20.032 Botschaft zur Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» vom 6. März 2020

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Initiative abzulehnen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

6. März 2020

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Simonetta Sommaruga Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2019-3926

2797

Übersicht Die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» (inoffiziell «99%-Initiative») will Kapitaleinkommen stärker besteuern. Der daraus resultierende Mehrertrag soll Personen mit niedrigen oder mittleren Einkommen zugutekommen. Der Bundesrat sieht keinen Handlungsbedarf. Die Einkommen sind in der Schweiz vergleichsweise gleichmässig verteilt und das Umverteilungsvolumen ist heute bereits bedeutend. Darüber hinaus würde sich die Initiative negativ auf die Standortattraktivität auswirken und die Anreize zur Kapitalbildung schwächen. Davon betroffen wären nicht nur kapitaleinkommensstarke Personen, sondern insbesondere auch Lohnabhängige. Der Bundesrat empfiehlt, die Initiative abzulehnen.

Inhalt der Vorlage Die Initiantinnen und Initianten fordern, dass Kapitaleinkommen über einem vom Gesetzgeber zu bestimmenden Betrag im Umfang von 150 Prozent besteuert wird, also um 50 Prozent höher als andere Einkommensarten. Der sich daraus ergebende Mehrertrag ist für die Ermässigung der Besteuerung von Personen mit tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder für Transferzahlungen zugunsten der sozialen Wohlfahrt einzusetzen. Das Gesetz soll die Einzelheiten regeln. Der Initiativtext lässt in Bezug auf eine allfällige Ausführungsgesetzgebung einen Interpretationsspielraum offen. Dies betrifft insbesondere den Begriff des Kapitaleinkommens, die Höhe des zu bestimmenden Betrags, ab dem die höhere Besteuerung zum Tragen kommt, und die Ausgestaltung der Rückverteilung der resultierenden Mehrerträge.

Vorzüge und Mängel der Initiative Das erklärte Ziel der Volksinitiative besteht darin, mittels einer höheren Besteuerung von Kapitaleinkommen und einer konsequenten Rückverteilung mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Im Weiteren ist die Initiative durch das Unbehagen motiviert, dass Vermögende vom Kapitaleinkommen leben können, ohne einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen.

Mit den wirtschaftlichen Ungleichheiten greift die Initiative ein Thema auf, das weltweit vermehrt ins Zentrum des politischen und wissenschaftlichen Diskurses rückt. Der Bundesrat ortet jedoch keinen Handlungsbedarf. In der Schweiz sind die Markteinkommen ­ also die Einkommen vor Steuern und Transferleistungen ­ im internationalen Vergleich gleichmässig verteilt. Der Umverteilungsbedarf ist damit geringer als in anderen
Ländern. Es findet dennoch bereits heute vor allem über Transferleistungen eine Umverteilung statt. In geringerem Ausmass tragen auch die Pflichtabgaben zur Umverteilung bei, insbesondere durch die progressiv ausgestalteten Einkommens- und Vermögenssteuern.

Die Volksinitiative greift zur Minderung der Einkommensungleichheit zu einem wenig zielgenauen Instrument, weil die höhere Besteuerung primär bei der Art und nicht bei der Höhe des Einkommens anknüpft. Zudem ist die Gesamtbelastung auf Kapitaleinkommen ­ nicht zuletzt wegen der im internationalen Vergleich hohen

2798

Vermögenssteuer ­ bereits recht hoch. Eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkommen würde die Standortattraktivität für kapitaleinkommensstarke Personen verschlechtern, hätte negative Auswirkungen auf die Anreize zur Vermögensbildung und würde dadurch mittelfristig das volkswirtschaftlich pro Arbeitskraft zur Verfügung stehende Kapital verringern. Dies hätte nicht zuletzt für Lohnabhängige negative Konsequenzen.

Schliesslich würde die geforderte Zweckbindung des Mehrertrags zu einem Ausbau des Umverteilungsvolumens führen, dessen Ausmass von den volatilen und schwierig zu prognostizierenden Steuereinnahmen auf Kapitaleinkommen statt von Bedarfsüberlegungen bestimmt würde.

Antrag des Bundesrates Der Bundesrat beantragt deshalb den eidgenössischen Räten mit dieser Botschaft, die eidgenössische Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen.

2799

BBl 2020

Inhaltsverzeichnis Übersicht

2798

1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative 1.1 Wortlaut der Initiative 1.2 Zustandekommen und Behandlungsfristen 1.3 Gültigkeit

2802 2802 2802 2803

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative 2.1 Grundzüge der geltenden Einkommens- und Vermögenssteuern 2.1.1 Allgemeine Grundsätze 2.1.2 Besonderheiten bei Einkünften aus Vermögen 2.1.3 Kapitaleinlageprinzip 2.2 Rechtsvergleich 2.3 Bestehende Umverteilungskanäle 2.3.1 Ausgabenseitige Umverteilungskanäle 2.3.2 Einnahmenseitige Umverteilungskanäle 2.4 Verteilungssituation in der Schweiz 2.5 Bisherige Volksinitiativen und aktuelle parlamentarische Initiative mit ähnlicher Stossrichtung

2805 2805 2805 2806 2807 2807 2809 2809 2812 2817

Ziele und Inhalt der Initiative 3.1 Ziele der Initiative 3.2 Inhalt der vorgeschlagenen Regelung 3.3 Auslegung und Erläuterung des Initiativtextes 3.3.1 Grundsätze zur Auslegung von Verfassungsbestimmungen 3.3.2 Begriff des Kapitaleinkommens 3.3.3 Von der erhöhten Besteuerung ausgenommener Betrag («Schwellenbetrag») 3.3.4 Besteuerung ober- und unterhalb des Schwellenbetrags 3.3.5 Ausgestaltung der Rückverteilung

2819 2819 2820 2820

Würdigung der Initiative 4.1 Würdigung der Anliegen der Initiative 4.2 Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme 4.2.1 Erhöhung der Steuerbelastung auf Kapitaleinkommen 4.2.2 Finanzielle Auswirkungen 4.2.3 Auswirkungen der Rückverteilung 4.3 Vorzüge und Mängel der Initiative 4.3.1 Kein Handlungsbedarf 4.3.2 Ineffizientes Mittel gegen Einkommensungleichheit 4.3.3 Schwächt Anreize zur Kapitalbildung 4.3.4 Kapitaleinkommen reagiert stark auf Besteuerung

2827 2827 2827 2827 2832 2833 2834 2835 2836 2836 2837

3

4

2800

2818

2820 2821 2824 2824 2825

BBl 2020

4.3.5 4.4 5

Ausbau der Umverteilung losgelöst von Bedarfsüberlegungen Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Schlussfolgerungen

Bundesbeschluss über die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» (Entwurf)

2839 2839 2839

2841

2801

BBl 2020

Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Initiative

1.1

Wortlaut der Initiative

Die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» (inoffiziell «99%Initiative») hat den folgenden Wortlaut: Die Bundesverfassung1 (BV) wird wie folgt geändert: Art. 127a

Besteuerung von Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen

Kapitaleinkommensteile über einem durch das Gesetz festgelegten Betrag sind im Umfang von 150 Prozent steuerbar.

1

Der Mehrertrag, der sich aus der Besteuerung der Kapitaleinkommensteile nach Absatz 1 im Umfang von 150 Prozent statt 100 Prozent ergibt, ist für die Ermässigung der Besteuerung von Personen mit tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder für Transferzahlungen zugunsten der sozialen Wohlfahrt einzusetzen.

2

3

Das Gesetz regelt die Einzelheiten.

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» wurde am 19. September 2017 von der Bundeskanzlei vorgeprüft2 und am 2. April 2019 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.

Mit Verfügung vom 14. Mai 2019 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 109 332 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist.3 Die Initiative hat die Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag.

Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20024 (ParlG) hat der Bundesrat somit spätestens bis zum 2. April 2020 einen Beschlussentwurf und eine Botschaft zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 2. Oktober 2021 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen.

1 2 3 4

SR 101 BBl 2017 6159 BBl 2019 3435 SR 171.10

2802

BBl 2020

1.3

Gültigkeit

Die Initiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 BV: a.

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Form.

b.

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie (vgl. nachstehende Begründung).

c.

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

Einheit der Materie Die Volksinitiative sieht vor, dass der Mehrertrag, der aus der höheren Besteuerung der Kapitaleinkommen resultiert, für Steuerermässigungen für tiefe oder mittlere Arbeitseinkommen oder für Transferleistungen im Bereich der sozialen Wohlfahrt verwendet wird. Es stellt sich die Frage, ob durch diese Zweckbindung die Einheit der Materie gewahrt ist.

Das Gebot der Einheit der Materie konkretisiert den Anspruch der Stimmberechtigten auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe (Art. 34 Abs. 2 BV).

Damit die Stimmberechtigten frei entscheiden können, muss sich die Teilrevision der Bundesverfassung auf eine bestimmte Materie beschränken. Dieser Grundsatz ist ausdrücklich vorgeschrieben (Art. 139 Abs. 3 und Art. 194 Abs. 2 BV) und wird von Artikel 75 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 19765 über die politischen Rechte (BPR) konkretisiert. Danach ist die Einheit der Materie «gewahrt, wenn zwischen den einzelnen Teilen einer Initiative ein sachlicher Zusammenhang besteht». Der «sachliche Zusammenhang» ist ein offener Rechtsbegriff, der einen weiten Ermessensspielraum zulässt.

Initiativtexte, die verschiedene Themen miteinander verknüpfen, die einen inneren Zusammenhang aufweisen, sind zulässig.6 So enthielt beispielsweise die Initiative «für ein Verbot von Kriegsmaterial-Exporten»7 neben Vorschriften über den Kriegsmaterialexport auch einen Auftrag zur Förderung internationaler Bestrebungen für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Die Einheit der Materie ist ebenfalls gewahrt, wenn die Initiative nebst dem angestrebten Zweck auch dessen Finanzierung umschreibt. Beispielsweise verlangte die Initiative «Für eine soziale Einheitskrankenkasse»8 einerseits eine Einheitskasse für die obligatorische Krankenversicherung, andererseits eine Festlegung der Prämien nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten.

5 6 7 8

SR 161.1 Vgl. zur ganzen Thematik die Botschaft zur Volksinitiative «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV (Erbschaftssteuerreform)» in: BBl 2014 125.

BBl 2007 7219 BBl 2005 533

2803

BBl 2020

Es kann auch ein Ziel mit den sachlich dazugehörenden Mitteln oder mit den sich daraus ergebenden Konkretisierungen verbunden werden. Als Beispiel sei die Initiative «Gesundheit muss bezahlbar bleiben (Gesundheitsinitiative)» 9 erwähnt. Diese enthielt das Ziel einer hochstehenden, bedarfsgerechten und kostengünstigen medizinischen Versorgung und formulierte gleichzeitig entsprechende Massnahmen.

Zulässig ist nach der Lehrmeinung auch die Verknüpfung mehrerer Forderungen, die einem einheitlichen Thema zugerechnet werden können. So sah z. B. die Initiative «für eine Reichtumssteuer»10 neben der Einführung einer Reichtumssteuer auf Bundesstufe auch ausführliche Regelungen über die Steuerharmonisierung und minimale Steuersätze für die Erhebung kantonaler und kommunaler Steuern vor. Im Jahr 2001 hat die Bundesversammlung auch die Initiative «für eine gesicherte AHV ­ Energie statt Arbeit besteuern!»11 für gültig erklärt. Diese sah vor, den Ertrag einer neuen Energiesteuer zur Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen zu verwenden.

Sodann wurde die «Erbschaftssteuerreform»12 für gültig erklärt, welche eine Bundessteuer auf Erbschaften und Schenkungen vorsah und eine Verwendung der Einnahmen zugunsten der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und der Kantone verlangte.

Die hier zu beurteilende Volksinitiative verlangt, dass die Kapitaleinkommen ab einem zu bestimmenden Betrag (Schwellenbetrag) höher besteuert werden. Die aus der stärkeren Besteuerung der Kapitaleinkommensteile resultierenden Mehrerträge sollen für eine steuerliche Entlastung von Personen mit tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder für Transferzahlungen zugunsten der sozialen Wohlfahrt eingesetzt werden. Der innere Zusammenhang zwischen der steuerlichen Belastung des Kapitaleinkommens und der steuerlichen Entlastung der Arbeitseinkommen ist gegeben. Unter dem Begriff der sozialen Wohlfahrt kann man das Ergebnis der Gesamtheit aller Massnahmen verstehen, die auf wirtschaftliche Sicherheit (z. B.

Altersvorsorge), Abbau von wirtschaftlichen Disparitäten und Bekämpfung von Armut ausgerichtet sind.13 Die Initiantinnen und Initianten beziehen sich einerseits auf diese Definition und nennen andererseits als konkrete Beispiele Prämienverbilligungen, Kinderkrippen und Pflegeleistungen durch die Spitex. Auch zwischen der steuerlichen
Belastung hoher Kapitaleinkommen und den Transfers zugunsten der sozialen Wohlfahrt kann somit der innere Zusammenhang aufgrund der gemeinsamen inhaltlichen Klammer der Umverteilung bejaht werden. Die Einheit der Materie ist gewahrt.

9 10 11 12 13

BBl 1999 7308 BBl 1974 II 258 BBl 1996 V 137 BBl 2013 2267 Wörterbuch der Sozialpolitik, 2003, Zürich: Rotpunktverlag.

2804

BBl 2020

2

Ausgangslage für die Entstehung der Initiative

2.1

Grundzüge der geltenden Einkommensund Vermögenssteuern

2.1.1

Allgemeine Grundsätze

Die Einkommen von natürlichen Personen werden sowohl auf Bundesebene als auch auf Kantons- und Gemeindeebene besteuert. Die kantonalen Einkommenssteuern sind in ihrer Ausgestaltung der direkten Bundessteuer ähnlich. Dies ist auf die Harmonisierungskompetenz des Bundes im Bereich der direkten Steuern zurückzuführen (Art. 129 BV).

Der Bund erhebt seit 1959 keine Vermögenssteuer mehr. Die Kantone und Gemeinden erheben allesamt neben der Einkommenssteuer eine ergänzende Steuer vom Vermögen. Unter «Vermögen» fallen die geldwerten Rechte an beweglichen und unbeweglichen Sachen, an Forderungen und Beteiligungen, die der steuerpflichtigen Person als Eigentümerin oder Nutzniesserin zustehen.

