in Bezug auf die Prozesskostentarife zu treffen.

4.1.7

Differenzierte Aufnahme der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in das Gesetz

Die umfangreiche bundesgerichtliche Rechtsprechung zur ZPO soll differenziert und punktuell in das Gesetz aufgenommen werden. Geschehen soll dies in jenen Fällen, in denen es sich um eine verallgemeinerungsfähige Präzisierung oder Klarstellung des Gesetzestextes handelt und eine zentrale und für die Rechtsunterworfenen unmittelbar relevante Frage des Prozessrechts im Bereich der Zuständigkeit, weiterer Prozessvoraussetzungen oder der Rechtsmittel betroffen ist sowie in den Fällen, in denen die Praxis des Bundesgerichts nach dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht erwünscht ist und daher angepasst werden soll. Es geht damit namentlich um die Fragen der Zulässigkeit von Rechtsmitteln (z.B. Zulässigkeit der Revision als Rechtsmittel bei Entdeckung eines Ausstandsgrundes nach Abschluss des Verfahrens [vgl. Art. 51 Abs. 3 und 328 Abs. 1 Bst. d E-ZPO] oder der Beschwerde gegen einen Abschreibungsentscheid gemäss Art. 241 Abs. 3 zweiter Satz E-ZPO), der (sachlichen) Zuständigkeit (z.B. des Handelsgerichts, vgl. Art. 6 Abs. 2 E-ZPO), der Zulässigkeit der unentgeltlichen Rechtspflege für die vorsorgliche Beweisführung (vgl. Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz E-ZPO) oder der Zulässigkeit privater Gutachten als Urkunden (vgl. Art. 177 E-ZPO). Dieser Ansatz wurde in der Vernehmlassung unterstützt.69

4.1.8

Weitere punktuelle Massnahmen zur Verbesserung der Anwenderfreundlichkeit

Mit weiteren punktuellen Anpassungen will der Bundesrat die Anwenderfreundlichkeit der ZPO im Lichte der bisherigen Rechtsprechung und Erkenntnisse weiter verbessern. So soll etwa der Umgang mit Eingaben an offensichtlich unzuständige Gerichte in der Schweiz anwenderfreundlich und in Analogie zu anderen Verfahrensgesetzen geregelt werden (vgl. Art. 143 Abs. 1bis E-ZPO). Sodann geht es um weitere punktuelle Verbesserungen des Verfahrensrechts, damit die Verfahrensrechte der Parteien zum Schutz der einstweilen Rechtslage während eines Verfahrens beziehungsweise eines Rechtsmittelverfahrens noch besser gewährleistet werden (vgl. z.B. Art. 236 Abs. 4, Art. 239 Abs. 2bis und Art. 336 Abs. 3 E-ZPO). Schliesslich geht es dabei um sprachliche und redaktionelle Anpassungen und Präzisierungen in allen drei Sprachfassungen (vgl. z.B. Art. 96 zweiter Satz, Art. 249 und 250 oder Art. 70 Abs. 2 E-ZPO in der französischen Sprachfassung). Darüber hinaus soll auch der Streitwert der Verbandsklage einer besonderen Regelung zugeführt werden (vgl. Art. 94a E-ZPO).

69

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.5.

2719

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Die Vorschläge zur Schaffung einer bundesgesetzlichen Grundlage für die zukünftige schweizweit einheitliche Erfassung und Erstellung von Statistiken wurden zwar von einer knappen Mehrheit begrüsst, aber von den davon in erster Linie betroffenen Kantonen und Gerichten mehrheitlich abgelehnt, namentlich unter Hinweis auf die damit verbundenen Kosten und Aufwände.70 Weil für die Zukunft eine schweizweit einheitliche Datenlage zur Zivilprozesspraxis unverändert notwendig erscheint, hält der Bundesrat in angepasster Form an seinen Vorschlägen fest (vgl. Art. 401a E-ZPO). Den Einwänden der Kantone und Gerichte wird insbesondere bei der Umsetzung gebührend Rechnung zu tragen sein, so dass Mehrbelastungen wenn immer möglich vermieden werden können.

Die mit der parlamentarischen Initiative (Poggia) Golay 13.441 «Zivilprozess.

Klagen betreffend Zusatzversicherungen zur obligatorischen Unfallversicherung gleich behandeln wie solche betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung» verlangte Unterstellung von Zusatzversicherungen zur obligatorischen Unfallversicherung unter die Regelung von Artikel 7 ZPO (sowie eine entsprechende Anpassung von Art. 243 Abs. 2 ZPO) wurde im Rahmen der Anpassungsarbeiten geprüft. Das Parlament hat der Initiative Folge gegeben, die zuständige Kommission hat die weitere Behandlung im Hinblick auf das vorliegende Revisionsprojekt einstweilen sistiert. Nach eingehender Prüfung erachtet der Bundesrat die verlangte Anpassung für nicht sinnvoll, weshalb er von einem entsprechenden Vorschlag absieht. Die beiden Fälle der Zusatzversicherungen zur obligatorischen Unfallversicherung und der Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung sind aus sachlichen Gründen mit Recht unterschiedlich zu behandeln, zumal es beim geltenden Artikel 7 ZPO um die Übernahme der früheren Rechtslage für Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung ging, die sich klar von derjenigen bei Zusatzversicherungen zur obligatorischen Unfallversicherung unterscheidet. Es handelt sich bei der geltenden Regelung auch nicht etwa um ein gesetzgeberisches Versehen. Daher wäre eine Gleichbehandlung im Sinne des Anliegens der parlamentarischen Initiative (Poggia) Golay 13.441 gerade nicht sachgerecht, auch weil solche Abweichungen vom Grundsatz der sogenannten double instance die Ausnahme
bleiben müssen und die angeführten Effizienzüberlegungen nicht überzeugen. Mit Ausnahme einer Partei gab es dazu in der Vernehmlassung keinerlei Widerspruch,71 so dass für den Bundesrat kein Handlungsbedarf besteht.

Auch hinsichtlich Zustellung und Empfang von Willenserklärungen und Entscheidungen besteht aus Sicht des Bundesrates derzeit kein weiterer Klärungs- oder Handlungsbedarf: Empfangsbedürftige Willenserklärungen werden durch ihren Zugang beim Empfänger wirksam (sog. Zugangsprinzip oder Empfangstheorie). 72 Die geltende, insbesondere bundesgerichtliche Praxis zur relativen und absoluten Empfangstheorie nimmt hier verschiedene Nuancierungen vor, mit der die Praxis

70 71 72

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.62.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.11.

Vgl. BGE 137 III 108 E. 3 sowie Bernhard Berger, Allgemeines Schuldrecht, 3. Aufl., Bern 2018, Rz. 239 ff. und Andreas Furrer/Markus Müller-Chen, Obligationenrecht, 3. Aufl., Zürich 2018, Rz. 61 ff.; Peter Gauch/Walter R. Schluep/Heinz Rey/Jörg Schmid/Susan Emmenegger, Schweizerisches Obligationenrecht, Band I, 10. Aufl., Zürich 2014, Rz. 196 ff.

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lebt.73 Gleichzeitig führen die laufenden Transformationen von analogen zu digitalen Zustellformen im Rahmen des elektronischen Rechts- und Geschäftsverkehrs zu entsprechenden Anpassungen und Verbesserungen. Für das Verfahrensrecht dürfte das Projekt «Justitia 4.0» hier neue Massstäbe setzen.74 Bei dieser Ausgangslage beantragt der Bundesrat mit dieser Vorlage auch die Abschreibung des Postulats 13.3688 Poggia/Golay «Bekanntmachung von Willensäusserungen und Entscheiden von Behörden. Analyse der heutigen Praxis».

4.2

Kollektiver Rechtsschutz: Abspaltung und separate Behandlung

Der Vorentwurf enthielt Vorschläge zur Verbesserung der kollektiven Rechtsdurchsetzung von Massenschäden und teilweise auch von Streuschäden. Bei einem Massenschaden wird eine Vielzahl von Personen in gleicher oder gleichartiger Weise betroffen und jede einzelne in einer für sie erheblichen Weise geschädigt. Streuschäden sind demgegenüber Schäden, bei welchen eine Vielzahl von Personen lediglich einen wertmässig kleinen Schaden erleidet.75 Der Bundesrat hat dazu in Erfüllung der Motion Birrer-Heimo 13.3931 (vgl. Ziff. 1.1.4) im Vorentwurf einerseits vorgeschlagen, die Verbandsklage nach Artikel 89 ZPO zu vereinheitlichen und auszubauen, indem insbesondere mittels einer reparatorischen Verbandsklage auch Schadenersatz und Gewinnherausgabeansprüche kollektiv geltend gemacht werden könnten (vgl. Art. 89a VE-ZPO). Andererseits beinhaltete der Vorentwurf ein neues Gruppenvergleichsverfahren zur einvernehmlichen kollektiven Streiterledigung (vgl.

Art. 352a ff. VE-ZPO; vgl. Ziff. 2.1).76 Auch wenn der Bundesrat damit bewusst auf die Schaffung einer eigentlichen Gruppenklage oder gar einer Sammelklage USamerikanischen Zuschnitts nach einem opt out-Konzept verzichtete und den spezifischen schweizerischen Verhältnissen und der schweizerischen Rechtskultur umfassend Rechnung zu tragen versuchte, wurden diese Vorschläge ­ ganz im Gegensatz zur übrigen Vorlage ­ in der Vernehmlassung stark kritisiert, insbesondere von der Wirtschaft (vgl. Ziff. 2.2 f.).

Angesichts dieses Vernehmlassungsergebnisses verzichtet der Bundesrat im Rahmen dieser Vorlage auf die weitere Behandlung des kollektiven Rechtsschutzes. Vielmehr soll die Vorlage auf die Umsetzung der weitgehend unbestrittenen Anliegen 73 74

75

76

Vgl. BGE 143 III 15 E. 4; 140 III 244 E. 5; 137 III 108 E. 3.

Vgl. dazu die Informationen und Dokumente des Projekts Justitia 4.0, welches von der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) und der Justizkonferenz sowie ihren jeweiligen Mitgliedern getragen wird, abrufbar unter www.justitia40.ch/de/.

Vgl. dazu ausführlich Bericht «Kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz ­ Bestandesaufnahme und Handlungsmöglichkeiten» des Bundesrates vom Juli 2013, S. 10 ff., VPB 2013.7a, S. 59­112, abrufbar unter www.bj.admin.ch > Publikationen und Service > Berichte, Gutachten und Verfügungen > Berichte und Gutachten.

Siehe die ausführliche Darstellung in Erläuternder Bericht VE, S. 17 f. Vgl. dazu auch Isaak Meier, Kollektiver Rechtsschutz für die Schweiz, Eine erste kritische Würdigung des Regelungsvorschlags im Vorentwurf des Bundesrates für die ZPO Revision vom 2. März 2018, in: Arnet/Eitel/Jungo/ Künzle (Hrsg.), FS Breitschmid, Zürich 2019, S. 609 ff. und Matthis Peter, Kollektiver Rechtsschutz im Vorentwurf zur Änderung der ZPO, ZZZ 2019, S. 134 ff.

2721

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der Motion 14.4008 RK-S sowie der weiteren damit zusammenhängenden eingangs erwähnten parlamentarischen Vorstösse beschränkt werden (vgl. Ziff. 1.1.3).

Mit der separaten Behandlung des parlamentarischen Auftrags der Motion 13.3931 Birrer-Heimo zur Verbesserung des kollektiven Rechtsschutzes wird der vielfältigen Kritik in der Vernehmlassung Rechnung getragen. Die Abspaltung ermöglicht es, die weiteren Entwicklungen und parlamentarischen Arbeiten sowie die parlamentarischen Diskussionen der ZPO-Vorlage mitzuberücksichtigen. Umgekehrt präjudiziert diese Abspaltung inhaltlich nichts, indem derzeit weder über konkrete Gesetzesvorschläge noch über die definitive Erfüllung, Umsetzung oder Abschreibung der Motion 13.3931 Birrer-Heimo zu entscheiden ist. Der Bundesrat wird diesbezügliche Entscheide im Lichte der parlamentarischen Debatte dieser Vorlage fällen.

4.3

Verzicht auf Bestimmungen des Vorentwurfs

Gegenüber dem Vorentwurf verzichtet der Entwurf angesichts der Vernehmlassungsergebnisse neben dem kollektiven Rechtsschutz (vgl. Ziff. 4.2) auf Regelungen insbesondere in den folgenden Punkten:

77 78

­

Die Schaffung einer besonderen Regelung betreffend die Prozessüberweisung bei Unzuständigkeit (Art. 60a VE-ZPO) wurde in der Vernehmlassung von einer Mehrheit abgelehnt,77 namentlich angesichts der praktischen Schwierigkeiten und Unklarheiten im Verhältnis zur Neuerung von Artikel 143 Absatz 1bis VE-ZPO. Daher verzichtet der Entwurf auf den Vorschlag der Prozessüberweisung, hält jedoch an der vorgeschlagenen Erleichterung in Artikel 143 VE-ZPO fest.

­

Der Vorschlag, dass die Gerichte die Parteien neben den Prozesskosten auch über die Möglichkeiten der Prozessfinanzierung informieren (Art. 97 VE-ZPO), wurde in der Vernehmlassung grossmehrheitlich abgelehnt, 78 weil es sich dabei um eine private wirtschaftliche Tätigkeit handle und eine solche Aufklärung zu spät komme. Deshalb soll darauf verzichtet werden.

Damit die Möglichkeiten der Prozessfinanzierung dennoch weiter bekannt und auch genutzt werden, schlägt der Bundesrat vor, dass er neben Formularen für Gerichtsurkunden und Parteieingaben auch allgemeine Informationen über Prozesskosten und insbesondere die Möglichkeiten der unentgeltlichen Rechtspflege und auch der Prozessfinanzierung publiziert (vgl. Art. 400 Abs. 2bis E-ZPO und dessen Erläuterungen).

­

Auf den Vorschlag zur Ergänzung der Regelung über superprovisorische Massnahmen (vgl. Art. 265 Abs. 4 VE-ZPO) wird verzichtet.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.6 und 5.26.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.15.

2722

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4.4

Umsetzungsfragen

Grundsätzlich bedürfen die vorgeschlagenen Anpassungen bestehender Bundesgesetze keiner weiteren Umsetzung auf Verordnungsstufe. Das gilt auch für die in Artikel 400 Absatz 2bis E-ZPO neu vorgesehene Pflicht des Bundesrates (mit Delegationsmöglichkeit an das Bundesamt für Justiz), Informationen zu den Prozesskosten und den Möglichkeiten der unentgeltlichen Rechtspflege und der Prozessfinanzierung zur Verfügung zu stellen (vgl. die Ausführungen zu Art. 400 Abs. 2bis und 3 E-ZPO unter Ziff. 4.3) und die Ermittlung von Geschäftszahlen und die Erstellung statistischer Grundlagen (vgl. Art. 401a E-ZPO und die Erläuterungen dazu).

Die vorgeschlagenen Anpassungen der Zivilprozessordnung werden jedoch zu Anpassungen im kantonalen Recht führen, namentlich in den kantonalen Gerichtsverfahrens- und -organisationsgesetzen (vgl. Ziff. 6.2). Den Kantonen kommt somit neben den vollziehenden Behörden und Gerichten aller Stufen beim Vollzug des neuen Rechts eine zentrale Rolle zu. Dies gilt in besonderem Masse für die vorgesehenen Änderungen im Kostenrecht.

5

Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln

5.1

Zivilprozessordnung

Ersatz eines Ausdrucks In der Zivilprozessordnung wird grundsätzlich einheitlich der Begriff «Entscheid» verwendet, ungeachtet der nach wie vor vielfältigen kantonalen Bezeichnungen.79 Insofern erscheint die Terminologie «Urteilsvorschlag» im Schlichtungsverfahren inkonsequent.80 Daher soll dieser Ausdruck durch den näherliegenden «Entscheidvorschlag» ersetzt werden. Dies führt zu Anpassungen in den Artikeln 202 Absatz 4, 203 Absatz 2, 205 Absatz 2, im Gliederungstitel vor Artikel 210, in Artikel 210 Sachüberschrift und Text (Abs. 1 und 2) sowie Artikel 211 Absätze 1, 3 und 4.

Dabei handelt es sich um rein terminologische Anpassungen. Soweit im Gesetz an anderer Stelle ausnahmsweise der Ausdruck «Urteil» (entweder separat81 oder in einer Kombination82) verwendet wird, soll dies nicht geändert werden.

Art. 5 Abs. 1 Bst. f Artikel 5 ZPO schreibt den Kantonen für die Beurteilung bestimmter Spezialmaterien (z.B. immaterialgüter- und wettbewerbsrechtlicher Klagen, Streitigkeiten nach

79 80

81 82

Vgl. auch Botschaft ZPO, BBl 2006 7343.

Vgl. dazu auch Bruno Lötscher-Steiger, Prüfungs- und Entscheidbefugnisse der Schlichtungsbehörde, in: Fankhauser/Widmer Lüchinger/Klingler/Seiler (Hrsg.), FS SutterSomm, Zürich 2016, S. 409 ff., 414, der jedoch den Begriff «Erledigungsvorschlag» vorziehen würde, weil damit die Abgrenzung zum Entscheid besser zum Ausdruck käme.

So in Art. 54 Abs. 1, Art. 328 Abs. 2 Bst. a, Art. 396 Abs. 2 Bst. a und Art. 407c Abs. 2 ZPO.

So etwa in «Urteilsberatung» (Art. 54 Abs. 2 und Art. 229 Abs. 3 ZPO) und «Urteilsformel» (Art. 238 Bst. d, Art. 293, Art. 295 Abs. 4 und Art. 313 Abs. 2 Bst. c ZPO).

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dem Kernhaftpflicht- oder Kollektivanlagengesetz) vor, eine einzige kantonale Instanz vorzusehen.

Gemäss Absatz 1 Buchstabe f gilt dies auch für (Zivil-)Klagen gegen den Bund83.

Weil dabei nach geltendem Recht der Streitwert keine Rolle spielt84, kann hier namentlich bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten gegen den Bund der Fall auftreten, dass diese gemäss Artikel 243 Absatz 1 ZPO im vereinfachten Verfahren zu beurteilen sind, obwohl dafür eine einzige kantonale Instanz zuständig ist. Damit kommt die bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach die Regelung über die Verfahrensart derjenigen über die sachliche Zuständigkeit vorgeht 85 (vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 6 E-ZPO), sinngemäss auch hier zur Anwendung.86 Einem Anliegen aus der Vernehmlassung folgend87 soll daher die Bestimmung so präzisiert werden, dass auch in Bezug auf die Klagen gegen den Bund die Regelung der Verfahrensart jener über die sachliche Zuständigkeit vorgeht: Für Klagen gegen den Bund ist zukünftig erst ab einem Streitwert von mehr als 30 000 Franken eine einzige kantonale Instanz zuständig. Entsprechend ist auch Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe c ZPO zu ändern (vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 10 E-ZPO).

Art. 6 Abs. 2 Bst. b, c und d, Abs. 3, 4 Bst. c und 6 Artikel 6 ZPO regelt unter der Sachüberschrift «Handelsgericht» eigentlich zwei Dinge: Zum einen hält er klar und in Konkretisierung von Artikel 3 ZPO (Organisation der Gerichte und der Schlichtungsbehörden) fest, dass die Kantone ein Handelsgericht als Fachgericht bezeichnen können, das als einzige kantonale Instanz für handelsrechtliche Streitigkeiten zuständig ist (Abs. 1). Zum andern regelt er für den Fall, dass ein Kanton von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, die sachliche Zuständigkeit für handelsrechtliche Streitigkeiten gemäss Artikel 6 Absatz 2 ZPO abschliessend, so dass für weitere kantonale Zuständigkeitsregelungen kein Raum bleibt.88 Unmittelbar nach dem Inkrafttreten der ZPO warfen diese Bestimmung und ihre Auslegung Unklarheiten und Streitfragen auf, die zwischenzeitlich durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu einem grossen Teil geklärt wurden. Unbestrittenermassen haben sich daher heute sowohl diese Bestimmung als auch die Handelsgerichtsbarkeit und die Handelsgerichte insgesamt bewährt; Beleg dafür sind sowohl die stabilen oder gar leicht
steigenden Fallzahlen als auch die klaren Bekenntnisse zur Handelsgerichtsbarkeit in Wissenschaft und Lehre. 89 Daran ändert auch nichts, dass in einer ersten Phase seitens Bundesgericht im Geschäftsbericht 2011 angeregt worden war, dass Entscheide und Verfügungen der Handelsgerichte innerkantonal 83 84 85 86 87 88 89

Ausgenommen sind die (seltenen) Fälle von sog. Direktprozessen vor Bundesgericht gemäss Art. 120 Bundesgerichtsgesetz (SR 173.110; BGG).

Vgl. Botschaft ZPO, BBl 2006 7260.

BGE 143 III 137 E. 2; 139 III 457 E. 4 Vgl. dazu Entscheid des Obergerichts Bern vom 27. September 2017 (ZK 2017 418).

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.10.

BGE 140 III 155 E. 4.3 Vgl. z.B. Alexander Brunner, Art. 6 N 7 ff., in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016 sowie Isaak Meier, Das Zürcher Handelsgericht im Kontext des Justizsystems, in: Brunner/Nobel (Hrsg.), Handelsgericht Zürich, 1866­2016, Zürich 2016, S. 57 ff.

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mit einem Rechtsmittel anfechtbar sein sollten.90 Nach Ansicht des Bundesrates ist diese Anregung seitens des Bundesgerichts nicht mehr aktuell und somit auch die Durchbrechung des Prinzips der doppelten kantonalen Instanz für Zivilstreitigkeiten (sog. double instance) für Handelsgerichte sachgerecht.91 Dessen ungeachtet schlägt der Bundesrat vor, Artikel 6 ZPO in drei Punkten anzupassen:

90 91

92

­

Die Voraussetzungen für eine handelsrechtliche Streitigkeit in Absatz 2 sollen in verschiedener Hinsicht präzisiert und ergänzt werden, so in Bezug auf die Beschwerdefähigkeit an das Bundesgericht (Bst. b), das Erfordernis des Handelsregistereintrags (Bst. c; vgl. auch die Anpassung von Abs. 3) und neu den Ausschluss arbeits- und mietrechtlicher Streitigkeiten von der Handelsgerichtsbarkeit (Bst. d); für diese besonderen, nicht eigentlich handelsrechtlichen Streitigkeiten, für die oft auch besondere Spruchkörper bestehen und besondere Verfahrensregeln gelten, sollen zukünftig stets die ordentlichen Gerichte beziehungsweise die nach kantonalem Gerichtsorganisationsrecht vorgesehenen Arbeits- oder Mietgerichte zuständig sein. Inhaltlich wird damit bezüglich arbeitsrechtlicher Streitigkeiten an die frühere Rechtslage in den Handelsgerichtskantonen angeknüpft.92 Bei Streitigkeiten aus Miete oder Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen wird damit eine Konzentration sämtlicher Verfahren bei den ordentlichen Gerichten beziehungsweise den Mietgerichten erreicht, unabhängig davon, welche Verfahrensart darauf anwendbar ist.

­

Absatz 4 eröffnet den Kantonen die Möglichkeit, ihr Handelsgericht neben den handelsrechtlichen Streitigkeiten gemäss Absatz 2 und 3 auch in weiteren Fällen für zuständig zu erklären. Der Bundesrat unterstützt Ideen und Bestrebungen der Kantone, spezialisierte Gerichtskammern oder -abteilungen mit spezifischen Verfahrensregeln für die Abwicklung internationaler Handelsstreitigkeiten schaffen zu können (insb. ZH und GE, vgl. Ziff. 4.1.6).

Zur Verwirklichung dieser Bestrebungen schlägt der Bundesrat angesichts der diesbezüglichen Vorschläge in der Vernehmlassung vor, Absatz 4 mit einem neuen Buchstaben c zu ergänzen: Die Kantone können ihr Handelsgericht auch für bestimmte Fälle von internationalen Handelsstreitigkeiten für zuständig erklären, wenn die Parteien damit einverstanden sind beziehungsweise dies möchten.

­

Neu gesetzlich klar geregelt werden soll im Einklang mit der Rechtsprechung, dass die handelsgerichtliche Zuständigkeit nicht offensteht, wenn diese im Falle einer einfachen Streitgenossenschaft nur für einzelne Klagen Geschäftsbericht des Bundesgerichts 2011, S. 19.

Vgl. kritisch zur damaligen Anregung des Bundesgerichts auch Isaak Meier, Das Zürcher Handelsgericht im Kontext des Justizsystems, in: Brunner/Nobel (Hrsg.), Handelsgericht Zürich, 1866­2016, Zürich 2016, S. 74; Heinrich Andreas Müller, Schaffung eines innerkantonalen Rechtsmittels gegen Urteile der kantonalen Handelsgerichte?, SJZ 2012, S. 325 ff.

Vgl. Meinrad Vetter/Matthias Brunner, Die sachliche Zuständigkeit der Handelsgerichte ­ eine Zwischenbilanz, ZZZ 2013, S. 254 ff., 261; Julian Schwaller/Georg Naegeli, Die Zuständigkeit der Handelsgerichte gemäss Art. 6 Abs. 3 ZPO, Jusletter vom 14. November 2011.

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oder einzelne Ansprüche gegeben ist; diesfalls sollen einheitlich die ordentlichen Gerichte zuständig sein (Abs. 6).

Erfordernis eines Streitwerts von mehr als 30 000 Franken statt Voraussetzung der Anfechtbarkeit mit Beschwerde in Zivilsachen (Abs. 2 Bst. b) Nach dem heute geltenden Absatz 2 Buchstabe b ist neben der Betroffenheit der geschäftlichen Tätigkeit mindestens einer Partei (Abs. 2 Bst. a) als zweite Voraussetzung einer handelsrechtlichen Streitigkeit erforderlich, dass gegen den Entscheid die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht offen steht. Weil Fälle nicht vermögensrechtlicher Streitigkeiten kaum vorstellbar sind,93 ist damit nach geltendem Recht nichts anderes vorausgesetzt, als dass der Streitwert für die Beschwerde an das Bundesgericht gemäss Artikel 74 Absatz 1 BGG erreicht ist; das sind derzeit grundsätzlich mindestens 30 000 Franken. Soweit es um Streitigkeiten in arbeitsund mietrechtlichen Fällen geht und der Streitwert für die Beschwerde in Zivilsachen mindestens 15 000 Franken betragen muss (Art. 74 Abs. 1 Bst. a BGG), ist die Zuständigkeit des Handelsgerichts nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ausgeschlossen: Weil die Regelung über die Verfahrensart derjenigen über die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts vorgeht, sind die Verfahren nach Artikel 243 Absätze 1 und 2 ZPO stets im vereinfachten Verfahren durchzuführen und daher die Zuständigkeit des Handelsgerichts ausgeschlossen.94 Entsprechend hatte der Bundesrat im Rahmen der Vernehmlassungsvorlage vorgeschlagen, dies in einem neuen Absatz 7 klarzustellen. Angesichts der mehrheitlichen Zustimmung zu diesem Anliegen und der verschiedenen Vorschläge zu dessen Umsetzung in der Vernehmlassung95 schlägt der Bundesrat hier vor, für die handelsgerichtliche Zuständigkeit zukünftig direkt am Streitwert anzuknüpfen und diese erst ab einem Streitwert von mehr als 30 000 Franken vorzusehen. Neu sind damit die handelsgerichtliche Zuständigkeit und die Anwendbarkeit des vereinfachten Verfahrens deutlich besser aufeinander abgestimmt, jedenfalls soweit es um die in der Praxis vorherrschenden vermögensrechtlichen Streitigkeiten geht. Mit dieser Änderung von Absatz 2 Buchstabe b entfällt auch die Notwendigkeit eines neuen Absatz 7 von Artikel 6 ZPO, wie er noch im Vorentwurf vorgeschlagen wurde. Soweit Kantone mit
einem Handelsgericht dieses gemäss Artikel 6 Absatz 4 ZPO für weitere Streitigkeiten für zuständig erklären, bleibt es bei der Regelung von Artikel 243 Absatz 3 ZPO sowie der erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach die Regelung über die Verfahrensart derjenigen über die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts vorgeht.96

93 94

95 96

Vgl. Meinrad Vetter, Art. 6 N 22, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016 und Bernhard Berger, Art. 6 N 34, in: BK ZPO, Bern 2012.

BGE 143 III 137 E. 2; 139 III 457 E. 4. Vgl. dazu auch Andreas Schneuwly, Das Verhältnis der sachlichen Zuständigkeit der Handelsgerichte zum vereinfachten Verfahren de lege lata und de lege ferenda, SJZ 2018, S. 361 ff.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.3.

BGE 143 III 137 E. 2; 139 III 457 E. 4. Vgl. demgegenüber a.A. Andreas Schneuwly, Das Verhältnis der sachlichen Zuständigkeit der Handelsgerichte zum vereinfachten Verfahren de lege lata und de lege ferenda, SJZ 2018, S. 361 ff.

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Erfordernis der Eintragung im Handelsregister als Rechtseinheit (Abs. 2 Bst. c und Abs. 3) Nach dem geltenden Wortlaut von Absatz 2 Buchstabe c ist als dritte Voraussetzung einer handelsrechtlichen Streitigkeit erforderlich, dass «die Parteien im schweizerischen Handelsregister oder in einem vergleichbaren Register eingetragen sind».

Bereits in der damaligen Botschaft führte der Bundesrat aus, dass «es des Eintrages der Firma [Hervorhebung hinzugefügt] beider Parteien im Handelsregister oder in einem vergleichbaren ausländischen Register» bedarf,97 obwohl der Gesetzeswortlaut dies nicht zum Ausdruck bringt. Dies entspricht der herrschenden Lehre 98 und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung.99 Diese Rechtslage soll sich zukünftig direkt aus dem Gesetzestext erschliessen; er ist daher entsprechend anzupassen.

Dabei ist auch die geltende und präzise Terminologie des Handelsregisterrechts zu übernehmen: Vorauszusetzen ist somit allgemein die Eintragung im Handelsregister als «Rechtseinheit» im Sinne von Artikel 2 Buchstabe a der Handelsregisterverordnung vom 17. Oktober 2007100, auch wenn dieser Begriff noch etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen mag. Als Folge davon ist auch Absatz 3 entsprechend anzupassen, ohne dass sich daraus eine inhaltliche Änderung ergibt.

Ausschluss arbeits- und mietrechtlicher Streitigkeiten (Abs. 2 Bst. d) Soweit nicht beide Parteien nach Absatz 2 Buchstabe c als Rechtseinheit im Handelsregister eingetragen sind, sondern nur die beklagte Partei, aber die übrigen Voraussetzungen einer handelsrechtlichen Streitigkeit gemäss Absatz 2 (d.h. geschäftliche Tätigkeit mindestens einer Partei und Beschwerdefähigkeit an das Bundesgericht) erfüllt sind, hat nach geltender Rechtslage die klagende Partei gemäss Artikel 6 Absatz 3 ZPO die Wahl zwischen dem Handelsgericht und dem ordentlichen Gericht. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts besteht dieses Wahlrecht unabhängig von weiteren Einschränkungen 101; somit kann sich auch eine Kundin für ihre Klage gegen den im Handelsregister als Einzelunternehmen eingetragenen Vermögensverwalter wie auch jede Konsumentin und jeder Konsument für Klagen gegen im Handelsregister eingetragene Anbieterinnen und Anbieter darauf berufen.102 Für zwei Bereiche sieht der Bundesrat aufgrund der geltenden Rechtslage Handlungsbedarf: So ist nach geltendem Recht nicht klar, ob arbeitsrechtliche Streitigkeiten in die Geschäftstätigkeit mindestens einer Partei (vgl. Art. 6 Abs. 2 Bst. a ZPO)

97 98

Botschaft ZPO, BBl 2006 7261.

Vgl. Meinrad Vetter, Art. 6 N 24, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; George Daetwyler/Christian Stalder, Allgemeiner Verfahrensgang und Zuständigkeit des Handelsgerichts, in: Brunner/Nobel (Hrsg.), Handelsgericht Zürich, 1866­2016, Zürich 2016, S. 192 f.

99 BGE 140 III 409 E. 2 und 142 III 96 E. 3.3.

100 SR 221.411 101 BGE 138 III 694 E. 2; vgl. auch Julian Schwaller/Georg Naegeli, Die Zuständigkeit der Handelsgerichte gemäss Art. 6 Abs. 3 ZPO, Jusletter vom 14. November 2011.

102 Vgl. dazu auch Christoph Hurni, Sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts: Klägerwahlrecht auch für Konsumenten (Art. 6 Abs. 3 ZPO), ZBJV 2012, S. 989 ff.; Michel Heinzmann, Note zum Leitentscheid BGE 138 III 694 ff., SZZP 2013, S. 195 f.

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und damit in den Zuständigkeitsbereich der Handelsgerichte fallen. 103 Soweit ersichtlich, fehlt dazu eine abschliessende bundesgerichtliche Rechtsprechung. Nach der Rechtsprechung des Handelsgerichts Zürich sollen arbeitsrechtliche Streitigkeiten nicht in die geschäftliche Tätigkeit fallen, 104 womit auch das Wahlrecht nach Artikel 6 Absatz 3 ZPO nicht in Betracht kommt. Diese Unklarheit ist nach Ansicht des Bundesrates direkt im Gesetz zu beseitigen. Auch in Bezug auf Streitigkeiten aus Miete oder Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen bestehen trotz zahlreichen bundesgerichtlichen Entscheiden in der Praxis Unklarheiten und Unstimmigkeiten.

So sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Handelsgerichte für mietund pachtrechtliche Streitigkeiten zuständig,105 soweit diese nicht im vereinfachten Verfahren zu beurteilen sind, weil dieses wiederum die handelsgerichtliche Zuständigkeit ausschliesst (vgl. auch die Erläuterungen zu Abs. 2 Bst. b).106 Abweichende Regelungen des kantonalen Gerichtsorganisationsrechts sind unzulässig107; diese Situation ist mit Unsicherheiten in der Zuständigkeitsabgrenzung verbunden.108 Im Rahmen der Vernehmlassungsvorlage hatte der Bundesrat vorgeschlagen, das geltende Recht in Bezug auf arbeitsrechtliche sowie mietrechtliche Streitigkeiten dahingehend anzupassen, dass das Wahlrecht zugunsten der Handelsgerichte gemäss Artikel 6 Absatz 3 ZPO dann nicht bestünde, wenn es um Klagen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegen ihre Arbeitgeber geht oder wenn eine Streitigkeit aus Miete oder Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen vorliegt (vgl. Art. 6 Abs. 3 VE-ZPO); vielmehr sollten dafür stets die ordentlichen Gerichte zuständig sein.

Dieser Vorschlag stiess in der Vernehmlassung auf ein geteiltes Echo; eine Mehrheit war jedoch der Ansicht, dass nicht das Wahlrecht beschränkt, sondern arbeits- und mietrechtliche Streitigkeiten (einschliesslich Streitigkeiten nach dem Gleichstellungsgesetz vom 24. März 1995109 [GlG]) konsequenterweise ganz von der handelsgerichtlichen Zuständigkeit ausgeschlossen werden sollten.110 Aufgrund dieses Vernehmlassungsergebnisses schlägt der Bundesrat vor, zukünftig arbeitsrechtliche Streitigkeiten sowie Streitigkeiten aus Miete oder Pacht von Wohn103

104 105

106 107 108

109 110

Für die handelsgerichtliche Zuständigkeit insbesondere Bernhard Berger, Art. 6 N 11, 24, in: BK ZPO, Bern 2012; demgegenüber ablehnend z.B. Alexander Brunner, Art. 6 N 34, 41 f. in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016; George Daetwyler/Christian Stalder, Allgemeiner Verfahrensgang und Zuständigkeit des Handelsgerichts, in: Brunner/Nobel (Hrsg.), Handelsgericht Zürich, 1866­2016, Zürich 2016, S. 178; Meinrad Vetter, Art. 6 N 21a, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Ulrich Haas/Michael Schlumpf, Art. 6 N 6 f., in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014; Jacques Haldy, Art. 6 N 5, in: CPC CR CPC, 2.

Aufl., Basel 2019.

Vgl. Handelsgericht Zürich (HGer ZH), 16.07.2012, ZR 2012 Nr. 58.

BGE 139 III 457 E. 3; dies gilt unabhängig davon, ob es sich um ein Grund-, Hilfsoder Nebengeschäft handelt, vgl. George Daetwyler/Christian Stalder, Allgemeiner Verfahrensgang und Zuständigkeit des Handelsgerichts, in: Brunner/Nobel (Hrsg.), Handelsgericht Zürich, 1866­2016, Zürich 2016, S. 175.

BGE 139 III 457 E. 3 BGE 140 III 155 E. 4 George Daetwyler/Christian Stalder, Allgemeiner Verfahrensgang und Zuständigkeit des Handelsgerichts, in: Brunner/Nobel (Hrsg.), Handelsgericht Zürich, 1866­2016, Zürich 2016, S. 175 f.; Urban Hulliger/Andreas Maag, Zur sachlichen Zuständigkeit der Handelsgerichte in mietrechtlichen Streitigkeiten ­ ein Zwischenbericht, MRA 4/2013, S. 3 ff.

SR 151.1 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.3.

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und Geschäftsräumen generell von der handelsgerichtlichen Zuständigkeit auszuschliessen. Dies soll in einem neuen Absatz 2 Buchstabe d festgehalten werden.

Ausgeschlossen sind einerseits Streitigkeiten aus Arbeitsverhältnis (Art. 319 ff.

Obligationenrecht111 [OR]), nach dem Arbeitsvermittlungsgesetz vom 6. Oktober 1989112 sowie auch nach dem GlG. Andererseits sollen Streitigkeiten aus Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen (Art. 253 ff. OR) sowie aus landwirtschaftlicher Pacht (vgl. Bundesgesetz vom 4. Oktober 1985113 über die landwirtschaftliche Pacht) ausgeschlossen werden. Eine handelsgerichtliche Zuständigkeit besteht jedoch weiterhin auch für arbeits- und mietrechtliche Streitigkeiten in Fällen von sogenannter Anspruchsgrundlagenkonkurrenz, wenn auf der Grundlage eines einheitlichen Lebenssachverhalts ein Rechtsbegehren gestellt wird, das neben anderen Anspruchsgrundlagen auch mit arbeits- oder mietrechtlichen Anspruchsgrundlagen begründet wird.114 Kompetenz der Kantone zur Zuweisung bestimmter internationaler Handelsstreitigkeiten mit Zustimmung der Parteien (Abs. 4 Bst. c) Absatz 4 regelt die Kompetenz der (Handelsgerichts-)Kantone, ihr Handelsgericht über die Regelung der Absätze 2 und 3 hinaus für bestimmte Streitigkeiten zuständig zu erklären. Zur Verwirklichung der vom Bundesrat unterstützten Ideen und Bestrebungen insbesondere in den Kantonen Zürich und Genf, dass die Kantone spezialisierte Gerichtskammern oder -abteilungen mit spezifischen Verfahrensregeln für die Abwicklung internationaler Handelsstreitigkeiten schaffen können (vgl. Ziff. 4.1.6), schlägt der Bundesrat eine Ergänzung um einen neuen Buchstaben c vor: Die Kantone sollen die Kompetenz erhalten, den Handelsgerichten darüber hinaus auch bestimmte Fälle von internationalen Handelsstreitigkeiten zuzuweisen, wenn die Parteien dies wünschen und zustimmen. So können die Handelsgerichte zukünftig auch als internationale Handelsgerichte funktionieren. In diesen internationalen Konstellationen, in denen wenigstens eine Partei ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihren Sitz nicht in der Schweiz hat (vgl. auch Bst. c Ziff. 4), ist die internationale Zuständigkeit der Schweiz und die örtliche Zuständigkeit im betreffenden Handelsgerichtskanton vorausgesetzt. Diese Zuständigkeiten, die sich entweder aus einer
subjektiven Anknüpfung ­ wohl in den meisten Fällen eine Gerichtsstandsvereinbarung ­ oder einer objektiven Anknüpfung (z.B. Beklagtenwohnsitz) ergeben, richten sich nach den Bestimmungen des internationalen Privatrechts, das heisst in den meisten Fällen nach dem Lugano-Übereinkommen vom 30. Oktober 2007115 beziehungsweise dem IPRG. Der neue Buchstabe c regelt nur die sachliche Zuständigkeit und lässt die internationale und örtliche Zuständigkeit unberührt.

111 112 113 114

SR 220 SR 823.11 SR 221.213.2 Vgl. Meinrad Vetter/Matthias Brunner, Die sachliche Zuständigkeit der Handelsgerichte ­ eine Zwischenbilanz, ZZZ 2013, S. 254 ff., 261.

115 SR 0.275.12

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Kantone, die ein spezialisiertes internationales Handelsgericht schaffen wollen, sollen diesem ­ über die bisherigen Regelungen der Zuständigkeit hinaus ­ bestimmte Fälle zuweisen können. Dabei müssen die folgenden Bedingungen erfüllt sein:

116 117 118

­

Der Konzeption der Handelsgerichte als Instanz für handelsrechtliche Streitigkeiten (vgl. Art. 6 Abs. 1 ZPO) entsprechend, rechtfertigt sich eine Zuweisung von Streitigkeiten nur, wenn die geschäftliche Tätigkeit mindestens einer Partei betroffen ist (Ziff. 1). Diese Voraussetzung deckt sich mit Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe a ZPO; im Unterschied dazu ist jedoch keine Eintragung (als Rechtseinheit) im schweizerischen Handelsregister (oder in einem vergleichbaren ausländischen Register) vorauszusetzen. Auch in diesen spezifisch internationalen Streitfällen sollen grundsätzlich nur Streitigkeiten, die kaufmännischer, technischer oder ähnlicher Natur sind, vor ein Handelsgericht kommen, wobei dieser Begriff stets weit zu fassen ist.116

­

Die Streitigkeit muss vermögensrechtlich sein, und der Streitwert muss mindestens 100 000 Franken betragen (Ziff. 2). Als vermögensrechtlich gelten nach den für Artikel 91 ZPO entwickelten Grundsätzen vorab sämtliche Klagen auf eine Geldleistung sowie alle Klagen, deren Begehren ihrer Natur nach in Geld schätzbar sind; massgebend ist, ob mit der Klage letztlich und überwiegend ein wirtschaftlicher Zweck verfolgt wird.117 Die Streitwertgrenze entspricht der im geltenden Recht vorgesehenen Möglichkeit der Prorogation des oberen Gerichtes gemäss Artikel 8 ZPO.

­

Für die Zuständigkeit des Handelsgerichts ist in diesen Fällen die Zustimmung der Parteien erforderlich (Ziff. 3). Wie bei der (sachlichen) Prorogation gemäss Artikel 8 ZPO ist diese Zustimmung grundsätzlich an keine besondere Form gebunden und kann daher auch formlos erfolgen, insbesondere auch durch Einlassung. Soweit zur Begründung der internationalen Zuständigkeit in der Schweiz und der örtlichen Zuständigkeit in einem Handelsgerichtskanton eine Gerichtsstandsvereinbarung oder -klausel abgeschlossen wurde und diese auch die sachliche Prorogation des Handelsgerichts beinhaltet, liegt eine solche Zustimmung der Parteien vor.

­

Angesichts des spezifischen internationalen Fokus solcher Streitfälle ist gemäss Ziffer 4 zudem erforderlich, dass wenigstens eine Partei im Zeitpunkt der Zustimmung ihren Wohnsitz, bei dessen Fehlen ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder ­ wenn es sich um eine juristische Person handelt ­ ihren Sitz nicht in der Schweiz hatte. Grundsätzlich muss diese Voraussetzung bei der Prüfung der sachlichen Zuständigkeit durch das befasste Gericht vorliegen; es muss dabei genügen, dass sie beim Abschluss des Vertrags oder der Gerichtsstandsvereinbarung vorliegt. Dieses Erfordernis eines genügenden Auslandsbezugs ist bereits aus der (internationalen) Schiedsgerichtsbarkeit bekannt (vgl. Art. 176 Abs. 1 E-IPRG gemäss Entwurf vom 24. Oktober 2018 sowie die Erläuterungen in der dazugehörigen Botschaft118). Nur bei Vgl. auch BGE 140 III 355 E. 2 Vgl. dazu BGE 142 III 145 E. 6 m.w.H.

Vgl. Botschaft und Entwurf vom 24. Oktober 2018 zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit), BBl 2018 7163 ff.

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einem solchen Auslandsbezug soll zukünftig diese Form der Prorogation eines Handelsgerichts zulässig sein, sofern ein Handelsgerichtskanton von dieser Möglichkeit zur Schaffung eines internationalen Handelsgerichts Gebrauch macht. In diesen Fällen kann das prorogierte Handelsgericht seine Zuständigkeit auch nicht ablehnen.119 Für reine Binnenfälle bleibt es beim geltenden Recht, wonach eine Vereinbarung über die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts unzulässig ist.

Kompetenzattraktion zugunsten ordentlicher Gerichte bei Streitgenossenschaft (Abs. 6) Nach geltendem Recht ist bundesrechtlich nicht einheitlich geregelt, ob das Handelsgericht oder das ordentliche Gericht sachlich zuständig ist, wenn die Voraussetzungen der sachlichen Zuständigkeit des Handelsgerichts lediglich für einzelne Streitgenossen erfüllt sind; während in den Kantonen Zürich (allerdings lediglich gestützt auf eine stillschweigende kantonale Regelung)120 und Bern121 in diesen Fällen einheitlich das ordentliche Gericht zuständig ist, bestand im Kanton Aargau bis zur Änderung von § 12 Absatz 2 des Einführungsgesetzes vom 23. März 2010122 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, die nun auch eine Kompetenzattraktion zugunsten der ordentlichen Gerichte vorsieht, in diesen Fällen teilweise eine geteilte Zuständigkeit.123 Diese Rechtslage ist nicht anwenderfreundlich. Für die Fälle der (passiven) einfachen Streitgenossenschaft hat der Bundesrat daher im Rahmen der Vernehmlassung vorgeschlagen, von Bundesrechts wegen in einem neuen Absatz 6 einheitlich eine Kompetenzattraktion zugunsten des ordentlichen Gerichts vorzusehen, wenn die Voraussetzungen für eine handelsgerichtliche Zuständigkeit nur für einzelne Streitgenossen erfüllt sind. Dieser Vorschlag ist in der Vernehmlassung von einer Mehrheit grundsätzlich begrüsst worden.124 Gleichzeitig wurde verschiedentlich unterstrichen, dass die gleiche Regelung für alle Fälle der einfachen Streitgenossenschaft (d.h. auch für die aktive einfache Streitgenossenschaft) gelten sollte, nicht jedoch für die Fälle, in denen das Handelsgericht gemäss Artikel 6 Absatz 4 ZPO stets zuständig ist. Die Formulierung von Absatz 6 wurde entsprechend überarbeitet: Die Formulierung unterscheidet nicht zwischen aktiver und passiver einfacher Streitgenossenschaft und lässt auch das Wahlrecht gemäss Artikel
6 Absatz 3 unberührt.

Art. 8 Abs. 2 zweiter Satz Bereits nach geltendem Recht kann eine klagende Partei mit Zustimmung der beklagten Partei direkt an das obere kantonale Gericht gelangen, wenn es sich um eine vermögensrechtliche Streitigkeit handelt und der Streitwert mindestens 100 000 Franken beträgt (Art. 8 Abs. 1 ZPO). Dabei handelt es sich um einen Fall der sogenannten Prorogation. Ungeachtet eines internationalen Bezugs lässt sich 119 120 121 122 123 124

Vgl. die Erläuterungen unter Ziffer 5.2.2 zu Art. 5 E-IPRG.

BGE 138 III 471 E. 5 Entscheid des Handelsgerichts Bern vom 9.12.2012, HG 12.127 (=CAN 2013 Nr. 58).

Systematische Sammlung des Aargauischen Rechts 221.200.

Vgl. BGer 4A_239/2013 vom 9. September 2013, E. 3.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.3 und 5.38.

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damit bereits nach geltendem Recht vereinbaren, dass in diesen Fällen das obere kantonale Gericht als einzige Instanz zuständig sein soll; gegebenenfalls in Kombination mit einer Gerichtsstandsvereinbarung steht diese Möglichkeit auch dann zur Verfügung, wenn eine oder gar beide Parteien ihren Wohnsitz oder Sitz im Ausland haben. Auf der Grundlage dieser Regelung ist es bereits nach geltendem Recht möglich, dass auch ausländische Parteien ihre Streitigkeiten direkt dem oberen kantonalen Gericht zuweisen. Im Übrigen ist jedoch nach geltendem Recht eine Vereinbarung über die sachliche Zuständigkeit grundsätzlich unzulässig, so insbesondere mit Bezug auf die Zuständigkeit des Handelsgerichts. 125 Für die Zukunft ist es denkbar, dass Kantone im Rahmen der Organisation ihres oberen kantonalen Gerichts ­ und nicht des Handelsgerichts (vgl. dazu Art. 6 Abs. 4 E-ZPO und die Erläuterungen dazu) ­ spezialisierte Kammern oder Abteilungen mit spezifischen Verfahrensregeln zur Abwicklung internationaler Handelsstreitigkeiten schaffen.

In diesem Zusammenhang ist zentral, dass das obere Gericht gegebenenfalls auch vorsorgliche Massnahmen anordnen kann, weshalb Absatz 2 von Artikel 8 ZPO anzupassen ist: Gleich wie bei den Artikeln 5 und 6 ZPO ist somit ergänzend zum bisherigen Recht festzuhalten, dass das obere Gericht auch für die Anordnung vorsorglicher Massnahmen vor Eintritt der Rechtshängigkeit der Klage zuständig ist, wie dies von der Lehre bereits zum geltenden Recht postuliert wird.126 Art. 10 Abs. 1 Bst. c In Übereinstimmung mit Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe f ZPO regelt der geltende Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe c ZPO die örtliche und funktionelle Zuständigkeit bei Klagen gegen den Bund; dafür ist nach Wahl der klagenden Partei das Obergericht des Kantons Bern oder das obere kantonale Gericht am Wohnsitz der klagenden Partei zuständig. Als Folge der vorgeschlagenen Änderung von Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe f ist Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe c dahingehend anzupassen, dass dieser wie bisher und in gleicher Weise die örtliche Zuständigkeit (Bern oder Wohnsitz der klagenden Partei) festlegt, nicht mehr aber die funktionelle Zuständigkeit.

Art. 51 Abs. 3 Nach dem geltenden Wortlaut dieser Bestimmung erfolgt die Geltendmachung eines erst nach Abschluss des Verfahrens entdeckten Ausstandsgrunds im Rahmen
eines Revisionsverfahrens. Diese Regelung folgt dem Grundgedanken, dass ein Gericht die Zuständigkeit hinsichtlich eines bestimmten Falles verliert, sobald es in diesem Fall sein Urteil gefällt hat (lata sententia iudex desinit esse iudex).127 Weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Materialien zur ZPO geht jedoch hervor, ab welchem Zeitpunkt ein Verfahren als abgeschlossen im Sinne dieser Bestimmung zu

125 126

BGE 142 III 623 E. 2; 138 III 471 E. 3 Vgl. David Rüetschi, Art. 8 N 18, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016, m.w.H.; a.A. demgegenüber Dominik Gasser/Brigitte Rickli, ZPO Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 2014, Art. 8 N 3.

127 BGE 139 III 120 E. 2

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gelten hat. Dies kann unterschiedlich beurteilt werden, je nachdem, welches Rechtsmittel gegen einen Endentscheid zur Verfügung steht.128 Das Bundesgericht hat diese Frage zwischenzeitlich wie folgt geklärt: Die Geltendmachung eines Ausstandsgrunds mittels Revision kommt dann nicht in Betracht, wenn der Ausstandsgrund zwar nach Abschluss des Verfahrens vor der betreffenden Instanz (mithin nach Ergehen eines formellen Endentscheids), aber vor Ablauf der Rechtsmittelfrist entdeckt wird. Dies gilt ungeachtet der formellen Rechtskraft auch dann, wenn gegen den Endentscheid nur die Beschwerde möglich ist, weil die Revision dieser gegenüber subsidiär ist.129 Im Interesse der Rechtsklarheit soll diese Rechtsprechung ins Gesetz aufgenommen und der Wortlaut von Artikel 51 Absatz 3 ZPO entsprechend angepasst beziehungsweise ergänzt werden. Neu soll die Revision zur Geltendmachung eines Ausstandsgrunds offenstehen, wenn kein anderes Rechtsmittel mehr zur Verfügung steht.

Dieser Vorschlag fand in der Vernehmlassung einhellige Unterstützung.

Art. 70 Abs. 2 (betrifft nur den französischen Text) Die französische Fassung ist in Bezug auf den zweiten Teilsatz inhaltlich dahingehend der deutschen und italienischen Fassung anzupassen, dass gegenüber dem geltenden Wortlaut die einzelnen Rechtsmittel («appel ou recours») anstelle des Überbegriffs «recours» genannt werden.

Art. 71

Einfache Streitgenossenschaft

Die Bestimmung regelt die einfache Streitgenossenschaft, bei der mehrere Personen zur Förderung der Prozessökonomie und Entscheidungsharmonie entweder gemeinsam gegen eine einzige beklagte Partei klagen oder umgekehrt mehrere Personen gleichzeitig von einer einzigen klagenden Partei verklagt werden, ohne dass eine gemeinsame Klage vorgeschrieben oder notwendig wäre. 130 Davon zu unterscheiden ist die notwendige Streitgenossenschaft, bei der mehrere Personen gemeinsam klagen oder gemeinsam beklagt werden müssen, weil für oder gegen sie nur einheitlich für alle entschieden werden kann (vgl. Art. 70 ZPO).

Die Absätze 1 und 2 regeln im geltenden Recht die Voraussetzungen der einfachen Streitgenossenschaft. Diese Bestimmungen sollen formal und inhaltlich unter Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Praxis überarbeitet werden, ohne dabei an den Grundsätzen des geltenden Rechts etwas zu ändern. Im Gegensatz zum Vorentwurf soll an der Voraussetzung der gleichen Verfahrensart gemäss geltendem Artikel 71 Absatz 2 ZPO festgehalten werden, nachdem dieser Vorschlag in der Vernehmlassung verbreitet auf Skepsis gestossen ist.131 Die einfache Streitgenossenschaft ist und bleibt damit ausgeschlossen in Fällen, in denen für die einzelnen 128 129 130

Vgl. dazu Denis Tappy, Art. 51 N 14 ff., in: CR CPC, 2. Aufl., Basel 2019.

BGE 139 III 466 E. 3.4; 139 III 120 E. 2; 138 III 702 E. 3.4.

Vgl. dazu Ernst Staehelin/Silvia Schweizer, Art. 71 N 1, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Christoph Leuenberger/Beatrice Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Bern 2016, Rz. 3.28; Tanja Domej, Art. 71 N 1, in: KUKO ZPO, 2.

Aufl., Basel 2014.

131 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.8.

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Klagen nicht die gleiche Verfahrensart (ordentliches, vereinfachtes oder summarisches Verfahren) anwendbar ist.

Die Voraussetzungen der einfachen Streitgenossenschaft sollen zur weiteren Verbesserung der ZPO in einem neu formulierten und neu strukturierten Absatz 1 wie folgt geregelt werden: ­

Der neue Einleitungssatz umschreibt lediglich die Streitgenossenschaft als Mehrzahl von Personen auf der Kläger- oder der Beklagtenseite.

­

Im neuen Buchstaben a wird inhaltlich unverändert festgehalten, dass stets eine sogenannte Konnexität («gleiche Tatsachen oder Rechtsgründe») zwischen den verschiedenen Klagen bestehen muss; nach der Praxis ist dieses Konnexitätserfordernis jedoch weit auszulegen, indem die Bildung einer Streitgenossenschaft im Hinblick auf den Prozessstoff zweckmässig erscheint, sei dies aus prozessökonomischen Gründen oder zur Vermeidung widersprüchlicher Urteile.132

­

Im neuen Buchstaben b wird die Voraussetzung der gleichen Verfahrensart gemäss bisherigem Artikel 71 Absatz 2 ZPO geregelt. An dieser Voraussetzung soll auch in Zukunft festgehalten werden, selbst wenn dies grundsätzlich dazu führt, dass Klagen des ordentlichen Verfahrens und des vereinfachten Verfahrens nicht zusammen geltend gemacht werden können, auch wenn die unterschiedliche Verfahrensart ausschliesslich aufgrund des Streitwerts resultiert (vgl. Art. 243 Abs. 1 ZPO: vereinfachtes Verfahren bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis 30 000 Franken). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hat jedoch im Falle der objektiven Klagenhäufung (Art. 90 ZPO) in Anwendung von Artikel 93 Absatz 1 ZPO zur Streitwertberechnung die Zusammenrechnung vorgängig zur Prüfung nach Artikel 90 ZPO zu erfolgen, und es sind die Voraussetzungen der gleichen sachlichen Zuständigkeit und der gleichen Verfahrensart auf Grundlage der bereits addierten Streitwerte zu prüfen.133 Dies sollte zumindest auch für die aktive einfache Streitgenossenschaft gelten, bei der mehrere Personen gestützt auf gleichartige Tatsachen oder Rechtsgründe gemeinsam (gegen eine beklagte Partei) klagen.134 Grundsätzlich sind aber die verschiedenen Verfahrensarten aus guten Gründen nicht weiter zu vermischen.

­

Die bundesgerichtliche Praxis zur Voraussetzung der gleichen sachlichen Zuständigkeit soll ins Gesetz überführt werden, was in der Vernehmlassung einhellig unterstützt wurde.135 Dabei handelt es sich um ein zentrales Element zum Verständnis der Zulässigkeit, die sich ohne weiteres aus dem Gesetz ergeben sollte. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts handelt es sich bei der gleichen sachlichen Zuständigkeit nach geltendem Recht um ei-

132 133 134

Vgl. BGE 142 III 581 m.w.H., insb. auf Botschaft ZPO, BBl 2006 7281.

BGE 142 III 788 E. 4 Vgl. Alexander Wintsch/Richard Meyer, Streitwertaddition bei Klagenhäufung und einfacher Streitgenossenschaft, ZZZ 2016, S. 275 ff.

135 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.3.

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ne «stillschweigende Voraussetzung» der (passiven) einfachen Streitgenossenschaft.136 Diese soll neu in einem Buchstaben c festgehalten werden.

Als Folge dieser Neufassung wird der bisherige Absatz 3 unverändert neu zu Absatz 2.