Gleich wie der Vermögensbegriff ist auch der Einkommensbegriff im Schweizer Steuerrecht umfassend zu verstehen. Im Sinne einer Generalklausel sind grundsätzlich alle wiederkehrenden und einmaligen Einkünfte steuerbar (Art. 16 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 199014 über die direkte Bundessteuer (DBG) und Art. 7 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 199015 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG)). Nach schweizerischer Doktrin und bundesgerichtlicher Rechtsprechung umfasst das Einkommen die Gesamtheit derjenigen Wirtschaftsgüter, die einer steuerpflichtigen Person zufliessen und die sie ohne Schmälerung ihres Vermögens zur Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse verwenden kann.16 Beim Bund und in allen Kantonen wird das Gesamteinkommen in der Regel ohne Unterscheidung der Einzelelemente oder seiner Quelle besteuert. Die natürlichen Personen haben namentlich ihr gesamtes Erwerbseinkommen aus selbstständiger oder unselbstständiger Tätigkeit, ihre Einkünfte aus Vorsorge sowie den Ertrag aus beweglichem und unbeweglichem Vermögen zu versteuern. Zum steuerbaren Einkommen aus unbeweglichem Vermögen zählt neben den Einkünften aus Vermietung oder sonstiger Nutzung namentlich auch der Mietwert von Liegenschaften, die der steuerpflichtigen Person zum Eigengebrauch zur Verfügung stehen (Eigenmietwert).

Im Grundsatz fliessen dabei die Einkommensbestandteile in vollem Umfang, d. h. zu 100 Prozent, in die Bemessungsgrundlage ein.

Der Gesetzgeber hat jedoch die Erfassung der Gesamtheit der Einkünfte teilweise eingeschränkt. So bleiben von der Besteuerung jene Einkünfte ausgenommen, die in beiden Bundesgesetzen ausdrücklich als steuerfrei erklärt werden (Art. 16 Abs. 3 und Art. 24 DBG bzw. Art. 7 Abs. 4 StHG).

14 15 16

SR 642.11 SR 642.14 BGE 114 Ia 221

2805

BBl 2020

2.1.2

Besonderheiten bei Einkünften aus Vermögen

Bei Einkünften aus Vermögen unterscheidet sich die steuerliche Behandlung im Privatvermögen teilweise von derjenigen im Geschäftsvermögen. Zu Letzterem zählen diejenigen Vermögenswerte, die ganz oder überwiegend der selbstständigen Erwerbstätigkeit dienen (Art. 18 Abs. 2 DBG bzw. Art. 8 Abs. 1 StHG).

Kapitalgewinne aus beweglichem Vermögen Im Bereich des beweglichen Privatvermögens sind Kapitalgewinne aus Veräusserung ausdrücklich steuerfrei (Art. 16 Abs. 3 DBG, Art. 7 Abs. 4 Bst. b StHG).

Demgegenüber werden im Geschäftsvermögen Kapitalgewinne den steuerbaren Einkünften zugerechnet (Art. 18 Abs. 2 DBG, Art. 8 Abs. 2 StHG).

Kapitalgewinne aus unbeweglichem Vermögen (Grundstückgewinne) Bei Kapitalgewinnen aus unbeweglichem Vermögen weichen die Regelungen für die steuerliche Behandlung beim Bund von denjenigen bei Kantonen und Gemeinden ab. Beim Bund sind Grundstückgewinne im Privatvermögen steuerfrei. Bei den Kantonen und Gemeinden werden diese Gewinne einer separaten Objektsteuer, der sogenannten Grundstückgewinnsteuer, unterstellt (Art. 12 Abs. 1 StHG).

Im Geschäftsvermögen sind bei der direkten Bundessteuer ­ wie oben erwähnt ­ Kapitalgewinne als Einkommen steuerbar. Dies gilt auch für Grundstücksgewinne.

Den Kantonen stehen zwei historisch gewachsene Modelle zur Auswahl (Art. 12 StHG): Im sogenannten «dualistischen» System werden die Grundstückgewinne im Geschäftsvermögen gleich wie bei der direkten Bundessteuer mit der Einkommenssteuer erfasst. Im sogenannten «monistischen» System hingegen unterliegen nur die wiedereingebrachten Abschreibungen der Einkommenssteuer. Der Wertzuwachsgewinn wird separat mit der Grundstückgewinnsteuer erfasst (Art. 12 Abs. 4 StHG).

Erträge aus massgebenden Beteiligungen Dividenden und andere Formen der Gewinnausschüttung aus Beteiligungen von mindestens 10 Prozent des Kapitals fliessen nur teilweise in die Bemessungsgrundlage der Einkommenssteuer ein. Mit der Annahme des Bundesgesetzes vom 28. September 201817 über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung (STAF) in der Volksabstimmung vom 19. Mai 2019 sind solche Einkünfte seit dem 1. Januar 202018 im Umfang von 70 Prozent steuerbar. Diese Regelung gilt sowohl im Privatvermögen (Art. 20 Abs. 1bis DBG) als auch im Geschäftsvermögen (Art. 18b Abs. 1 DBG). Bei den Kantonen und Gemeinden richtet sich das
Teilbesteuerungsmass für qualifizierende Beteiligungen nach dem kantonalen Gesetz. Es beträgt aber sowohl im Privat- (Art. 7 Abs. 1 StHG) wie auch im Geschäftsvermögen (Art. 8 Abs. 2quinquies StHG) mindestens 50 Prozent.

Die Teilbesteuerung von Ausschüttungen auf Stufe Anteilseignerin bzw. -eigner hat zum Ziel, die wirtschaftliche Doppelbelastung durch die Gewinnsteuer (bei den Unternehmen) und die Einkommenssteuer (bei den Anteilseignerinnen und -eignern) 17 18

AS 2019 2395 AS 2019 2413

2806

BBl 2020

zu korrigieren. Mit der Berücksichtigung der Vorbelastung der Ausschüttungen im Falle einer qualifizierenden Beteiligung folgt das Schweizer Steuerrecht der sogenannten Integrationstheorie. Diese trägt der Tatsache Rechnung, dass mit der Besteuerung der juristischen Personen mittelbar bereits eine Belastung der beteiligten natürlichen Personen erfolgt ist.19

2.1.3

Kapitaleinlageprinzip

Grundsätzlich löst die Rückzahlung von Kapitaleinlagereserven, die von den Anteilseignerinnen und -eignern geleistet worden sind, keine Einkommenssteuer aus.

Mit Annahme der STAF hat das Kapitaleinlageprinzip Einschränkungen erfahren: Namentlich können Unternehmen, die an schweizerischen Börsen kotiert sind, Reserven aus Kapitaleinlagen nur noch dann steuerfrei an die Anteilseignerinnen und Anteilseigner zurückzahlen, wenn sie mindestens im gleichen Umfang steuerbare Dividenden ausschütten.

2.2

Rechtsvergleich

Ein umfassender internationaler Vergleich der Steuerbelastung auf Kapitaleinkommen ist aufgrund der Verschiedenheit der nationalen Steuersysteme nur schwer durchführbar. Im Bereich der Dividendenbesteuerung ist es dank der umfangreichen Erhebung von Steuerdaten durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) jedoch möglich, einen aussagekräftigen internationalen Vergleich vorzunehmen.20 Im Weiteren lassen sich qualitative Aussagen über die Unterschiede bei der Besteuerung der Kapitalgewinne und den Vermögenssteuern machen.

Zur Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbelastung von Dividendeneinkommen haben um die Jahrtausendwende die meisten OECD-Staaten massgebliche Anpassungen ihrer Steuerregelungen vorgenommen. Obwohl die eingeführten Massnahmen sehr unterschiedlich ausgestaltet sind, ging die Tendenz klar in Richtung steuerliche Entlastung der Dividende auf Stufe der Anteilseignerinnen und -eigner.

Mit der Umsetzung dieser teils weitreichenden Reformen wird die wirtschaftliche Doppelbelastung ausgeschütteter Gewinne seither in den allermeisten OECDStaaten wie auch in der Schweiz gemildert oder beseitigt. Dazu sehen die meisten Länder eine im Vergleich zum Arbeitseinkommen privilegierte Besteuerung von Dividenden bei den Anteilseignerinnen und -eignern vor. Manche Länder beziehen deshalb nur einen Teil der Dividenden in die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mit ein. Die Mehrzahl der Länder nimmt die gesamten Dividenden in die Bemessungsgrundlage, besteuert aber die Dividenden im Vergleich zu anderen 19 20

Reich, Markus (2012) Steuerrecht, Zürich, 2. Auflage, § 18 N. 4.

Vgl. stats.oecd.org > Public Sector, Taxation and Market Regulation > Taxation > Tax Database > Table II.4. Overall statutory tax rates on dividend income oder Table I.7.

Top statutory personal income tax rate and top marginal tax rates for employees.

2807

BBl 2020

Einkommensarten zu einem reduzierten Steuersatz. Schliesslich praktizieren einzelne Länder gar ein Dividendenfreistellungsverfahren.

Innerhalb der OECD-Staaten sind Formen der dualen Einkommensbesteuerung weit verbreitet. Dabei wird Arbeitseinkommen mittels eines progressiven Steuertarifs separat vom Kapitaleinkommen besteuert. Der typischerweise proportionale Steuertarif für das Kapitaleinkommen ist in aller Regel tiefer als der Maximalsatz für das progressiv besteuerte Arbeitseinkommen. 21 Die duale Einkommensbesteuerung charakterisiert sich also normalerweise dadurch, dass beim Arbeitseinkommen die prozentuale Steuerbelastung mit zunehmender Einkommenshöhe steigt, während die Kapitaleinkünfte zu einem einkommensunabhängigen Satz besteuert werden.

Auch das Schweizer Modell eines Teileinkünfteverfahrens mildert bzw. beseitigt die wirtschaftliche Doppelbelastung von Dividendeneinkommen auf Stufe der Anteilseignerinnen und -eigner. Dank diesem Modell bietet die Schweiz im OECDVergleich eine wettbewerbsfähige Steuerbelastung für die Besteuerung von Dividendeneinkommen aus qualifizierenden Beteiligungen von natürlichen Personen. Ist das Teileinkünfteverfahren nicht anwendbar, so besteht keine Korrektur der wirtschaftlichen Doppelbelastung, was dazu führt, dass die Einkommenssteuerbelastung von Dividenden bei Beteiligungen von weniger als 10 Prozent in der Schweiz im OECD-Vergleich höchstens durchschnittlich attraktiv ist.

Im Bereich der Kapitalgewinne und Vermögen ist die steuerliche Behandlung in den meisten OECD-Ländern anders ausgestaltet als in der Schweiz. In der Schweiz sind Kapitalgewinne auf beweglichem Privatvermögen sowohl beim Bund als auch bei den Kantonen und Gemeinden steuerfrei (vgl. Ziff. 2.1.2). In den meisten OECDLändern werden Kapitalgewinne zumindest teilweise besteuert. Diese Länder besteuern den Kapitalgewinn erst bei Realisation; zudem sehen diverse Länder Steuerfreiheit oder eine reduzierte Besteuerung nach einer gewissen Haltedauer vor. Mit wenigen Ausnahmen entgeht schliesslich bei einer Vererbung des Vermögens die bis zum Erbgang aufgelaufene Wertsteigerung der Besteuerung.22 Demgegenüber wird in der Schweiz als einem von wenigen OECD-Ländern eine allgemeine Vermögenssteuer erhoben. Das StHG verpflichtet die Kantone dazu.

Viele Staaten, darunter Deutschland, Österreich,
Italien und zuletzt Frankreich, haben die allgemeine Vermögenssteuer abgeschafft. In den wenigen anderen Ländern, die noch eine allgemeine Vermögenssteuer kennen, machen die damit verbundenen Einnahmen weniger als 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus. Die Schweiz liegt hier mit einem Wert von 1,1 Prozent mit einigem Abstand an der Spitze.23 Die Vermögenssteuererträge von Kantonen und Gemeinden sind mit 7,3 Milliarden Franken im Jahr 201724 gewichtig.

21

22

23 24

Vgl. www.economiesuisse.ch/de/publikationen; «Besonderheiten bei der Besteuerung von Kapitaleinkommen: Internationale Trends der Besteuerung» oder www.oecd.org/ctp/48193734.pdf; ein Vergleich der Maximalsätze für Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen bringt einen Abgleich der in der vorangehenden Fussnote erwähnten Tabellen der OECD.

Scheuer, F. und Slemrod, J. (2019) Taxation and the Superrich. National Bureau of Economic Research. Working Paper 26207. Die betreffenden Ausführungen beziehen sich auf Kapitalgewinne aus Beteiligungen.

OECD Revenue Statistics, Code 4210, 2017.

Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV), Finanzstatistik.

2808

BBl 2020

2.3

Bestehende Umverteilungskanäle

2.3.1

Ausgabenseitige Umverteilungskanäle

Der Hauptteil der Umverteilung findet in der Schweiz ausgabenseitig über Transferleistungen statt. Die verschiedenen Umverteilungskanäle in der Schweiz lassen sich im System der sozialen Sicherheit verorten. Dieses ist mehrstufig aufgebaut und wird oft als umgekehrte Pyramide dargestellt. Je weiter unten in der umgekehrten Pyramide eine Sozialleistung angesiedelt ist, desto restriktiver sind die Bedingungen für den Erhalt der entsprechenden Leistungen und desto kleiner ist tendenziell der Bezügerkreis.

Grundversorgung Die erste Stufe, der oberste und breiteste Teil der Pyramide, umfasst die Grundversorgung. Diese weitgehend über die Steuern finanzierten Leistungen sind der ganzen Bevölkerung zugänglich und umfassen beispielsweise das Bildungs- und das Gesundheitssystem. Sie erfüllen neben den sozialpolitischen auch zahlreiche andere Ziele. Die im Rahmen der Grundversorgung getätigten Ausgaben fliessen deshalb nur zu einem kleinen Teil in die quantitative Erfassung der Sozialausgaben im Rahmen der Gesamtrechnung der sozialen Sicherheit (GRSS) ein.25 Sozialversicherungen Die zweite Stufe umfasst die Sozialversicherungen, die in die Zuständigkeit des Bundes fallen und die wirtschaftliche Sicherheit der Menschen in der Schweiz gewährleisten. Sie decken besondere Risiken wie Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invalidität weitgehend unabhängig von der finanziellen Situation der betroffenen Person ab. Die Finanzierung dieser Versicherungen wird grösstenteils über Sozialversicherungsbeiträge im Rahmen der Erwerbstätigkeit sichergestellt, wie namentlich Lohnbeiträge für die AHV, die Invalidenversicherung (IV) oder die Arbeitslosenversicherung (ALV).

Bedarfsabhängige Leistungen Die nächste Stufe umfasst die bedarfsabhängigen Leistungen. Die Kantone sind gemäss Bundesverfassung verpflichtet, diese Leistungen zur finanziellen Unterstützung von Personen bereitzustellen, die nicht in der Lage sind, für ihren Unterhalt aufzukommen, und keinen ausreichenden Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen haben. Dazu gehören zunächst die bundesgesetzlich verankerten Leistungen, die den Zugang zur Grundversorgung gewährleisten (Ausbildungsbeihilfen, Zuschüsse an die AHV-, IV- und die EO-Beiträge, Prämienverbilligungen für die Krankenversicherung). Diese Leistungen sollen Armut verhindern.26 25

26

In Abstimmung mit internationalen Standards für die statistische Erhebung zur sozialen Sicherheit werden namentlich Ausgaben für die öffentliche Finanzierung des Gesundheitssystems berücksichtigt. Die Ausgaben für das Rechtssystem oder die Bildung werden in der GRSS nicht erfasst. Vgl. Engler, M. (2011) Redistribution in Switzerland: Social cohesion or simple smoothing of lifetime incomes? Swiss Journal of Economics and Statistics, 147, für eine Analyse der Umverteilung unter Berücksichtigung der Grundversorgung.