Art. 81 Abs. 1 und 3 Mit der ZPO wurde die Streitverkündungsklage schweizweit als neues Institut eingeführt, nachdem sie vorher nur in den Kantonen Genf, Waadt und Wallis sowie teilweise im Kanton Tessin bekannt war. Die Streitverkündungsklage ermöglicht es über die einfache Streitverkündung (vgl. Art. 78 ff. ZPO) hinaus, unmittelbar im Rahmen der Hauptklage einen Entscheid über die Ansprüche der streitverkündenden Partei gegenüber der streitberufenen Person zu erwirken.137 In der Praxis hat sich gezeigt, dass dieses prozessuale Instrument bisher noch wenig oder kaum genutzt wird. Nach Ansicht des Bundesrates ist es daher wichtig, die Funktionsfähigkeit der Streitverkündungsklage im Schweizer Recht zu verbessern (vgl. die Erläuterungen zu Art. 82 Abs. 1 Satz 3). Nach dem Vorschlag des Bundesrates soll daher die Regelung über die Voraussetzungen und Zulässigkeit der Streitverkündungsklage in Artikel 81 Absatz 1 ZPO klarer gefasst werden. Dazu soll der Gehalt der bisherigen Absätze 1 und 3 in einem neuen Absatz 1 zusammengefasst und um die sich bisher aus Lehre und Rechtsprechung ergebenden Voraussetzungen ergänzt und in einer Aufzählung klar strukturiert werden: ­

Im Ingress soll neu zum Ausdruck gebracht werden, dass die Streitverkündungsklage zur Geltendmachung von Ansprüchen zur Verfügung steht, welche die streitverkündende Partei im Falle des Unterliegens gegen die streitberufene Person zu haben glaubt oder die sie von Seiten der streitberufenen Person befürchtet; damit soll sich neu auch der Fall der Streitverkündungsklage als negative Feststellungsklage klar aus dem Gesetzeswortlaut ergeben.138

­

In einem Buchstaben a soll neu die bereits nach geltendem Recht bestehende139 Voraussetzung der Konnexität gesetzlich festgehalten werden, wie dies auch im Vorentwurf zur ZPO vorgesehen war. Es wird auch deutlich, dass neben den Fällen der (potenziellen) Regressansprüche durchaus auch andere Fälle von Gewährleistungs- und Schadloshaltungsansprüchen denkbar sind.

­

Buchstabe b bringt zum Ausdruck, dass für Haupt- und Streitverkündungsklage die gleiche sachliche Zuständigkeit gegeben sein muss. Auch diese Voraussetzung des geltenden Rechts140 soll sich neu unmittelbar aus dem Gesetz ergeben; materiell ist damit keine Rechtsänderung verbunden.

136 137 138

BGE 138 III 471 E. 5 Vgl. Botschaft ZPO, BBl 2006 7283 ff.

Vgl. dazu Nina J. Frei, Die Interventions- und Gewährleistungsklagen im Schweizer Zivilprozess, Diss. Zürich 2004, S. 114 f.

139 Vgl. Botschaft ZPO, BBl 2006 7284 f.; BGE 139 III 67 E. 2.4.3 sowie Tarkan Göksu, Art. 81 N 9, in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016; 140 BGE 139 III 67 E. 2.4.3

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­

In einem Buchstaben c soll neu die verfahrensmässige Zulässigkeit geregelt werden, die bisher in Absatz 3 geregelt ist. Im Unterschied zum geltenden Recht soll klargestellt werden, dass die Streitverkündungsklage ausschliesslich im ordentlichen Verfahren zulässig ist; wie nach geltendem Recht ausgeschlossen ist sie daher im vereinfachten und im summarischen Verfahren, weil diese Verfahren nicht dergestalt kompliziert und verlängert werden sollen.141 Wie im geltenden Recht,142 jedoch im Unterschied zum Vorentwurf, wird sowohl für die Hauptklage als auch für die Streitverkündungsklage das ordentliche Verfahren verlangt; damit trägt der Bundesrat den diesbezüglich kritischen Stellungnahmen in der Vernehmlassung Rechnung.143

Der bisherige Absatz 2 wird unverändert übernommen; wie bisher sind sogenannte Kettenstreitverkündungsklagen zur Vermeidung einer übermässigen Komplizierung und Verzögerung des Verfahrens ausgeschlossen. Der bisherige Absatz 3 geht inhaltlich im neu gefassten Absatz 1 auf und kann somit aufgehoben werden, ohne dass sich damit die Rechtslage ändert.

Art. 82 Abs. 1 dritter Satz Die Bestimmung regelt das Verfahren der Streitverkündungsklage. Dieses soll gegenüber dem geltenden Recht in einem wesentlichen Punkt ergänzt werden: Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Streitverkündungsklage grundsätzlich bereits im Zulassungsverfahren zu beziffern und darf nicht vom Ausgang der Hauptklage abhängig gemacht werden. Eine Ausnahme gilt nur, wenn die Voraussetzungen für eine Stufenklage gemäss Artikel 85 ZPO erfüllt sind.144 Diese Rechtslage führt dazu, dass das Risiko der streitverkündenden Partei, mit ihrer Streitverkündungsklage zu über- oder unterklagen, sehr gross ist und damit neben der einfachen Streitverkündung nach Artikel 78 ZPO gerade aus Prozesskostenrisikoüberlegungen wenig attraktiv erscheint. Daher soll durch einen neuen Satz 3 zu Absatz 1 abweichend vom geltenden Recht klargestellt werden, dass die Rechtsbegehren der Streitverkündungsklage dann nicht zu beziffern sind, wenn sie auf Leistung dessen gehen, wozu die streitverkündende Partei ihrerseits im Hauptverfahren verpflichtet wird. Über die Fälle von Artikel 85 ZPO hinaus soll die Streitverkündungsklage dann nicht beziffert werden müssen, wenn es sich um eine Regressklage handelt und die streitverkündende Partei noch nicht wissen kann, zu welchem Betrag sie im Hauptprozess verpflichtet wird.

Art. 90 Abs. 2 Die Regelung der (objektiven) Klagenhäufung als die Möglichkeit, mit einer Klage mehrere Ansprüche gegen dieselbe Partei geltend zu machen, ist von grosser praktischer Bedeutung, gerade wenn es um eine effiziente Rechtsdurchsetzung im Interes141 142

Vgl. dazu bereits Botschaft ZPO, BBl 2006 7285.

BGE 139 III 67 E. 2.4.2; vgl. auch Daniel Schwander, Art. 81 N 26 ff., in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016.

143 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.9.

144 BGE 142 III 102 E. 3­6; vgl. dazu Melanie Lehmann, Die Bezifferung der Streitverkündungsklage, Jusletter vom 30. Mai 2016.

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se aller Beteiligten geht. Von grosser Bedeutung ist die objektive Klagenhäufung sodann bei der kollektiven Rechtsdurchsetzung von Massenschäden ausserhalb echter kollektiver Instrumente; die Bündelung und gehäufte Geltendmachung einer Vielzahl von Ansprüchen durch eine klagende Partei gegen eine beklagte Partei bildet nach geltendem Recht neben der Streitgenossenschaft die einzige Möglichkeit der kollektiven Rechtsdurchsetzung.145 Nach dem geltenden Wortlaut bilden die gleiche sachliche Zuständigkeit (Bst. a) und die gleiche Verfahrensart (Bst. b) die Zulässigkeitsvoraussetzungen der objektiven Klagenhäufung nach Artikel 90 ZPO. Gerade die Voraussetzung der gleichen Verfahrensart, aber auch der gleichen sachlichen Zuständigkeit wurden verschiedentlich kritisiert, und es wurde daher auch deren Relativierung postuliert. So ist die Klagenhäufung zweier vermögensrechtlicher Ansprüche, von denen der eine alleine aufgrund des Streitwerts im vereinfachten Verfahren oder einer besonderen Instanz zu beurteilen ist, und der andere im ordentlichen Verfahren beziehungsweise vom ordentlichen Spruchkörper, nach der herrschenden Lehre zulässig: Ihr stehen keine schützenswerten Interessen der beklagten Partei entgegen, und gerade auch die Regelung von Artikel 93 Absatz 1 ZPO, wonach bei der objektiven Klagenhäufung die geltend gemachten Ansprüche zur Bestimmung des Streitwerts zusammengerechnet werden, legen eine solche Lösung nahe. Dieser Auffassung hat sich in der Zwischenzeit auch das Bundesgericht angeschlossen.146 Im Rahmen der Vernehmlassungsvorlage hatte der Bundesrat eine gezielte Neufassung des Artikels 90 vorgeschlagen mit dem Ziel, damit die Anwendung und die Praxistauglichkeit der Bestimmung zu verbessern, indem insbesondere auch die sogenannte verfahrensübergreifende Klagenhäufung von Ansprüchen des ordentlichen und des vereinfachten Verfahrens zugelassen und dann die Regelungen des vereinfachten Verfahrens im ordentlichen Verfahren sinngemäss zur Anwendung gelangen sollten. Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung vorab aufgrund der Vermischung verschiedener Verfahrensarten und -regelungen überwiegend als nicht praktikabel eingestuft und abgelehnt.147 Daher sieht der Bundesrat von einer solchen umfassenden Neuregelung der Klagenhäufung ab. Vielmehr schlägt er eine Ergänzung der geltenden Regelung
um einen neuen Absatz 2 vor, indem vorab die erwähnte Rechtsprechung des Bundesgerichts in allgemeiner Form ins Gesetz überführt wird: Über die Voraussetzung der gleichen sachlichen Zuständigkeit und der gleichen Verfahrensart gemäss Artikel 90 Absatz 1 ZPO hinaus soll zukünftig eine Klagenhäufung auch dann zulässig sein, wenn zwar für die verschiedenen Ansprüche eine unterschiedliche sachliche Zuständigkeit besteht oder eine unterschiedliche Verfahrensart anwendbar ist, diese jedoch lediglich auf dem Streitwert beruht. Ergänzend dazu ist festzuhalten, dass gehäuft geltend gemachte Ansprüche zusammen im ordentlichen Verfahren beurteilt werden, auch wenn für die einzelnen Ansprüche unterschiedliche Verfahrensarten ­ das heisst das 145

Vgl. Ziff. 1.1.4 und 4.2 sowie ausführlich Bericht «Kollektiver Rechtsschutz in der Schweiz ­ Bestandesaufnahme und Handlungsmöglichkeiten» des Bundesrates vom 3. Juli 2013, S. 15 f., abrufbar unter www.bj.admin.ch > Publikationen und Service > Berichte, Gutachten und Verfügungen > Berichte und Gutachten.

146 BGE 142 III 788 E. 4 147 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.13.

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vereinfachte Verfahren einerseits und das ordentliche Verfahren andererseits ­ anwendbar wären. Wie bisher ist es nicht erforderlich, dass die gehäuften Ansprüche in einem sachlichen Zusammenhang stehen.

Mit dieser Regelung soll die Klagenhäufung im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung vereinfacht werden; gleichzeitig wird damit aber eine Vermischung der verschiedenen Verfahrensarten vermieden, wie sie verbreitet abgelehnt wird.

Weiterhin nicht möglich ist damit die gemeinsame Geltendmachung von Ansprüchen unterschiedlicher Verfahrensart in den Fällen, in denen die Anwendung des vereinfachten Verfahrens nicht auf dem Streitwert, sondern auf der Natur einzelner Ansprüche beruht, beispielsweise wenn ein Anspruch wegen mietrechtlichem Kündigungsschutz (vgl. Art. 243 Abs. 2 Bst. c ZPO) zusammen mit Vermögensansprüchen von mehr als 30 000 Franken geltend gemacht werden soll, oder etwa Ansprüche auf der Grundlage des GlG (vgl. Art. 243 Abs. 1 Bst. a ZPO) zusammen mit allgemeinen arbeitsrechtlichen Forderungen von mehr als 30 000 Franken.

Art. 94a

Verbandsklage

Der Streitwert einer Verbandsklage bestimmt sich bisher nach den allgemeinen Regeln der Artikel 91­94 ZPO. Dies gilt auch für die spezialgesetzlichen Verbandsklagen.148 Der Streitwert einer Verbandsklage wird somit grundsätzlich durch das Rechtsbegehren bestimmt (Art. 91 Abs. 1 ZPO). Dies gilt für alle vermögensrechtlichen Streitigkeiten bei Klagen auf bestimmte Geldleistungen und auch für Verbandsklagen.

Anders ist es bei einer Verbandsklage auf Unterlassung, Beseitigung oder Feststellung: In diesen Fällen handelt es sich um eine Klage, die nicht auf Bezahlung einer bestimmten Geldsumme lautet, soweit es sich überhaupt um eine vermögensrechtliche Streitigkeit handelt. Gemäss Artikel 91 Absatz 2 ZPO setzt in diesen Fällen das Gericht den Streitwert fest, wenn sich die Parteien darüber nicht einigen oder ihre Angaben offensichtlich unrichtig sind. Auf dieser Grundlage wird de lege lata auf das sogenannte Kollektivinteresse der betroffenen Personen abgestellt, welches aber deutlich höher ist als das eigentliche Interesse des klagenden Verbands.149 Dies führt in der Praxis dazu, dass der Streitwert solcher Klagen sehr hoch ist, was auf die Kosten und damit das Kostenrisiko einer solchen Verbandsklage durchschlägt.150 Das ist aber nicht konsequent, weil Streitgegenstand einer solchen Klage gerade nicht jeder einzelne Anspruch beziehungsweise nicht die Gesamtheit der Ansprüche der einzelnen betroffenen Personen ist, über die ja gerade nicht rechtskräftig ent148

Vgl. auch Entscheid HGer ZH, 12. Juli 2018, HG170181-O (Eine dagegen erhobene Beschwerde hat das Bundesgericht mit Entscheid 4A_483/2018 vom 8. Februar 2019 abgewiesen).

149 Entscheid HGer ZH, 12. Juli 2018, HG170181-O (Eine dagegen erhobene Beschwerde hat das Bundesgericht mit Entscheid 4A_483/2018 vom 8. Februar 2019 abgewiesen) unter Hinweis auf Johann Zürcher, Der Streitwert im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, sic! 2002, S. 493 ff., 505. A.A. demgegenüber Arnold F. Rusch/Andreas Schirrmacher, Konsumentenorganisationen im AGB-Streit, ZBJV 2013, S. 683 ff., 690 f.

150 Im erwähnten (Fn. 149) Fall der Feststellungsklage einer Konsumentenschutzorganisation nach dem UWG ging das Handelsgericht Zürich angesichts der Anzahl der betroffenen Personen von angeblich ca. 180 000 Betroffenen und eines behaupteten Schadens in Millionenhöhe von einem Streitwert von 200 000 Franken aus.

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schieden wird.151 Darauf hat man teilweise im Ausland reagiert, indem man vorab für solche kollektiven Klagen auf Feststellung besondere Streitwertregelungen mit Streitwertobergrenzen geschaffen hat, die insbesondere das Interesse der Allgemeinheit an der verlangten Feststellung berücksichtigen und nicht etwa das (kumulierte) wirtschaftliche Interesse der betroffenen Personen insgesamt. 152 Zur Verbesserung und Erleichterung der Rechtsdurchsetzung mittels negatorischer Verbandsklagen, die nicht auf Zusprechung von Ersatz gehen, schlägt der Bundesrat daher die Schaffung einer Sonderregelung zur Berechnung des Streitwerts bei solchen Klagen im 7. Titel «Streitwert» vor: Nach dem Vorschlag für den vorliegenden neuen Artikel 94a ZPO setzt das Gericht in diesen Fällen den Streitwert stets nach Ermessen fest, wenn sich die Parteien darüber nicht einigen. Bei seinem Ermessensentscheid hat das Gericht vom Interesse der einzelnen Angehörigen der betroffenen Personengruppe und der Bedeutung des Falls auszugehen, die gerade nicht mit dem Kollektivinteresse oder dem kumulierten Interesse der betroffenen Personen gleichgesetzt werden darf. Streitgegenstand ist stets nur der eigene Anspruch der klagenden Organisation auf Unterlassung, Beseitigung oder Feststellung, nicht aber die individuellen Ansprüche der betroffenen Personen, über die im Rahmen einer solchen Verbandsklage gerade nicht entschieden wird. Vor diesem Hintergrund möchte der Bundesrat auf eine letztlich immer arbiträre Festlegung einer Maximalgrenze für den Streitwert verzichten. Weil es sich hierbei um eine zivilprozessuale Frage der Streitwertberechnung bei (auch spezialgesetzlichen) Verbandsklagen handelt, soll diese im Rahmen der vorliegenden Vorlage und unabhängig von der Frage der Neuregelung und Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes (vgl. Ziff. 4.2) behandelt werden.

Art. 96 zweiter Satz Wie bereits erwähnt (vgl. Ziff. 4.1.1) will der Bundesrat auch im Lichte der Vernehmlassung unverändert an der in Artikel 96 ZPO festgehaltenen Tarifhoheit der Kantone festhalten. Anders verhält es sich seit jeher für den Bereich des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts. Hier bestand schon vor dem Inkrafttreten der ZPO gestützt auf Artikel 16 des Bundesgesetzes vom 11. April 1889153 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) ein schweizweit einheitlicher
Gebührentarif, der sich unbestrittenermassen bewährt hat. Daran hat sich mit dem Inkrafttreten der ZPO insofern nichts geändert, als die Gebührenverordnung vom 23. September 1996 154 zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (GebV SchKG) weiterhin insoweit gilt, als sie auch Tarife für die Prozesskosten in SchKG-Sachen enthält.155 151

152

153 154 155

Vgl. François Bohnet, Les actions collectives, spécialement en matière de consommation, in: Carron/ Müller (Hrsg.), Droits de la consommation et de la distribution, Neuchâtel/Basel 2013, S. 159 ff., 176; Philipp Weber, Art. 89 N 21, in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014.

Vgl. Arnold F. Rusch/Andreas Schirrmacher, Konsumentenorganisationen im AGBStreit, ZBJV 2013, S. 683 ff., 690 f. unter Hinweis auf die Rechtslage in Deutschland; vgl. dazu auch Regelung im neuen deutschen Musterfeststellungsklagengesetz, § 48 Abs. 1 Satz 2 Gerichtskostengesetz.

SR 281.1 SR 281.35 So bereits Botschaft ZPO, BBl 2006 7292, 7410.

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Dies hat das Bundesgericht mittlerweile auch ausdrücklich festgehalten, 156 nachdem kantonale Gerichte zwischenzeitlich anders entschieden hatten.157 Der Vorbehalt der Gebührenregelung nach Artikel 16 Absatz 1 SchKG und damit die GebV SchKG soll neu ausdrücklich in der ZPO festgehalten werden (Art. 96 zweiter Satz E-ZPO). Dies trägt zu einer klaren und transparenten Gesetzgebung bei, ohne dass damit eine Rechtsänderung verbunden wäre. Ob und inwiefern die GebV SchKG inhaltlich angepasst werden sollte, wird derzeit im Rahmen separater Arbeiten geprüft.158 Art. 98

Kostenvorschuss

Nach dem geltenden Wortlaut der Bestimmung kann das Gericht von der klagenden Partei einen Vorschuss bis zur Höhe der mutmasslichen Gerichtskosten verlangen und androhen, dass ansonsten nicht auf die Klage oder das Gesuch eingetreten werde (vgl. Art. 101 Abs. 3 ZPO). Diese Regelung, die in vielen Kantonen gegenüber dem früheren Recht eine deutlich strengere und insofern klägerfeindliche Vorgehensweise bedeutet, wurde spätestens seit Inkrafttreten der ZPO verbreitet kritisiert (vgl.

Ziff. 1.1.5 und 2.1 sowie 4.1.1); die Kritik der «Paywall»159 um die Justiz manifestiert sich hier exemplarisch.

Bereits im Rahmen der Vernehmlassungsvorlage hatte der Bundesrat vorgeschlagen, dass zukünftig der Gerichtskostenvorschuss noch maximal die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten betragen darf (Art. 98 Abs. 1 VE-ZPO). Dieser Vorschlag entsprach damit umfangmässig insbesondere auch dem Vernehmlassungsentwurf von 2003. Die Expertenkommission unterstrich damals, dass es sich dabei um eine «mittlere Linie zwischen den kantonalen Regelungen» handle und damit der Vorschuss nicht so hoch sei, dass der Zugang zu den Gerichten übermässig erschwert würde.160 Aufgrund der damaligen Kritik der Kantone unter Hinweis auf mögliche Kostenfolgen resultierte schliesslich die Gesetz gewordene Erhöhung der Maximalgrenze auf die gesamten mutmasslichen Gerichtskosten. Dabei gerieten rechtsstaatliche Bedenken in den Hintergrund, die es nach Ansicht des Bundesrates nunmehr zu korrigieren gilt. Dieser Vorschlag war in der Vernehmlassung umstritten: Während ihn zahlreiche Kantone, Parteien und Organisationen ausdrücklich begrüssten und teilweise sogar eine weitere Beschränkung der maximal zulässigen Vorschüsse verlangten, äusserte sich insbesondere eine knappe Mehrheit der Kantone angesichts der zu erwartenden Kostenfolgen und Mehrkosten ablehnend.161 Trotz dieser Kritik hält der Bundesrat grundsätzlich an seinem Vorschlag zur Halbierung der Gerichtskostenvorschüsse fest, will diesen jedoch in einem zentralen Punkt ergänzen und insofern auch relativieren: Im Unterschied zum Vorentwurf soll in bestimmten 156 157 158 159

160 161

BGE 139 III 195 Vgl. z.B. Obergericht Zürich, II. Zivilkammer, 23. Februar 2011, BlSchK 2011, 68 ff.

(mit Anmerkung von David Rüetschi).

Vgl. auch Postulat 18.3080 Nantermod «Zu hohe Gebühren bei Schuldbetreibung und Konkurs?».

Vgl. Mario Stäuble, Die Justiz hinter der Paywall, Tages-Anzeiger 3. August 2016 sowie auch Martin Hablützel, Schweizerische ZPO, eine Anleitung, wie man Rechtssuchende vom Gang zum Gericht abhält, HAVE 2019, S. 134 ff.

Bericht Vorentwurf ZPO, S. 52.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.1 und 5.16.

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Verfahren auch in Zukunft im Sinne einer Ausnahme wie bisher ein Vorschuss bis zur Höhe der gesamten mutmasslichen Gerichtskosten möglich sein. Dies entspricht auch dem früheren Vorschlag im Vorentwurf der Expertenkommission von 2003.

Damit wird insbesondere den Bedenken der Kantone in einem wesentlichen Punkt Rechnung getragen.

Gemäss dem neuen Absatz 1 soll zukünftig der Gerichtskostenvorschuss im Grundsatz noch maximal die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten betragen können.

Diese Regelung rechtfertigt sich bereits dadurch, dass sich das Kostenrisiko abstrakt je zur Hälfte auf die klagende und die beklagte Partei verteilt, von der klagenden Partei also grundsätzlich lediglich die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten vernünftigerweise vorzuschiessen sind. Es entspricht gerade dem Verursacherprinzip, dass für staatliche Leistungen Gebühren und Abgaben verlangt werden können und diese grundsätzlich diejenige Person zu tragen hat, welche die behördlichen Leistungen in Anspruch genommen und damit verursacht hat. Schliesslich stellt die Möglichkeit, Kostenvorschüsse zu verlangen, auch ein wirksames Mittel zur Verhinderung rechtsmissbräuchlicher, schikanöser oder querulatorischer Prozessführung dar. Unverändert handelt es sich um eine Kann-Vorschrift, so dass die Gerichte im Einzelfall unter Berücksichtigung der Umstände zu entscheiden haben, ob und wenn ja in welcher Höhe die klagende Partei einen Kostenvorschuss zu leisten hat. Angesichts der unveränderten Tarifhoheit der Kantone (vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 96) entscheiden letztlich diese, wie hoch ein Kostenvorschuss effektiv sein kann.

Der Bundesrat schlägt angesichts des Vernehmlassungsergebnisses vor, in einem neuen Absatz 2 für bestimmte Verfahren im Sinne einer Ausnahme weiterhin die Möglichkeit eines Vorschusses bis zur Höhe der gesamten mutmasslichen Gerichtskosten vorzusehen. Das geltende Recht wird somit zur Ausnahme; für bestimmte Verfahren bleibt es jedoch unverändert. Dies soll für folgende Verfahren gelten: ­

Nach Buchstabe a ist es in Verfahren nach dem neuen Artikel 6 Absatz 4 Buchstabe c und nach Artikel 8 ZPO wie bisher möglich, von der klagenden Partei einen Vorschuss bis zur Höhe der gesamten mutmasslichen Gerichtskosten zu verlangen. Weil in diesen Verfahren die klagende Partei ganz bewusst, freiwillig und im Einverständnis mit der Gegenpartei ausnahmsweise direkt an das Handelsgericht (Art. 6 Abs. 4 Bst. c E-ZPO) oder die einzige kantonale Instanz (Art. 8 ZPO) gelangt, erscheint eine weitergehende Verpflichtung zur Vorschussleistung ohne weiteres gerechtfertigt. Das gilt insbesondere für die neu vorgesehene Möglichkeit der Anrufung des Handelsgerichts in internationalen Wirtschaftsstreitigkeiten gemäss Artikel 6 Absatz 4 Buchstabe c E-ZPO, sofern die Kantone von dieser Möglichkeit Gebrauch machen (vgl. die Ausführungen unter Ziff. 4.1.6 sowie zu Artikel 6 Absatz 4). Anders verhält es sich bei der ordentlichen Zuständigkeit einziger kantonaler Instanzen gemäss den Artikeln 5 und 7 sowie den übrigen Fällen von Artikel 6 ZPO, wo grundsätzlich keine Wahlmöglichkeit der klagenden Partei besteht.

­

Nach Buchstabe b kann von der Partei, die ein Schlichtungsgesuch stellt, ein Vorschuss bis zur Höhe der gesamten mutmasslichen Kosten verlangt werden. Dies entspricht dem damaligen Expertenvorentwurf zur ZPO. Dies ist 2741

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umso mehr vertretbar, als die Kosten eines Schlichtungsverfahrens in jedem Fall gering sein sollen und müssen. Gerade dort hat die Pflicht zur Leistung eines (moderaten) Vorschusses für die Gerichtskosten eine wichtige Warnfunktion und ist ein wirksames Mittel zur Verhinderung rechtsmissbräuchlicher, schikanöser oder querulatorischer Rechtsverfolgung und Prozessführung.

­

Nach Buchstabe c soll auch in Angelegenheiten des summarischen Verfahrens wie bisher eine vollständige Vorschusspflicht der gesuchstellenden Partei gelten: In diesen Verfahren, in denen grundsätzlich reduzierte Tarife gelten, kann und soll es beim geltenden System bleiben, was insbesondere auch das Inkasso für Gerichtskosten in diesem Massengeschäft einfach macht und insofern auch den von Seiten der Kantone gefürchteten Mehraufwand deutlich reduziert. Das betrifft insbesondere auch die SchKG-Summarsachen gemäss Artikel 251 ZPO, was auch mit dem Betreibungsverfahren übereinstimmt, wo die Kosten grundsätzlich vom Gläubiger vorzuschiessen sind (vgl. Art. 68 Abs. 1 SchKG).

Im Sinne einer Gegenausnahme ist auch in Summarverfahren nur noch ein Vorschuss von höchstens der Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten zu leisten, wenn diese vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Artikel 248 Buchstabe d und den Artikeln 261­269 ZPO oder familienrechtliche Streitigkeiten nach den Artikeln 271, 276, 302 und 305 ZPO (insb. Eheschutzmassnahmen, vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsverfahren oder besondere Massnahmen zum Schutz des Kindes oder der eingetragenen Partnerinnen oder Partner) zum Gegenstand haben. In diesen spezifischen Konstellationen darf der Zugang zur Justiz umso weniger durch hohe Gerichtskostenvorschüsse behindert werden; so wird denn bereits heute gerade in familienrechtlichen Streitigkeiten zu Recht oft nur ein minimaler (pauschaler) oder gar kein Kostenvorschuss verlangt.

­

Nach Buchstabe d kann in Rechtsmittelverfahren weiterhin ein Vorschuss bis zur Höhe der mutmasslichen Gerichtskosten verlangt werden. Auch dies entspricht dem damaligen Expertenvorentwurf zur ZPO. Für ein nur unter zusätzlichen Voraussetzungen zulässiges Rechtsmittelverfahren rechtfertigt sich auch eine weitergehende Vorschusspflicht der Partei, die ein Rechtsmittel einlegt.

Art. 106 Abs. 3 Artikel 106 ZPO regelt die Verteilung der Prozesskosten. Im Rahmen der Vernehmlassungsvorlage hatte der Bundesrat Anpassungen von Absatz 1 und Absatz 3 sowie einen neuen Absatz 1bis vorgeschlagen. Aufgrund des Vernehmlassungsergebnisses verzichtet der Bundesrat mit Ausnahme von Absatz 3 auf eine Anpassung der Bestimmung. Der Vorschlag einer besonderen Ausnahme vom sogenannten Unterliegensgrundsatz für den Fall, dass die beklagte Partei den eingeklagten Anspruch bei erster Gelegenheit sofort anerkennt (Ausnahme, die auch frühere kantonale162 und 162

Insb. aZPO BE Art. 60 und aZPO JU § 59.

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ausländische Zivilprozessordnungen163 kannten beziehungsweise kennen), wurde überwiegend als unnötiger Eingriff in das gerichtliche Ermessen abgelehnt:164 Bereits nach geltendem Recht könne das Gericht unter Anwendung von Artikel 107 Absatz 1 Buchstabe f ZPO eine abweichende, billige Kostenverteilung vornehmen.165 Absatz 3 regelt die Verteilung der Prozesskosten bei mehreren Haupt- oder Nebenparteien. Nach geltendem Recht haben mehrere als Parteien an einem Prozess beteiligte Personen die Prozesskosten anteilsmässig nach Ermessen des Gerichts zu tragen, wobei dieses in allen Fällen auf solidarische Haftung erkennen kann (Art. 106 Abs. 3 in fine). Diese Regelung führt in der Praxis dazu, dass insbesondere auch bei einfacher Streitgenossenschaft auf solidarische Haftung für die Prozesskosten entschieden werden kann und damit jeder Streitgenosse zumindest das hypothetische Kostenrisiko für die gesamten Prozesskosten trägt, indem er vor andern Streitgenossen zuerst auf die gesamten Prozesskosten in Anspruch genommen werden kann. Praktisch führt diese Regelung letztlich dazu, dass in vielen Fällen auf die prozessual durchaus interessante und ökonomische Verfahrensform der (einfachen) Streitgenossenschaft gerade auch in Massenschadensfällen verzichtet wird.

Weil diese Kostenregelung in der geltenden Form nur beschränkt befriedigt, schlägt der Bundesrat folgende Anpassungen vor: ­

In Satz 1 ist präzisierend festzuhalten, dass das Gericht den Anteil mehrerer Haupt- oder Nebenparteien grundsätzlich nach Massgabe ihrer Beteiligung am Streit festlegt.

­

In Satz 2 ist neu festzuhalten, dass lediglich in den Fällen notwendiger Streitgenossenschaft (Art. 70 ZPO) auf solidarische Haftung entschieden werden kann. Diese Regel ist unverändert sinnvoll und sachgerecht in denjenigen Fällen, in denen über ein Rechtsverhältnis nur mit Wirkung für alle entschieden werden kann, und in denen zwischen den Parteien zumeist kraft materiellen Rechts ebenfalls Solidarität beziehungsweise eine solidarische Haftung besteht. Umgekehrt soll nach dem Vorschlag in den Fällen einfacher Streitgenossenschaft nicht mehr auf solidarische Haftung entschieden werden können. Wie erwähnt, wird damit gerade die Möglichkeit der einfachen Streitgenossenschaft insbesondere zur kollektiven Geltendmachung von Massenschäden gestärkt.

Trotz teilweise ablehnender Stellungnahmen in der Vernehmlassung ist die vorgeschlagene Anpassung nach Ansicht des Bundesrates zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung sinnvoll und führt auch zu keiner nennenswerten Einschränkung des gerichtlichen Ermessens bei der Kostentragung oder der Einbringlichkeit der Gerichtskosten zulasten der Kantone.

163 164 165

§ 93 dZPO und § 45 öZPO.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.18.

Vgl. z.B. Denis Tappy, Art. 106 N 31, in: CR CPC, 2. Aufl., Basel 2019.

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Art. 111 Abs. 1 und 2 Nach dem geltenden Wortlaut dieser Bestimmung werden die Gerichtskosten mit den geleisteten Vorschüssen der Parteien verrechnet und ein Fehlbetrag nachgefordert; im Übrigen erfolgt die Auseinandersetzung direkt zwischen den Parteien, indem die kostenpflichtige Partei der anderen Partei geleistete Vorschüsse zu ersetzen hat (Art. 111 Abs. 1 und 2 ZPO). Damit wird das Inkassorisiko für die Gerichtskosten vollständig den Parteien beziehungsweise der obsiegenden Partei überbunden, indem diese für die Rückforderung geleisteter Kostenvorschüsse ausschliesslich auf die Gegenpartei verwiesen wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine aus gutem Grund klagende und in der Folge vollumfänglich obsiegende Partei in einem ersten Schritt grundsätzlich auch die Gerichtskosten zu tragen hat, indem ihr dafür lediglich eine Ersatzforderung gegenüber dem Prozessgegner zusteht.

Insgesamt kann damit nicht gesagt werden, dass das geltende Regime befriedigend wäre, zumal diesem seit seiner Schaffung Kritik erwächst (vgl. Ziff. 2.1 und Ziff. 4.1.1). Daher ist auch der Bundesrat der Ansicht, dass das Kosten- und Insolvenzrisiko für die Gerichtskosten vom Staat nicht vollumfänglich auf die Parteien abgewälzt werden darf und die Regelung im Sinne des ursprünglichen Vernehmlassungsentwurfs zur ZPO anzupassen ist. Dieser Vorschlag wurde auch in der Vernehmlassung von einer Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden unterstützt, auch wenn eine Mehrheit der Kantone sich ablehnend äusserte.166 Absatz 1 ist daher entsprechend anzupassen und zu ergänzen: Die von den Parteien geleisteten Vorschüsse werden wie bisher im Umfang der ihnen auferlegten Gerichtskosten mit diesen verrechnet; die Vorschüsse werden im Weiteren zurückerstattet. Im Gegensatz zur Vernehmlassungsvorlage von der Rückerstattung vorzubehalten gilt es auch die Fälle von Artikel 98 Absatz 2 des Entwurfs, in denen die klagende Partei auch in Zukunft zur Leistung eines Vorschusses bis zur Höhe der gesamten mutmasslichen Gerichtskosten verpflichtet werden kann. Davon betroffen sind insbesondere die SchKG-Summarsachen. Dies führt zu einer Umformulierung und Ergänzung des bisherigen ersten Satzes und einem neuen zweiten Satz. Der neue dritte Satz enthält die inhaltlich unveränderte Regelung, wonach ein allfälliger Fehlbetrag bei der kostenpflichtigen
Partei nachgefordert wird.

Als Folge dieser Anpassung ist auch Absatz 2, der den Kostenausgleich zwischen den Parteien bezüglich Vorschüssen und Parteientschädigung regelt, entsprechend anzupassen: In Zukunft hat die kostenpflichtige Partei der anderen Partei die geleisteten Vorschüsse nur, aber immerhin soweit zu ersetzen, als deren Rückerstattung nicht direkt durch das Gericht erfolgt; wie bisher hat sie die zugesprochene Parteientschädigung (direkt) an die Gegenpartei zu bezahlen. Mit Bezug auf die Ausnahmen gemäss Artikel 98 Absatz 2 E-ZPO ändert sich mit dieser Anpassung nichts.

Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts fallen Verfahren der vorsorglichen Beweisführung zwecks Abklärung der Prozesschancen nach Artikel 158 Absatz 1 Buchstabe b ZPO nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der unentgeltlichen 166

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.1 und 5.21.

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Rechtspflege, weil sich die Aufgabe des Staates darauf beschränke, den Einzelnen dann (finanziell) zu unterstützen, wenn er ohne diese Unterstützung eines Rechts verlustig ginge oder sich gegen einen als unzulässig erachteten Eingriff nicht wehren könnte. Da es in einem vorsorglichen Beweisverfahren indessen gerade nicht um die Beurteilung materiell-rechtlicher Rechte und Pflichten gehe und dem Gesuchsteller damit kein Rechtsverlust drohe, falle die Gewährung unentgeltlicher Rechtspflege für ein vorsorgliches Beweisführungsverfahren ausser Betracht.167 Dieser Rechtsprechung ist Kritik erwachsen.168 Nach Ansicht des Bundesrates ist diese Kritik an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung berechtigt und die ZPO in diesem Punkt unbefriedigend; die unentgeltliche Rechtspflege soll grundsätzlich auch für Verfahren der vorsorglichen Beweisführung zur Verfügung stehen. Der Bundesrat schlägt daher vor, in einem neuen Satz 2 von Artikel 118 Absatz 2 ZPO zum Umfang der unentgeltlichen Rechtspflege nunmehr klar vorzusehen, dass die unentgeltliche Rechtspflege auch für die vorsorgliche Beweisführung gewährt werden kann. Dieser Vorschlag wurde auch in der Vernehmlassung von einer Mehrheit unterstützt.169 Zukünftig soll es somit möglich sein, auch für Verfahren der vorsorglichen Beweisführung nach Artikel 158 ZPO unentgeltliche Rechtspflege zu erhalten, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, und zwar insbesondere auch für Verfahren der vorsorglichen Beweisführung wegen Gefährdung der Beweismittel oder eines anderen schutzwürdigen Interesses gemäss Artikel 158 Absatz 1 Buchstabe b ZPO.

Dabei muss die Nichtaussichtslosigkeit (Art. 117 Bst. b ZPO) in Bezug auf das konkret in Frage stehende Gesuch um vorsorgliche Beweisführung gegeben sein; diesbezüglich wird auch die Praxis zur unentgeltlichen Rechtspflege bei vorsorglichen und superprovisorischen Massnahmen herangezogen werden können.

Art. 129 Abs. 2 Artikel 129 ZPO regelt die Verfahrenssprache: Nach dieser Bestimmung werden Verfahren in der Amtssprache des zuständigen Kantons geführt, wobei die Kantone gegebenenfalls den Gebrauch bei mehreren Amtssprachen regeln. Diese Regelung hat sich seit Inkrafttreten der ZPO bewährt. Gleichzeitig hat sich dieses Regime in einem Punkt als zu restriktiv erwiesen: Indem für die Verfahrenssprache in Zivilverfahren direkt
an die kantonalen Amtssprachen angeknüpft wird, wird den Kantonen faktisch untersagt, die Verwendung anderer Sprachen als die Amtssprachen zu erlauben.170 Auch weil sich die Kantone bei der Bestimmung der Amtssprache selbstverständlich an die Grundsätze gemäss Artikel 70 Absatz 2 BV zu halten 167

BGE 141 I 241 E. 3; 140 III 12 E. 3; BGer Urteil 4A_334/2015 vom 22. September 2015; offenbar noch anders BGer Urteil 4A_488/2012 vom 5. November 2012.

168 Daniel Wuffli, Vorsorgliche Beweisführung ­ kein Verfahren für Bedürftige, ZZZ 2014 S. 141 ff., 145; Benjamin Schumacher, Zweifelhafte Bundesgerichtspraxis zur vorsorglichen Beweiswürdigung, plädoyer 1/2016 S. 36 ff.; Alfred Bühler, Unentgeltliche Rechtspflege, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2015, Zürich 2015, S. 85 ff., 104 ff.; Tanja Domej, Art. 158 ZPO in der Praxis ­ Ende einer Hoffnung?, in: Fellmann/Weber (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2014, Zürich 2014, S. 69 ff., 94 f.

169 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.23.

170 Vgl. auch Entscheid 400 18 41 des Kantonsgerichts Basel-Landschaft (KGer BL) vom 9. Oktober 2018, E. 5.5

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haben, ist diese Regelung in zweierlei Hinsicht unbefriedigend: Zum einen schliesst dies die Möglichkeit der Verwendung anderer Landessprachen aus, soweit es sich nicht auch um die Amtssprache im betreffenden Kanton handelt, was insbesondere auch an den Sprach- und Landesgrenzen heute sehr restriktiv erscheinen mag. Zum andern schliesst es aber auch die Möglichkeit der Verwendung der englischen Sprache in kantonalen Verfahren aus, was heute auch zu restriktiv und insbesondere für bestimmte Wirtschaftsbereiche wirklichkeitsfremd erscheint. Dies schränkt die Kantone insbesondere dort ein, wo derzeit Bestrebungen und Initiativen zur besseren und aktiveren Positionierung der Schweiz als Justizplatz für internationale Zivil- und Handelssachen laufen, welchen der Bundesrat positiv gegenübersteht (vgl.

Ziff. 4.1.6): Weil solche internationalen Verfahren überwiegend in Englisch, allenfalls auch in Französisch geführt werden, ist es für den Erfolg solcher Initiativen essentiell, dass Zivilverfahren auch in einer anderen Sprache als einer kantonalen Amtssprache geführt werden können, und zwar in gewissem Masse unter Einschluss allfälliger Rechtsmittelverfahren vor dem Bundesgericht (vgl. Ziff. 5.2.1), wie die vergleichbaren Initiativen im Ausland deutlich machen.171 Entsprechend wurde in der Vernehmlassung eine Ergänzung von Artikel 129 ZPO gewünscht.172 Der Bundesrat schlägt daher die Ergänzung von Artikel 129 ZPO um einen neuen Absatz 2 vor: Nach dieser Bestimmung erhalten die Kantone von Bundesrechts wegen ausdrücklich die Kompetenz, in ihrem Recht den Gebrauch einer anderen Landessprache des Bundes oder der englischen Sprache als Verfahrenssprache vorzusehen, wenn sämtliche Parteien einen entsprechenden Antrag stellen. Ob die Kantone generell oder im Rahmen erwähnter Bestrebungen für besondere Verfahren für grosse internationale Streitfälle von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch machen, ist damit den einzelnen Kantonen überlassen, in deren Organisations- und Sprachenautonomie nicht eingegriffen wird. Gestützt auf diese Kompetenz sollen die Kantone in ihren jeweiligen Gesetzen zur Gerichts- und ergänzenden Verfahrensorganisation neben den Amtssprachen weitere Verfahrenssprachen zulassen können, wobei diese von Bundesrechts wegen immer nur auf Antrag sämtlicher an einem Verfahren beteiligten Parteien zur
Anwendung kommen können. Nach Ansicht des Bundesrates ist es sinnvoll, diesen Entscheid seitens Bund dem kantonalen Gesetzgeber zu übertragen und nicht direkt den jeweiligen Gerichten und Parteien zu überlassen, wie dies bei der Schaffung der ZPO diskutiert, vom Parlament aber abgelehnt wurde. Demgegenüber lehnt es der Bundesrat jedoch ab, im Bundesrecht die Zulassung der Verwendung sämtlicher Amtssprachen des Bundes für Rechtsschriften in Zivilund Strafverfahren vor kantonalen Behörden vorzusehen.173 Zum Schutz der Parteien darf aber die Verwendung einer anderen Sprache als einer kantonalen Amtssprache stets nur auf Antrag sämtlicher Parteien erfolgen. Gerade in internationalen Zivil- und Handelssachen, welche zukünftig nach Massgabe einer besonderen Vereinbarung der Parteien vor ein internationales Handelsgericht gebracht werden, werden die Parteien damit ohne weiteres einverstanden sein beziehungsweise die 171

Vgl. die entsprechenden Neuerungen in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, wo Englisch als Verfahrenssprache solcher Verfahren im Zentrum stand (siehe Ziff. 3 und 4.1.6 vorne m.w.H.).

172 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.1.

173 Vgl. Motion 18.4358 Candinas «Sprachenregelung für Eingaben in kantonalen Verfahren».

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Verwendung der englischen Sprache als Verfahrenssprache bereits in ihrer Gerichtsstandsvereinbarung im Voraus verbindlich vereinbart haben, was grundsätzlich als entsprechender Antrag zu betrachten ist. Darüber hinaus ist es den Kantonen respektive Gerichten ohne weiteres möglich, auf Kosten der Parteien eine Übersetzung von Entscheiden vorzusehen beziehungsweise zu erstellen, wie das teilweise im Ausland ausdrücklich vorgesehen ist.174 Unverändert stets in einer Amtssprache zu führen sind die Verfahren vor dem Bundesgericht, so dass insbesondere auch bundesgerichtliche Entscheide stets in einer Amtssprache erfolgen (vgl. auch Ziff. 5.2.1).

Art. 143 Abs. 1bis Die Bestimmung von Artikel 143 ZPO regelt die Einhaltung von Fristen. Im Rahmen der Arbeiten zur Prüfung der Praxistauglichkeit der ZPO hat sich gezeigt, dass in der ZPO Regelungen zur Frage der Behandlung von Eingaben und zur Einhaltung von Fristen fehlen, wenn Eingaben bei einem unzuständigen Gericht eingehen.

Damit unterscheidet sich die ZPO namentlich von anderen Verfahrensgesetzen des Bundes, die entsprechende Regelungen kennen, so namentlich das BGG (Art. 48 Abs. 3), die Strafprozessordnung175 (StPO, Art. 91 Abs. 4), das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts176 (Art. 39 Abs. 2) oder das SchKG (Art. 32 Abs. 2). Zur weiteren Verbesserung der ZPO schlug der Bundesrat daher in der Vernehmlassungsvorlage einerseits die Schaffung einer neuen Bestimmung zur Prozessüberweisung bei Unzuständigkeit (Art. 60a VE-ZPO) und andererseits eine neue Regelung zur Einhaltung und Wahrung von Fristen durch Eingaben an offensichtlich unzuständige Gerichte vor (Art. 143 Abs. 1bis VE-ZPO). Angesichts der verbreiteten Kritik an der Regelung von Artikel 60a VE-ZPO in der Vernehmlassung177 sieht der Bundesrat im Entwurf nun aber von dieser Änderung ab (vgl. Ziff. 4.3).

Hingegen behält er die Änderung von Artikel 143 ZPO bei. Mit einem neuen Absatz 1bis soll die Einhaltung von Fristen durch Eingaben, die irrtümlich an ein offensichtlich unzuständiges schweizerisches Gericht erfolgen, geregelt werden; solche gelten neu kraft gesetzlicher Regelung als rechtzeitig erfolgt, wenn die Einreichung innert der Frist erfolgt. In diesen Fällen trifft das unzuständige Gericht unter bestimmten Voraussetzungen neu eine Pflicht zur Weiterleitung
der Eingabe von Amtes wegen. Zukünftig soll dies auch im Anwendungsbereich der ZPO nicht nur für den Fall der rechtzeitigen versehentlichen Einreichung der Berufung oder der Beschwerde beim iudex a quo (= entscheidendes vorinstanzliches Gericht) statt dem iudex ad quem (= Rechtsmittelgericht) gelten178, sondern allgemein bei versehentlichen Eingaben an offensichtlich unzuständige Gerichte in der Schweiz. Als allgemeine Verfahrensbestimmung gilt dies auch für die Schlichtungsbehörden. Im 174

175 176 177

178

Vgl. z.B. für die Chambre internationale du tribunal de commerce de Paris und die Cour d'appel de Paris oder die Kammer für internationale Handelssachen des Landgerichts Frankfurt (vgl. dazu Ziff. 3).

SR 312 SR 830.1 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.6. Vgl. auch Mirco Ceregato, Der Vorentwurf zur Revision der Schweizerischen Zivilprozessordnung ­ Übersicht und Würdigung, Vorentwurf ZPO-Revision vom 2. März 2018, Jusletter 10. September 2018, Rz. 141.

BGE 140 III 636 E. 2­4

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Unterschied zur Vernehmlassungsvorlage gilt diese Weiterleitungspflicht nur bezüglich anderer Gerichte in der Schweiz, nicht aber über die Landesgrenzen hinweg, und auch nur dann, wenn ein anderes Gericht in der Schweiz offensichtlich zuständig ist. Zudem hat die Weiterleitung zwar wie stets beförderlich zu erfolgen, jedoch nicht «unverzüglich».

Art. 149 Nach dem geltenden Wortlaut dieser Bestimmung entscheidet das Gericht über ein Gesuch auf Wiederherstellung einer Frist oder eines Termins endgültig. Demnach sind Rechtsmittel insbesondere gegen den Ablehnungsentscheid eines Wiederherstellungsgesuchs grundsätzlich ausgeschlossen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist dieser Wortlaut jedoch zu relativieren: Der Ausschluss jeglicher Rechtsmittel gegen den Wiederherstellungsentscheid kann der säumigen Partei nicht entgegengehalten werden, wenn die Verweigerung der Wiederherstellung den definitiven Verlust einer Klage oder eines Angriffsmittels zur Folge hat.179 Diese Präzisierung ist auch im Gesetz zum Ausdruck zu bringen, zumal es sich dabei um eine Frage des Rechtsmittelrechts mit unmittelbarer Auswirkung auf die prozessualen Rechte der einzelnen Prozesspartei handelt, was eine entsprechende gesetzliche Anpassung rechtfertigt. Damit wird die ZPO weiter verbessert, was auch in der Vernehmlassung begrüsst wurde.180 Nach dem Vorschlag des Bundesrates ist daher die geltende Bestimmung im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dahingehend zu ergänzen, dass der Entscheid über ein Wiederherstellungsgesuch endgültig ist, es sei denn, die Verweigerung der Wiederherstellung hat den definitiven Verlust einer Klage oder eines Angriffsmittels und damit einen definitiven Rechtsverlust zur Folge. In diesen Fällen kann der Entscheid mit Berufung, soweit eine solche möglich ist, oder mit Beschwerde angefochten werden. 181 Art. 160a

Ausnahme für unternehmensinterne Rechtsdienste

Nach geltendem Recht kommen die besonderen strafrechtlichen Geheimnispflichten (vgl. Art. 321 StGB) und daran anknüpfend die besonderen Mitwirkungsverweigerungsrechte lediglich Anwältinnen und Anwälten zu (Art. 163 Abs. 1 Bst. b und Art. 166 Abs. 1 Bst. b ZPO sowie Art. 160 Abs. 1 Bst. b ZPO).182 Vor diesem Hintergrund wurde die Parlamentarische Initiative 15.409 Markwalder «Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen» eingereicht, der Folge gegeben wurde. Sie verlangt die Schaffung eines neuen Artikels 160a ZPO zur Schaffung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts für Unternehmensjuristinnen und 179

BGE 139 III 478 E. 1 und 6 sowie BGer Urteil 4A_260/2016 vom 5. August 2016, E. 1.1 und Urteil 5A_964/2014 vom 2. April 2015, E. 2.3.

180 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.27.

181 Vgl. Barbara Merz, Art. 149 N 8, in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016; Adrian Staehelin, Art. 149 N 4, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016.

182 Vgl. 07.3281 Mo. RK-N «Pflichten und Rechte von rechtsberatend oder forensisch tätigen Angestellten. Gleichstellung mit freiberuflichen Anwältinnen und Anwälten»; 15.409 Pa. Iv. Markwalder «Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen»; 16.3263 Po. RK-S «Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen».

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-juristen im Zivilprozess. Dieser vom Bundesrat im Rahmen der Vernehmlassung zur Diskussion gestellte Vorschlag wurde von einer Mehrheit der Teilnehmer und insbesondere von Seiten der Wirtschaft unterstützt, auch wenn sich eine Mehrheit der Kantone dagegen ausgesprochen hat.183 Bei diesem Ergebnis übernimmt der Bundesrat den Vorschlag in seinen Entwurf, um damit auch derzeitige prozessuale Nachteile von Schweizer Unternehmen im Ausland zu beseitigen,184 auch wenn er ein gewisses Verständnis für die Zweifel an der Notwendigkeit einer solchen Regelung hat (vgl. Ziff. 4.1.4). Demgegenüber verzichtet der Bundesrat auf die vereinzelt gewünschte Ausdehnung der Ausnahmeregelung auf Schadensdienste von Rechtsschutzversicherungen, aber auch auf eine entsprechende Anpassung in weiteren Erlassen.185 Im neuen Artikel 160a E-ZPO soll eine besondere Ausnahme von der generellen Mitwirkungspflicht gemäss Artikel 160 ZPO für unternehmensinterne Rechtsdienste wie folgt geschaffen werden: ­

Nach Absatz 1 Einleitungssatz gilt die Ausnahme von der generellen Mitwirkungspflicht sowohl für die Parteien eines Zivilverfahrens als auch für Dritte. Handelt es sich bei der Partei um eine juristische Person, so gilt die Ausnahme für ihre (faktischen) Organe, die im Beweisverfahren wie eine Partei behandelt werden (vgl. Art. 159 ZPO), weil für Organträger dieselben Mitwirkungsgebote und Verweigerungsrechte gelten wie für die Prozesspartei selbst.186 Die Ausnahme gilt für Dritte, soweit diese einen unternehmensinternen Rechtsdienst haben oder es sich bei ihnen um Personen eines solchen handelt.

­

Die Ausnahme ist auf die Tätigkeit des unternehmensinternen Rechtsdienstes beschränkt; nur insoweit besteht für die von der Ausnahme betroffenen Personen keine Mitwirkungspflicht (Abs. 1 Einleitungssatz). Gleichzeitig muss es sich nach Buchstabe a bei der betreffenden Tätigkeit um eine Tätigkeit handeln, die bei einer Anwältin oder einem Anwalt als berufsspezifisch gelten würde. Damit wird an die gängige Voraussetzung des anwaltlichen Berufsgeheimnisschutzes angeknüpft; diesen kann eine Anwältin oder ein Anwalt lediglich für ihre berufsspezifische Tätigkeit beanspruchen. Davon sind zum Beispiel private, politische oder soziale Tätigkeiten einer Anwältin oder eines Anwalts abzugrenzen, aber auch überwiegend kaufmännische Tätigkeiten wie die Vermögensverwaltung oder die Anlage von Geldern, soweit diese nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der anwaltlichen Tätigkeit steht.187

183 184

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.4 und 5.28.

Vgl. dazu ausführlich Gutachten Nr. 16-156 des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung vom 11. September 2017.

185 Vgl. Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.28 sowie Roman Huber, Interne Untersuchungen und Anwaltsgeheimnis Entwicklungen und Eckpunkte einer «Best Practice» für Unternehmen, GesKR 2019, S. 65 ff., 69.

186 Vgl. Botschaft ZPO, BBl 2006 7315 f.; Franz Hasenböhler, Art. 159 N 22, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016.

187 Vgl. BGE 120 Ib 112 E. 4; 112 Ib 606.

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­

Sodann ist weiter vorausgesetzt, dass der unternehmensinterne Rechtsdienst, für dessen berufsspezifische Tätigkeit eine Ausnahme von der Mitwirkungspflicht beansprucht werden kann, unter der Leitung einer Person steht, die über ein kantonales Anwaltspatent verfügt oder in ihrem Herkunftsstaat die fachlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Anwaltsberufs erfüllt (Bst. b). Zumindest die Leitung des unternehmensinternen Rechtsdienstes hat somit über die spezifischen Qualifikationen einer Anwältin oder eines Anwalts zu verfügen; damit soll auch eine gewisse fachliche Qualität dieses Rechtsdienstes gewährleistet und zugleich sichergestellt werden, dass insbesondere die Berufsspezifität des Rechtsdienstes bekannt und anerkannt ist.

Auch wenn diese Voraussetzung nach einer Minderheit in der Vernehmlassung sachlich nicht gerechtfertigt erscheinen mag, so soll als weiteres indirektes Qualitätskriterium dennoch daran festgehalten werden.

­

Diese Ausnahme von der allgemeinen Mitwirkungspflicht erstreckt sich nach Absatz 2 wie bei der anwaltlichen Korrespondenz gemäss Artikel 160 Absatz 1 Buchstabe b ZPO auch auf die Unterlagen aus dem Verkehr mit dem betroffenen unternehmensinternen Rechtsdienst. Dabei spielt es ­ wie bei der Anwaltskorrespondenz ­ auch keine Rolle, ob sich die Unterlagen im Herrschaftsbereich des unternehmensinternen Rechtsdienstes befinden oder nicht.

Art. 170a

Einvernahme mittels Videokonferenz

Im Unterschied etwa zur StPO (vgl. Art. 144 StPO) sieht die Zivilprozessordnung bisher die Möglichkeit der Einvernahme von Zeugen mittels Videokonferenz nicht vor. Angesichts der stetig zunehmenden technischen Möglichkeiten und ihrer Verbreitung sowie der parallel zunehmenden Internationalität fast sämtlicher Lebensbereiche und damit auch der an einem Zivilverfahren beteiligten Personen sieht der Bundesrat auch für die Zivilprozessordnung Bedarf an einer entsprechenden Regelung. Ein spezifisches Bedürfnis dafür besteht wiederum im Zusammenhang mit den laufenden Bestrebungen zur Positionierung der Schweiz als internationaler Justizplatz (vgl. Ziff. 4.1.4). Der Bundesrat schlägt daher aufgrund von Anregungen in der Vernehmlassung die Schaffung eines neuen Artikels 170a ZPO vor, der den Gerichten neu die Möglichkeit gibt, Zeugeneinvernahmen mittels Videokonferenz oder ähnlichen technischen Mitteln durchzuführen, wobei die Einvernahme in Ton und Bild festzuhalten ist. Ob und unter welchen Bedingungen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, soll dem Ermessen der Gerichte überlassen werden. Diese neue Möglichkeit soll auch für die Parteibefragung und Beweisaussage anwendbar sein (vgl. dazu die Anpassungen von Art. 187 und Art. 193). Bei grenzüberschreitenden Videokonferenzen mit Personen im Ausland sind die Regeln der internationalen Rechtshilfe in Zivilsachen zu beachten.188

188

Vgl. dazu Wegleitung des Bundesamts für Justiz für die internationale Rechtshilfe in Zivilsachen, 3. Aufl., Bern 2003, abrufbar unter www.rhf.admin.ch > Zivilrecht > Wegleitungen und Merkblätter.

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Art. 176 Abs. 3 Die im Rahmen einer ersten Anpassung der ZPO ergänzte Regelung von Artikel 176 Absatz 3 ZPO zur Protokollierung von Aussagen, die mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet werden, hat sich in der Praxis nur teilweise bewährt; analog zur laufenden Revision der StPO soll sie daher zugunsten einer allgemeinen Regelung in einem separaten Artikel (vgl. Art. 176a E-ZPO) wieder gestrichen werden.

Art. 176a

Protokollierung bei Aufzeichnung

Im Gegenzug zur Streichung von Artikel 176 Absatz 3 ZPO soll die Regelung der Protokollierung von Aussagen, die mit technischen Hilfsmitteln aufgezeichnet werden, zukünftig in einem separaten Artikel 176a E-ZPO ausführlich und klar geregelt werden, so dass daraus die gewünschten und auch gerechtfertigten Erleichterungen und Vereinfachungen für die beteiligten Personen und Gerichte resultieren.

Materiell entspricht die vorgeschlagene Bestimmungen den Vorschlägen für die Strafprozessordnung (vgl. Art. 78a E-StPO).189 So wird zukünftig geregelt, dass bei Aufzeichnung das Protokoll auch nachträglich gestützt auf die Aufzeichnung erstellt werden kann (Bst. a). Im Gegensatz zur StPO ist in der ZPO weiterhin nicht gesetzlich vorgeschrieben, dass Aussagen laufend protokolliert werden müssen. Die Buchstaben b und c entsprechen dem heutigen Artikel 176 Absatz 3 ZPO, welcher aufgehoben wird: Wie bisher kann das Gericht bei Aufzeichnung darauf verzichten, der Zeugin oder dem Zeugen das Protokoll vorzulesen oder zum Lesen vorzulegen und von der Zeugin oder dem Zeugen unterzeichnen zu lassen, und es nimmt die Aufzeichnungen zu den Akten. Im Bereich dieser besonderen Protokollierungsbestimmungen soll so auch der bestehende Gleichlauf mit der StPO erhalten bleiben.