Bundesamt für Statistik (BFS, 2017) Sozialhilfe im weiteren Sinn, 2006­2014.

2809

BBl 2020

Anschliessend folgen die bedarfsabhängigen Leistungen, die auf die Bekämpfung der Armut ausgerichtet sind. Damit werden diejenigen Personen finanziell unterstützt, die keinen ausreichenden Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen haben und nicht über ausreichende Ressourcen verfügen, um ihren Existenzbedarf zu decken. Diese Leistungen werden von den Kantonen ausgerichtet und sind in kantonalen Gesetzen geregelt. Sie sind daher je nach Kanton unterschiedlich. Sie setzen sich aus den der wirtschaftlichen Sozialhilfe vorgelagerten bedarfsabhängigen Leistungen und der wirtschaftlichen Sozialhilfe selber (auch Sozialhilfe im engeren Sinn genannt) zusammen.

Die vorgelagerten Leistungen werden von den Kantonen für besondere Risiken ausgerichtet und reduzieren die Lasten der Sozialhilfe. Sie umfassen die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV, die Alters- und Invaliditätsbeihilfen, die Arbeitslosenhilfe, die Familienbeihilfen, die Alimentenbevorschussung und die Wohnbeihilfen. Die wirtschaftliche Sozialhilfe wird von den Kantonen oder den Gemeinden ausgerichtet und ist das letzte Auffangnetz des Systems der sozialen Sicherheit, wenn die finanziellen Ressourcen nicht zur Deckung des Existenzminimums ausreichen und alle anderen vorgelagerten Hilfsmöglichkeiten (Leistungen und Sozialversicherungen) erschöpft sind. Für den Bezug von Sozialhilfe spielt es keine Rolle, was die Ursache der Notlage ist. Die vorgelagerten bedarfsabhängigen Leistungen und die Sozialhilfe im engeren Sinn bilden zusammen die Sozialhilfe im weiteren Sinn.

Ausgaben für Sozialleistungen nach Regime Gemäss der GRSS beliefen sich die Ausgaben für Sozialleistungen 2017 auf 175 Milliarden Franken, was einem Anteil am BIP von 26,1 Prozent oder 20 700 Franken pro Kopf entspricht. Die Ausgaben für die soziale Sicherheit entsprechen also etwas mehr als einem Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung. Anfang der 1990er-Jahre lag dieser Wert noch unter 20 Prozent. Nach dem deutlichen Anstieg der Sozialausgaben in den letzten knapp 30 Jahren gibt die Schweiz im Vergleich mit anderen europäischen Ländern relativ zum BIP leicht weniger für Sozialleistungen aus als skandinavische und andere westeuropäische Länder, aber deutlich mehr als osteuropäische Länder.

2810

BBl 2020

Die Aufteilung der Ausgaben für Sozialleistungen auf die in der GRSS27 erfassten Regime ist in der folgenden Abbildung 1 dargestellt:

Abbildung 1: Ausgaben für Sozialleistungen nach Regime, in Prozent, Jahr 2017. Die Summe der Ausgaben für Sozialleistungen beträgt 175 Mrd. Franken. Quelle: Bundesamt für Statistik (2019) Gesamtrechnung der Sozialen Sicherheit (GRSS) 2017.

Die Abbildung zeigt, dass in der Schweiz die Sozialversicherungen für den Grossteil der Ausgaben gemäss GRSS aufkommen. Sie waren 2017 für rund 78 Prozent der Ausgaben verantwortlich. Die drei ausgabenmässig wichtigsten Sozialversicherungen sind die AHV (24,6 Prozent), die berufliche Vorsorge (21,5 Prozent) und die Krankenversicherungen (16,2 Prozent).

Die staatlichen Leistungen sind ausgabenmässig weniger bedeutend. Ein Teil davon, wie die Ergänzungsleistungen und die Sozialhilfe, ist bedarfsabhängig und weist im Vergleich zu den Sozialversicherungen eine tiefere Bezügerquote aus.

27

Die Verbilligungen der Krankenkassenprämien werden in der GRSS ausgabenseitig nicht berücksichtigt. Sie gelten nicht als Sozialleistung, sondern als eine Reduktion der obligatorischen Abgaben analog zu den Steuerabzügen. Sie vereinfachen den Zugang zum Gesundheitssystem, finanzieren aber direkt keine Gesundheitsleistungen. Ihr Gesamtvolumen betrug im Jahr 2017 rund 4,5 Milliarden Franken, was rund 2,5 Prozent der Ausgaben gemäss GRSS (zzgl. Ausgaben für die Verbilligungen der Krankenkassenprämien) entspricht.

2811

BBl 2020

Folgende Zahlen und Fakten verdeutlichen die grosse Bedeutung der ausgabenseitigen Kanäle für die Umverteilung: ­

Die AHV-Beiträge sind ab einer gewissen Einkommenshöhe nicht mehr rentenbildend und werden zur Finanzierung von Renten der niedrigen und mittleren Einkommensschichten verwendet.

­

Da viele Sozialtransfers in der Schweiz unabhängig vom Bedarf ausgerichtet werden, sind sie weit verbreitet: 81,9 Prozent der Personen leben in Haushalten, die mindestens eine Leistung beziehen. Blendet man die Alters- und Hinterlassenenleistungen aus, beträgt dieser Wert immer noch fast zwei Drittel (64,1 Prozent).28

­

Für bedarfsabhängige Sozialleistungen gemäss der Definition der Sozialhilfe im weiteren Sinn wurden 2017 8,3 Milliarden Franken aufgewendet. Davon entfielen 2,8 Milliarden Franken auf die Sozialhilfe im engeren Sinn (wirtschaftliche Sozialhilfe). Rund 800 000 Personen oder rund 9,5 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz bezogen eine von der Sozialhilfe im weiteren Sinne vorgesehene Bedarfsleistung. Eine Sozialhilfe im engeren Sinne bezogen rund 280 000 Personen, was einer Bezügerquote von 3,3 Prozent entspricht.29 Darin nicht enthalten sind die Krankenkassenprämienverbilligungen, deren Gesamtvolumen 2017 rund 4,5 Milliarden Franken betrug. Rund 2,2 Millionen Personen oder 26 Prozent aller versicherten Personen profitierten davon.30

­

Infolge der Summe aller Sozialtransfers betrug 2017 die Armutsquote in der Schweiz 8,2 Prozent anstelle von 31,1 Prozent.31 Diese Zahlen beinhalten auch die dank der Alterssicherung besonders grosse Differenz zwischen den Armutsquoten vor und nach Sozialtransfers bei Personen im Rentenalter.

Dem ist jedoch relativierend hinzuzufügen, dass die Alterssicherung nur zu einem Teil auf Umverteilung beruht. Den anderen Teil haben die Rentenempfängerinnen und -empfänger während ihrer Erwerbstätigkeit durch Beiträge selber finanziert.

2.3.2

Einnahmenseitige Umverteilungskanäle

Die wichtigsten einnahmenseitigen Umverteilungsmassnahmen in der Schweiz sind die progressiv ausgestalteten Einkommens- und Vermögenssteuern. Im Weiteren sind die kantonalen Erbschafts- und Schenkungssteuern zu erwähnen, die einen Vermögenszuwachs besteuern, zu dem die Erbin oder der Erbe ohne eigene Leistung kommt. Die Einnahmen aus Erbschafts- und Schenkungssteuern für Kantone und Gemeinden beliefen sich 2017 auf rund 1,2 Milliarden Franken.32 28 29 30 31 32

BFS (2019) Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC).

BFS (2019) Sozialhilfeempfängerstatistik.

Bundesamt für Gesundheit (2018) Monitoring 2017 ­ Wirksamkeit der Prämienverbilligung.

BFS (2019) Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC).

EFV, Finanzstatistik

2812

BBl 2020

Progressive Einkommenssteuern Die direkte Bundessteuer ist stark progressiv ausgestaltet. Hohe Einkommen leisten einen deutlich überproportionalen Beitrag zum Steueraufkommen. Dies wird exemplarisch durch folgende Kennzahlen verdeutlicht (Bundessteuerstatistik 2016): ­

Das oberste 1 Prozent der Steuerpflichtigen kommt für rund 40 Prozent der Steuerzahlungen auf.

­

Die obersten 10 Prozent der Steuerpflichtigen kommen für rund 78 Prozent der Steuerzahlungen auf.

­

Die unteren 50 Prozent der Steuerpflichtigen kommen für rund 2 Prozent der Steuerzahlungen auf.

Die Einnahmen aus der direkten Bundessteuer für natürliche Personen betrugen im Jahr 2017 rund 10,4 Milliarden Franken. Dies entspricht etwa einem Fünftel der gesamten Einnahmen aus Einkommenssteuern auf den Stufen Bund, Kantone und Gemeinden in Höhe von rund 53,8 Milliarden Franken.33 Die Einkommenssteuern auf kantonaler Ebene sind ebenfalls progressiv ausgestaltet und volumenmässig bedeutender als die direkte Bundessteuer. Der Umverteilungseffekt ist dennoch aus zwei Gründen zu relativieren: Erstens ist die Progression ­ wohl aufgrund des interkantonalen Steuerwettbewerbs ­ weniger stark ausgeprägt. Zweitens leben Personen mit hohen Einkommen zunehmend häufig in Kantonen oder Gemeinden mit niedriger Steuerbelastung, wodurch die effektive Progression gedämpft wird. Obwohl in jeder Schweizer Gemeinde die Einkommenssteuern progressiv sind, werden die landesweiten effektiven Einkommenssteuern aufgrund dieser Niederlassungsentscheide bei sehr hohen Einkommen sogar degressiv, wie eine wissenschaftliche Untersuchung zeigt.34 Zum Umverteilungseffekt der Einkommenssteuern über alle Staatsebenen hinweg gehen aus den dem Bund zur Verfügung stehenden Daten keine Angaben hervor. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich entsprechende Schätzungen dazu, die in Abbildung 2 dargestellt werden. Die Grafik stellt die Anteile der Einkommen pro Einkommensklasse den jeweiligen Anteilen der Einkommenssteuerzahlungen bei Bund, Kantonen und Gemeinden gegenüber.35

33 34 35

EFV, Finanzstatistik Roller, M. und Schmidheiny, K. (2016) Effective Tax Rates and Effective Progressivity in a Fiscally Decentralized Country. CEPR Discussion Paper 11152.

Vgl. Frey, C. und Schaltegger, C.A. (2016) Progressive taxes and top income shares.

Economics Letters 148, S. 5­9. Die Schätzungen wurden später aktualisiert und der Eidgenössischen Steuerverwaltung für den Zweck dieser Botschaft entsprechend aufbereitet.

Datenbasis der Schätzungen ist das Jahr 2015.

2813

BBl 2020

Abbildung 2: Geschätzte Anteile der Einkommen vor Steuern und geschätzte Anteile der Einkommenssteuerzahlungen auf den Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden pro Einkommensklasse. Lesebeispiel: Die Steuerpflichtigen in der Einkommensklasse «Top 1% bis 10%» erzielen 23 Prozent der insgesamt erzielten Einkommen und leisten 30 Prozent der insgesamt gezahlten Einkommenssteuern. Datenbasis 2015.

Die Grafik zeigt, dass Steuerpflichtige in den hohen Einkommensklassen einen grösseren Anteil der Gesamtsumme der Einkommenssteuern zahlen als ihr Anteil an den insgesamt erzielten Einkommen ausmacht. Bei dem obersten 1 Prozent der Steuerpflichtigen ist der Anteil an den Einkommenssteuerzahlungen (24 Prozent) mehr als doppelt so hoch wie der Anteil an den erzielten Einkommen (11 Prozent).

Bei Steuerpflichtigen in mittleren und tiefen Einkommensklassen verhält es sich ziemlich genau umgekehrt: Ihr Anteil an der Gesamtsumme der Einkommenssteuerzahlungen ist niedriger als ihr Anteil an den insgesamt erzielten Einkommen. Die untere Hälfte der Steuerpflichtigen erzielt 22 Prozent der insgesamt erzielten Einkommen, leistet aber nur 11 Prozent der Einkommenssteuerzahlungen.

Die Schätzungen deuten darauf hin, dass trotz des Steuerwettbewerbs und des eher geringen Volumens der direkten Bundessteuer die Steuerpflichtigen mit hohen Einkommen einen überproportionalen Anteil an Einkommenssteuern zahlen.

Progressive Vermögenssteuern Die Vermögenssteuer ist in allen Kantonen progressiv ausgestaltet; die prozentuale Belastung steigt also mit zunehmender Höhe des steuerbaren Vermögens. Während bei einem Reinvermögen von 200 000 Franken die Vermögenssteuersätze ­ je nach Kanton ­ zwischen 0 und 4,41 Promille liegen, betragen sie bei einem Reinvermögen von 5 Millionen Franken zwischen 1,35 und 8,70 Promille.36 36

Quelle für die Angaben zur Vermögenssteuerbelastung in diesem Abschnitt: ESTV, Steuerbelastung in den Kantonshauptorten 2018, verheiratete Person ohne Kinder.

2814

BBl 2020

Im Weiteren setzt die Vermögenssteuer erst bei einer bestimmten Höhe des Reinvermögens ein. Die Vermögensschwelle, ab der eine Steuer geschuldet ist, variiert zwischen den Kantonen im Bereich von 51 000 bis 261 000 Franken. Die Vermögenssteuer wird daher hauptsächlich von vermögensstarken Personen geleistet, Kleinsparerinnen und Kleinsparer sind nicht oder nur schwach belastet. Die entsprechenden Einnahmen der Kantone und Gemeinden beliefen sich 2017 auf rund 7,3 Milliarden Franken.37 Degressiv wirkende Mehrwertsteuer Die Mehrwertsteuer ist zusammen mit der direkten Bundessteuer die wichtigste Einnahmequelle des Bundes. 2018 betrugen die Einnahmen 22,6 Milliarden Franken, was einem Anteil von rund 33 Prozent der Fiskaleinnahmen des Bundes in Höhe von 68,4 Milliarden Franken entspricht.38 Die Mehrwertsteuer knüpft beim Konsum und nicht beim Vermögenszugang an, sie kann deshalb die Einkommensverhältnisse der Steuerträger höchstens indirekt berücksichtigen. Ihre faktische, indirekte Wirkung ist bezogen auf das Einkommen leicht degressiv. Einkommensstarke Haushalte werden prozentual zu ihrem Einkommen mit leicht weniger Mehrwertsteuern belastet als einkommensschwache Haushalte.