Art. 177 Artikel 168 Absatz 1 ZPO enthält einen abschliessenden Katalog der im Zivilprozess zulässigen Beweismittel (sog. numerus clausus der Beweismittel)190; zulässige Beweismittel sind neben Zeugnis, Augenschein, Gutachten, schriftlicher Auskunft sowie Parteibefragung und Beweisaussage auch Urkunden. Artikel 177 ZPO definiert sodann, welche Dokumente als Urkunde im Sinne der ZPO gelten; nach dem Wortlaut des Gesetzes sind dies Schriftstücke, Zeichnungen, Pläne, Fotos, Filme, Tonaufzeichnungen, elektronische Dateien und dergleichen, die geeignet sind, rechtserhebliche Tatsachen zu beweisen.

Auf der Grundlage dieser Gesetzesbestimmung hat das Bundesgericht entschieden, dass Partei- oder Privatgutachten ­ also Gutachten von sachverständigen Personen, die nicht gemäss Artikel 183 ff. ZPO vom Gericht angeordnet und eingeholt, sondern von einer Partei selbst in Auftrag gegeben werden191 ­ nicht als Urkunden ge189

Botschaft und Entwurf zur Änderung der Strafprozessordnung vom 28. August 2019 (Umsetzung der Motion 14.3383, RK-S, Anpassung der Strafprozessordnung), BBl 2019 6697 ff.

190 Vgl. Botschaft ZPO, BBl 2006 7320 sowie BGE 141 III 433 E. 2.5.1 unter Hinweis auf BGer Urteil 5A_957/2012 vom 28. Mai 2013 E. 2.

191 Vgl. zum Begriff David Rüetschi, Das Parteigutachten unter der neuen ZPO, in: Bundi/Schmidt (Hrsg.), FS Meissner, Bern 2012, S. 3 ff., 11 f.

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mäss Artikel 177 ZPO gelten und damit kein Beweismittel im Sinne von Artikel 168 Absatz 1 ZPO darstellen.192 Dies ergebe sich vorab daraus, dass bei der Schaffung der ZPO Partei- oder Privatgutachten nicht nur als Gutachten, sondern als Beweismittel insgesamt ausgeschlossen worden seien. Dieser Entscheid steht im Widerspruch zu einem grossen Teil der Lehre193 und führt daher auch zu Kritik an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung.194 Nach Ansicht des Bundesrates ist diese Rechtslage nicht befriedigend und sollte daher angepasst werden. Der Bundesrat schlägt vor, die Urkundenqualität von privaten Gutachten der Parteien ausdrücklich im Gesetz festzuhalten. Damit gelten solche Partei- oder Privatgutachten unter den allgemeinen Voraussetzungen als Urkunden und stellen daher als solche auch ein zulässiges Beweismittel im Sinne von Artikel 168 Absatz 1 Buchstabe b ZPO dar. Als solche unterliegen selbstverständlich auch Partei- oder Privatgutachten der freien Beweiswürdigung des Gerichts gemäss Artikel 157 ZPO, und ihr Beweiswert ergibt sich daher im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände (z.B. Beziehungen der Parteien zum Gutachter sowie Auftragserteilung, Prozess und Ablauf der Einholung des Gutachtens, Fachkunde des Parteigutachters etc.). Damit wird das Beweisrecht der ZPO in einem wesentlichen Punkt verbessert. Diese Anpassung ist auch angesichts der sozialversicherungsrechtlichen Rechtsprechung zu Partei- oder Privatgutachten kohärent.195 In der Vernehmlassung unterstützte eine Mehrheit der Teilnehmenden diesen Vorschlag.196 Art. 187 Abs. 1 dritter Satz und Abs. 2 Die Bestimmung regelt die Erstattung eines gerichtlich angeordneten Gutachtens.

Nach geltendem Recht kann diese grundsätzlich mündlich oder schriftlich erfolgen.

In Übereinstimmung mit der neu vorgeschlagenen Möglichkeit der Einvernahme mittels Videokonferenz (Art. 170a E-ZPO) soll diese Form zukünftig auch für die Erstattung eines Gutachtens gelten. Artikel 187 Absatz 1 ZPO ist daher um einen neuen Satz 3 zu ergänzen, wonach Artikel 170a E-ZPO sinngemäss Anwendung findet. Zudem ist in Absatz 2 für das Protokoll bei mündlicher Erstattung des Gutachtens neben Artikel 176 ZPO auf den neuen Artikel 176a E-ZPO zu verweisen.

192 193

BGE 141 III 433 E. 2 Vgl. z.B. Thomas Weibel, Art. 177 N 4, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Hans Schmid, Art. 177 N 3, in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014; Andreas Binder/Roman S. Gutzwiller, Das Privatgutachten ­ eine Urkunde gemäss Art. 177 ZPO, ZZZ 2013, S. 171 ff.; wohl auch François Vouilloz, Le témoignage écrit, RVJ 2016 S. 343 ff.; a.A. Heinrich Andreas Müller, Art. 177 N 11, in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016; bedauernd auch David Rüetschi, Das Parteigutachten unter der neuen ZPO, in: Bundi/Schmidt (Hrsg.), FS Meissner, Bern 2012, S. 3 ff, 14; differenzierend Philippe Schweizer, Art. 177 N 4, in: CR CPC, 2. Aufl., Basel 2019.

194 So Francesco Trezzini/François Bohnet, L'expertise privée selon l'ATF 141 III 433 ­ Une preuve imparfaite issue d'un concept imparfait, ZSR 2017 I S. 367 ff.; Hans Schmid, Privatgutachten im Zivilprozess, SJZ 2016, S. 527 ff.

195 Vgl. dazu z.B. BGE 125 V 351.

196 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.29. Vgl. auch Mirco Ceregato, Der Vorentwurf zur Revision der Schweizerischen Zivilprozessordnung ­ Übersicht und Würdigung, Vorentwurf ZPO-Revision vom 2. März 2018, Jusletter 10. September 2018, Rz. 114.

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Art. 193

Protokoll und Durchführung mittels Videokonferenz

Die neu vorgesehene Möglichkeit der Einvernahme mittels Videokonferenz (Art. 170a E-ZPO) und der Protokollierung bei Aufzeichnung (Art. 176a E-ZPO) soll neben der Zeugeneinvernahme und der Erstattung eines Gutachtens auch für die Fälle einer Parteibefragung und einer Beweisaussage einer Partei zur Anwendung kommen: Auch in diesen Fällen kann die Nutzung solcher Technologien angezeigt sein. Entsprechend gelten zukünftig über den geltenden Wortlaut von Artikel 193 ZPO hinaus die neuen Artikel 170a und 176a E-ZPO sinngemäss. Auch die Sachüberschrift ist entsprechend anzupassen.

Art. 198 Abs. 1 Bst. bbis, f, h und i Die Bestimmung regelt die Ausnahmen vom grundsätzlich obligatorischen Schlichtungsverfahren, das allen Entscheidverfahren vorausgehen soll. Dementsprechend enthält Artikel 198 ZPO einen abschliessenden Katalog von Ausnahmen vom Obligatorium der Schlichtung. Dieses System hat sich bewährt (vgl. Ziff. 1.1.5 und Ziff. 4.1.3). Zur weiteren Verbesserung dieses Systems schlägt der Bundesrat vier Anpassungen am geltenden Artikel 198 ZPO vor: ­

197 198 199

Mit der Revision des Kindesunterhaltsrechts197 wurde in Absatz 1 ein neuer Buchstabe bbis eingefügt, wonach ein Schlichtungsverfahren bei Klagen über den Unterhalt des Kindes und weitere Kinderbelange entfällt, wenn vor der Klage ein Elternteil die Kindesschutzbehörde angerufen hat. Mit der im Rahmen der parlamentarischen Beratungen eingefügten Bestimmung sollten Doppelspurigkeiten vermieden werden, da ein Schlichtungsverfahren bei vorgängiger Befassung der Kindesschutzbehörde mit Möglichkeit zur Schlichtung überflüssig erscheint.198 Seit Inkrafttreten hat sich gezeigt, dass ein Schlichtungsverfahren vor der Schlichtungsbehörden über diese Fälle hinaus in weiteren Konstellationen entbehrlich ist: Zum einen bedürfen vor der Schlichtungsbehörde gefundene Einigungen in Bezug auf den Unterhalt des Kindes stets der Genehmigung des Gerichts oder der Kindesschutzbehörde199, was in diesen Fällen zu Doppelspurigkeiten führt. Zum andern wird jedes Gericht und jede Kindesschutzbehörde in einem ersten Schritt beziehungsweise im Rahmen einer jederzeit möglichen Instruktionsverhandlung nach den Artikeln 226 und 246 Absatz 2 ZPO versuchen, eine einvernehmliche Einigung zwischen den Parteien zu finden, so dass das Ziel des Schlichtungsverfahrens faktisch ohnehin erreicht werden kann. Daher haben in der Vernehmlassung mehrere Teilnehmende vorgeschlagen, Streitigkeiten über den Unterhalt des Kindes und weitere Kinderbelange generell vom ObAS 2015 4299 ff.

AB SR 2014 1126 (Votum SR Engler); AB NR 2015 86 (Votum BRin Sommaruga).

Nach geltendem Recht ist umstritten, ob die Genehmigungskompetenz im Sinne von Art. 287 Abs. 3 ZGB den Gerichten (so z.B. Eva Bachofner/Francesca Pesenti, Aktuelle Fragen zum Unterhaltsprozess von Volljährigen, FamPra.ch 2016, S. 619 ff., Fn. 58; Obergericht des Kantons Zürich (OGer ZH), Leitfaden neues Unterhaltsrecht, Version Juli 2018, S. 22, Fn. 3) oder der Kindesschutzbehörde (so z.B. Samuel Zogg, Selbständige Unterhaltsklagen mit Annexentscheid über die weiteren Kinderbelange ­ verfahrensrechtliche Fragen, FamPra.ch 2019, S. 1 ff., 6; Massimiliano Cometta, Le azioni indipendenti e la procedura di conciliazione, «Justice ­ Justiz ­ Giustizia» 2019/3, 67) zukommt.

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ligatorium des Schlichtungsverfahrens auszunehmen.200 Nach Ansicht des Bundesrates ist dies sinnvoll und konsequent, weil es zu einer einfacheren und kohärenteren Verfahrensregelung im Interesse und zum Wohl des Kindes führt und weiterhin die Möglichkeit eines Schlichtungsversuchs durch das Gericht oder die Kindesschutzbehörde gewährleistet ist, die eine allfällige Einigung zudem auch wirksam genehmigen können.

­

Nach Artikel 7 ZPO können die Kantone ein Gericht bezeichnen, welches als einzige kantonale Instanz für Streitigkeiten aus Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung nach dem Bundesgesetz vom 18. März 1994201 über die Krankenversicherung zuständig ist. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung handelt es sich um ein offensichtliches Versehen des Gesetzgebers, dass er Artikel 7 ZPO nicht gleich wie die Artikel 5 und 6 ZPO in der Bestimmung von Artikel 198 Buchstabe f ZPO erwähnte.202 Dieses Versehen ist nunmehr auch gesetzgeberisch zu korrigieren und Buchstabe f dahingehend anzupassen, dass neu die Fälle von Artikel 7 ZPO ausdrücklich auf der Stufe Gesetz vom Obligatorium des Schlichtungsverfahrens ausgenommen werden. Angesichts der erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist damit keine Rechtsänderung verbunden. Dieser Vorschlag wurde denn auch in Vernehmlassung einhellig unterstützt. 203 Die bisher in Buchstabe f ausgenommenen Streitigkeiten nach den Artikeln 5 und 6 ZPO sollen neu separat in einem neuen Absatz 3 von Artikel 199 ZPO geregelt werden, weil in diesen Fällen das Schlichtungsverfahren nicht mehr ausnahmslos entfallen soll (vgl. die Erläuterungen zu Art. 199 E-ZPO).

­

Buchstabe h regelt als weitere Ausnahme vom Schlichtungsobligatorium die Fälle, in denen das Gericht für eine Klage eine Frist ansetzt. Das ist typischerweise bei der Prosekution vorsorglicher Massnahmen der Fall, umgekehrt aber nicht bei den materiell-rechtlichen Klagefristen des Bundesprivatrechts. Die Ausnahme gilt aber auch für eine Klage nach Artikel 315 Absatz 1 SchKG sowie für die besonders bedeutsame Klage auf definitive Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts nach dessen vorläufiger Eintragung nach Artikel 837 Absatz 1 Ziffer 3 und Artikel 839 ff. Zivilgesetzbuch204 (ZGB). Dies führt in der Praxis zum Problem, dass diese Klage nicht mit der sachlich zusammenhängenden Leistungsklage aus Werkvertrag betreffend die mit dem Pfand zu sichernde Forderung erhoben werden kann.205 Aufgrund entsprechender Forderungen und Vorschlägen in der Vernehmlassung206 schlägt der Bundesrat daher eine Ergänzung von Buchstabe h vor: Demnach entfällt zukünftig ein Schlichtungsverfahren auch für andere Kla-

200 201 202 203 204 205

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.30 und 6.32.

SR 832.10 BGE 138 III 558 E. 4 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.30.

SR 210 Vgl. Entscheid OGer ZH vom 17. September 2014, ZR 113/2014 Nr. 80, 271; a.A.

Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern (OGer BE) vom 25. Juni 2015, ZK 15 153.

206 Vgl. Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.30 und 6.31 f.

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gen, sofern sie zusammen mit einer Klage, zu deren Einleitung das Gericht eine Frist angesetzt hat, in einem sachlichen Zusammenhang stehen.

­

Nach geltendem Recht ist für Klagen im Zuständigkeitsbereich des Bundespatentgerichts vorgängig ein Schlichtungsverfahren durchzuführen. Nach einhelliger Ansicht207 handelt es sich dabei um ein gesetzgeberisches Versehen, welches darauf zurückzuführen ist, dass die Schaffung des Bundespatentgerichts bei Erlass der ZPO erst in Diskussion war und die ZPO in der Folge nicht wie anfänglich beabsichtigt208 angepasst wurde. Diese Anpassung ist heute nachzuholen: Der Katalog von Ausnahmen vom Grundsatz des obligatorischen Schlichtungsverfahrens ist um einen neuen Buchstaben i für Klagen, für die das Bundespatentgericht zuständig ist, zu ergänzen. Damit wird die Rechtslage geklärt und materiell die geltende Praxis bestätigt.

Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung einhellig unterstützt. 209

Art. 199 Abs. 3 Nach der bisherigen Regelung von Artikel 198 Buchstabe f ZPO findet kein Schlichtungsverfahren statt, wenn nach den Artikeln 5 und 6 eine einzige kantonale Instanz für die Streitigkeit zuständig ist. Diese Regelung hat sich nur teilweise bewährt: Aufgrund dieser Regelung muss namentlich auch zur Unterbrechung der Verjährung direkt Klage beim einzigen kantonalen Gericht erhoben werden, wenn die anderen Möglichkeiten nach Artikel 135 Ziffer 2 OR nicht zur Verfügung stehen. Diese Situation kann insbesondere dann auftreten, wenn gegen einen Schuldner kein Betreibungsort in der Schweiz besteht und daher die einfache und kostengünstige Möglichkeit der Schuldbetreibung nicht zur Verfügung steht. Dies wurde bereits kurz nach Inkrafttreten der ZPO in der Motion 13.3845 Romano «Unterbrechung der Verjährung in Verfahren ohne Schlichtungsversuch nach der Zivilprozessordnung» bemängelt. Vermehrt ist bei dieser Ausgangslage offenbar in letzter Zeit dazu übergegangen worden, bei einzigen kantonalen Gerichten nicht einlässlich begründete Klagen einzureichen und diese unmittelbar danach wieder zurückzuziehen, um damit dennoch in den Genuss der verjährungsunterbrechenden Wirkung zu kommen.210 Gleichzeitig erscheint die direkte Einleitung der Klage gerade auch in gewissen Fällen von Artikel 5 ZPO, namentlich bei Verfahren zur Geltendmachung von urheberrechtlichen Ansprüchen gemäss Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a ZPO, oftmals wenig sinnvoll, insbesondere wenn es um Massenverfahren eines Urheberrechtsinhabers beziehungsweise einer Verwertungsgesellschaft gegen eine Vielzahl von Personen geht.

207

Vgl. David Rüetschi, Art. 27 N 19, in: Calame/Hess-Blumer/Stieger (Hrsg.), Kommentar Patentgerichtsgesetz, Basel 2013 sowie Mark Schweizer, Das neue Bundespatentgericht: besser, schneller, billiger?, Jusletter vom 12. März 2012, Fn. 36 und Florent Thouvenin, Bundespatentgericht: Verfahrensfragen am Übergang in eine neue Ära, sic! 2011, S. 479 ff., 488.

208 Vgl. Botschaft ZPO, BBl 2006 7260.

209 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.30.

210 Vgl. dazu Christof Bergamin, Verjährungsunterbrechung bei Nachbesserung ­ Zum Problem bei Zuständigkeit eines Handelsgerichts, BR 2017, S. 13; James T. Peter, Verjährungsunterbruch von Ansprüchen mit handelsgerichtlicher Zuständigkeit, Anwaltsrevue 2012, S. 364 ff.

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In der Vernehmlassung hatte der Bundesrat daher vorgeschlagen, dass bei Streitigkeiten, für die nach den Artikeln 5 und 6 eine einzige kantonale Instanz zuständig ist, die klagende Partei zukünftig auch die Klage direkt beim Gericht einreichen könnte. Dieser Vorschlag wurde mehrheitlich begrüsst; gleichzeitig wurden verschiedene Anpassungen angeregt.211 Auch mangels Möglichkeit zur Verjährungsunterbrechung mittels rein privater Schritte im geltenden Recht schlägt der Bundesrat im Lichte dieses Vernehmlassungsergebnisses in Artikel 199 ZPO folgende Regelung vor: In einem neuen Absatz 3 sollen neu die Fälle geregelt werden, in denen nach Wahl der klagenden Partei ein fakultatives Schlichtungsverfahren stattfindet.

Diesfalls gelangen die allgemeinen Regelungen gemäss Artikel 201 ff. ZPO zur Anwendung. Kommt es zu keiner Einigung, so erteilt die Schlichtungsbehörde gemäss Artikel 209 Absatz 1 ZPO die Klagebewilligung und die klagende Partei kann die Klage beim zuständigen Gericht einreichen. Denkbar ist auch, dass in einem solchen Schlichtungsverfahren ein Urteilsvorschlag (Art. 210 ZPO) oder ein Entscheid (Art. 212 ZPO) ergeht. Dieses neue Regime soll vorab für sämtliche Streitigkeiten gelten, für die nach Artikel 6 ZPO ein Handelsgericht zuständig ist.

Das gleiche soll grundsätzlich auch für die Streitigkeiten gemäss Artikel 5 ZPO gelten; für die Streitigkeiten nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a und c ZPO soll dies jedoch nur gelten, wenn der Streitwert mehr als 30 000 Franken beträgt. In Zukunft kann demnach auch bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit geistigem Eigentum einschliesslich der Streitigkeiten betreffend Nichtigkeit, Inhaberschaft, Lizenzierung, Übertragung und Verletzung solcher Rechte (Art. 5 Abs. 1 Bst. a) sowie bei Streitigkeiten über den Gebrauch einer Firma (Art. 5 Abs. 1 Bst. c) ein Schlichtungsverfahren durchgeführt werden. Dadurch wird Rechtssuchenden auch in diesen Fällen die Möglichkeit dieser raschen und kostengünstigen Streiterledigung geboten, wobei diese bei einem Streitwert von mehr als 30 000 Franken fakultativ ist. Ebenfalls soll die klagende Partei bei Streitigkeiten nach Artikel 8 ZPO ihre Klage wahlweise auch direkt beim Gericht einreichen können.

Art. 206 Abs. 4 Artikel 204 ZPO regelt das persönliche Erscheinen zur Schlichtungsverhandlung; angesichts der Bedeutung
der persönlichen Anwesenheit der Konfliktbeteiligten für die Schlichtungsverhandlung und ihr vordringliches Ziel der Schlichtung statuiert die ZPO eine grundsätzliche Teilnahmepflicht der Parteien (Art. 204 Abs. 1 ZPO).

Dementsprechend sieht die ZPO in Artikel 204 Absatz 3 ZPO lediglich in bestimmten abschliessenden Fällen eine Ausnahme von dieser Teilnahmepflicht vor. Erscheint eine Partei nicht zur Schlichtungsverhandlung, lässt sie sich in den Fällen von Artikel 204 Absatz 3 ZPO insbesondere auch nicht genügend vertreten und verstösst damit gegen diese grundsätzliche Teilnahmepflicht, so stellt sich die Frage nach den prozessualen Wirkungen dieses Verhaltens. Grundsätzlich hat dies die Säumnis der betreffenden Partei zur Folge; diese Säumnis wird in Artikel 206 ZPO für das Schlichtungsverfahren besonders geregelt, wobei zwischen Säumnis der klagenden Partei (Folge: Rückzug des Schlichtungsgesuchs und Abschreibung des Verfahrens, vgl. Art. 206 Abs. 1 ZPO) und Säumnis der beklagten Partei (Folge: 211

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.30.

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Behandlung, wie wenn keine Einigung zu Stande gekommen wäre [Art. 206 Abs. 2 ZPO] und damit Ausstellung der Klagebewilligung) zu unterscheiden ist.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann der Verstoss gegen die grundsätzliche Teilnahmepflicht unabhängig von den Säumnisfolgen jedoch auch eine Bestrafung mit einer Ordnungsbusse nach Artikel 128 ZPO zur Folge haben; dies gilt namentlich für die beklagte Partei, die ansonsten durch ihr Nichterscheinen den gesetzgeberischen Willen, dass ein Einigungsversuch stattfinden soll, sanktionslos vereiteln könnte. Vorausgesetzt dafür ist jedoch, dass das Nichterscheinen eine Störung des Geschäftsgangs (Art. 128 Abs. 1 ZPO) respektive eine bös- oder mutwillige Prozessführung (Art. 128 Abs. 3 ZPO) darstellt und diese disziplinarische Massnahme vor ihrer Anordnung soweit möglich und zweckmässig angedroht wurde.212 Diese bundesgerichtliche Rechtsprechung soll mit einem neuen Absatz 4 ins Gesetz überführt werden. Nach dieser neuen Bestimmung kann eine Partei, die nicht persönlich erscheint und die sich in den Fällen von Absatz 3 auch nicht vertreten lässt, mit einer Ordnungsbusse bis zu 1000 Franken bestraft werden. Diese Regelung richtet sich an die klagende und die beklagte Partei gleichermassen, wenngleich sie sich angesichts der erwähnten Säumnisfolgen primär an die beklagte Partei richtet.

Die neue Bestimmung übernimmt grundsätzlich die Regelung von Artikel 128 Absatz 1 ZPO, wobei neu und im Unterschied auch zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung keine besonderen qualifizierenden Umstände wie die Störung des Geschäftsgangs oder gar eine bös- oder mutwillige Prozessführung vorliegen müssen.

Wie nach geltendem Recht ist auch diese disziplinarische Bestrafung vor ihrer Anordnung anzudrohen (vgl. auch Art. 147 Abs. 3 ZPO), was ohne weiteres im Rahmen der Vorladung zur Schlichtungsverhandlung geschehen kann und sollte.

Dieser Vorschlag stiess in der Vernehmlassung auf mehrheitliche Zustimmung. 213 Art. 209 Abs. 4 zweiter Satz Nach geltendem Recht sind abweichend von der allgemeinen Frist zur Einreichung der Klage beim Gericht von drei Monaten (vgl. Art. 209 Abs. 3 ZPO) und der besonderen verkürzten Klagefrist von 30 Tagen bei Streitigkeiten aus Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen sowie aus landwirtschaftlicher Pacht (vgl.

Art. 209 Abs. 4 Satz
1 ZPO) noch «weitere besondere gesetzliche und gerichtliche Klagefristen» vorbehalten. Diese Regelung ist hinsichtlich der vorbehaltenen «gerichtlichen» Klagefristen anzupassen: Nach Artikel 198 Buchstabe h ZPO findet in Fällen, in denen das Gericht Frist zur Klage gesetzt hat, mithin eine gerichtliche Klagefrist läuft, gar kein Schlichtungsverfahren statt, so dass dieser Vorbehalt in Artikel 209 Absatz 4 zweiter Satz ZPO («gerichtliche Klagefristen») bedeutungslos ist214 und daher zum besseren Verständnis der Rechtslage gestrichen werden soll.

Lediglich bei besonderen Klagefristen von Gesetzes wegen (z.B. bei der Arrestpro-

212 213 214

BGE 141 III 265 E. 3­5 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.31.

BGE 140 III 561 E. 2.2.1; vgl. dazu Laurent Grobéty/Michel Heinzmann, Délais de déchéance et autorisation de procéder, BR 2015, S. 169 f.

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sequierungsklage nach Art. 279 SchKG) gehen diese der allgemeinen Klagefrist von drei Monaten gemäss Artikel 209 Absatz 3 ZPO vor.

Art. 210 Abs. 1 Einleitungssatz und Bst. c Die Schlichtungsbehörden können in bestimmten Fällen neben ihrer klassischen Funktion als Schlichtungsstelle sowie ihrer Entscheidmöglichkeit im Rahmen ihrer beschränkten richterlichen Funktion (vgl. Art. 212 ZPO) den Parteien auch einen sogenannten Urteilsvorschlag unterbreiten (Art. 210 ZPO; vgl. zur vorgeschlagenen terminologischen Anpassung «Entscheidvorschlag» statt «Urteilsvorschlag» die Erläuterungen zum Ersatz eines Ausdruckes). Dieser hat die Wirkungen eines rechtskräftigen Entscheids, wenn er nicht innert 20 Tagen seit der schriftlichen Eröffnung von einer Partei abgelehnt wird (Art. 211 Abs. 1 ZPO).

Gerade das mit der ZPO schweizweit eingeführte Instrument des Urteilsvorschlags hat durchaus Potenzial für die einfache und rasche Erledigung einer Streitsache: Einerseits können damit Verfahren beendet werden, in denen der Abschluss eines Vergleiches knapp gescheitert ist und die Vorschlagsbefugnis der Schlichtungsbehörde von den Parteien auch unter dem Aspekt der Gesichtswahrung als erleichternd empfunden wird. Weiter können damit Säumnisfälle effizient erledigt werden, namentlich wenn die beklagte Partei aus finanziellen Gründen der Verhandlung fernbleibt. Untersuchungen zeigen, dass bereits 2012 schweizweit 3 Prozent aller eingeleiteten Schlichtungsverfahren mit einem Urteilsvorschlag erledigt werden konnten; in Kantonen, die das Instrument des Urteilsvorschlags bereits länger kennen, liegen diese Zahlen teilweise signifikant höher (AG: 8.5% im Jahr 2011; SG: 6.2%).215 Nach Ansicht des Bundesrates lässt sich der Erfolg des Schlichtungsverfahrens noch weiter steigern, wenn die Kompetenzen der Schlichtungsbehörden gerade im Bereich des Urteilsvorschlags vergrössert werden. Daher schlägt der Bundesrat vor, Artikel 210 Absatz 1 Buchstabe c ZPO dahingehend anzupassen, dass die Schlichtungsbehörden neu für vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 10 000 Franken (statt wie bisher nur bis 5000 Franken) einen Urteilsvorschlag unterbreiten können. Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung grossmehrheitlich unterstützt, wenn vereinzelt auch sogar der Verzicht auf jegliche Streitwertgrenze für
Urteilsvorschläge oder umgekehrt die Beibehaltung des geltenden Rechts verlangt wurde.216 Damit geht der Bundesrat betragsmässig noch über den Vorschlag einer Standesinitiative des Kantons Berns hinaus, welche eine Erhöhung auf 8000 Franken anregte217; demgegenüber hält es der Bundesrat gerade nicht für zielführend, hier zugunsten der Kantone lediglich eine Möglichkeit zur Erhöhung der Kompetenzen der Schlichtungsbehörde vorzusehen, weil damit die Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts in Frage gestellt würde. Demgegenüber lehnt der Bundesrat Forderungen nach einer Erhöhung der Streitwertgrenzen für die Entscheidkompetenz der Schlichtungsbehörden (Art. 212 Abs. 1 ZPO) ab, weil dies 215

Vgl. Isaak Meier/Sarah Scheiwiller, Erfolg des Schlichtungs- und Urteilsvorschlagsverfahrens nach neuer ZPO, ZSR 2014 I, S. 155 ff., 186 f.

216 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.33.

217 16.302 Kt. Iv. Bern «Erfolgsmodell Schlichtungsverhandlung ausbauen».

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insbesondere im sogenannten Friedensrichtermodell heikel wäre. In jedem Fall sind die Parteien auf die Wirkungen des Urteilsvorschlags hinzuweisen, insbesondere auf den mit der Annahme des Urteilsvorschlags verbundenen Verzicht auf die erweiterten gerichtlichen Verfahrenshilfen des vereinfachten Verfahrens; dies namentlich dann, wenn die Parteien nicht vertreten sind.

Art. 224 Abs. 1bis Die beklagte Partei kann spätestens in der Klageantwort Widerklage erheben und damit eigene Ansprüche geltend machen; die Widerklage ist eine selbstständige Klage, die als solche bestehen bleibt, auch wenn die Klage zurückgezogen oder darauf nicht eingetreten wird, und ermöglicht die gemeinsame Behandlung von Ansprüchen und Gegenansprüchen in einem einzigen Prozess. Sie dient somit wie die Klagenhäufung, mit der sie eng verwandt ist, vorab der Prozessökonomie und ist von eminenter praktischer Bedeutung.

Wie die Praxisauswertung zeigt, funktioniert die gesetzliche Regelung der Widerklage gemäss Artikel 224 ZPO grundsätzlich gut. Gleichwohl hat sich gezeigt, dass ­ vergleichbar mit der objektiven Klagenhäufung nach Artikel 90 ZPO ­ nach geltendem Recht die Zulässigkeit der Widerklage eingeschränkt ist, insbesondere in Bezug auf die Voraussetzung der gleichen Verfahrensart. Zwischenzeitlich hat das Bundesgericht der mehrheitlich vertretenen Ansicht folgend entschieden, dass eine auf eine echte Teilklage im vereinfachten Verfahren erhobene negative Feststellungswiderklage zulässig ist, auch wenn diese den Streitwert für das vereinfachte Verfahren übersteigt und damit grundsätzlich im ordentlichen Verfahren zu beurteilen wäre.218 Nach Ansicht des Bundesrates besteht hier gesetzlicher Klärungs- und Anpassungsbedarf, zumal das Verhältnis zwischen den Regelungen der Artikel 224 und 94 ZPO über die Streitwertberechnung bei Widerklage zu Unklarheiten führt.

Im Rahmen der Vernehmlassungsvorlage hatte der Bundesrat parallel zur objektiven Klagenhäufung die Streichung der Voraussetzung der gleichen Verfahrensart und damit generell die Zulässigkeit verfahrensübergreifender Widerklagen vorgeschlagen; im Gegenzug sollten Widerklagen jedoch nur unter der Voraussetzung eines sachlichen Zusammenhangs zulässig sein (vgl. Art. 224 Abs. 1bis und 2 VE-ZPO).

Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung kritisch oder sogar ablehnend
beurteilt: Mehrheitlich abgelehnt wurde der Vorschlag der Konnexität als Voraussetzung einer Widerklage, kritisch beurteilt wurden auch die generelle Zulässigkeit verfahrensübergreifender Widerklagen sowie der Vorschlag zur Anwendung bestimmter Grundsätze des vereinfachten Verfahrens im ordentlichen Verfahren.219 Angesichts dieser Kritik verzichtet der Bundesrat auf diese Vorschläge und schlägt vielmehr einzig eine Ergänzung von Artikel 224 ZPO mit einem neuen Absatz 1bis in überarbeiteter Form vor. Demnach soll die Widerklage über die Fälle gleicher Verfahrensart gemäss Artikel 224 Absatz 1 ZPO hinaus zukünftig nur, aber immerhin in zwei spezifischen Konstellationen «verfahrensübergreifend» zulässig sein:

218 219

BGE 143 III 506 E. 4 m.w.H. auf die Lehre.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.34.

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­

Nach Buchstabe a soll es zukünftig zulässig sein, widerklageweise einen Anspruch geltend zu machen, der lediglich aufgrund des Streitwerts im vereinfachten Verfahren zu beurteilen ist, wenn die Hauptklage im ordentlichen Verfahren zu beurteilen ist. Zwar hat dies zur Folge, dass die Widerklage zusammen mit der Hauptklage im ordentlichen Verfahren zu beurteilen (Art. 224 Abs. 1bis Einleitungssatz E-ZPO). Dies ist jedoch deshalb gerechtfertigt, weil die beklagte Partei die Wahl hat, ob sie ihren Anspruch in einer separaten Klage im vereinfachten Verfahren oder widerklageweise, dann aber im ordentlichen Verfahren geltend machen will; insofern ist sie nicht schutzwürdig. In vielen Fällen wird die beklagte Partei aber nur schon aus Effizienz- und Zeitgründen ein grosses Interesse an der widerklageweisen Geltendmachung haben. Die Möglichkeit einer solchen verfahrensübergreifenden Widerklage entspricht einem praktischen Bedürfnis und ist nach einem grossen Teil der Lehre bereits nach geltendem Recht zulässig; 220 das Bundesgericht hat die Frage bisher nicht beurteilt.221 Diese Regelung entspricht auch der vorgeschlagenen Möglichkeit einer ausnahmsweise zulässigen verfahrensübergreifenden Klagenhäufung (vgl. Art. 90 Abs. 2 E-ZPO und dessen Erläuterungen).

­

Mit Buchstabe b soll ein weiterer Fall einer verfahrensübergreifenden Widerklage gesetzlich geregelt werden: In Übereinstimmung mit der erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung soll es zukünftig von Gesetzes wegen zulässig sein, widerklageweise negative Feststellungsklage zu erheben, wenn hauptklageweise eine echte Teilklage im vereinfachten Verfahren erhoben wurde, und zwar auch dann, wenn der Streitwert der negativen Feststellungsklage die Anwendbarkeit des ordentlichen Verfahrens zur Folge hat. 222 Auch wenn es hier um den umgekehrten Fall einer Widerklage im ordentlichen Verfahren gegenüber einer Hauptklage im vereinfachten Verfahren geht und die negative Feststellungswiderklage dazu führt, dass Haupt- und Widerklage zusammen im ordentlichen Verfahren zu beurteilen sind, so sprechen nicht nur prozessökonomische Überlegungen, sondern insbesondere der Schutz der legitimen Parteiinteressen und die prozessuale Gleichbehandlung dafür, die negative Feststellungsklage auch in diesem Fall zuzulassen.

Art. 236 Abs. 4 Nach Artikel 236 Absatz 3 ZPO ordnet das entscheidende Gericht auf Antrag der obsiegenden Partei bereits Vollstreckungsmassnahmen an. Solche Vollstreckungsmassnahmen berechtigen zur direkten Vollstreckung nach Artikel 337 Absatz 1 ZPO. Dies dient dem effektiven Rechtsschutz.223 220

Vgl. etwa Christian Fraefel, Art. 243 N 12, in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014; Dominik Gasser/Brigitte Rickli, Art. 224 N 3 in: ZPO, 2. Aufl., Zürich 2014; Christoph Leuenberger, Art. 243 N 14 in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Denis Tappy, Art. 224 N 14 in: CR CPC, 2. Aufl., Basel 219; a.A. Daniel Willisegger, Art. 243 N 43 in: BSK-ZPO, 3. Aufl., Basel 2017; Eric Pahud, Art. 224 N 15 in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016.

221 Vgl. BGE 143 III 506 E. 3.2.4.

222 BGE 143 III 506 E. 4 223 Vgl. Paul Oberhammer, Art. 236 N 15, in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014.

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In den Fällen, in denen ein Entscheid mit seiner Ausfällung mangels Rechtsmittel mit Suspensivwirkung sofort vollstreckbar ist (wie dies grundsätzlich bei fehlender Berufungsmöglichkeit der Fall ist), hat auch die unterliegende Partei ein Interesse an einem effektiven und raschen Rechtsschutz und damit daran, dass ihr auf Antrag bereits das entscheidende Gericht insofern zu Hilfe kommen kann, dass es die Vollstreckung ausnahmsweise einstweilen bis zu einem entsprechenden Entscheid der Rechtsmittelinstanz aufschiebt. Denn erfahrungsgemäss kann bis zu einem solchen Entscheid der Rechtsmittelinstanz gemäss Artikel 325 Absatz 2 ZPO einige Zeit verstreichen, innert welcher die unterliegende Partei nicht vor der einstweiligen Vollstreckung geschützt ist. Dies soll nach dem Vorschlag des Bundesrates mittels eines neuen Absatz 4 ergänzt werden. Damit wird auch dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit entsprochen. Nach dem klaren Wortlaut der neuen Bestimmung kann ein solcher einstweiliger Aufschub durch das entscheidende Gericht im Unterschied zum Vorentwurf nur dann in Betracht kommen, wenn der betroffenen Partei ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht. In Ergänzung des Vorentwurfs kann ein solcher Aufschub auch von Amtes wegen erfolgen und hat das Gericht nötigenfalls sichernde Massnahmen oder die Leistung einer Sicherheit anzuordnen. Vorbehalten ist stets ein diesbezüglicher Entscheid der Rechtsmittelinstanz. Erhebt die unterliegende Partei in der Folge kein Rechtsmittel oder stellt sie im Rechtsmittelverfahren keinen Antrag um Aufschiebung der Vollstreckung, so entfällt der Vollstreckungsaufschub.

Art. 239 Abs. 2bis Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) leitet sich auch die Pflicht der Behörden und Gerichte ab, ihre Entscheide zu begründen. Entscheide nach Artikel 236 ff. ZPO sind daher grundsätzlich zu begründen (vgl. auch Art. 238 Bst. g ZPO). Artikel 239 sieht von diesem Grundsatz Ausnahmen vor, indem ausnahmsweise Entscheide ohne schriftliche Begründung eröffnet werden können; dies ist dann möglich, wenn entweder in der Hauptverhandlung das schriftliche Dispositiv übergeben und der Entscheid gleichzeitig kurz mündlich begründet wird (Art. 239 Abs. 1 Bst. a ZPO) oder wenn das Gericht den Parteien das Dispositiv förmlich zustellt (Art. 239 Abs. 1 Bst. b
ZPO). In beiden Fällen läuft ab der Eröffnung des Entscheids eine Frist von zehn Tagen, innert der die Parteien eine schriftliche Begründung des Entscheids verlangen können. Wird keine schriftliche Begründung verlangt, gilt dies als Verzicht auf die Anfechtung des Entscheids und eine schriftliche Begründung unterbleibt gänzlich. Dieses Regime soll zukünftig neu auch für die Rechtsmittelinstanzen gelten (vgl. Art. 318 Abs. 2 und Art. 327 Abs. 5 E-ZPO und deren Erläuterungen).

Diese Regelung hat sich zwar insgesamt bewährt. Dennoch schlägt der Bundesrat in zwei Punkten eine Anpassung vor, die auch in der Vernehmlassung mehrheitlich unterstützt wurde:224 Auch wenn ein Entscheid bei seiner Eröffnung (noch) nicht begründet ist, kann eine Partei ein berechtigtes Interesse haben, dass dieser Entscheid möglichst rasch vollstreckt werden kann, namentlich bei drohendem Rechtsverlust oder anderweitiger Dringlichkeit. Nach geltendem Recht bestehen für diese 224

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.36.

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Fälle gewisse Rechtsunsicherheiten, die durch eine klare gesetzliche Regelung in einem neuen Artikel 336 Absatz 3 ZPO geklärt werden sollen: Auch ein ohne schriftliche Begründung eröffneter Entscheid ist ­ wie ein schriftlich begründeter Entscheid ­ vollstreckbar (vgl. die Erläuterungen zu Art. 336 Abs. 3 E-ZPO). In einem neuen Absatz 2bis gesetzlich zu regeln ist sodann die Möglichkeit der vorzeitigen Vollstreckung beziehungsweise des Aufschubs der Vollstreckung auch in diesen Fällen, sofern der Partei ein nicht leicht wiedergutzumachender Nachteil droht. Nach geltendem Recht ist die Zuständigkeit für das Einbringen der genannten Anliegen zwischen Eröffnung des unbegründeten Entscheids und Ergreifen eines Rechtsmittels nicht geregelt, zumal vor Vorliegen der schriftlichen Begründung auch kein Rechtsmittel eingereicht werden kann. Diese Lücke gilt es im Interesse der Rechtssicherheit zu füllen. Dies betrifft einerseits die Fälle, in denen gegen den Entscheid ein Rechtsmittel mit grundsätzlicher Suspensivwirkung zulässig ist (insb. Berufung).

Andererseits geht es aber umgekehrt um Fälle, wo ohne Aufschub der Vollstreckung gestützt auf den unbegründeten Entscheid bereits vollstreckt werden könnte. In beiden Fällen soll neu das entscheidende Gericht zuständig sein. Überdies gilt, dass das Gericht zum Schutz der Gegenpartei nötigenfalls sichernde Massnahmen oder die Leistung einer Sicherheit anordnet (Abs. 2bis zweiter Satz). Auf die in der Vernehmlassungsvorlage vorgeschlagene Schaffung einer Ordnungsfrist für die schriftliche Begründung (vgl. Art. 239 Abs. 2 VE-ZPO) verzichtet der Bundesrat angesichts der Kritik in der Vernehmlassung.225 Art. 241 Abs. 3 zweiter Satz Artikel 241 ZPO regelt die Beendigung des Verfahrens durch Vergleich, Klageanerkennung oder Klagerückzug. In diesen Fällen wird das Verfahren beendet, ohne dass das Gericht einen materiellen Entscheid fällt. Das Verfahren wird dabei unmittelbar durch die sogenannten Entscheidsurrogate ­ das sind Vergleich, Klageanerkennung oder Klagerückzug ­ beendet (sog. Berner Modell); dennoch ist namentlich aus Beweisgründen und zur Sicherstellung der Vollstreckbarkeit des Entscheidsurrogats ein zusätzlicher Abschreibungsentscheid notwendig, der jedoch lediglich deklaratorische Bedeutung hat (vgl. Art. 241 Abs. 3 ZPO).

Gegen das Entscheidsurrogat
selbst steht grundsätzlich weder die Berufung noch die Beschwerde zur Verfügung; dagegen kann mittels Revision gemäss Artikel 328 Absatz 1 Buchstabe c ZPO vorgegangen werden.226 Dabei geht es um die zivilrechtliche Anfechtung des Entscheidsurrogats selbst, in den meisten Fällen zur Geltendmachung von Willensmängeln, das heisst Irrtum, Täuschung, Furchterregung, beim Abschluss oder Zustandekommens des Entscheidsurrogats, zumeist des Vergleichs.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist der Abschreibungsentscheid nach Artikel 243 Absatz 3 ZPO mit keinem Rechtsmittel anfechtbar mit Ausnahme des Kostenpunkts, gegen den Beschwerde möglich ist.227 Diese Rechtslage befriedigt nur teilweise, denn neben der zivilrechtlichen Anfechtbarkeit des Entscheidsurrogats gibt es andere Mängel, welche gerade zur absoluten Unwirksamkeit des Entscheid225 226 227

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.36.

BGE 139 III 133 E. 1.3 BGE 139 III 133 E. 1.2

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surrogats und damit zu dessen Nichtigkeit führen. Primär handelt es sich um Mängel formeller Natur wie zum Beispiel die fehlende Unterzeichnung des Protokolls (vgl.

Art. 241 Abs. 1 ZPO), die fehlende Vertretungsmacht des unterzeichnenden Rechtsvertreters oder die mangelnde Vergleichsfähigkeit der Streitsache, aber auch materielle Mängel wie ein Verstoss gegen zwingende zivilrechtliche Grundsätze (Art. 27 ZGB, Art. 20 OR). Das Entscheidsurrogat vermag in diesen Fällen zu keinem Zeitpunkt Rechtswirkung zu entfalten. Damit ist letztlich auch ein allfällig gestützt darauf erlassener Abschreibungsentscheid zu Unrecht ergangen und damit fehlerhaft. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist (wohl) auch in diesen Fällen mit Revision vorzugehen.228 Dieser Rechtsmittelweg erscheint aber wenig geeignet, zumal es sich bei der Revision um ein nicht devolutives Rechtsmittel handelt und der Abschreibungsentscheid als deklaratorischer Akt eigentlich nicht Anfechtungsobjekt der Revision sein kann.229 Zur Verbesserung schlägt der Bundesrat trotz teilweise Kritik in der Vernehmlassung vor, dass in einem neuen Absatz 3 zweiter Satz zukünftig die Beschwerdemöglichkeit gegen den Abschreibungsentscheid ausdrücklich vorgesehen ist. Während der Vergleich, die Klageanerkennung oder der Klagerückzug unverändert mit Ausnahme der Revision (Art. 328 Abs. 1 Bst. c ZPO) nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können, soll neu der gerichtliche Abschreibungsentscheid generell mit Beschwerde anfechtbar sein. Dabei geht es um die Geltendmachung von Mängeln, die zur Nichtigkeit des Entscheidsurrogats und damit eben auch zur Fehlerhaftigkeit des Abschreibungsentscheids führen; nur in diesen Fällen kann gegen den Abschreibungsentscheid Beschwerde geführt werden. Unverändert hat der Abschreibungsentscheid lediglich deklaratorischen Charakter.

Art. 242 sowie neuer Gliederungstitel vor Art. 241 In seiner geltenden Fassung spricht Artikel 242 ZPO in Übereinstimmung mit dem Gliederungstitel des 6. Kapitels von einer Beendigung des Verfahrens «ohne Entscheid». Dies ist insofern ungenau, als dass auch in Fällen der Gegenstandslosigkeit gemäss Artikel 242 ZPO erst ein gerichtlicher Entscheid betreffend die Abschreibung zur Beendigung des Verfahrens führt. In der Vernehmlassung wurde daher mehrfach eine Anpassung dieser Bestimmung
sowie des Gliederungstitels angeregt.230 Der Bundesrat nimmt dieses Anliegen auf und schlägt vor, die beiden Regelungen redaktionell anzupassen, ohne dass damit eine inhaltliche Anpassung verbunden ist. So wird in Artikel 242 E-ZPO von einer Beendigung des Verfahrens «ohne Sachentscheid» gesprochen, bei der das Gericht einen Abschreibungsentscheid erlässt. Der Gliederungstitel vor Artikel 241 ZPO soll zukünftig präziser «Beendigung des Verfahrens ohne Sachentscheid» lauten.

228

BGE 139 III 133 E. 1.2; Andreas Baeckert/Robert Wallmüller, Rechtsmittel bei Beendigung des Verfahrens durch Entscheidsurrogat (Art. 241 ZPO), ZZZ 2014/2015, S. 15 ff., 23.

229 Andreas Baeckert/Robert Wallmüller, Rechtsmittel bei Beendigung des Verfahrens durch Entscheidsurrogat (Art. 241 ZPO), ZZZ 2014/2015, S. 15 ff., 23.

230 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.37.

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Art. 249 Bst. a Ziff. 5, Art. 250 Bst. c Ziff. 6, 11 und 14 Die Kataloge der wichtigsten Summarsachen aus ZGB und OR sind aufgrund zwischenzeitlicher Gesetzesänderungen wie folgt anzupassen: ­

In Artikel 249 Buchstabe a (Personenrecht) ist eine neue Ziffer 5 einzuführen, welche auf die bereits vor einiger Zeit angepassten Bestimmungen über die Mängel in der Organisation eines Vereins zurückgehen;231 soweit bei Organisationsmängeln eines Vereins (Art. 69c ZGB) das Gericht angerufen wird und dieses die erforderlichen Massnahmen ergreifen muss (z.B.

Fristansetzung zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands, Ernennung eines Sachwalters oder von Organmitgliedern), ist ebenfalls das summarische Verfahren anwendbar.232

­

In Artikel 250 Buchstabe c soll Ziffer 6 dahingehend angepasst werden, dass neu nicht mehr einzelne vom Gericht im Falle von Organisationsmängeln einer Gesellschaft oder Genossenschaft zu ergreifende Massnahmen aufgeführt werden sollen; in Übernahme der geltenden Rechtslage233 soll neu allgemein von Massnahmen im Falle von Organisationsmängeln gesprochen werden und auf sämtliche entsprechenden Gesetzesbestimmungen des materiellen Rechts bei allen Gesellschaftsformen und der Genossenschaft verwiesen werden. Mit dem Inkrafttreten des neuen Handelsregisterrechts 234 ist hier noch die Bestimmung von Artikel 581a OR zur Kollektivgesellschaft zu ergänzen. Gleichzeitig kann damit Ziffer 11 gestrichen werden; der dort bisher ausdrücklich aufgeführte Fall der Ernennung und Abberufung der Revisionsstelle ist von der neu gefassten Ziffer 6 als Unterfall vollständig erfasst.

Sodann ist der Fall der Löschung einer Gesellschaft gemäss Artikel 938a Absatz 2 OR entsprechend der geltenden Lehre und Praxis235 in einer neuen Ziffer 14 zu ergänzen, wie das in der Vernehmlassung verlangt wurde. 236

Art. 266 Bst. a Artikel 266 ZPO regelt die vorsorglichen Massnahmen gegen periodisch erscheinende Medien. Damit wurde die frühere Bestimmung von Artikel 28c Abs. 3 aZGB übernommen und in die ZPO überführt.237 Dennoch entspricht der Wortlaut von Artikel 266 Buchstabe a ZPO insofern nicht dem früheren Recht, als bestehende 231 232

233

234 235

236 237

Änderung des Obligationenrechts vom 16. Dezember 2005 (GmbH-Recht sowie Anpassungen im Aktien-, Genossenschafts-, Handelsregister- und Firmenrecht), AS 2007 4791.

Vgl. Martin Kaufmann, Art. 248 N 8, in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016 und Pascal Montavon, Abrégé de droit civil, 3. Aufl., Zürich 2013, S. 123 sowie BGE 138 III 166 E. 3.9.

Vgl. BGE 138 III 166 E. 3.9 sowie Wolfgang Müller/Thomas Nietlispach/Silvia Margraf, Art. 731b N 7, in: CHK Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 3. Aufl., Zürich 2016 und Martin Kaufmann, Art. 250 N 3, in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016.

Änderung des Obligationenrechts (Handelsregisterrecht) vom 17. März 2017, BBl 2017 2433.

Vgl. David Rüetschi, Art. 155 N 26, in: Siffert/Turin (Hrsg.), Kommentar Handelsregisterverordnung, Bern 2012 und Kantonsgericht Graubünden, Entscheid vom 10. September 2018, ZK2 17 45.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.52.

Botschaft ZPO, BBl 2006 7357.

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Rechtsverletzungen nicht mehr erfasst erscheinen.238 Dieses gesetzgeberische Versehen239 soll korrigiert und Buchstabe a dahingehend angepasst werden, dass zukünftig auch bestehende Rechtsverletzungen ausdrücklich erwähnt werden.

Art. 288 Abs. 2 zweiter und dritter Satz Artikel 288 ZPO regelt die Fortsetzung des Verfahrens nach der Anhörung der Parteien bei einer Scheidung auf gemeinsames Begehren gemäss Artikel 111 f.

ZGB. Absatz 2 regelt den Fall, in dem Scheidungsfolgen auch nach der Anhörung der Parteien streitig geblieben sind; demnach wird das Verfahren kontradiktorisch fortgesetzt, wobei das Gericht die Parteirollen verteilt. Für dieses Annexverfahren gelten die Grundsätze des Verfahrens bei Scheidungsklage (Art. 291 ff. ZPO) und des ordentlichen Verfahrens (Art. 219 ff. ZPO). Dies führt dazu, dass das Verfahren grundsätzlich oder sogar zwingend schriftlich240 und damit mit Schriftenwechsel durchgeführt werden muss, was gerade in einfachen Fällen und wegen der fehlenden Laienfreundlichkeit dieses Verfahrens kaum befriedigt. 241 Entsprechend der Scheidungsklage (vgl. dazu die Erläuterungen zu Art. 291 Abs. 2 E-ZPO) schlägt der Bundesrat daher vor, dass für solche Annexverfahren in Zukunft ebenfalls das vereinfachte Verfahren gilt (zweiter Satz). Der Vorschlag geht auf entsprechende Anregungen aus der Vernehmlassung zurück.242 Die Anwendung des vereinfachten Verfahrens führt zur grundsätzlichen Mündlichkeit des Verfahrens (Art. 245 ZPO) mit der Möglichkeit der Anordnung eines Schriftenwechsels und allenfalls der Durchführung einer Instruktionsverhandlung (vgl. Art. 246 ZPO). Wie nach geltendem Recht kann das Gericht die Parteirollen verteilen (dritter Satz).

Art. 291 Abs. 3 Die Bestimmung regelt das eigentliche Klageverfahren bei der Scheidungsklage, das heisst für die Fälle, in denen aufgrund der Einigungsverhandlung der Scheidungsgrund nicht feststeht oder keine Einigung über die Scheidungsfolgen zustande kommt. In diesen Fällen setzt das Gericht nach geltendem Recht der klagenden Partei Frist zur schriftlichen Klagebegründung. Im Übrigen richtet sich das Verfahren nach den Vorgaben der Artikel 274­284 ZPO und ist im ordentlichen Verfahren und somit grundsätzlich schriftlich durchzuführen. Dies erscheint nicht laienfreundlich, vorab wenn es sich zum Beispiel trotz Uneinigkeit über die
Scheidungsfolgen um einen einfachen Fall handelt. In der Vernehmlassung wurde daher angeregt, dass für streitige Scheidungssachen und damit die Scheidungsklage das vereinfachte

238

239 240 241 242

Vgl. Michel Heinzmann/Bettina Bacher, Art. 266 ZPO: Alter Wein in neuen Schläuchen?, medialex 2013, S. 159; Matthias Schwaibold, Superprovisorische Massnahmen gegen Medien im Persönlichkeitsrecht, in: Furrer (Hrsg.), Aktuelle Anwaltspraxis, Zürich 2013, S. 135 ff. und Matthias Schwaibold, Eine versehentliche Reform: Massnahmen gegen periodische Medien gemäss Art. 266 ZPO, SZZP 2013, S. 355 ff.

Vgl. Lucius Huber, Art. 266 N 4a, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Bern 2016.

Vgl. Roland Fankhauser, Art. 288 N 13 in: FamKomm.-Scheidung, Band II, 3. Aufl., Bern 2017 m.w.H.

Vgl. zur teilweise abweichenden Praxis z.B. Thomas Engler, Zivilprozessrechtliche Fragestellungen in der familienrechtlichen Gerichtspraxis, SJZ 2014, S. 121 ff., 123 f.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.2.3.

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Verfahren gelten sollte.243 Somit kann das Verfahren grundsätzlich mündlich oder auch schriftlich durchgeführt werden, womit den Umständen des konkreten Falls besser Rechnung getragen werden kann. So wird das Verfahren auch in Zukunft schriftlich sein, wenn zum Beispiel komplizierte Vermögensverhältnisse streitig sind; wie bisher ist auch im vereinfachten Verfahren ein zweiter Schriftenwechsel möglich, wenn die Umstände es erfordern.244 Unverändert gelten die besonderen Verfahrensbestimmungen gemäss Artikel 274­284 ZPO und damit insbesondere auch Artikel 277 ZPO bezüglich Feststellung des Sachverhalts. Die bisherige Regelung, wonach das Gericht der klagenden Partei Frist zur schriftlichen Klagebegründung setzt und das Verfahren bei Nichteinreichung als gegenstandslos abschreibt (Art. 291 Abs. 3 ZPO), ist im neuen Regime entbehrlich: Wurde keine schriftliche Klagebegründung eingereicht, werden die Parteien entweder zur Verhandlung vorgeladen oder ausnahmsweise wird ein Schriftenwechsel und damit ebenfalls Frist zur schriftlichen Klagebegründung angeordnet. Wurde bereits eine schriftliche Klagebegründung eingereicht, so folgen ebenfalls Verhandlung und ausnahmsweise schriftliche Klageantwort. Das ergibt sich aus den allgemeinen Regeln des vereinfachten Verfahrens. Wird trotz Fristansetzung keine schriftliche Klagebegründung eingereicht, so sind die Parteien in Zukunft zunächst zur Verhandlung vorzuladen.

Nach Ansicht des Bundesrates wird damit die Praxistauglichkeit der ZPO bei kontradiktorischen Scheidungsverfahren deutlich verbessert.

Art. 295 Artikel 295 ZPO legt als Grundsatz fest, dass für selbstständige Klagen in Kinderbelangen das vereinfachte Verfahren gilt. Insbesondere selbstständige Unterhaltsklagen nach Artikel 279 ff. ZGB oder Klagen betreffend die Anfechtung oder Feststellung des Kindesverhältnisses (Art. 256, 260a resp. 261 ZGB, sog. Statusprozesse) werden demnach im vereinfachten Verfahren durchgeführt. Nach Artikel 296 ZPO gilt in diesen Fällen überdies der strenge Untersuchungsgrundsatz (Art. 296 Abs. 1 ZPO: «Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen»; vgl. die Erläuterungen zu dieser Bestimmung) und der Offizialgrundsatz, das heisst, das Gericht ist nicht an die Parteianträge gebunden (Art. 296 Abs. 3 ZPO).

Die Regelung betrifft nur Kinderbelange im engeren Sinne,
das heisst Klagen von minderjährigen Kindern. Was für Klagen volljähriger Kinder und damit insbesondere Klagen auf «Volljährigenunterhalt» gilt, ist demgegenüber für das geltende Recht unklar. So wurde die Frage der auf Unterhaltsklagen volljähriger Kinder anwendbaren Verfahrensart noch nicht abschliessend entschieden, auch wenn das Bundesgericht (obiter) ohne Auseinandersetzung mit den Argumenten eine gewisse Tendenz offenbarte, die für die Anwendung des ordentlichen Verfahrens und gegen die Anwendung des uneingeschränkten Untersuchungsgrundsatzes und des Offizialgrundsatzes bei volljährigen Kindern spricht.245 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist dagegen klar, dass die durch das Gemeinwesen geführten Klagen 243 244

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.2.3.

Vgl. Stephan Mazan, Art. 246 N 18, in: BSK-ZPO, 3. Aufl., Basel 2017; Denis Tappy, Art. 246 N 11, in: CR CPC, 2. Aufl., Basel 2019.

245 BGE 139 III 368 E. 2 und 3, insb. E. 3.4; vgl. dazu Samuel Zogg, Das Kind im familienrechtlichen Zivilprozess, FamPra.ch 2017, S. 404 ff.