Grund dafür ist, dass die Konsumquote mit steigendem Einkommen tendenziell abnimmt. Einkommensschwache Haushalte geben also im Vergleich zu einkommensstarken Haushalten einen grösseren Anteil ihres Einkommens für Konsum aus und sparen dementsprechend einen geringeren Anteil. Gemäss der Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamts für Statistik (BFS) für die Jahre 2015 bis 2017 machten die Konsumausgaben beim einkommensschwächsten Fünftel der Haushalte 88 Prozent des Bruttoeinkommens aus. Beim einkommensstärksten Fünftel waren es 42 Prozent.

Die degressive Wirkung der Mehrwertsteuer wird durch die Belastung von Lebensmitteln und anderen Gütern des Grundbedarfs zum reduzierten Satz von 2,5 Prozent statt zum Normalsatz von 7,7 Prozent39 teilweise kompensiert, weil der Anteil der Ausgaben für den Grundbedarf, gemessen an den gesamten Konsumausgaben, bei einkommensschwachen Haushalten höher ist als bei einkommensstarken.40 Die reduzierte Besteuerung von Leistungen des Grundbedarfs dämpft die degressive Wirkung der Mehrwertsteuer bezogen auf das Einkommen etwas ab, vermag sie aber nicht zu kompensieren. In der Summe wird die Einkommensverteilung
durch die Mehrwertsteuer somit etwas ungleicher. Dies gilt insoweit, als diese tatsächlich auf die Konsumentenpreise überwälzt wird.

Diese Schlussfolgerung ist jedoch durch folgende Überlegung zu relativieren: Sparen ist nicht als Selbstzweck anzusehen, sondern das Ergebnis eines Entscheids über die Verteilung des Konsums auf der Zeitachse. Die heute gebildeten Ersparnisse dienen der Finanzierung des Konsums in der Zukunft. Damit werden die heute gebildeten Ersparnisse in der Zukunft ebenfalls mit Mehrwertsteuern belastet, wenn 37 38 39 40

EFV, Finanzstatistik EFV, Finanzstatistik Ab dem 1. Januar 2020 geltendes Recht.

BFS (2019) Haushaltsbudgeterhebung, 2015­2017.

2815

BBl 2020

auch nicht notwendigerweise diejenige Person damit belastet wird, die die Ersparnisse gebildet hat. Andere spezielle Konsumsteuern (Automobilsteuer, Tabaksteuer, Mineralölsteuern etc.) dürften in Bezug auf ihre faktische Wirkung über die Einkommensklassen hinweg ähnlich zu beurteilen sein.

Degressive obligatorische Krankenkassenprämien Die Kosten des Gesundheitswesens werden in der Schweiz zu einem im internationalen Vergleich kleinen Teil von der öffentlichen Hand finanziert. Im Jahr 2017 wurden geschätzte 29 Prozent der Kosten von insgesamt 83 Milliarden Franken durch staatliche Finanzierung gedeckt. 36 Prozent wurden durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (Grundversicherung) finanziert.41 Die Krankenkassenprämien sind unabhängig vom Einkommen der versicherten Person. Weil die Grundversicherung verpflichtend ist, können die Prämien den obligatorischen Ausgaben zugerechnet werden. Gleich wie Einkommenssteuern erhöhen sie die Diskrepanz zwischen dem Bruttoeinkommen und dem verfügbaren Einkommen. Aufgrund dieser Ähnlichkeit in der Wirkung sind die Prämien für die Grundversicherung auch hinsichtlich ihrer Verteilungswirkung zu beachten.

Die einkommensunabhängige Bemessung der Krankenkassenprämien impliziert eine degressive Belastung in Bezug auf das Einkommen. Die Belastung durch die Prämien der Grundversicherung relativ zum Einkommen nimmt also mit zunehmendem Einkommen ab. Dies lässt sich mit folgenden Zahlen illustrieren: Beim einkommensstärksten Fünftel der Haushalte machen die Prämien für die Grundversicherung 3,9 Prozent des Bruttoeinkommens aus. Beim einkommensschwächsten Fünftel sind es 14,1 Prozent, was sogar höher ist als die Ausgaben für Steuern.42 Proportionale Beiträge auf Lohneinkommen Personen, die in der Schweiz erwerbstätig sind, müssen proportional zu ihrem Lohn Beiträge an die AHV, die IV und die EO entrichten. Die Beitragssätze betragen 8,7 Prozent für die AHV, 1,4 Prozent für die IV und 0,45 Prozent für die EO, was in der Summe 10,55 Prozent ergibt. Die Beitragssätze an die ALV betragen für Lohnbestandteile bis 148 200 Franken 2,2 Prozent, für solche über diesem Betrag 1 Prozent.43 Der Arbeitgeber zieht die Hälfte des Beitrags vom Lohn seiner Angestellten ab und überweist sie zusammen mit seinem Anteil an die Ausgleichskasse.

Die jährlichen Einnahmen aus Lohnbeiträgen
für AHV, IV, EO und ALV beliefen sich 2018 auf rund 46 Milliarden Franken.44 Die typischerweise von eher einkommensstarken Personen erzielten Kapitaleinkommen sind von den entsprechen Beiträgen nicht erfasst. Weil die Beiträge nur auf Erwerbseinkommen erhoben werden, dürften sie rein einnahmenseitig bezogen auf das Einkommen eine leicht degressive Wirkung haben.

41 42

43 44

BFS (2019) Kosten und Finanzierung des Gesundheitswesens 2017.

BFS (2019) Haushaltsbudgeterhebung, 2015­2017. Es wird jeweils der Bruttobetrag der Grundversicherungsprämien erfasst. Die Prämienverbilligungen werden in der Haushaltsbudgeterhebung des BFS in der Rubrik «Renten und Sozialleistungen» erfasst.

Ab dem 1. Januar 2020 geltendes Recht.

Quelle: EFV, Finanzstatistik

2816

BBl 2020

Zu berücksichtigen gilt, dass sich diese Aussagen ausschliesslich auf die Einnahmenseite der betreffenden Sozialversicherungen beziehen. Zusammen mit der Ausgabenseite hat gerade die AHV eine erhebliche Umverteilungswirkung. Diese entsteht dadurch, dass Beiträge an die AHV ab einer bestimmten Höhe des Lohneinkommens nicht mehr rentenbildend sind, sondern für Rentenzahlungen an Personen mit niedrigen und mittleren Erwerbseinkommen verwendet werden und deshalb Steuercharakter haben. Die ausgabenseitige Umverteilung wird in Ziffer 2.3.1 diskutiert.

Fazit und Blick auf die Unternehmenssteuern Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die progressiven Einkommens- und Vermögenssteuern eine Umverteilungswirkung haben. Das Schweizer System der steuerlichen und nichtsteuerlichen Pflichtabgaben kennt aber auch degressive Elemente. Insgesamt betrachtet findet daher einnahmenseitig in der Schweiz sowohl im internationalen Vergleich als auch im Vergleich zu den ausgabenseitigen Kanälen eine geringe Umverteilung statt.45 Diese Beurteilung umfasst die umverteilenden sowie die volumenmässig bedeutendsten steuerlichen und nichtsteuerlichen Pflichtabgaben.

Von den Steuern der juristischen Personen geht potenziell ebenfalls eine Umverteilungswirkung aus, die jedoch schwierig abschätzbar ist. Dies liegt unter anderem daran, dass ein Unternehmen selber keine Steuern tragen kann und diese deshalb auf die Anteilseignerinnen und Anteilseigner, die Konsumentinnen und Konsumenten oder auf die Mitarbeitenden abwälzen muss. Wer die Unternehmenssteuern letztlich trägt (sog. Steuerinzidenz), ist ungewisser als bei anderen Steuerarten. Die empirischen Untersuchungen dazu geben kein klares Bild. Soweit die Unternehmenssteuern von Kapitalgeberinnen und Kapitalgebern getragen werden, ist die Wirkung bezogen auf das Einkommen progressiv. Soweit der Faktor Arbeit die Steuerlast trägt, hängt die Verteilungswirkung im Weiteren davon ab, ob eher hohe oder tiefe und mittlere Arbeitseinkommen betroffen sind. Auf den Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden sind die Gewinn- und Kapitalsteuern volumenmässig zwar bedeutsam (2017 rund 22 Mrd. Fr. Einnahmen), im Vergleich zu den Einkommens- und Vermögenssteuern (2017 rund 61 Mrd. Fr. Einnahmen)46 ist das Umverteilungspotenzial jedoch deutlich kleiner.

2.4

Verteilungssituation in der Schweiz

In der Schweiz sind die Markteinkommen ­ also die Einkommen vor Steuern und Transferleistungen ­ im internationalen Vergleich sehr gleichmässig verteilt. Der 45

46

Vgl. Wang, C. und Caminada, K. (2011) Disentangling income inequality and the redistributive effect of social transfers and taxes in 36 LIS countries. Luxembourg Income Study Working Paper Series No. 567, für eine Querschnittsbetrachtung. Vgl. Engler, M.

(2011) Redistribution in Switzerland: Social cohesion or simple smoothing of lifetime incomes? Swiss Journal of Economics and Statistics, 147, für eine langfristige Betrachtung über den Lebenszyklus.

EFV, Finanzstatistik

2817

BBl 2020

Wert des Gini-Index ist ein häufig verwendetes Verteilungsmass, bei welchem 0 für absolute Gleichverteilung und 1 für maximale Ungleichheit steht. Er beträgt in der Schweiz 0,386, was der niedrigste Wert aller OECD-Staaten ist. Die Markteinkommen sind also in keinem anderen OECD-Staat gleichmässiger verteilt als hierzulande.47 Durch die erwähnten Umverteilungsmassnahmen reduziert sich die relative Einkommensungleichheit gemessen am Wert des Gini-Index von 0,386 auf 0,296. Die erreichte Reduktion der Ungleichheit ist im internationalen Vergleich eher niedrig, was teilweise durch die gleichmässige Verteilung der Markteinkommen erklärt werden kann. Bezüglich der Ungleichheit der verfügbaren Einkommen ­ also nach Steuern und Transferleistungen ­ liegt die Schweiz im OECD-Mittelfeld. Die Verteilung ist damit vergleichbar mit derjenigen in Deutschland und Frankreich.

Zu erwähnen ist, dass der Gini-Index ein relatives Verteilungsmass ist. Er bildet also relative, nicht aber absolute Einkommensungleichheiten ab. Dies hat zur Folge, dass zum Beispiel eine proportionale Einkommenssteuer den Wert des Gini-Index unverändert lässt, obwohl Einkommensstarke in diesem Fall in Franken gemessen mehr Steuern bezahlen. Der Wert des Gini-Index reduziert sich dann, wenn eine Steuer bezogen auf das Einkommen progressiv wirkt. Eine Steuer, die bezogen auf das Einkommen degressiv wirkt, führt hingegen zu einer Erhöhung der durch den GiniIndex gemessenen Ungleichheit.

2.5

Bisherige Volksinitiativen und aktuelle parlamentarische Initiative mit ähnlicher Stossrichtung

In den vergangenen 20 Jahren hat es immer wieder politische Forderungen auf Verfassungsstufe gegeben, die eine Umverteilung zugunsten einkommensschwächerer oder eine höhere Steuerbelastung einkommensstärkerer Bevölkerungsschichten bezweckten: (1) Volksinitiative «Für eine Kapitalgewinnsteuer» (00.087): Die vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund eingereichte Initiative wollte Gewinne auf privaten Finanzanlagen zu mindestens 20 Prozent besteuern. Dieser neuen Bundessteuer sollten insbesondere Gewinne auf Devisen, Beteiligungen und anderen Wertpapieren unterliegen.

Abstimmung: Volk und Stände lehnten die Vorlage am 2. Dezember 2001 ab.

(2) Volksinitiative «Für faire Steuern. Stopp dem Missbrauch beim Steuerwettbewerb (Steuergerechtigkeits-Initiative» (09.031): Das Initiativkomitee wollte die Unterschiede bei den Steuerbelastungen zwischen den Kantonen verringern, indem für hohe Einkommen und Vermögen Mindeststeuersätze eingeführt werden sollten.

47

Die Schweiz teilt sich den niedrigsten Wert des Gini-Index mit Island. Zur besseren internationalen Vergleichbarkeit beziehen sich die Angaben zur Einkommensverteilung in diesem Kapitel auf die neusten aktuell verfügbaren Daten der OECD zum Jahr 2015.

2818

BBl 2020

Abstimmung: Volk und Stände lehnten die Vorlage am 28. November 2010 ab.

(3) Volksinitiative «1:12 Für gerechte Löhne» (12.017): Die Initiative verlangte, dass in einem Unternehmen der höchste bezahlte Lohn das Zwölffache des tiefsten Lohns nicht übersteigen darf. Mit dieser Forderung wollten die Initiantinnen und Initianten die Löhne des Top-Kaders begrenzen und zur Anhebung der niedrigsten Löhne beitragen.

Abstimmung: Volk und Stände lehnten die Vorlage am 24. November 2013 ab.

(4) Volksinitiative «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV (Erbschaftssteuerreform» (13.107): Das Initiativkomitee forderte die Einführung einer nationalen Erbschafts- und Schenkungssteuer, die auf Nachlässen und Schenkungen über 2 Millionen Franken zu einem Satz von 20 Prozent erhoben werden sollte. Der Ertrag der Steuer wäre zu zwei Dritteln an den Ausgleichsfonds der AHV und zu einem Drittel an die Kantone aufzuteilen gewesen.

Abstimmung: Volk und Stände lehnten die Vorlage am 14. Juni 2015 ab.

(5) Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» (14.058): Das Initiativkomitee wollte ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen.

Damit hätte der Staat den in der Schweiz lebenden Menschen einen bestimmten Betrag auszahlen sollen, unabhängig von Einkommen und Vermögen.

Abstimmung: Volk und Stände lehnten die Vorlage am 5. Juni 2016 ab.

Aktuell ist folgende parlamentarische Initiative hängig, die einen Bezug zur vorliegenden Volksinitiative hat: (6) Pa.Iv. Bendahan «70-Prozent-Steuer auf Einkommensanteilen über 10 Millionen Franken» (19.426): Der kumulierte Grenzsteuersatz von Bund, Kanton und Gemeinde soll für den Anteil des steuerbaren Einkommens, der 10 Millionen Franken übersteigt, 70 Prozent erreichen. Diese Änderung betrifft die Besteuerung natürlicher Personen. Stand: Das Vorprüfungsverfahren hat noch nicht begonnen.

3

Ziele und Inhalt der Initiative

3.1

Ziele der Initiative

Das erklärte übergeordnete Ziel der Volksinitiative besteht darin, mittels einer höheren Besteuerung von Kapitaleinkommen und einer konsequenten Rückverteilung mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen.

2819

BBl 2020

3.2

Inhalt der vorgeschlagenen Regelung

Die Volksinitiative will Kapitaleinkommen ab einem gesetzlich zu bestimmenden Betrag höher besteuern. Dem Initiativtext zufolge sollen diese Einkommensteile im Umfang von 150 Prozent besteuert werden, also um 50 Prozent stärker in die Bemessungsgrundlage einfliessen als andere Einkommensarten. Der hieraus resultierende Mehrertrag soll für eine Steuerermässigung der tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder für Transferleistungen im Bereich der sozialen Wohlfahrt verwendet werden.

Es stellen sich damit sowohl in Bezug auf die höhere Besteuerung von Kapitaleinkommen als auch in Bezug auf die Rückverteilung Auslegungsfragen.

3.3

Auslegung und Erläuterung des Initiativtextes

3.3.1

Grundsätze zur Auslegung von Verfassungsbestimmungen

Bei der Auslegung der Bundesverfassung ist gleich wie bei Gesetzen und Verordnungen grundsätzlich immer vom Wortlaut einer Norm auszugehen (grammatikalisches Auslegungselement). Ist der Text unklar oder lässt er verschiedene Deutungen zu, muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden. Dabei sind weitere Auslegungselemente zu berücksichtigen, wie namentlich die Entstehungsgeschichte der Norm (historisches Auslegungselement) und ihr Zweck (teleologisches Auslegungselement). Wichtig ist zudem die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt (systematisches Auslegungselement). Bei der Auslegung muss im Einzelnen abgewogen werden, welche Methode (oder Methodenkombination) geeignet ist, den Sinn der auszulegenden Verfassungsbestimmung korrekt wiederzugeben (sog. Methodenpluralismus).48 Es gilt dabei zu beachten, dass der Wille der Initiantinnen und Initianten bezüglich einer neuen Verfassungsnorm nicht ausschlaggebend ist.49 Er kann aber etwa im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt werden.

Beim vorliegenden Initiativtext stellen sich Auslegungsfragen namentlich zum Begriff des Kapitaleinkommens, zur Höhe des festzusetzenden Schwellenbetrags, zur steuerlichen Behandlung von Kapitaleinkommen ober- und unterhalb des Schwellenbetrags sowie zur Ausgestaltung der Rückverteilung der mit der Mehrbesteuerung erzielten Einnahmen. Diese Fragen werden im Folgenden diskutiert.

Der Gesetzgeber wird den Initiativtext im Rahmen einer allfälligen Ausführungsgesetzgebung auslegen müssen. Dabei ist namentlich zu berücksichtigen, was das allgemeine Verständnis des Initiativtexts war, wie es sich für die Stimmberechtigten insgesamt aufgrund der Materialien und Stellungnahmen der Behörden, der Begründung und Argumente von Befürworterinnen und Befürwortern sowie von Gegnerin48 49

Häfelin, U., Haller, W. und Keller, H. (2012) N. 130, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 8. Auflage, Zürich: Schulthess.

Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 «Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht», Ziff. 8.7.1.2; in: BBl 2010 2263.

2820

BBl 2020

nen und Gegnern der Initiative präsentierte.50 Die Quellen für die Auslegung werden daher erst nach erfolgter Abstimmung vollständig zur Verfügung stehen und dem Gesetzgeber einen Interpretationsspielraum offenlassen.

3.3.2

Begriff des Kapitaleinkommens

Die geltende Bundesverfassung wie auch die geltende Steuergesetzgebung kennen den Begriff des Kapitaleinkommens nicht. Im Hinblick auf eine mögliche Umsetzung im Steuerrecht ist der Begriff daher auslegungsbedürftig.

Ein Beispiel für die Abgrenzung von Kapital- und Arbeitseinkommen findet sich im AHV-Recht, wo zur Bestimmung des AHV-pflichtigen Einkommens aus selbstständiger Erwerbstätigkeit vom Gesamteinkommen ein Zins auf dem im Betrieb eingesetzten eigenen Kapital abgezogen wird. Die unterstellte Verzinsung richtet sich dabei nach der Rendite von Anleihen nichtöffentlicher inländischer Schuldner, womit über die risikolose Verzinsung hinaus die Risikoprämie teilweise Berücksichtigung findet (vgl. Art. 9 Abs. 2 Bst. f des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 194651 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, AHVG). Diese Berücksichtigung beschränkt sich jedoch auf das Fremdkapitalrisiko und umfasst das Eigenkapitalrisiko nicht. Die Logik der AHV-Gesetzgebung kommt ebenfalls bei interkantonalen Steueraufteilungen bei Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit zur Anwendung. Im Steuerrecht wird im Weiteren bei Unternehmensbewertungen ohne Kurswert für die Vermögenssteuer implizit ein Konzept des Kapitaleinkommens unterstellt. Dabei wird dem unternehmerischen Risiko mittels Risikoprämien stärker Rechnung getragen.

Wissenschaftliche Begriffsauffassung In der Wissenschaft hat der Begriff Kapitaleinkommen zwei unterschiedliche Bedeutungen. In der Wirtschaftstheorie bezeichnet er das Einkommen aus der risikofreien Verzinsung des Kapitals. Er bildet also das Einkommen ab, das sich durch Konsumverzicht in der Gegenwart zugunsten von Konsum in der Zukunft ergibt.

Damit führen das Eingehen ökonomischer Risiken (Risikoprämien) sowie das Abschöpfen ökonomischer Renten (beispielsweise aufgrund einer Monopolstellung oder Technologieführerschaft) nicht zu Kapitaleinkommen im Sinne dieser begrifflichen Deutung.

Theoretisch liesse sich dieses Begriffsverständnis in das Recht überführen. Eine teleologische Auslegung des Initiativtexts lässt allerdings das Ziel der mittels stärkerer Kapitaleinkommensbesteuerung finanzierten Umverteilung erkennen. Es ist deshalb fraglich, ob ein Ausklammern von Risikoprämien und ökonomischen Renten im Einklang mit dem Zweck der Initiative stünde.

Die andere Begriffsdefinition, die namentlich in den Finanzwissenschaften Verwendung findet, versteht Kapitaleinkommen als Synonym zu Vermögenseinkommen.

50 51

Vgl. BGE 139 II 243 und Waldmann, Bernhard (2015) Die Umsetzung von Volksinitiativen aus rechtlicher Sicht, in: LeGes 26/3, S. 525.

SR 831.10

2821

BBl 2020

Hierbei handelt es sich um das Entgelt für das Zurverfügungstellen von Kapital.

Dieses umfasst neben der risikofreien Verzinsung des Kapitals auch Risikoprämien sowie das Abschöpfen ökonomischer Renten. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Form der Kapitalgeberin oder dem Kapitalgeber das Entgelt zukommt. Insbesondere ist unerheblich, ob das Entgelt in Form von Aufwertungsgewinnen oder in Form eines Zahlungsstroms erfolgt. Aus Praktikabilitätsgründen ist es bei der Besteuerung von Kapitalgewinnen jedoch üblich, dass der Aufwertungsgewinn erst bei der Realisation besteuert wird (Veräusserungsgewinn). Diese umfassendere Begriffsdefinition ist ohne Weiteres mit dem teleologischen Verständnis des Initiativtexts vereinbar.

Warum Kapitalerträge und Kapitalgewinne nach diesem finanzwissenschaftlichen Verständnis als äquivalent gelten, lässt sich am Beispiel von Aktien illustrieren: Grundsätzlich kann der erwirtschaftete Gewinn eines Unternehmens entweder einbehalten oder in Form einer Dividende ausgeschüttet werden. In ersterem Fall führt der erwirtschaftete Gewinn zu einem Wertzuwachs der Aktien. Dieser Wertzuwachs ist deshalb äquivalent zu einer Dividende, weil der durch eine Dividende erzeugte Geldstrom mittels einer teilweisen Veräusserung der Aktien repliziert werden kann. Dieselbe Äquivalenz lässt sich auch für unbewegliche Vermögen aufzeigen, bei welchem der Aufwertungsgewinn vorzugsweise mittels einer Erhöhung der Belehnung in einen entsprechenden Geldstrom umgewandelt werden kann.

Die finanzwissenschaftliche Sichtweise spricht vor diesem Hintergrund für eine breite Begriffsauffassung, wonach sowohl Kapitalerträge als auch Kapitalgewinne auf unbeweglichem und beweglichem Vermögen unter das Kapitaleinkommen fallen.

Ebenfalls für eine breite Begriffsauffassung von Kapitaleinkommen sprechen eine Synthese der finanzwissenschaftlichen Sichtweise mit Kategorisierungskonzeptionen von Einkommen aus der Steuerrechtslehre52 sowie die Wirtschaftsstatistik im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Letztere erfasst im Bereich der Kapitaleinkommen dieselben Komponenten, wobei die Abgrenzung zwischen Kapitalertrag und -gewinn von derjenigen in der Steuerrechtslehre teilweise abweicht.53 Gestützt auf dieses Begriffsverständnis, das sämtliche Kapitalerträge und -gewinne im beweglichen und
unbeweglichen Vermögen umfasst, zählen also im Grundsatz auch der Eigenmietwert und der Grundstückgewinn zum Kapiteleinkommen. Es würde sich somit die Frage stellen, ob auch der Bund die Grundstückveräusserungsgewinne im Privatvermögen als Kapitaleinkommen besteuern müsste. Im Weiteren ist zu erwähnen, dass diese Gewinne in der Regel aperiodisch anfallen und deshalb je nach Ausgestaltung einer allfälligen Ausführungsgesetzgebung bei einer breiteren Bevölkerungsschicht den Schwellenbetrag überschreiten könnten.

Abgrenzung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen Offen wären die Folgen der Initiative insbesondere auch für Personen mit selbstständiger Erwerbstätigkeit, welche sich durch den kombinierten Einsatz von Arbeit und Kapital charakterisiert. Im geltenden Steuerrecht ist die Aufteilung des daraus erzielten Einkommens in eine Arbeits- und eine Kapitaleinkommenskomponente 52 53

Vgl. ESTV (2010) Vereinfachung der Einkommensbesteuerung. Tabelle 1, S. 16.

Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG), 2010.

2822

BBl 2020

insofern unerheblich, als die Einkünfte in jedem Fall zu 100 Prozent in die Bemessungsgrundlage einfliessen. Würde man bei einer Umsetzung der Initiative die Konzeption der AHV-Gesetzgebung übernehmen, so wäre der als Kapitaleinkommen geltende Anteil am gesamten Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit zu niedrig. Grund dafür ist, dass die unterstellte Verzinsung des eingesetzten Kapitals nur einen kleinen Teil des Unternehmerrisikos abbildet. Die Initiative hätte in diesem Fall für diese Personengruppe geringe Auswirkungen. Allerdings ergäbe sich in diesem Punkt eine erhebliche Benachteiligung von Personen, die ihre unternehmerische Tätigkeit mittels einer personenbezogenen Aktiengesellschaft ausüben. Bei diesen Personen würden sämtliche Gewinnausschüttungen als Kapitaleinkommen qualifizieren und somit potenziell der erhöhten Besteuerung unterliegen. Wollte der Gesetzgeber solche Ungleichbehandlungen vermeiden, müsste bei Umsetzung der Initiative auch das Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit als Kapitaleinkommen gelten, soweit es einen marktkonformen Lohn der mitarbeitenden Unternehmerin oder des mitarbeitenden Unternehmers übersteigt.

Ähnliche Abgrenzungsfragen würden sich bei Renten aus kapitalgedeckter Vorsorge stellen. Darunter fallen namentlich die Renten der 2. Säule und der Säule 3a, nicht aber die AHV-Renten. Renten aus kapitalgedeckter Vorsorge beinhalten ebenso einen Kapitaleinkommensanteil, der das Einkommen aus der Verzinsung des angesparten Vermögens abbildet.

Im Weiteren deutet die Synthese aus dem finanzwissenschaftlichen Begriffsverständnis von Kapitaleinkommen mit demjenigen aus der Steuerrechtslehre darauf hin, dass sich die Initiative auf die Besteuerung natürlicher Personen beschränkt.

Gewinne juristischer Personen wären also nicht betroffen. Diese Interpretation wird unterstützt durch die oben erwähnte teleologische Auslegung, wonach sich im Initiativtext das Ziel der Umverteilung erkennen lässt. Der Themenkomplex der Umverteilung ist im Bereich der natürlichen, nicht der juristischen Personen anzusiedeln.

Begriffsauffassung der Initiantinnen und Initianten Die umfassende Interpretation, wonach im Grundsatz sämtliche Kapitalerträge und -gewinne aus beweglichem und unbeweglichem Vermögen in den Geltungsbereich des vorgeschlagenen Verfassungsartikels fallen,
deckt sich weitgehend mit derjenigen gemäss den ergänzenden Unterlagen der Initiantinnen und Initianten (Argumentarium, Factsheet, FAQ)54. Ausgehend davon schränken die Initiantinnen und Initianten den Begriff des Kapitaleinkommens oder jedenfalls den Begriff des steuerbaren Kapitaleinkommens aber ein. So seien der Eigenmietwert sowie Renten aus der kapitalgedeckten Altersvorsorge nicht zum steuerbaren Kapitaleinkommen im Sinne der Volksinitiative zu zählen. Aus dem Wortlaut der Initiative kommt dies ­ wie erwähnt ­ nicht hervor und bleibt folglich eine Frage der gesetzgeberischen Umsetzung.

Aus den ergänzenden Unterlagen der Initiantinnen und Initianten geht zudem die Forderung einer Abschaffung des geltenden Kapitaleinlageprinzips hervor. Hierzu ist festzuhalten, dass nach einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise und gemäss

54

Abrufbar unter 99prozent.ch/downloads (Stand: 13. Februar 2020).

2823

BBl 2020

geltender Rechtsauffassung55 Rückzahlungen von Kapitaleinlagen, die Inhaberinnen und Inhaber der Beteiligungsrechte einbezahlt haben, im Grundsatz nicht als Einkommensbestandteile qualifiziert werden. Insofern fehlt im Initiativtext der Anknüpfungspunkt, um bei Annahme der Initiative Kapitalrückzahlungen einer neuen steuerlichen Behandlung zuzuführen.

Abschliessend lässt sich festhalten, dass das grammatikalische Verständnis tendenziell für eine weite Auffassung des Begriffs des Kapitaleinkommens spricht. Angesichts der Offenheit des Begriffs sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Initiativtext dem Gesetzgeber einen gewissen Handlungsspielraum einräumt.

3.3.3

Von der erhöhten Besteuerung ausgenommener Betrag («Schwellenbetrag»)

Gemäss Absatz 1 des Initiativtexts sind Kapitaleinkommensteile erst ab einem «durch das Gesetz festgelegten Betrag» im Umfang von 150 Prozent steuerbar. Die genaue Höhe dieses Betrags lässt der Initiativtext offen. Anhaltspunkte dazu ergeben sich aus Absatz 2, wonach die durch die höhere Besteuerung erzielten Mehreinnahmen «für die Ermässigung der Besteuerung von Personen mit tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder für Transferzahlungen zugunsten der sozialen Wohlfahrt einzusetzen» sind. In dieser Zweckbindung lässt sich ­ wie in Ziffer 3.3.2 erwähnt ­ das Ziel der Umverteilung erkennen. Daraus kann man wiederum ableiten, dass vor allem hohe Einkommen von der stärkeren Besteuerung betroffen sein sollen. Zudem dürfte der Gesetzgeber den Schwellenbetrag nicht so hoch ansetzen, dass die höhere Besteuerung praktisch nicht zum Tragen käme und dem Umverteilungsziel keine Rechnung getragen würde.