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auf Verwandtenunterstützung (Art. 329 Abs. 3 ZGB) im ordentlichen Verfahren zu beurteilen sind.246 Diese unklare Rechtslage befriedigt nicht und spricht für eine gesetzliche Klarstellung. In der Vernehmlassungsvorlage hatte der Bundesrat daher einen neuen Absatz 2 vorgeschlagen, wonach für selbstständige Unterhaltsklagen von Kindern das vereinfachte Verfahren gelten solle, und zwar ungeachtet ihrer Volljährigkeit. Dieser Vorschlag fand in der Vernehmlassung zwar mehrheitlich Unterstützung; gleichzeitig regten verschiedene Teilnehmer an, dass diese Regelung nicht nur für selbständige Unterhaltsklagen, sondern generell für sämtliche selbständigen Klagen über Kinderbelage gelten sollte: Für sämtliche selbständigen Klagen sollte, das heisst auf für Klagen volljähriger Kinder.247 Nach Ansicht des Bundesrates ist dies sachgerecht: Sämtliche selbständigen Klagen über Kinderbelange sollen ungeachtet der Volljährigkeit des Kindes stets im vereinfachten Verfahren beurteilt werden, weil dieses nicht nur rascher und laienfreundlicher, sondern auch grundsätzlich mündlich und flexibler in seiner Ausgestaltung ist, womit auch den spezifischen Umständen des Einzelfalls und insbesondere den Interessen des Kindes noch besser Rechnung getragen werden kann. Dabei dürfte es insbesondere sinnvoll sein, soweit möglich nach Eingang der Klage im Rahmen einer Instruktionsverhandlung nach Artikel 246 in Verbindung mit Artikel 226 ZPO nach dem Vorbild der Einigungsverhandlung bei Scheidungsklagen (Art. 291 ZPO) eine Einigung zu suchen. Entsprechend soll Artikel 295 ZPO neu formuliert werden: Das vereinfachte Verfahren soll zukünftig für alle selbstständigen Klagen gelten und zwar ausdrücklich für solche über Kinderbelange und über den Unterhalt von Kindern. Diese Regelung gilt für alle Kinderbelange und ausdrücklich für Unterhaltsklagen von Kindern, ungeachtet der Volljährigkeit des Kindes, auch wenn dies im Unterschied zum Vorentwurf nicht mehr ausdrücklich aus dem Gesetzeswortlaut hervorgeht.

Dies gilt nicht nur für Unterhaltsklagen, sondern auch für Klagen betreffend Anfechtung und Feststellung der Vaterschaft inklusive die Vaterschaftsklage und die Adoptionsanfechtungsklage des Kindes, und zwar unabhängig von der Minder- oder Volljährigkeit (oder dem Streitwert). Aufgrund des Verweises auf die Bestimmungen über die
Unterhaltsklage des Kindes in Artikel 329 Absatz 3 ZGB gilt dies neu auch für Klagen betreffend Verwandtenunterstützung; diese unterstehen somit unabhängig vom Streitwert dem vereinfachten Verfahren. Im Ergebnis gilt das vereinfachte Verfahren damit in allen Klagen über Kinderbelange ausserhalb von eherechtlichen Verfahren.

Die anwendbaren Prozessgrundsätze werden im nachfolgenden Artikel 296 ZPO geregelt (vgl. auch die Erläuterungen nachfolgend). Unter geltendem Recht ist nicht abschliessend geklärt,248 ob der uneingeschränkte Untersuchungsgrundsatz und der Offizialgrundsatz gemäss Artikel 296 ZPO lediglich in Kinderbelangen im engeren Sinne und somit bei Minderjährigen zur Anwendung kommen oder generell für Kinder ungeachtet ihrer Volljährigkeit gelten, soweit es um Kinderbelange beziehungsweise Unterhalt geht. Auch wenn sich das Bundesgericht zumindest im Fall eines subrogationsweise klagenden Gemeinwesens gegen die Anwendung dieses 246 247 248

BGE 139 III 368 E. 2 und 3 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.2.4.

Vgl. auch BGer 5A_865/2017 vom 25. Juni 2018, E. 1.3.3

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weitergehenden prozessualen Schutzes für volljährige Kinder geäussert hat, 249 scheint die Praxis in den Kantonen unterschiedlich zu sein.250 Demgegenüber spricht sich ein überwiegender Teil der Lehre für die vollumfängliche oder teilweise Anwendung von Untersuchungs- und Offizialgrundsatz für minder- und volljährige Kinder aus.251 Sodann gelten diese Grundsätze nach der Rechtsprechung jedenfalls dann, wenn ein Kind erst während eines vor seiner Volljährigkeit eingeleiteten Verfahrens volljährig wird252 oder wenn gleichzeitig über gleichrangige Unterhaltsansprüche zu entscheiden und für diese der uneingeschränkte Untersuchungsgrundsatz und der Offizialgrundsatz gilt. Ungeachtet der Volljährigkeit stets Anwendung findet die Regelung von Artikel 296 Absatz 2 ZPO.253 Mit der vorgeschlagenen Änderung von Artikel 295 ZPO wird diese Rechtslage in erster Linie hinsichtlich der Verfahrensart geklärt: Neu soll das vereinfachte Verfahren mit seinen Erleichterungen, das heisst insbesondere der erweiterten Fragepflicht gemäss Artikel 247 Absatz 1 ZPO, für sämtliche selbstständigen Klagen über Kinderbelange inklusive Kindesunterhalt gelten, womit sich die Auswirkungen der Anwendung unterschiedlicher Prozessgrundsätze jedenfalls relativieren. Darüber hinaus macht die Anpassung von Artikel 295 ZPO deutlich, dass die Regelung von Artikel 296 ZPO für sämtliche Streitigkeiten über Kinderbelange einschliesslich Kindesunterhalt ungeachtet der Volljährigkeit des Kindes einschlägig ist. 254 Damit sowie mit einer geeigneten Prozessvertretung und Beratung im Einzelfall kann den besonderen Schwierigkeiten und Belastungen, die solche Verfahren für Kinder ungeachtet ihrer Volljährigkeit darstellen, soweit möglich begegnet werden.

Art. 296 Abs. 1 (Betrifft nur französischen Text) Artikel 296 ZPO regelt die Anwendung von Untersuchungs- und Offizialgrundsatz in Verfahren über Kinderbelange und zwar grundsätzlich ungeachtet der Volljährigkeit des Kindes (vgl. die Erläuterungen zu Art. 295 E-ZPO). Der nach Absatz 1 der Bestimmung in Kinderbelangen geltende uneingeschränkte Untersuchungsgrundsatz ist vom sogenannten sozialen oder gemilderten Untersuchungsgrundsatz abzugren249

250

251

252 253 254

Vgl. BGE 139 III 368 E. 3.4 sowie bereits BGE 118 II 93; dazu ausführlich Eva Bachofner/Francesca Pesenti, Aktuelle Fragen zum Unterhaltsprozess von Volljährigen, FamPra.ch 2016, S. 619 ff.

Vgl. z.B. Kantonsgericht des Kantons Obwalden, Entscheid ZV 17/001//III vom 25.

Oktober 2019, E. 1 (Anwendung Art. 296 ZPO), Kantonsgericht des Kantons St. Gallen, Entscheid FO.2015.4 vom 29. April 2016, E. 1 (Anwendung Art. 296 ZPO); OGer ZH, LZ150002-O/U vom 7. Juli 2015, E. 3.1 und OGer BE, ZK 17 340 vom 30. Oktober 2018, E. 6 (keine Anwendung Art. 296 ZPO). KGer BL, Entscheid 400 2011 364 vom 20. März 2012, E. 2 (Anwendung Untersuchungsgrundsatz).

Vgl. Philippe Meier, Entretien de l'enfant majeur ­ Un état de lieux (2/2), JdT 2019 II 32 ff., 41 f. m.w.N. sowie Jonas Schweighauser, Art. 296 N 4, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Annette Spycher, Art. 296 N 5 f., in: BK ZPO, Bern 2012; Christoph Herzig, Das Kind in den familienrechtlichen Verfahren, Zürich 2012, Rz. 173 ff. und 783.

Vgl. BGer 5A_524/2017 vom 9. Oktober 2017, E. 3.2.2 sowie OGer BE, ZK 17 340 vom 30. Oktober 2018, E. 14.7.

Vgl. auch Eva Bachofner/Francesca Pesenti, Aktuelle Fragen zum Unterhaltsprozess von Volljährigen, FamPra.ch 2016, S. 619 ff., 633.

Vgl. aber nach geltendem Recht für die Möglichkeit der sogenannten teleologischen Auslegung bezüglich Offizialgrundsatz Eva Bachofner/Francesca Pesenti, Aktuelle Fragen zum Unterhaltsprozess von Volljährigen, FamPra.ch 2016, S. 619 ff., 635.

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zen, wie er in gewissen Bereichen des vereinfachten Verfahrens (vgl. Art. 247 Abs. 2 ZPO), des summarischen Verfahrens (vgl. Art. 255 ZPO) und des Familienverfahrensrechts (vgl. Art. 272 und 277 Abs. 3 ZPO) gilt. Während die deutsche und die italienische Fassung diese Unterscheidung auch sprachlich zum Ausdruck bringen («Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen» gegenüber «Das Gericht stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest»; «Il giudice esamina d'ufficio i fatti» und «Il giudice accerta d'ufficio i fatti»), ist dies in der französischen Fassung nicht der Fall («Le tribunal établit les faits d'office»). Diese terminologische Ungenauigkeit ist zu beseitigen und die französische Fassung in Artikel 296 Absatz 1 ZPO entsprechend anzupassen; neu lautet sie entsprechend der früheren Bestimmung von Artikel 254 Ziffer 1 aZGB «[le juge] examine d'office les faits». Dabei handelt es sich um eine rein redaktionelle Anpassung; inhaltlich ist damit keine Änderung verbunden.

Art. 304 Abs. 2 zweiter und dritter Satz Artikel 304 ZPO befasst sich mit bestimmten Aspekten der Zuständigkeit bei Unterhalts- und Vaterschaftsklagen. Im Rahmen der Revision des Kindesunterhaltsrechts255 wurde ein neuer Artikel 304 Absatz 2 ZPO eingeführt, der seit dem 1. Januar 2017 in Kraft ist. Demnach entscheidet im Fall einer Unterhaltsklage eines minderjährigen Kindes das Gericht auch über die elterliche Sorge sowie die weiteren Kinderbelange. Mit dieser Kompetenzattraktion ist das mit einer Unterhaltsklage befasste Gericht auch zur annexweisen Regelung der Kinderbelange zuständig, damit die Frage des Unterhalts nicht mehr isoliert, sondern zusammen mit sämtlichen Kinderbelangen, insbesondere der Frage der elterlichen Sorge und der Betreuung, beurteilt wird.256 Zwar hat sich diese Kompetenzattraktion seit Inkrafttreten im Grundsatz bewährt; gleichzeitig wurde verschiedentlich Kritik an den verfahrensrechtlichen Aspekten des Unterhaltsrechts geäussert und es wurden Verbesserungsvorschläge gemacht. 257 So wurde auch in der Vernehmlassung von verschiedener Seite eine Anpassung gewünscht.258 Problematisch ist vor allem, dass in der Praxis zufolge Kompetenzattraktion zumeist das Kind und beide Elternteile am Verfahren beteiligt sind,259 oft in der Form einer Unterhaltsklage des Kindes gegen einen Elternteil sowie einer
Auseinandersetzung zwischen den beiden Elternteilen über die weiteren Kinderbelange, was verfahrensmässig jedoch auf der Grundlage des geltenden Rechts kaum befriedigend gelöst werden kann. Nach Prüfung der Vorschläge beantragt der Bundesrat im Rahmen dieser Anpassung daher eine Ergänzung von Artikel 304 ZPO: Die 255 256

AS 2015 4299 ff.

Vgl. dazu Samuel Zogg, Selbständige Unterhaltsklagen mit Annexentscheid über die weiteren Kinderbelange ­ verfahrensrechtliche Fragen, FamPra.ch 2019, S. 1 ff.; Eva Senn, Verfahrensrechtliche Streiflichter zu den Revisionen der elterlichen Sorge und des Kindesunterhaltsrechts, FamPra.ch 2017, S. 971 ff.

257 Vgl. z.B. Jonas Schweighauser/Diego Stoll, Neues Kindesunterhaltsrecht ­ Bilanz nach einem Jahr, FamPra.ch 2018, S. 613 ff., Fn. 263; Eva Senn, Verfahrensrechtliche Streiflichter zu den Revisionen der elterlichen Sorge und des Kindesunterhaltsrechts, FamPra.ch 2017, S. 971 ff., 984.

258 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.2.1 und 6.2.4.

259 Vgl. BGer 5A_977/2018 vom 22. August 2019, E. 4 (zur Publikation vorgesehen).

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Eltern sollen in einem solchen Fall der Kompetenzattraktion stets Parteistellung haben, wenn das Kindesverhältnis feststeht (Abs. 2 zweiter Satz). In diesen Fällen kann das Gericht wie bei einer Scheidungsklage die Parteirollen verteilen (Abs. 2 dritter Satz). Dadurch sollen die bestehenden verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten in Fällen der Kompetenzattraktion gelöst werden, ohne dass etwa eine neue Form der Beiladung oder gar ein förmliches Dreiparteienverfahren geschaffen wird. Analog kann auch bei Vaterschaftsklagen vorgegangen werden, wenn nach Artikel 298c ZGB über die elterliche Sorge zu entscheiden ist. Daraus resultiert in diesen Fällen für das Kind eine Situation, wie wenn seine Eltern verheiratet wären, und das Kind ist ebenfalls am Verfahren beteiligt, mit den entsprechenden Verfahrensrechten analog Artikel 297 ff. ZPO, allenfalls mit einem Beistand gemäss Artikel 308 ZGB.

Grundsätzlich liegt im Fall der Klage eines Kindes, vertreten durch die Mutter, auch bei gemeinsamer elterlicher Sorge keine Interessenkollision bei der Mutter vor.260 Beispiel 1: Vater V des minderjährigen Kindes K beantragt bei der KESB die Regelung der Betreuungsanteile und der Obhut. K, vertreten durch die nicht mit V verheiratete Mutter M, erhebt beim Gericht Klage gegen V auf Unterhalt (Art. 279 ZGB).

Dieses Gericht entscheidet nun über die Unterhaltsklage und über die weiteren (nicht finanziellen) Kinderbelange (Art. 304 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Das Gericht verteilt im Prozess die Parteirollen unter den Eltern M und V. K ist beziehungsweise bleibt ebenfalls am Verfahren beteiligt. Wenn es die Umstände erforderlich machen, wird es von einem Beistand oder einer Kindesvertretung unterstützt oder vertreten.

Beispiel 2: K ist das minderjährige Kind von Vater V und Mutter M, welche nicht miteinander verheiratet sind. K, vertreten durch M, klagt gegen V auf Unterhalt (Art. 279 ZGB). Alle weiteren (nicht finanziellen) Kinderbelange sind nicht streitig.

Parteien des Verfahrens sind K und V.

Damit wird eine einfache und praktikable Regelung innerhalb des bestehenden Systems geschaffen, die es ermöglicht, in einem Verfahren zwischen beiden Elternteilen und dem Kind (allenfalls den Kindern) sämtliche Kinderbelange (insb. elterliche Sorge, Betreuung/Obhut) einschliesslich des Kinderunterhalts zu regeln. Zu beachten ist,
dass diese Regelung wie erwähnt nur bei minderjährigen Kindern zur Anwendung kommen kann.

Art. 313 Abs. 2 Bst. b Nach geltendem Recht fällt die Anschlussberufung gemäss Artikel 313 Absatz 2 ZPO aufgrund ihrer Abhängigkeit von der (Haupt-)Berufung in drei bestimmten Fällen dahin. Der von Buchstabe b geregelte Fall, dass die Berufung als offensichtlich abgewiesen wird, gibt es praktisch jedoch nicht: Erweist sich eine Berufung als offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so wird sie gemäss Artikel 312 Absatz 1 ZPO der Gegenpartei gar nicht zur Stellungnahme zugestellt, so dass auch keine Anschlussberufung erhoben werden kann. Bei dieser Bestimmung handelt es sich

260

Vgl. BGer 5A_244/2018 vom 26. August 2019, E. 2 (zur Publikation vorgesehen).

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somit um ein gesetzgeberisches Versehen;261 dieses soll gemäss einem Anliegen aus der Vernehmlassung262 korrigiert und die Bestimmung daher aufgehoben werden.

Art. 314 Abs. 2 Abweichend von den allgemeinen Regelungen (Art. 311­313 ZPO) enthält Artikel 314 ZPO besondere Bestimmungen für das Berufungsverfahren gegen Entscheide, die im summarischen Verfahren (Art. 248 ff. ZPO) ergangen sind. Im Unterschied zu den allgemeinen Regelungen der Berufung, die sich in der Praxis bewährt haben, ist der besonderen Regelung für summarische Verfahren in einem wichtigen Bereich bereits seit geraumer Zeit Kritik erwachsen263: In familienrechtlichen Streitigkeiten, die dem summarischen Verfahren unterstehen ­ das sind sowohl eherechtliche Verfahren (vgl. Art. 271 ZPO), wie insbesondere das Eheschutzverfahren (Art. 271 Bst. a ZPO), Verfahren betreffend vorsorglicher Massnahmen im Scheidungsverfahren (Art. 276 ZPO), bestimmte Verfahren der Kinderbelange (Art. 302 ZPO) und betreffend die eingetragene Partnerschaft (Art. 305 ZPO) ­ erscheinen diese Regelungen zumindest in einem Punkt verbesserungswürdig: Nach Artikel 314 Absatz 2 ZPO ist die Anschlussberufung auch in diesen Fällen ausgeschlossen.

Diese Regelung bedeutet gerade in komplexen und umstrittenen Eheschutzsachen, dass lediglich aus prozesstaktischen Gründen sicherheitshalber selbstständig Berufung erhoben wird, was nicht nur einen beträchtlichen Aufwand bedeutet (gemäss Art. 311 Abs. 1 ZPO ist die Berufung mit ihrer Erhebung zu begründen), sondern zu weiterer Eskalation führt und auch der späteren Vergleichsbereitschaft abträglich ist.264 Zukünftig soll daher die Anschlussberufung im Sinne einer Gegenausnahme in diesen familienrechtlichen Summarverfahren zulässig sein. Absatz 2 ist um einen entsprechenden Vorbehalt zugunsten dieser Verfahren nach den Artikeln 271, 276, 302 und 305 ZPO zu ergänzen. Dieser Vorschlag wurde auch in der Vernehmlassung von einer knappen Mehrheit unterstützt.265 Angesichts der verbreiteten Kritik an der Frist von zehn Tagen zur Einreichung der Berufung beziehungsweise der Berufungsantwort in diesen Fällen hatte der Bundesrat für diese familienrechtlichen Streitigkeiten im Vorentwurf eine Verlängerung der Frist zur Einreichung der Berufung und zur Berufungsantwort auf 30 Tage vorgeschlagen. Damit wollte er der Kritik an den kurzen
Fristen Rechnung tragen und in der Praxis offenbar auftretende Härtefälle bei der Entscheideröffnung kurz vor Feiertagen oder Ferienzeiten vermeiden. Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung jedoch überwiegend kritisiert, weil eine Verlängerung und Verkomplizierung dieser ohnehin belastenden Verfahren befürchtet wurde.266 Aufgrund dieser Kritik verzichtet der Bundesrat auf den ursprünglichen Vorschlag einer isoliert

261 262 263 264 265 266

Vgl. nur Peter Reetz/Sarah Hilber, Art. 313 N 50 ff., in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Nicolas Jeandin, Art. 313 N 10, in: CR CPC, 2. Aufl., Basel 2019.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.60.

Vgl. z.B. Roland Fankhauser, Übersicht über die familienrechtlichen Bestimmungen im neuen Entwurf zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, FamPra.ch 2004, S. 42 ff.

So bereits Roland Fankhauser, Übersicht über die familienrechtlichen Bestimmungen im neuen Entwurf zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, FamPra.ch 2004, S. 50 f.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.45.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.45.

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betrachtet letztlich systemwidrigen Verlängerung der Fristen in Artikel 314 Absatz 1 ZPO.

Art. 315 Abs. 3 und 4 Bst. c und d Die Absätze 2 und 3 von Artikel 315 ZPO regeln die Ausnahmen vom Grundsatz der aufschiebenden Wirkung der Berufung gemäss Absatz 1. Wie in der Vernehmlassung ausgeführt wurde,267 ist die Bestimmung von Absatz 3 insofern ungenau, als es bei Gestaltungsentscheiden nicht um den Entzug der aufschiebenden Wirkung gehen kann, weil diese von Gesetzes wegen eintritt. Weil Gestaltungsentscheide aber grundsätzlich keinen vollstreckungsfähigen Inhalt haben, kommt in diesen Fällen auch keine vorzeitige Vollstreckung in Betracht; es kann also nur um die vorzeitige Rechtskraft gehen.268 Absatz 3 soll daher entsprechend angepasst werden: Die Berufung gegen Gestaltungsentscheide hat stets aufschiebende Wirkung. Dabei handelt es sich um eine Anpassung ohne materiellen Gehalt.

Absatz 4 zählt abschliessend Fälle auf, in denen der Berufung von Gesetzes wegen ausnahmsweise keine aufschiebende Wirkung zukommt, weil damit Sinn und Zweck des Entscheids in Frage gestellt würde. Einem aus Sicht des Bundesrates berechtigten Anliegen aus der Vernehmlassung269 entsprechend soll dieser Ausnahmekatalog mit zwei neuen Buchstaben c und d ergänzt werden: die Anweisungen an die Schuldner und die Sicherstellung des Unterhalts gemäss den Artikeln 132 und 291 f.

ZGB. Weil es sich dabei nicht um vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Buchstabe b handelt,270 kommt der Berufung nach geltendem Recht Suspensiveffekt zu, was nicht befriedigt.271 Zukünftig soll daher für die Anweisungen an die Schuldner und die Sicherstellung des Unterhalts ebenfalls eine Ausnahme vom Suspensiveffekt der Berufung gelten, soweit die Entscheide der Berufung unterliegen.

Art. 317 Abs. 1bis Artikel 317 Absatz 1 ZPO regelt die Berücksichtigung neuer Tatsachen und Beweismittel im Berufungsverfahren. Diese können nur beschränkt berücksichtigt werden, insbesondere nur noch dann, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor der ersten Instanz vorgebracht werden konnten.

Das geltende Recht sieht von diesem Grundsatz im Unterschied zum erstinstanzlichen Verfahren (vgl. Art. 229 Abs. 3 ZPO) auch keine Ausnahme vor für Verfahren, in denen das Gericht beziehungsweise die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären hat. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist eine analoge Anwendung von Artikel 229 Absatz 3 ZPO im Berufungsverfahren entge-

267 268

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.61.

Vgl. Urs H. Hoffmann-Nowotny, Art. 315 N 37 f., in: ZPO Rechtsmittel, Basel 2013; Peter Reetz/Sarah Hilber, Art. 315 N 44 f., in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016.

269 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.2.7.

270 Vgl. dazu BGE 137 III 193 E. 1.2 271 Vgl. Entscheid ZB.2016.1 Appellationsgericht BS vom 1.4.2016, E. 3.3 unter Hinweis auf BGE 137 III 193 E. 1.2

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gen einem Teil der Lehre272 ausgeschlossen:273 Weder die Entstehungsgeschichte noch die Systematik würden Hinweise für eine solche vom Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung geben. Die Novenbeschränkung gelte damit trotz der Bestimmung von Artikel 247 Absatz 2 ZPO, wonach die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt von Amtes wegen feststellt (= sozialer oder beschränkter Untersuchungsgrundsatz), auch im vereinfachten Verfahren.

Davon zu unterscheiden sind nach Ansicht des Bundesrates demgegenüber Verfahren mit uneingeschränktem Untersuchungsgrundsatz: In diesen Fällen, in welchen die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt gerade von Amtes wegen «erforschen» muss (vgl. insb. Art. 296 ZPO für Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten [vgl. dazu auch vorne die Erläuterungen] sowie auch Artikel 446 Absatz 1 ZGB für Kindes- und Erwachsenenschutzrecht), müssen neue Tatsachen und Beweismittel auch im Berufungsverfahren uneingeschränkt bis zur Urteilsberatung zulässig sein. Zahlreiche kantonale Gerichte haben bereits in diesem Sinne entschieden,274 und zwischenzeitlich hat sich auch das Bundesgericht dieser Ansicht angeschlossen: In Verfahren mit uneingeschränktem Untersuchungsgrundsatz können die Parteien im Berufungsverfahren Noven auch dann vorbringen, wenn die Voraussetzungen von Artikel 317 Absatz 1 ZPO nicht erfüllt sind.275 In Verfahren mit uneingeschränktem Untersuchungsgrundsatz muss das Interesse an der Sachverhaltsermittlung und der materiellen Wahrheitsfindung vorgehen. Da es ja hauptsächlich um Kinderbelange geht, geht es zumindest indirekt auch um die Umsetzung der Artikel 3, 9 und 12 des Übereinkommens vom 20. November 1989276 über die Rechte des Kindes.

Artikel 317 ZPO ist daher um einen neuen Absatz 1bis zu ergänzen und die (bundesgerichtliche) Rechtsprechung zu kodifizieren, wonach die Rechtsmittelinstanz neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung berücksichtigt, wenn es den Sachverhalt von Amtes wegen zu erforschen hat. Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung grossmehrheitlich unterstützt, noch vor dem genannten Entscheid des Bundesgerichts; von verschiedener Seite wurde sogar eine Ausdehnung auch auf Verfahren mit sozialem oder beschränktem Untersuchungsgrundsatz gefordert.277 Art. 318 Abs. 2 und Art. 327 Abs. 5 Nach diesen beiden Bestimmungen hat die
Rechtsmittelinstanz ihren Entscheid mit einer schriftlichen Begründung zu eröffnen. Damit gilt für Berufung und Beschwerde eine von Artikel 239 Absatz 1 ZPO abweichende ausnahmslose Begründungs272

273

274

275 276 277

So z.B. Benedikt Seiler, Zur Anwendbarkeit von Art. 229 Abs. 3 ZPO im Berufungsverfahren, SZZP 2012, 457 ff.; Martin H. Sterchi, Art. 317 N 8, in: BK ZPO, Bern 2012; Nicolas Jeandin, Art. 317 N 9, in: CR CPC, 2. Aufl., Basel 2019.

BGE 138 III 625 E. 2.1 f. Vgl. dazu ausführlich Dieter Freiburghaus, Untersuchungsmaxime ohne Novenrecht im Berufungsverfahren nach ZPO?, in: Fankhauser/Widmer Lüchinger/Klingler/Seiler (Hrsg.), FS Sutter-Somm, Zürich 2016, S. 111 ff.

Vgl. z.B. KGer BL, Entscheid vom 24. Januar 2012, 400 2011 193, E. 2; OGer ZH, Urteil vom 20. August 2014, LY140011-O, E. 2.4; OGer ZH, Urteil vom 8. Mai 2013, LC130019, E. 3.1.

BGE 144 III 349 E. 4.2.1 SR 0.107 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.46.

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pflicht. Bereits kurz nach Inkrafttreten der ZPO verlangte die Motion 13.3684 Caroni «Kein Begründungszwang vor zweitinstanzlichen Gerichten gegen den Parteiwillen» eine Anpassung dieser Regelung; sie wurde jedoch aus damaliger Sicht des Bundesrates zu Recht abgelehnt.278 Zwischenzeitlich hat aber das Bundesgericht entschieden, dass die Rechtsmittelinstanz ihren Entscheid durch Versand eines Dispositivs eröffnen und später begründen kann.279 Wie auch die Vernehmlassung gezeigt hat,280 besteht jedoch nach wie vor ein Bedürfnis nach einer Anpassung und der Möglichkeit einer Eröffnung ohne schriftliche Begründung, womit die zweitinstanzlichen Gerichte spürbar entlastet würden. Der Bundesrat schlägt daher vor, die Artikel 318 Absatz 2 und Artikel 327 Absatz 5 ZPO aufzuheben. Damit gelangt der Grundsatz von Artikel 239 Absatz 1 ZPO auch für die Berufung und die Beschwerde zur Anwendung. Aufgrund ihrer besonderen Rechtsnatur weiterhin zwingend zu begründen sind gemäss Artikel 333 Absatz 3 ZPO die Entscheide in Revisionsverfahren. Soweit Entscheide der Beschwerde an das Bundesgericht unterliegen, ist Artikel 112 BGG sowie insbesondere dessen Absatz 2 zu beachten, der die Möglichkeit einer Eröffnung ohne Begründung vorsieht. Im Rahmen der laufenden Revision des BGG hatte der Bundesrat eine Streichung von dessen Artikel 112 Absatz 2 vorgeschlagen; der Nationalrat hat diesen Vorschlag abgelehnt.281 Art. 328 Abs. 1 Bst. d Nach Artikel 51 Absatz 3 ZPO sind nach Abschluss des Verfahrens entdeckte Ausstandsgründe im Verfahren der Revision geltend zu machen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gilt dies jedoch nur dann, wenn kein anderes Rechtsmittel mehr zur Verfügung steht. Nach dem Vorschlag des Bundesrates soll daher Artikel 51 Absatz 3 ZPO entsprechend angepasst und präzisiert werden (vgl. dazu vorne die Erläuterungen zu Artikel 51 Absatz 3 E-ZPO). Angesichts dieser Anpassung ist der bereits für das geltende Recht unvollständige282, aber gemäss Botschaft zur ZPO abschliessende283 Katalog der Revisionsgründe in Artikel 328 Absatz 1 ZPO um diesen Tatbestand der nachträglichen Entdeckung von Ausstandsgründen nach Artikel 51 Absatz 3 E-ZPO zu ergänzen. Dieser Vorschlag wurde auch in der Vernehmlassung unterstützt.284 Art. 336 Abs. 3 Artikel 336 ZPO regelt, welche Entscheide vollstreckbar sind. Nach
geltendem Recht bestehen bei Entscheiden, die gemäss Artikel 239 ZPO ohne schriftliche Begründung eröffnet werden, gewisse Rechtsunsicherheiten (vgl. dazu auch Art. 239 Abs. 2bis E-ZPO und dessen Erläuterung), die durch eine klare gesetzliche Regelung 278 279 280 281

AB NR 2013 2204 BGE 142 III 695 E. 4 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.47.

Vgl. 18.051 Bundesgerichtsgesetz. Änderung. Botschaft des Bundesrates vom 15. Juni 2018, BBl 2018 4605, 4648; AB NR 2019 264.

282 Vgl. Dieter Freiburghaus/Susanne Afheldt, Art. 328 N 12, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016 und Ivo Schwander, Art. 328 N 24, in: DIKE ZPO, 2. Aufl., Zürich 2016.