Gemäss ihren ergänzenden Unterlagen stellen sich die Initiantinnen und Initianten im Rahmen der Ausführungsgesetzgebung einen Schwellenbetrag von zum Beispiel 100 000 Franken vor. Bei verheirateten Steuerpflichtigen könne der Betrag erhöht werden. Dieser Betrag stelle sicher, dass Kleinsparerinnen und Kleinsparer nicht betroffen seien.

Die Frage der Höhe des Schwellenbetrags ist bei einer Annahme der Initiative durch die Ausführungsgesetzgebung zu klären. Weil der Initiativtext dessen Höhe nicht festlegt, überlässt er dem Gesetzgeber in diesem Punkt einen erheblichen Spielraum.

3.3.4

Besteuerung ober- und unterhalb des Schwellenbetrags

Der Initiativtext lässt offen, ob bei Kapitaleinkommen oberhalb des Schwellenwerts die Vorbelastung durch die Gewinnbesteuerung berücksichtigt werden soll (sog.

Integrationstheorie). Gegebenenfalls könnte die Initiative bei Einkommen aus Beteiligungspapieren über dem Schwellenbetrag durch eine Besteuerung im Umfang von 150 Prozent ausgehend von einer Teilbesteuerung umgesetzt werden. Wenn bei55

Reich, Markus (2012) Steuerrecht, Zürich, 2. Auflage, § 13 N. 121.

2824

BBl 2020

spielsweise zur Korrektur der wirtschaftlichen Doppelbelastung eine Teilbesteuerung von 70 Prozent vorgesehen wird, dann würde dies bei den Anteilseignerinnen und -eignern eine Besteuerung im Umfang von 105 Prozent bedeuten.

Betrachtet man demgegenüber juristische Personen als Subjekte mit eigener von den Anteilseignerinnen und -eignern unabhängiger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (sog. Separationstheorie), so lässt sich eine Teilbesteuerung mit Blick auf das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht begründen. Einkommen aus Beteiligungspapieren müssten oberhalb des Schwellenbetrags im Umfang von 150 Prozent besteuert werden.

Zur Besteuerung von Kapitaleinkommen unterhalb des Schwellenbetrags äussert sich der Initiativtext nicht explizit. Bei einer Annahme der Initiative wäre im Rahmen der Umsetzung zu klären, ob Kapitalgewinne im Privatvermögen steuerfrei bleiben oder ob diese auch unterhalb des Schwellenbetrags mit oder ohne Berücksichtigung von Vorbelastungen der Einkommensbesteuerung zugeführt werden. Im Weiteren stellt sich auch unterhalb des Schwellenbetrags die Frage, wie Gewinnausschüttungen (mit oder ohne qualifizierende Beteiligung) in Bezug auf die Berücksichtigung von Vorbelastungen behandelt würden.

Je nach Auslegung des Begriffs des Kapitaleinkommens und die steuerliche Behandlung unterhalb des Schwellenbetrags würden sich weitere praktische Fragen stellen.

Wenn beispielsweise Kapitalgewinne bis zum Schwellenbetrag steuerfrei bleiben, darüber aber im Umfang von 150 Prozent besteuert werden, ist die steuerliche Behandlung nicht a priori klar, wenn das Kapitaleinkommen unter Einschluss der Kapitalgewinne den Schwellenbetrag übersteigt, unter Ausschluss der Kapitalgewinne diesen Betrag aber nicht erreicht.

Bezogen auf sämtliche Kapitaleinkommen wäre im Rahmen einer allfälligen Ausführungsgesetzgebung im Weiteren zu klären, ob und inwieweit substanzzehrende Steuern wie Vermögenssteuern, Kapitalsteuern oder Liegenschaftssteuern im Sinne einer Betrachtung der Gesamtbelastung bei der Kapitaleinkommensbesteuerung zu berücksichtigen sind.

3.3.5

Ausgestaltung der Rückverteilung

Gemäss Initiativtext gibt es für den Mehrertrag, der sich aus der Besteuerung der Kapitaleinkommen im Umfang von 150 Prozent statt 100 Prozent ergibt, zwei Verwendungsmöglichkeiten: die Ermässigung der Besteuerung von Personen mit tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder Transferzahlungen zugunsten der sozialen Wohlfahrt.

Im Initiativtext erwähnt werden somit Rückverteilungskanäle innerhalb und solche ausserhalb des Steuerrechts. Die Formulierung lässt für eine allfällige Ausführungsgesetzgebung sowohl eine Rückverteilung über lediglich einen der zwei Kanäle als auch über eine Kombination der beiden zu.

Im Weiteren würde sich die Frage stellen, ob eine direkte Zweckbindung mit effektiver Ermittlung der aus der Mehrbesteuerung resultierenden Einnahmen oder eine Pauschalierung dieser Einnahmen gewählt würde. In letzterem Fall würden die 2825

BBl 2020

durchschnittlichen Einnahmen, die aus der höheren Besteuerung resultieren, vergangenheitsbezogen berechnet oder zukunftsbezogen geschätzt und der entsprechende Betrag der Rückverteilung im Sinne der Initiative zugeführt.

Da diese Fragen offenbleiben, besteht für eine Ausführungsgesetzgebung ein weiter Interpretationsspielraum.

Rückverteilungskanäle innerhalb des Steuerrechts Eine Rückverteilung über eine Ermässigung der Steuerbelastung für tiefe oder mittlere Arbeitseinkommen kann beispielsweise über tarifliche Anpassungen oder über Abzüge erfolgen. Eine solche Vorgehensweise würde eine Pauschalierung der Höhe des Rückverteilungsvolumens bedingen. Alternativ könnte eine effektive Ermittlung des Rückverteilungsvolumens gewählt werden. In diesem Fall müsste die Rückverteilung aus praktischen Gründen zeitlich verzögert erfolgen.

Unabhängig davon, ob eine Pauschalierung oder eine effektive Ermittlung des Rückverteilungsvolumens erfolgt, müssten sich die Ermässigungen der Steuerbelastung gemäss Initiativtext auf Arbeitseinkommen beschränken.

Für die Verwendung der aus der höheren Besteuerung erzielten Mittel auf kantonaler Ebene kann der Bund in der geltenden Kompetenzordnung den Kantonen ausschliesslich formelle, nicht aber materielle Vorgaben zur Erhebung der direkten Steuern machen (Art. 129 Abs. 2 BV). Das StHG legt die Grundsätze fest, nach denen die kantonale Gesetzgebung zu gestalten ist. Allfällige Vorgaben des Bundes zur Rückverteilung innerhalb des Steuerrechts müssten daher formeller Natur sein.

Der Bund könnte also beispielsweise präzisieren, wie das Arbeitseinkommen zum Zweck der Rückverteilung ermittelt wird oder wie eine allfällige Teilbesteuerung tiefer oder mittlerer Arbeitseinkommen auszugestalten ist. Insbesondere zu Steuertarifen, Steuersätzen und Steuerfreibeträgen darf der Bund hingegen keine Vorgaben machen.

Rückverteilungskanäle ausserhalb des Steuerrechts Wie in Ziffer 2.3.1 ausgeführt, existieren diverse ausgabenseitige Umverteilungskanäle. Je nach Kanal wird eine andere Zielgruppe angesprochen. Je nach Leistung werden verschieden grosse und unterschiedlich zusammengesetzte Bevölkerungsgruppen erreicht.

Denkbar wäre ein Ausbau der Krankenkassenprämienverbilligungen für Haushalte mit geringen oder mittleren finanziellen Ressourcen. Zudem könnte das Ergänzungsleistungssystem
weiterentwickelt und für Personen zugänglich gemacht werden, die keine AHV- oder IV-Rente beziehen, sich aber in einer spezifischen finanziellen Notsituation befinden (ältere ausgesteuerte Arbeitslose, Familien mit bescheidenen Einkünften).

Die Initiantinnen und Initianten nennen in ergänzenden Unterlagen als Beispiele für «Transferzahlungen zugunsten der sozialen Wohlfahrt» die Finanzierung von Prämienverbilligungen, Kinderkrippen und Pflegeleistungen durch die Spitex.

2826

BBl 2020

Im Bereich der Sozialhilfe erlaubt die geltende Kompetenzordnung dem Bund nur, den Kantonen bei der Nothilfe Vorgaben zu machen. Im Bereich der individuellen Prämienverbilligungen und der Ergänzungsleistungen sind hingegen bundesgesetzliche Vorgaben möglich.

4

Würdigung der Initiative

4.1

Würdigung der Anliegen der Initiative

Die Frage der Einkommensverteilung und damit verbunden diejenige der sozialpolitischen Umverteilung sind politischer Natur. Im Vordergrund stehen dabei Werthaltungen wie beispielsweise die grundsätzliche Frage der Legitimität von Umverteilungsmassnahmen. Die Initiantinnen und Initianten bringen mit ihrem Anliegen den Wunsch nach mehr Umverteilung zum Ausdruck. Die geltende Bundesverfassung lässt diesbezüglich einen weiten Interpretations- und Handlungsspielraum offen und steht somit dem Anliegen nach mehr Umverteilung nicht entgegen.

Die Besteuerung von Kapitaleinkommen im Umfang von 150 Prozent kann als Relativierung des Prinzips der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Art. 127 Abs. 2 BV) angesehen werden. Dieses verlangt, dass die Steuerpflichtigen nach Massgabe der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel belastet werden. Unter diesem Aspekt ist somit eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkommen gegenüber anderen Einkommensarten problematisch. Dies gilt umso mehr, als dass die bestehende Einkommenssteuer auf dem Nominalwertprinzip beruht. Besteuert wird somit der gesamte nominale Kapitalertrag, der auch die Inflationsprämie einschliesst. Diese stellt keine reale Rendite dar, sondern kompensiert die Anlegerinnen und Anleger für den Kaufkraftverlust ihres Vermögens. Der effektive Steuersatz auf dem realen Kapitaleinkommen kann somit ­ selbst bei moderaten Inflationsraten ­ sehr hoch ausfallen. Das Leistungsfähigkeitsprinzip würde vor diesem Hintergrund eher für eine niedrigere als für eine höhere Besteuerung von Kapitaleinkommen im Vergleich zu Arbeitseinkommen sprechen.

4.2

Auswirkungen der Initiative bei einer Annahme

Wie in Ziffer 3.3 dargestellt, wirft der Initiativtext diverse Auslegungsfragen auf.

Gerade in Bezug auf die geforderte Rückverteilung der durch die Mehrbesteuerung generierten Mittel besteht ein grosser Interpretationsspielraum. Die Auswirkungen der Initiative hängen bei einer Annahme stark von der Ausführungsgesetzgebung ab.

4.2.1

Erhöhung der Steuerbelastung auf Kapitaleinkommen

Die Steuerbelastung des Kapitaleinkommens hängt bei einer Annahme der Initiative namentlich von folgenden zwei Faktoren ab, deren Ausgestaltung im Rahmen einer allfälligen Ausführungsgesetzgebung geklärt werden muss: von der Höhe des Be2827

BBl 2020

trags, ab dem die Besteuerung im Umfang von 150 Prozent zum Tragen kommt (Schwellenbetrag), und von den Arten von Kapitaleinkommen, die von der höheren Besteuerung betroffen sind.

Tabelle 1 zeigt schematisch die Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Einkommenssteuer im Status quo und im Initiativszenario anhand eines Beispiels mit Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit, Zinserträgen und Erträgen aus Vermietung. Der Schwellenbetrag, ab dem die höhere Besteuerung der Kapitaleinkommen zum Tragen kommt, liegt beispielhaft bei 100 000 Franken. Bis zu diesem Betrag verändert sich die Besteuerung der Kapitaleinkommen in der abgebildeten Konstellation durch die Initiative nicht. Eine allfällige Steuerermässigung auf das Arbeitseinkommen von tiefen oder mittleren Einkommen (aufgrund der Rückverteilung) wird in den Beispielen in diesem Kapitel nicht berücksichtigt. Grund dafür ist insbesondere, dass unklar ist, ob und gegebenenfalls wie eine solche Steuerermässigung in eine Ausführungsgesetzgebung einfliessen würde.

Einkünfte

Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit Zinserträge Erträge aus Vermietung Summe

Effektiver Betrag (= Bemessungsgrundlage im Status quo)

Bemessungsgrundlage im Initiativszenario

150 000

150 000

10 000 150 000

190 000

310 000

340 000

Tabelle 1: Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Einkommenssteuer im Status quo (mittlere Spalte) und im Initiativszenario (rechte Spalte) anhand eines vereinfachten Beispiels.

Der Schwellenbetrag liegt beispielhaft bei 100 000. Alle Angaben in Franken.

Im geltenden Recht fliessen alle abgebildeten Einkommensbestandteile in vollem Umfang in die Bemessungsgrundlage ein, welche sich somit aus der Summe der einzelnen Bestandteile ergibt. Im Initiativszenario fliesst das Kapitaleinkommen oberhalb des Schwellenbetrags im Umfang von 150 Prozent in die Bemessungsgrundlage ein. Das Kapitaleinkommen, also die Summe aus den Zinserträgen und Erträgen aus Vermietung, beträgt 160 000 Franken und übersteigt damit den Schwellenbetrag um 60 000 Franken. Dieser Betrag fliesst somit mit 90 000 Franken, also im Umfang von 150 Prozent, in die Bemessungsgrundlage ein. In der Summe erhöht sich damit die Bemessungsgrundlage für die Einkommenssteuern von 310 000 auf 340 000 Franken.

Die Veränderung der Einkommenssteuerbelastung hängt neben der konkreten Ausgestaltung einer allfälligen Ausführungsgesetzgebung im Weiteren von den Einkommenssteuertarifen ab. Diese sind von der Initiative nicht berührt. Es steht also Bund und Kantonen auch zukünftig frei, die Steuertarife anzupassen. Würden die Steuertarife als Reaktion auf die stärkere Berücksichtigung der Kapitaleinkommen in der Bemessungsgrundlage generell gesenkt, dann würde damit die Erhöhung der Steuerbelastung mindestens teilweise kompensiert (vgl. hierzu Ziff. 4.2.2).

Abbildung 3 stellt die Veränderung der Einkommenssteuerbelastung bei Annahme der Initiative schematisch dar. Abgebildet ist die Veränderung der Steuerbelastung 2828

BBl 2020

ausgehend von Kapitaleinkommen, das im geltenden Recht einer vollen Besteuerung unterliegt (anlehnend an die obige Tabelle kann es sich hierbei beispielsweise um Zinserträge oder Erträge aus Vermietung handeln). Dargestellt sind Beispiele mit unterschiedlich hohen Anteilen des steuerbaren Kapitaleinkommens am gesamten steuerbaren Einkommen. Der Schwellenbetrag liegt wie in der obigen Tabelle beispielhaft bei 100 000 Franken. Oberhalb des Schwellenbetrags fliesst jeder Franken Kapitaleinkommen im Umfang von 150 Prozent in die Bemessungsgrundlage ein.

Dargestellt sind die Kantone Genf, Zürich und Zug. Bei Genf und Zug handelt es sich um die Kantone mit der höchsten bzw. der niedrigsten maximalen Grenzsteuerbelastung.56 Dabei wird unterstellt, dass sich im Zuge der Umsetzung der Initiative weder die Steuertarife noch die Steuerfüsse ändern. Die Grafiken bilden also ausschliesslich die erhöhte Berücksichtigung der Kapitaleinkommen bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage ab.

56

Gemäss ESTV, Steuerbelastung in den Kantonshauptorten 2018, Marginalbelastung von 500 000 bis 1 Million Franken.

2829

BBl 2020

Abbildung 1: Erhöhung in der Einkommenssteuerbelastung (Bund + Kanton + Gemeinde) nach Annahme der Volksinitiative im Vergleich zum Status quo in Abhängigkeit von der Höhe des steuerbaren Einkommens. Kantone Genf, Zürich und Zug, jeweils im Kantonshauptort, alleinstehende Person, konfessionslos, geltendes Recht 2019. Abgebildet sind Konstellationen mit einem Anteil des steuerbaren Kapitaleinkommens am gesamten steuerbaren Einkommen von 20, 50 und 100 Prozent. Annahmen: Schwellenbetrag bei 100 000 Franken; Besteuerung im Status quo im Umfang von 100 Prozent, Besteuerung des Kapitaleinkommens gemäss Volksinitiative ab dem Schwellenbetrag im Umfang von 150 Prozent.

2830

BBl 2020

Aus den Abbildungen ergeben sich namentlich folgende Erkenntnisse zur Veränderung der Steuerbelastung bei einer Annahme der Initiative: ­

Weil durch die Initiative ausschliesslich Kapitaleinkommen stärker besteuert werden, steigt die Steuerbelastung umso stärker an, je höher der Anteil des Kapitaleinkommens am gesamten steuerbaren Einkommen ist. Im Kanton Genf beträgt die Einkommenssteuerbelastung bei einem steuerbaren Einkommen von 1 Million Franken im Status quo rund 425 000 Franken. Bei einem Anteil des Kapitaleinkommens am gesamten steuerbaren Einkommen von 20 Prozent würde sich die Einkommenssteuerbelastung nach Annahme der Initiative um rund 22 000 Franken erhöhen. Wenn das steuerbare Einkommen ausschliesslich aus Kapitaleinkommen besteht, würde die Initiative zu einer Erhöhung der Steuerbelastung um rund 200 000 Franken führen. Im Kanton Zug beträgt die Steuerbelastung im Status quo bei 1 Million Franken steuerbarem Einkommen rund 225 000 Franken. Durch die Volksinitiative würde sie im ersten Fall um rund 11 000 Franken steigen, im zweiten Fall um rund 100 000 Franken. Der Kanton Zürich befindet sich in dieser Betrachtung, sowohl in Bezug auf die Steuerbelastung im Status quo als auch in Bezug auf dessen Erhöhung durch die Initiative, zwischen den Kantonen Genf und Zug. Es würden nach Umsetzung der Initiative bei 1 Million Franken steuerbarem Einkommen Steuerbelastungen von über 60 Prozent resultieren.

­

Je höher die heutige Steuerbelastung für hohe Einkommen in einem Kanton ist, desto stärker erhöht sich tendenziell die Steuerbelastung für Kapitaleinkommen durch die Initiative. Dies kommt ebenfalls durch die oben erwähnten Zahlen zum Ausdruck. Wenn das gesamte steuerbare Einkommen aus Kapitaleinkommen besteht, steigt die Steuerbelastung bei einem steuerbaren Einkommen von 1 Million Franken im Kanton Genf um rund 200 000 Franken, im Kanton Zürich um rund 180 000 Franken und im Kanton Zug um rund 100 000 Franken.

­

Die Grenzsteuerbelastung auf Kapitaleinkommen, also die Besteuerung eines zusätzlich erzielten Frankens, steigt nach Erreichen des Schwellenbetrags überall in der Schweiz deutlich an. Dies kommt in der Abbildung am deutlichsten durch die Linien zum Ausdruck, welche die Situation darstellen, in der das gesamte steuerbare Einkommen aus Kapitaleinkommen besteht.

Die Kurve steigt nach Erreichen des Schwellenbetrags an, womit durch die Initiative für jeden zusätzlich erzielten Franken Kapitaleinkommen mehr Einkommenssteuern bezahlt werden müssen als im Status quo. Bei hohen Einkommen überträgt sich die um die Hälfte stärkere Berücksichtigung des Kapitaleinkommens in der Bemessungsgrundlage in eine ebenfalls um die Hälfte höhere Grenzsteuerbelastung.

2831

BBl 2020

4.2.2

Finanzielle Auswirkungen

Die finanziellen Auswirkungen einer stärkeren Besteuerung von Kapitaleinkommen können nicht geschätzt werden. Erstens besteht angesichts des erheblichen Interpretationsspielraums zum jetzigen Zeitpunkt eine zu grosse Unsicherheit darüber, wie der Gesetzgeber die Initiative bei einer Annahme umsetzen würde. Zweitens fehlen die Datengrundlagen. Drittens ist keine hinreichend präzise Abschätzung der Verhaltensanpassungen möglich.

Wenn sich die Eckwerte einer Ausführungsgesetzgebung zuverlässig vorhersehen liessen, bräuchte man insbesondere folgende Daten, um die finanziellen Auswirkungen ­ ohne Berücksichtigung von Verhaltensanpassungen ­ zu schätzen: ­

Höhe der steuerbaren Kapitalerträge, einschliesslich des Anteils, der im geltenden Recht teilbesteuert wird;

­

Höhe der Kapitalgewinne, die im geltenden Recht steuerbar bzw. steuerfrei sind;

­

für beide oben genannten Grössen jeweils der Anteil, der unter den Schwellenbetrag fallen würde bzw. von der höheren Besteuerung betroffen wäre.

­

Je nach Ausgestaltung der unterstellten Ausführungsgesetzgebung müsste zudem bekannt sein, welcher Anteil auf Kapitaleinkommensarten fällt, die von der höheren Besteuerung betroffen bzw. ausgenommen sind.

­

Aufgrund der grossen kantonalen und kommunalen Unterschiede in den Steuerbelastungen müssten für eine Abschätzung der Steuerfolgen für alle oben erwähnten Punkte im besten Fall Einzeldaten, mindestens aber Daten auf Gemeindeebene vorhanden sein.

Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) verfügt dazu nur über punktuelle Daten. Aus der Bundessteuerstatistik gehen keine Angaben über die mengenmässige Bedeutung der Kapitalerträge relativ zu anderen Einkommensarten (Erwerbseinkommen, Renten etc.) hervor. Dementsprechend ergeben sich auch keine Anhaltspunkte über die relative Bedeutung verschiedener Arten von Kapitaleinkommen, die für Schätzungen der quantitativen Auswirkungen der Initiative gegebenenfalls unterschieden werden müssten (Zinsen, Dividenden, Eigenmietwert etc.). Über die Höhe der Kapitalgewinne liegen in der Schweiz generell keine umfassenden Steuerdaten vor, weil diese Gewinne heute im Privatvermögen steuerfrei sind und deshalb keine Daten dazu erhoben werden.

Wenn Daten zu den erwähnten Punkten zur Verfügung ständen, liessen sich Schätzungen zu den Auswirkungen der Initiative ohne Berücksichtigung von Verhaltensanpassungen vornehmen. Die so geschätzten Auswirkungen einer Steuerreform ergeben sich unmittelbar aus den wirtschaftlichen Gegebenheiten in der Ausgangslage und den steuerpolitischen Reformmassnahmen. Weil die Initiative bei den Kapitaleinkommen Steuererhöhungen vorsieht, sind in dieser Betrachtung positive finanzielle Auswirkungen zu erwarten.

Im Bereich der Reformen der Kapitaleinkommensbesteuerung ist jedoch mit erheblichen Verhaltensanpassungen der Wirtschaftsakteure an die veränderten steuerlichen Rahmenbedingungen zu rechnen. Es ist davon auszugehen, dass die steuerba2832

BBl 2020

ren Kapitaleinkommen eine hohe Steuerempfindlichkeit aufweisen. Ihre Höhe könnte sich signifikant reduzieren, wenn sie stärker besteuert werden (vgl. dazu Ziff. 4.3.4).

Eine weitere Verhaltensanpassung könnte in steuerpolitischen Reaktionen der Kantone liegen. Weil hohe Kapitaleinkommen stärker besteuert werden müssen als andere Einkommensarten, könnten die Kantone aus standortpolitischen Überlegungen darauf mit generellen Steuersenkungen, insbesondere für Gutverdienende, reagieren. Dies würde der Erhöhung der Steuerbelastung auf Kapitaleinkommen entgegenwirken.

Gerade bei der vorliegenden Initiative greift deshalb eine Schätzung unter Ausblendung von Verhaltensreaktionen zu kurz. Um Verhaltensanpassungen mitberücksichtigen zu können, müssten neben den oben erwähnten Daten auch Parameter bekannt sein, die die Richtung und Stärke der Verhaltensanpassungen der Wirtschaftssubjekte abbilden.

Zu denken ist hierbei namentlich an den kurz- bis mittelfristig eintretenden Rückgang der steuerbaren Kapitaleinkommen durch eine Vielzahl von Wirkungskanälen (vgl. dazu Ziff. 4.3.4). Die stärkere Besteuerung der Kapitaleinkommen reduziert unter anderem die Sparanreize, was sich langfristig in einer Reduktion des volkswirtschaftlich pro Arbeitskraft zur Verfügung stehenden Kapitals niederschlagen könnte. Diese Entwicklungen würden die Arbeitseinkommen reduzieren, was wiederum tendenziell negative Auswirkungen auf die Steuereinnahmen hätte.

Weil Steuersubjekte die Tendenz haben, den Steuern mittels Verhaltensanpassungen auszuweichen, kann davon ausgegangen werden, dass sich daraus negative finanzielle Auswirkungen ergeben. Je nach Höhe der tatsächlichen Steuerempfindlichkeiten werden dadurch die Mehreinnahmen in der Betrachtung ohne Verhaltensreaktionen stärker oder weniger stark reduziert. Gerade auf lange Sicht ist theoretisch auch möglich, dass die Verhaltensanpassungen die positiven finanziellen Auswirkungen überkompensieren und so im Endeffekt Mindereinnahmen resultieren.

Die Initiantinnen und Initianten legen Schätzungen zu den finanziellen Auswirkungen vor. Aufgrund der ungenügenden Datenlage können diese nicht überprüft werden. Es ist jedoch zu erwähnen, dass die vorgelegten Schätzungen Verhaltensreaktionen der Wirtschaftsakteure ausblenden. Angesichts der erheblichen Verhaltensanpassungen, die bei einer Umsetzung der Initiative zu erwarten sind, greift aus Sicht des Bundesrates eine solche Betrachtung deutlich zu kurz.

4.2.3

Auswirkungen der Rückverteilung

Gemäss Absatz 2 des Initiativtexts muss der Mehrertrag für die Ermässigung der Besteuerung von Personen mit tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder für Transferzahlungen zugunsten der sozialen Wohlfahrt eingesetzt werden. Weil der Initiativtext in diesem Punkt sehr offen formuliert ist, lässt sich die konkrete Ausgestaltung einer allfälligen Ausführungsgesetzgebung nicht vorhersagen. Wie unter Ziffer 3.3.5 beschrieben, sind zahlreiche Kanäle der Rückverteilung denkbar.

2833

BBl 2020

Wie unter Ziffer 4.2.2 ausgeführt, können die finanziellen Auswirkungen der Initiative unter Berücksichtigung von Verhaltensanpassungen sowohl positiv als auch negativ sein. Die Einnahmen aus der Besteuerung gewisser Kapitaleinkommen im Umfang von 150 Prozent sind jedoch isoliert betrachtet immer mindestens gleich hoch wie die Einnahmen aus der Besteuerung im Umfang von 100 Prozent.

Einzig wenn nach Umsetzung der Initiative aufgrund von Ausweichreaktionen (vgl.

Ziff. 4.3) keine steuerbaren Kapitaleinkommen über dem Schwellenbetrag mehr vorhanden wären, stünde kein Geld für die Rückverteilung zur Verfügung. Abgesehen von diesem nicht zu erwartenden Fall würde daher für die Rückverteilung im Sinne der Initiative ein gewisser Betrag zur Verfügung stehen. Wie hoch dieser Betrag sein würde, ist zum heutigen Zeitpunkt aus den unter Ziffer 4.2.2 angeführten Gründen Spekulation. Im Weiteren muss damit gerechnet werden, dass der für die Rückverteilung zur Verfügung stehende Betrag über die Jahre sehr volatil und auch nach einer Umsetzung der Initiative schwierig zu prognostizieren sein wird. Sollte die Ausführungsgesetzgebung eine direkte Zweckbindung vorsehen, so würden sich die Volatilität und die schwierige Prognostizierbarkeit der Steuereinnahmen von Kapitaleinkommen direkt auf das zusätzlich zur Verfügung stehende Umverteilungsvolumen übertragen.

4.3

Vorzüge und Mängel der Initiative

Die Volksinitiative ist insbesondere motiviert durch die Einkommens- und Vermögensungleichheiten und das Unbehagen, dass Vermögende vom Kapitaleinkommen leben können, ohne einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen.

Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass in vielen Ländern die wirtschaftlichen Ungleichheiten in den vergangenen Jahrzehnten tendenziell zugenommen haben.

Diese Entwicklung ist besonders in den USA oder im Vereinigten Königreich ausgeprägt, wo sich die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen ausgehend von einem im Vergleich mit anderen Industrieländern hohen Niveau seit Mitte der 1990er-Jahre weiter akzentuiert hat. In der Schweiz ist in den letzten Jahren über die gesamte Bevölkerung betrachtet kaum eine Zunahme der Ungleichheit bei den verfügbaren Einkommen sichtbar.57 Im Weiteren ist zu ergänzen, dass die Zunahme der Einkommensungleichheit innerhalb einiger Industrieländer einer weltweiten Abnahme der Armut und der Einkommensungleichheit in den vergangenen beiden Jahrzehnten gegenübersteht. Verantwortlich dafür ist namentlich die Integration der Schwellenländer, vor allem Chinas, in die Weltwirtschaft. 58 Demgegenüber geht aus einer Untersuchung der ESTV mit Steuerdaten von 2003 bis 2015 hervor, dass die Vermögen in der Schweiz zwar insgesamt deutlich gewachsen sind, aber deren Verteilung ungleicher geworden ist. Das reichste Prozent der Bevölkerung hat sein Vermögen von 2003 bis 2015 um fast 43 Prozent gesteigert, 57 58

Vgl. BFS (2017) Haushaltsbudgeterhebung (HABE) oder OECD, Income Distribution Database.