283 Botschaft ZPO, BBl 2006 7380.

284 Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.47.

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in einem neuen Artikel 336 Absatz 3 ZPO geklärt werden sollen: Auch ein ohne schriftliche Begründung eröffneter Entscheid ist ­ wie ein schriftlich begründeter Entscheid ­ vollstreckbar. Grundsätzlich gilt bereits nach geltendem Recht, dass Entscheide, gegen die kein Rechtsmittel mit gesetzlicher Suspensivwirkung zur Verfügung steht, auch dann mit ihrer Eröffnung vollstreckbar werden, wenn sie ohne schriftliche Begründung eröffnet werden.285 Vorbehalten sind sodann die Fälle, in denen das Gericht die Vollstreckung auf Antrag einer Partei aufgeschoben hat (vgl.

Art. 239 Abs. 2bis E-ZPO).

Art. 372 Abs. 2 Artikel 372 Absatz 2 ZPO regelt den Fall, dass Klagen über denselben Streitgegenstand sowohl bei einem staatlichen Gericht als auch bei einem Schiedsgericht rechtshängig gemacht werden, und er bestimmt, dass das zuletzt angerufene Gericht sein Verfahren aussetzt, bis das zuerst angerufene Gericht über seine Zuständigkeit entschieden hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob zuerst das staatliche Gericht oder das Schiedsgericht angerufen wurde; es gilt das Kriterium des zeitlichen Vorrangs. 286 Die Regelung für die Binnenschiedsgerichtsbarkeit unterscheidet sich somit von Artikel 186 Absatz 1bis IPRG für den Bereich der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit.287 Diese Regelung hat sich in der Praxis nach Ansicht des Bundesrates nicht bewährt und soll daher ersatzlos gestrichen werden. Die Bestimmung führt in Kombination mit Artikel 61 Absatz 1 Buchstabe b ZPO zu einem Wertungswiderspruch.288 Denn wenn ein staatliches Gericht in der Schweiz zuerst angerufen wird, findet nach einhelliger Lehre und Rechtsprechung die Regelung von Artikel 61 ZPO Anwendung:289 Das staatliche Gericht lehnt seine Zuständigkeit ab, ausser ein in den Buchstaben a­c genannter Sachverhalt liegt vor (Einlassung, offensichtlich ungültige oder unerfüllbare Schiedsvereinbarung oder Schiedsgericht kann aus Gründen, welche die beklagte Partei zu vertreten hat, nicht bestellt werden). Nach Artikel 61 Absatz 1 Buchstabe b ZPO lehnt das staatliche Gericht seine Zuständigkeit nur dann nicht ab, wenn die Schiedsvereinbarung offensichtlich ungültig oder unerfüllbar ist; das staatliche Gericht hat also nur eine beschränkte Kognition, und die abschliessende Entscheidung über die schiedsgerichtliche Zuständigkeit soll gerade dem Schiedsgericht
zukommen. Angesichts dieser abschliessenden «Zuständigkeitskompetenz» des Schiedsgerichts macht es keinen Sinn, wenn dieses in einem ersten Schritt zur Aussetzung seines Verfahrens gezwungen ist, bis ein staatliches Gericht nicht abschlies285 286

Vgl. Daniel Staehelin, Art. 239 N 35 in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016.

Vgl. Felix Dasser, Art. 372 N 13, in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014; Christoph Müller, Art. 372 N 30, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016.

287 Vgl. Irma Ambauen, 3. Teil ZPO versus 12. Kapitel IPRG, Diss. Luzern 2016, Rz. 327; Christoph Müller, Art. 372 N 38, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Markus MüllerChen, Art. 61 N 6, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Tarkan Göksu, Schiedsgerichtsbarkeit, Zürich 2014, Rz. 1466; Christoph Hurni, Art. 61 N 12, in: BK ZPO, Bern 2012.

288 Mladen Stojiljkovi, Die Kontrolle der schiedsgerichtlichen Zuständigkeit, Diss. Zürich, S. 152 ff.

289 Vgl. bereits Botschaft ZPO, BBl 2006 7398 sowie Christoph Müller, Art. 372 N 32, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Marco Stacher, Art. 61 N 5 in: BK ZPO, Bern 2014; Tanja Domej, Art. 61 N 1, in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014.

2775

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send über die Zuständigkeit des Schiedsgerichts entschieden hat. Handelt es sich beim zuerst angerufenen staatlichen Gericht um ein ausländisches Gericht, so kommt Artikel 372 Absatz 1 ZPO nach überwiegender Meinung ohnehin nicht zur Anwendung, und auch die Bestimmung von Artikel 61 ZPO ist nicht anwendbar: Nach herrschender Lehre ist in diesen Fällen Artikel 186 Absatz 1bis IPRG analog anzuwenden. Das (Binnen-)Schiedsverfahren kann ohne Berücksichtigung ausländischer Gerichtsverfahren weitergeführt werden,290 weil in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit der uneingeschränkte Litispendenz-Grundsatz gilt.291 Aus diesen Gründen ist Artikel 372 Absatz 2 ZPO ersatzlos zu streichen, womit der erwähnte Wertungswiderspruch aufgelöst und die Rechtslage geklärt wird: Ein Binnenschiedsgericht muss das Schiedsverfahren nicht mehr automatisch sistieren, bis ein staatliches Gericht in der Schweiz darüber befunden hat, ob die Schiedsvereinbarung «offensichtlich ungültig» ist. Vielmehr kann das Schiedsgericht direkt die Zuständigkeitsfrage und damit seine eigene Zuständigkeit abschliessend prüfen und das Schiedsverfahren gegebenenfalls weiterführen. Auf der anderen Seite ändert sich für das staatliche schweizerische Gericht nichts, weil die Bestimmung von Artikel 61 ZPO unverändert bleibt.

Art. 400 Abs. 2bis und 3 Nach Artikel 400 Absatz 2 ZPO stellt der Bundesrat Formulare für Gerichtsurkunden und Parteieingaben zur Verfügung. Dies hat der Bundesrat auf der Website des Bundesamts für Justiz getan.292 Der Bundesrat schlägt vor, diese Dienstleistung in einem neuen Absatz 2bis zu erweitern: In Zukunft sollen der Öffentlichkeit auch Informationen zu den Prozesskosten und den Möglichkeiten der unentgeltlichen Rechtspflege sowie insbesondere der Prozessfinanzierung zur Verfügung gestellt werden, zum Beispiel in Form besonderer Merkblätter. Nach Ansicht des Bundesrates besteht ein beträchtliches Bedürfnis nach entsprechender Information und Aufklärung, insbesondere in Bezug auf die Prozessfinanzierung. Gerade für Personen und Parteien, die einerseits nicht über die nötigen finanziellen Mittel zur Finanzierung eines Zivilverfahrens oder schon nur der Kostenvorschusszahlungen verfügen, und die andererseits aber keinen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege gemäss Artikel 117 ff. ZPO haben, stellt die Prozessfinanzierung
durch Dritte eine Möglichkeit dar, auf diesem Weg finanzielle Hürden der prozessualen Geltendmachung von Rechten zu beseitigen. Bei der Prozessfinanzierung durch Dritte finanziert eine Drittperson ­ in aller Regel ein spezialisiertes Unternehmen ­ sämtliche Kosten einer Anspruchsdurchsetzung einer (klagenden) Partei vor; bei erfolgreichem Verfahrensausgang hat letztere die bevorschussten Kosten aus dem erstrittenen Erlös an den Prozessfinanzierer zurückzubezahlen, dem zudem als Erfolgsbeteiligung ein prozentualer Anteil am verbleibenden Nettoerlös zusteht. Bei Unterliegen werden

290

Vgl. Felix Dasser, Art. 372 N 14, in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014; Marco Stacher, Art. 372 N 126 in: BK ZPO, Bern 2014.

291 Vgl. Christoph Müller, Art. 372 N 31, 38, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016.

292 Vgl. www.bj.admin.ch > Publikationen & Service > Zivilprozessrecht.

2776

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die anfallenden Kosten dagegen ganz vom Prozessfinanzierer getragen.293 Nach Ansicht des Bundesrates kann mit entsprechenden Informationen und Merkblättern sichergestellt werden, dass auch Parteien ohne anwaltliche Vertretung Kenntnis von den Möglichkeiten der Prozessfinanzierung haben (Rechtsanwältinnen und -anwälte müssen im Rahmen ihrer geltenden Sorgfaltspflichten über die Möglichkeiten der Prozessfinanzierung aufklären294). Auch diese neue Aufgabe soll der Bundesrat dem Bundesamt für Justiz übertragen können; Absatz 3 ist entsprechend zu ergänzen.

Gleichzeitig verzichtet der Bundesrat demgegenüber angesichts der grossmehrheitlich ablehnenden Stellungnahmen in der Vernehmlassung295 auf eine Ausdehnung der Aufklärungspflicht der Gerichte über die Prozesskosten gemäss Artikel 97 ZPO (vgl. Ziff. 4.3).

Art. 401a

Statistik und Geschäftszahlen

Die Arbeiten zu dieser Vorlage haben deutlich vor Augen geführt, dass derzeit für die gesamte Schweiz keine eigentliche «Zivilprozessstatistik» vorliegt und eine Vielzahl zum Verständnis der Praxis der ZPO bedeutsamer Zahlen und Statistiken derzeit nicht schweizweit verfügbar sind (vgl. dazu vorne unter Ziff. 1.1.5). Soweit im Rahmen der Arbeiten der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz (CEPEJ), einem Fachgremium des Europarats,296 Daten über die Funktionsweise der Justiz und damit auch zum Zivilverfahrensrecht gesammelt werden, so sind diese einzigen schweizweit verfügbaren Daten nach wie vor nur bruchstückhaft und aus verschiedenen Gründen beschränkt aussagekräftig. Dies kontrastiert insbesondere mit umliegenden europäischen Ländern, z.B. Deutschland oder Österreich. Verlässliche Informationen zu den massgebenden Rechtstatsachen stellen jedoch unbestrittenermassen eine zentrale Grundlage für Gesetzesanpassungen und -revisionen sowie die Wissenschaft dar.297 Daher soll neu direkt in der Zivilprozessordnung selbst eine gesetzliche Grundlage für die Ermittlung von Geschäftszahlen und die Erstellung statistischer Grundlagen des Zivilprozessrechts geschaffen werden. Zweifellos handelt es sich dabei um eine Gemeinschaftsaufgabe, die dem Bund, den Kantonen und den Gerichten (kantonale Gerichte und Bundesgericht) gemeinsam obliegt; nur gemeinsam lässt sich das längerfristige Ziel schweizweit vereinheitlichter und damit vergleichbarer Statistiken und Geschäftszahlen überhaupt sinnvoll erreichen. Gleichzeitig liegt dieses Ziel auch im Interesse des Bundes, der Kantone, der Gerichte als Direktbetroffene sowie letztlich auch der Gesellschaft und Öffentlichkeit. Die neue Bestimmung hält daher 293

294 295

296 297

Vgl. dazu ausführlich Benjamin Schumacher, Prozessfinanzierung, Diss. Zürich 2015, S.

5 ff.; Isaak Meier, Prozessfinanzierung, insbesondere prozessuale und konkursrechtliche Fragen, ZZZ 2019, S. 3 ff. und Marcel Wegmüller, Prozessfinanzierung in der Schweiz: Bestandesaufnahme und Ausblick, HAVE 2013, S. 235 ff. je m.w.H.

Vgl. BGer 2C_814/2014 vom 22. Januar 2015, E. 4.3.1; Benjamin Schumacher/Hans Nater, Prozessfinanzierung und anwaltliche Aufklärungspflichten, SJZ 2016, S. 43 ff.

Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.15. Vgl. auch Benjamin Schumacher, Richterliche Pflicht zum Hinweis auf private Prozessfinanzierung? Stellungnahme zum Vorentwurf des Bundesrates zur Teilrevision der ZPO, AJP 2018, S. 458 ff.

Für weitere Informationen dazu siehe auch unter www.europewatchdog.info > Instrumente > Fachgremien > Effizienz der Justiz (CEPEJ).

Vgl. auch Isaak Meier, Evaluative Justizstatistik ­ am Beispiel des Einleitungsverfahrens, ZZZ 2016, S. 5 ff., 6 f.

2777

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zukünftig fest, dass Bund und Kantone gemeinsam mit den Gerichten dafür sorgen, dass genügende statistische Grundlagen und Geschäftszahlen über die massgeblichen Kennzahlen der praktischen Anwendung dieses Gesetzes, insbesondere Anzahl, Art, Materie, Dauer und Kosten für alle Verfahren der ZPO vorliegen. Dieser Auftrag richtet sich somit gleichsam an Bund, Kantone und Gerichte, und diese können ihn nur gemeinsam erfüllen. Das ist aus Kompetenz- und Ressourcengründen naheliegend und zielführend. Ermittelt werden sollen diejenigen Daten und Zahlen, welche für das Funktionieren und das Verständnis der ZPO und der daran beteiligten Akteure grundlegend und massgeblich sind. Somit geht es in erster Linie um die Daten und Zahlen in Bezug auf die Anzahl der Verfahren (Verfahrenseingänge und Erledigungen), wobei nach den verschiedenen Verfahrensarten und Materien (Sach- bzw. Rechtsgebieten) zu unterscheiden ist, sowie weiterführend zu Dauer und Kosten der Zivilverfahren. Umgekehrt sollen lediglich soweit notwendig und verhältnismässig Daten und Zahlen ermittelt werden; darüber hinaus können Wissenschaft und Forschung wie bisher weitere Zahlen ermitteln.

Soweit sich in der Vernehmlassung insbesondere die Kantone ablehnend geäussert haben, ist dieser Kritik bei der Umsetzung Rechnung zu tragen:298 So sind organisatorische und finanzielle Mehrbelastungen der Kantone und Gerichte wenn immer möglich zu vermeiden und ist die Organisationsautonomie der Kantone bei der Gerichtorganisation zu gewährleisten. Als Gemeinschaftsaufgabe wird auch der Bund seinen Anteil bei der Aufgabenerfüllung übernehmen. Angesichts dieser Kritik verzichtet der Bundesrat auch auf weitere Konkretisierungen bereits auf Stufe des Gesetzes. Vielmehr sollen insbesondere die Festlegung der zu ermittelnden Daten und Zahlen von Bund, Kantonen und Gerichten sowie die dafür vorzusehenden Zeiträume und Übergangsfristen gemeinsam festgelegt werden. Dabei wird selbstverständlich auf die bereits bestehenden Strukturen, namentlich bei der Ermittlung der von der Schweiz für die CEPEJ-Umfragen gelieferten Zahlen sowie im Rahmen der Justizkonferenz, zurückgegriffen beziehungsweise diese sinnvoll weiterentwickelt werden können. In diesem Zusammenhang dürften auch die laufenden Bestrebungen des elektronischen Rechtsverkehrs im Projekt «Justitia 4.0» wesentliche Synergieeffekte bieten.

5.2

Änderung anderer Bundesgesetze

5.2.1

Bundesgerichtsgesetz (BGG)

Art. 42 Abs. 1bis Artikel 42 regelt die Rechtsschriften in Verfahren vor dem Bundesgericht. Grundsätzlich müssen diese in einer Amtssprache des Bundes abgefasst werden (Abs. 1).

Soweit mit der vorgeschlagenen Neuerung von Artikel 129 Absatz 2 E-ZPO das vorinstanzliche Verfahren zukünftig auf Antrag sämtlicher Parteien auch in englischer Sprache geführt werden kann, wenn dies das kantonale Recht so vorsieht (vgl.

dazu auch Ziff. 4.1.6 sowie die Erläuterungen zu Art. 129 E-ZPO), erscheint diese 298

Vgl. Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.62.

2778

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Regelung zu einschränkend: Wenn das Verfahren vor der kantonalen Vorinstanz zukünftig allenfalls in englischer Sprache geführt wurde, so sollen die Parteien auch in einem anschliessenden Verfahren vor dem Bundesgericht ihre Rechtsschriften in englischer Sprache abfassen können (Abs. 1bis). Unverändert nach den allgemeinen Regelungen von Artikel 54 BGG richtet sich die Verfahrenssprache und damit auch die Sprache der Entscheide im bundesgerichtlichen Verfahren: Diese ergehen auch zukünftig stets in einer Amtssprache. Damit wird für die Parteien die Möglichkeit der Verwendung der englischen Sprache, aber auch anderer als der kantonalen Amtssprachen (vgl. Art. 129 Abs. 2 E-ZPO), instanzenübergreifend bis zum Bundesgericht umgesetzt. Die vorgeschlagene Regelung entspricht inhaltlich dem Vorschlag des Bundesrates für die Schiedsgerichtsbarkeit, der derzeit im Parlament diskutiert wird (Art. 77 Abs. 2bis E-BGG in der Fassung E-IPRG).299

5.2.2

Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG)

Art. 5 Abs. 3 Bst. c Artikel 5 IPRG regelt Form, Inhalt und Wirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen im internationalen Kontext, soweit nicht staatsvertragliche Regelungen anwendbar sind und gemäss Artikel 1 Absatz 2 IPRG vorgehen. Gültige Gerichtsstandsvereinbarungen sind für ein vereinbartes Gericht gemäss Artikel 5 Absatz 3 IPRG absolut verbindlich, wenn ein enger Binnenbezug gegeben ist, das heisst, wenn entweder eine Partei ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder eine Niederlassung im Kanton des vereinbarten Gerichts hat (Bst. a) oder in der Sache Schweizer Recht anwendbar ist (Bst. b). In Fällen mit geringem Binnenbezug steht es aber nach geltendem Recht im Anwendungsbereich des IPRG im Ermessen der Gerichte, ob sie eine gewählte Zuständigkeit annehmen wollen. Mit der vorgeschlagenen Schaffung der Rechtsgrundlagen, damit Kantone spezialisierte Gerichte oder Gerichtskammern innerhalb ihrer Handels- oder Obergerichte mit spezifischen Verfahrensregeln für die Abwicklung internationaler Streitfälle in Handelssachen vor ihren Gerichten schaffen können (vgl. Art. 6 Abs. 4 Bst. c und Art. 8 Abs. 2 E-ZPO), kann das kantonale Recht das Ermessen der Gerichte beschränken und die Gerichte zur Annahme verpflichten: Ein vereinbartes Gericht soll zukünftig seine Zuständigkeit ebenfalls nicht ablehnen dürfen, wenn es sich dabei um ein Handelsgericht handelt und die Klage sich auf Artikel 6 Absatz 4 Buchstabe c E-ZPO stützt (Bst. c 1. Variante). Das Gleiche soll ­ unter der Bedingung, dass das Gericht seine Zuständigkeit nach kantonalem Recht nicht ablehnen darf ­ auch gelten, wenn es sich um das obere Gericht handelt und die Parteien nach Artikel 8 ZPO direkt an dieses gelangen 299

18.076 Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht. 12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit; Botschaft und Entwurf vom 24. Oktober 2018 zur Änderung des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (12. Kapitel: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit), BBl 2018 7163 ff.; am 18. Oktober 2019 ist die RK-N dem Vorschlag des Bundesrates gefolgt, vgl. Medienmitteilung RK-N vom 18. Oktober 2019, abrufbar unter www.parlament.ch > Organe > Kommissionen > Sachbereichskommissionen > RK > Medienmitteilungen.

2779

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(Bst. c 2. Variante). Damit wird sichergestellt, dass Vereinbarungen über die örtliche Zuständigkeit in der Schweiz und die sachliche Zuständigkeit eines Handelsgerichts oder eines oberen kantonalen Gerichts auch internationalprivatrechtlich vorbehaltlos durchsetzbar sind und ein vereinbartes Schweizer Ober- oder Handelsgericht seine Zuständigkeit nicht ablehnen kann. So wird zugunsten der Parteien die nötige Rechtssicherheit geschaffen, dass ihre Wahl eines zukünftigen schweizerischen internationalen Handelsgerichts auch verbindlich ist. Dass Schweizer Gerichte vor einer übermässigen Inanspruchnahme geschützt werden müssen, wie es der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung ursprünglich wollte,300 trifft hier nicht zu, und eine Verbindlichkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten eines bestimmten sachlich zuständigen Handels- oder Obergerichts resultiert in diesen Fällen immer nur auf der Grundlage eines entsprechenden Entscheids des zuständigen Kantons.

Art. 11b Weil neu bereits im neuen Buchstaben c von Artikel 5 Absatz 3 IPRG auf die ZPO verwiesen wird, ist der entsprechende Verweis (neu nur Abkürzung) rein redaktionell anzupassen.

6

Auswirkungen

6.1

Auswirkungen auf den Bund

Die Vorlage hat keine unmittelbaren finanziellen oder personellen Auswirkungen auf den Bund.

Soweit dem Bund mit der Pflicht zur Publikation allgemeiner Informationen zu den Prozesskosten und den Möglichkeiten der unentgeltlichen Rechtspflege sowie der Prozessfinanzierung und der Ermittlung von Geschäftszahlen und die Erstellung statistischer Grundlagen neue Aufgaben zukommen (vgl. Art. 400 Abs. 2bis und Art.

401a E-ZPO und die Erläuterungen dazu), werden ihm mittelbar zusätzliche Ausgaben entstehen. Sie können aber im Rahmen der verfügbaren Mittel von den zuständigen Stellen und Behörden finanziell und personell getragen werden.

6.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Vorlage hat in verschiedener Hinsicht Auswirkungen auf die Kantone: ­

300

Wie nach geltendem Recht ist die Organisation der Gerichte und der Schlichtungsbehörden Sache der Kantone, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (Art. 3 ZPO). Auch wenn mit den vorliegenden Anpassungen bewusst nicht direkt in die diesbezüglich bewährte kantonale Organisation eingegriffen werden soll, kann sich daraus in den Kantonen mittelbar AnpasVgl. Botschaft IPRG, BBl 1983 I 263, Ziff. 213.6.

2780

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sungsbedarf in Bezug auf die Gerichts- und Behördenorganisation ergeben, zum Beispiel in Bezug auf die Schlichtungsbehörden oder in den Kantonen mit einem Handelsgericht. Mit den vorgeschlagenen Anpassungen betreffend die Möglichkeit der Schaffung besonderer internationaler Handelsgerichte (vgl. Ziff. 4.1.6 sowie insb. Art. 6 Abs. 4 Bst. c und Art. 129 Abs. 2 E-ZPO) erhalten die Kantone zudem die Möglichkeit (nicht aber die Pflicht) für weitere Anpassungen in ihrer Gerichts- und Behördenorganisation, sofern sie hier Handlungsbedarf sehen.

­

Vorgeschlagen wird die Anpassung der Regelung über die maximale Höhe der Gerichtskostenvorschüsse (vgl. Art. 98 E-ZPO) und die Liquidation der Prozesskosten (vgl. Art. 111 Abs. 1 und 2 E-ZPO). Weil die Justiz als essentielle Staatsaufgabe in einem Rechtsstaat immer mit Kosten und (Staats-) Ausgaben verbunden ist, werden die Vorschläge finanzielle Auswirkungen auf die Kantone haben, voraussichtlich nicht nur mittelbar, sondern auch unmittelbar, wie von Seiten der Kantone in der Vernehmlassung unterstrichen wurde:301 Einerseits werden die Gerichtskostenvorschüsse in der Praxis nach der klaren Erwartung geringer ausfallen, und andererseits können sich die Kantone bei der Liquidation der Gerichtskosten nicht direkt aus den Vorschüssen schadlos halten. Dies ist jedoch nicht zu vermeiden, will man die Parteien über die unvermeidbaren Prozess- und Prozesskostenrisiken eines Zivilprozesses hinaus zumindest vom Insolvenzrisiko für die Gerichtskosten entlasten, wie dies bereits bei der Schaffung der ZPO ursprünglich die Absicht war. Gegenüber dem Vorentwurf wurden diese finanziellen Auswirkungen jedoch deutlich reduziert, indem in gewissen Fällen weiterhin ein Kostenvorschuss in Höhe der gesamten Gerichtskosten erhoben werden kann und damit auch das Insolvenzrisiko unverändert bei der obsiegenden Partei liegt (vgl. Art. 98 Abs. 2 E-ZPO in Verbindung mit Art. 111 Abs. 1 EZPO). Die finanziellen Auswirkungen lassen sich weder insgesamt noch für den einzelnen Kanton quantifizieren oder prognostizieren, zumal sie direkt von der jeweiligen kantonalen Gerichts- und Behördenorganisation sowie der Gebühren- und Kostenstruktur abhängen. Die bisherigen Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass sich die Ausfälle der Kantone für nicht oder nicht rechtzeitig bezahlte Gerichtskosten mit einem effizienten Inkassosystem markant senken lassen.

Die Vorlage hat keine spezifischen Auswirkungen auf Gemeinden, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete. Die entsprechenden Fragen wurden daher nicht vertieft untersucht.

6.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Anpassungen des Zivilprozessrechts lassen sich naturgemäss, wenn überhaupt, nur schwer erfassen. Wie der Bundesrat bereits bei der Schaffung der schweizerischen ZPO ausgeführt hat, trägt eine effi301

Vgl. dazu Bericht Vernehmlassung, Ziff. 4.1 und 5.16.

2781

BBl 2020

ziente Rechtspflege als Garantin des Rechtsfriedens zur wirtschaftlichen Prosperität und damit letztlich auch zu verbesserter Lebensqualität bei.302 Mit den vorliegenden Anpassungen der ZPO soll die zivilrechtliche Rechtsdurchsetzung und Rechtspflege weiter verbessert und effizienter gemacht werden. Dies soll sowohl für Privatpersonen als insbesondere auch für Unternehmen dazu führen, dass die Kosten der Rechtsdurchsetzung sinken. Bestehende Kostenschranken im geltenden Recht, namentlich die hohen Prozesskostenvorschüsse (vgl. Art. 98 ZPO) sowie das von den Parteien zu tragende Insolvenzrisiko für die Gerichtskosten (vgl.

Art. 111 ZPO) und damit die teilweise kritisierten «Paywalls» der Justiz sollen abgebaut werden.

6.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Mit den vorgeschlagenen Massnahmen soll der zivilrechtliche Rechtsschutz zugunsten der einzelnen Personen effizient verbessert werden. Dies trägt zur gesellschaftlichen Stabilität bei und stärkt das Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Institutionen zur effizienten und effektiven Durchsetzung des Rechts zugunsten des einzelnen Individuums. Nur durchsetzbares und im Streitfall auch durchgesetztes und damit verwirklichtes Privatrecht erfüllt letztlich seine Aufgabe als gesellschaftliches Ordnungsinstrument.

6.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Es ist offensichtlich, dass im Bereich der Umwelt keine Auswirkungen zu erwarten sind; die entsprechende Frage wurde daher nicht detailliert untersucht.

7

Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage sieht Anpassungen der geltenden ZPO vor, die sich auf Artikel 122 BV (Bundeskompetenz auf dem Gebiet des Zivilrechts und des Zivilprozessrechts) abstützt, sowie weiterer geltender, verfassungsmässiger Bundesgesetze.

7.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Für die Schweiz bestehen im Bereich des Zivilprozessrechts diverse bilaterale und multinationale Vereinbarungen, insbesondere das Lugano-Übereinkommen sowie das Übereinkommen vom 15. November 1965303 über die Zustellung gerichtlicher 302 303

Botschaft ZPO, BBl 2006 7410.

SR 0.274.131

2782

BBl 2020

und aussergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen, das Übereinkommen vom 18. März 1970304 über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen und das Übereinkommen vom 1. März 1954305 betreffend den Zivilprozess. Die Vorlage ist mit diesen Übereinkommen vereinbar.

7.3

Erlassform

Die Vorlage enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen, die nach Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen sind. Der Erlass untersteht dem fakultativen Referendum.

7.4

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Ausgabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.

7.5

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

Die vorgeschlagenen Änderungen zielen auf eine Verbesserung des geltenden schweizweit vereinheitlichten Zivilprozessrechts ab. Dies gilt auch für die vorgeschlagenen Anpassungen bei den Prozesskosten, die aus Sicht der Kantone einen besonders sensiblen Bereich betreffen. Indem insbesondere die Tarifhoheit mit einer bereits im geltenden Recht vorgesehenen Einschränkung (vgl. Art. 96 Abs. 2 E-ZPO und dessen Erläuterung: Gebührentarif SchKG) wie bisher uneingeschränkt bei den Kantonen verbleibt, sind auch die vorgeschlagenen Anpassungen bei den Prozesskosten, insbesondere die vorgeschlagene Anpassung der Artikel 98 und 111 ZPO bezüglich Kostenvorschuss und Liquidation der Prozesskosten, mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Prinzip der fiskalischen Äquivalenz vereinbar: Auch die vorgeschlagenen Anpassungen sind durch die Notwendigkeit eines schweizweit einheitlich funktionierenden Zivilverfahrensrechts gerechtfertigt. Der Bund stützt sich dabei auf die Kompetenz, die ihm gemäss Artikel 122 BV für das gesamte Zivilprozessrecht zusteht und die grundsätzlich auch die Organisation der Gerichte und Schlichtungsbehörden beinhaltet (vgl. auch Art. 3 ZPO).

7.6

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Vorlage sieht keine Delegation von Rechtsetzungskompetenzen an den Bundesrat vor. Bei der in Artikel 400 Absatz 2bis E-ZPO neu vorgesehenen Bereitstellung 304 305

SR 0.274.132 SR 0.274.12

2783

BBl 2020

von Informationen zu den Prozesskosten und den Möglichkeiten der unentgeltlichen Rechtspflege und der Prozessfinanzierung durch den Bundesrat (vgl. die Erläuterungen zu Art. 400 Abs. 2bis E-ZPO) handelt es sich nicht um eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen.

7.7

Datenschutz

Unter dem Gesichtspunkt der Bearbeitung von Personendaten hat die vorliegende Anpassung der ZPO sowie weiterer Bundesgesetze keine Auswirkungen.

2784