Fuest, Clemens (2016) Zehn Thesen zur Ungleichheitsdebatte. ZEW ­ Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung.

2834

BBl 2020

während die unteren drei Viertel aller Vermögen lediglich um 18,6 Prozent gestiegen sind.59 Mit der wirtschaftlichen Ungleichheit greifen die Initiantinnen und Initianten ein Thema auf, das weltweit vermehrt ins Zentrum des politischen und wissenschaftlichen Diskurses rückt. Es liegen namentlich in den USA diverse steuerpolitische Vorschläge vor, die zum Ziel haben, der aufgehenden Vermögens- und Einkommensschere entgegenzuwirken.

Der Bundesrat ortet in der Initiative hingegen grundsätzliche Mängel, namentlich in Bezug auf den Handlungsbedarf, die Zielgenauigkeit und die geforderte Zweckbindung der durch die höhere Kapitaleinkommensbesteuerung erzielten Einnahmen.

Darüber hinaus sind bei einer Annahme der Initiative erhebliche negative Auswirkungen auf die Standortattraktivität und die Anreize zur Kapitalbildung zu erwarten, gerade mit Blick auf die hohe Steuerempfindlichkeit von Kapitaleinkommen. Davon betroffen wären nicht nur kapitaleinkommensstarke Personen, sondern sämtliche Wirtschaftsakteure in der Schweiz.

4.3.1

Kein Handlungsbedarf

Einkommen in der Schweiz gleichmässig verteilt Wie unter Ziffer 2.4 beschrieben, sind in der Schweiz die Markteinkommen ­ also die Einkommen vor Steuern und Transferleistungen ­ im internationalen Vergleich sehr gleichmässig verteilt. Beim Gini-Index, einem häufig verwendeten Ungleichheitsmass, weist die Schweiz einen niedrigen Wert auf. Aufgrund der gleichmässigen Verteilung der Markteinkommen ist der staatliche Umverteilungsbedarf in der Schweiz niedriger als in anderen Ländern. Dennoch findet vor allem mittels Transferleistungen ausgabenseitig und ergänzend mittels Steuern einnahmenseitig bereits eine spürbare Umverteilung statt.

Bereits hohe Gesamtbelastung auf Kapitaleinkommen Wie in Ziffer 2.2 beschrieben, erhebt die Schweiz als eines von wenigen OECDLändern eine allgemeine Vermögenssteuer. Diese hat ökonomisch betrachtet die Wirkung einer Sollertragssteuer, indem sie ein «Standardeinkommen» auf das Vermögen erfasst, losgelöst vom tatsächlich erzielten Kapitaleinkommen. Wenn zum Beispiel die Rendite auf das Vermögen 2 Prozent beträgt, dann entspricht eine Vermögenssteuer von 0,5 Prozent faktisch einer Steuer auf dem erzielten Kapitaleinkommen von 25 Prozent.

Hinzu kommt die Einkommenssteuer auf den meisten Kapitaleinkommensbestandteilen. Dividenden (sofern keine qualifizierende Beteiligung von mindestens 10 Prozent des Kapitals vorliegt) und Zinsen werden voll dem steuerbaren Einkommen hinzugerechnet. Im Falle einer qualifizierenden Beteiligung werden Dividenden teilbesteuert, um die wirtschaftliche Doppelbelastung durch die Gewinnsteuer (bei

59

ESTV (2019) L'évolution de la richesse en Suisse de 2003 à 2015 (keine dt. Übers.).

2835

BBl 2020

den Unternehmen) und die Einkommenssteuer (bei den Anteilseignerinnen und -eignern) zu korrigieren.

Zusammen mit der im internationalen Vergleich hohen Vermögenssteuer ist in der Schweiz ­ trotz der steuerbefreiten privaten Kapitalgewinne ­ die Gesamtbelastung auf Kapitaleinkommen bereits recht hoch.

4.3.2

Ineffizientes Mittel gegen Einkommensungleichheit

Die Volksinitiative greift zu einem ineffizienten Instrument zur Minderung der Einkommensungleichheit, weil die höhere Besteuerung primär bei der Art und nicht bei der Höhe des Einkommens anknüpft.

Daten zur Einkommensentwicklung der verschiedenen Einkommensgruppen deuten darauf hin, dass der in den letzten Jahren beobachtete überproportionale Anstieg der Topeinkommen weniger von hohen Kapitaleinkommen, sondern eher von Topsalären getrieben wurde.60 Ein Blick auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in der Schweiz zeigt im Übrigen, dass entgegen dem globalen Trend61 der Anteil des Kapitaleinkommens am gesamten erzielten Einkommen seit Mitte der 1990er-Jahre leicht abgenommen hat.62 Beides verdeutlicht, dass eine einseitig auf Kapitaleinkommen abzielende höhere Besteuerung mit Blick auf die angestrebte Reduktion der Einkommensungleichheit nicht zielgenau ist.

4.3.3

Schwächt Anreize zur Kapitalbildung

Die Initiantinnen und Initianten argumentieren, dass Kapitaleinkommen leistungsfreies Einkommen darstelle und deshalb eine höhere Besteuerung verdiene. Dem ist Folgendes entgegenzuhalten: Kapital muss durch Wertschöpfung und temporären Konsumverzicht erst gebildet werden, bevor darauf Kapitaleinkommen erzielt werden kann. Im Falle von Erbschaften und Schenkungen fällt das Kapitaleinkommen teilweise anderen Personen zu als denjenigen, die das Kapital gebildet haben. Ob und gegebenenfalls wie stark diesem Umstand Rechnung getragen werden soll, muss aber im Rahmen der Erbschafts- und Schenkungssteuerpolitik diskutiert werden.

Wie Arbeitskraft ist Kapital ein Produktionsfaktor, der entschädigt wird, wenn er dem volkswirtschaftlichen Produktionsprozess zur Verfügung gestellt wird. Was für den Faktor Arbeit der Lohn ist, ist für das Kapital dessen Verzinsung. Die Verzinsung bzw. die Rendite auf dem Kapital ist die Entschädigung für den temporären Konsumverzicht und das eingegangene Vermögensrisiko.

Insbesondere Risikokapital übernimmt die wichtige Rolle, wirtschaftliche Risiken zu tragen. Dies trägt dazu bei, Lohnempfängerinnen und Lohnempfänger von diesen 60 61 62

Vgl. Föllmi, R. und Martínez, I. (2017) Die Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Schweiz, UBS Center Public Paper #6.

Dao, M. C., Das, M., Koczan, Z. und Lian, W. (2017) Why Is Labor Receiving a Smaller Share of Global Income? Theory and Empirical Evidence. IMF WP/17/169.

Daten: BFS (2019) Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Berechnungen der ESTV.

2836

BBl 2020

Risiken abzuschirmen, die sich sonst durch stärkere Lohnschwankungen und instabilere Beschäftigungsverhältnisse zeigen würden.

Ein gut ausgebauter Kapitalstock ist daher ­ neben der Technologie ­ eine der wichtigsten Voraussetzungen für wirtschaftliche Prosperität. Dies gilt in besonderem Masse für Lohnabhängige, weil ein gut ausgebauter Kapitalstock die Arbeitsproduktivität steigert und dadurch die Löhne erhöht.

Aufgrund der derzeit international weit verbreiteten Modelle zur Minderung der Doppelbelastung auf Dividendeneinkommen würde die Annahme der Initiative die Schweiz im internationalen Steuerwettbewerb bei der Dividendenbesteuerung entscheidend zurückwerfen. Entsprechend würde die Initiative die Standortattraktivität der Schweiz für kapitaleinkommensstarke Personen verschlechtern, hätte negative Auswirkungen auf die Anreize zur Kapitalbildung und würde dadurch mittelfristig den Kapitalstock pro Arbeitskraft verringern. Diese Entwicklungen hätten tendenziell negative Auswirkungen auf die Arbeitseinkommen. Somit würde die zusätzliche Steuerbelastung letztlich von Wirtschaftsakteuren wie zum Beispiel Lohnabhängigen getragen, die von der Erhöhung der Besteuerung der Kapitaleinkommen direkt nicht betroffen sind.

4.3.4

Kapitaleinkommen reagiert stark auf Besteuerung

Die Höhe der steuerbaren Vermögen reagiert sehr empfindlich auf die Besteuerung.

Aus Schätzungen mit Kantonsdaten geht hervor, dass eine Senkung der Vermögenssteuersätze um einen Prozentpunkt die Höhe der deklarierten Vermögen über einen Zeitraum von sechs Jahren um mindestens 43 Prozent erhöht.63 Bei grossen Veränderungen der Steuerbelastung reagieren die Vermögen gemäss der Untersuchung überproportional stark. Diese Steuerempfindlichkeit lässt sich durch folgende Wirkungskanäle erklären: ­

Reduktion der Vermögen durch die Steuer selber («mechanischer» Effekt);

­

Zu- oder Wegzug vermögender Steuerzahlerinnen und Steuerzahler (Mobilität);

­

Veränderung der Vermögensbildung durch erhöhten oder reduzierten Arbeitseinsatz und durch das Sparverhalten;

­

Veränderung der Immobilienpreise (Kapitalisierung der Vermögenssteuern in den Immobilienpreisen);

­

Steueroptimierung (Verlagerung in steuerlich günstigere Vermögenswerte);

­

Steuerhinterziehung (Nichtdeklaration von Vermögenswerten).

Aus den Schätzungen gehen folgende Hinweise über die relative Bedeutung der Wirkungskanäle hervor. Ungefähr 6 Prozent sind durch die Veränderung des Sparverhaltens und den damit verbundenen «mechanischen» Effekt erklärt. Rund ein 63

Vgl. Brülhart, M., Gruber, J., Krapf, M. und Schmidheiny, K. (2019) Behavioral Responses to Wealth Taxes: Evidence from Switzerland. Centre for Economic Policy Research.

Discussion Paper DP14054.

2837

BBl 2020

Viertel ist auf die Mobilität der Steuerpflichtigen und rund ein Fünftel auf die Kapitalisierung der Vermögenssteuern in den Immobilienpreisen zurückzuführen.

Schliesslich kommt etwa die Hälfte der Steuerempfindlichkeit von der Veränderung der Höhe der steuerbaren Finanzanlagen. Die Erklärung für diesen letzten und grössten Anteil ist offen. Die Autoren der Untersuchung vermuten, dass vor allem Veränderungen des Ausmasses an Steuerhinterziehung von ortsgebundenen Steuerpflichtigen als Folge einer Erhöhung oder Senkung der Vermögenssteuern eine plausible Erklärung sind.

Als alternative Erklärungen kommen insbesondere Steueroptimierung, also legale Ausweichreaktionen in Frage. Offen bleibt, zu welchen Anteilen die Steuerempfindlichkeit der Finanzanlagen auf illegales oder legales Verhalten zurückzuführen ist.

Aus den Schätzungen zur Steuerempfindlichkeit der Vermögen lässt sich ableiten, dass Kapitaleinkommen stärker auf Besteuerung reagiert als Arbeitseinkommen.

Obwohl Vermögen und Kapitaleinkommen eng verknüpft sind, ist auf gewisse Unterschiede in der Beurteilung der jeweiligen Steuerempfindlichkeiten hinzuweisen. So überträgt sich beispielsweise derjenige Teil der Steuersensitivität, der auf die Veränderung der Immobilienpreise zurückzuführen ist, zumindest in der kurzen und mittleren Frist nicht eins zu eins auf die Kapitaleinkommen.

Hingegen sind bei der Beurteilung der Steuerempfindlichkeit von Kapitaleinkommen weitere Formen von möglichen Ausweichreaktionen zu berücksichtigen, die vor allem dann zu erwarten sind, wenn Anteilseignerinnen und -eigner mit grossen Beteiligungen zugleich in ihren Unternehmen angestellt sind (z. B. in Familienbetrieben). In dieser Konstellation setzt eine verstärkte Besteuerung von Kapitaleinkommen Anreize, den Anteilseignerinnen und -eignern das Einkommen über andere Kanäle zufliessen zu lassen, z. B. durch: ­

höhere und vermehrt erfolgsabhängige Vergütungen;

­

Lohnnebenleistungen wie zum Beispiel Geschäftswagen;

­

privaten Konsum, der als Geschäftsaufwand deklariert wird.

Das Optimierungspotenzial durch solche Ausweichreaktionen wird durch rechtliche Bestimmungen zwar eingeschränkt, ein gewisser Spielraum für Steueroptimierung besteht aber.

Weil Kapitaleinkommen sehr steuerempfindlich ist, wird eine höhere Steuerbelastung desselben kaum zu den von den Initiantinnen und Initianten erhofften Mehreinnahmen führen. Je nach Höhe der tatsächlichen Steuerempfindlichkeit werden die Mehreinnahmen unter Umständen deutlich geringer ausfallen. Theoretisch ­ wenn die Steuerempfindlichkeit noch höher ist als erwartet ­ können sogar Mindereinnahmen resultieren.

2838

BBl 2020

4.3.5

Ausbau der Umverteilung losgelöst von Bedarfsüberlegungen

Die Volksinitiative will die Steuereinnahmen, die sich aus der Besteuerung der Kapitaleinkommen im Umfang von 150 Prozent anstatt 100 Prozent ergeben, für Steuerermässigungen für tiefe oder mittlere Arbeitseinkommen oder für Transferzahlungen zugunsten der sozialen Wohlfahrt einsetzen. Es muss damit gerechnet werden, dass der für die Rückverteilung zur Verfügung stehende Betrag über die Jahre sehr volatil und auch nach einer Umsetzung der Initiative schwierig zu prognostizieren sein wird. Es würde sich zudem die Frage stellen, ob zur Erfüllung des Anliegens der Volksinitiative eine direkte Zweckbindung von entsprechenden Mehreinnahmen für Sozialausgaben oder für die Ermässigung der Steuerbelastung von tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen gewählt würde. In diesem Fall würden sich die Volatilität und die schwierige Prognostizierbarkeit der Steuereinnahmen von Kapitaleinkommen noch direkter auf das zusätzlich zur Verfügung stehende Umverteilungsvolumen übertragen. Unabhängig davon würde eine zusätzliche Umverteilung ausgelöst, die von den unsicheren und stark schwankenden Steuereinnahmen aus Kapitaleinkommen abhängt und nicht von Bedarfsüberlegungen.

4.4

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Das Anliegen der Initiative ist mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar.

5

Schlussfolgerungen

Der Bundesrat beantragt den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen. Dies aus folgenden Gründen: ­

In der Schweiz sind die Markteinkommen im internationalen Vergleich gleichmässig verteilt. Der Umverteilungsbedarf ist daher geringer als in anderen Ländern.

­

Über verschiedene einnahmen- und vor allem ausgabenseitige Kanäle findet heute eine Umverteilung statt. Deren Ausgestaltung und Ausmass beruhen auf demokratisch gefällten Entscheiden in Bund, Kantonen und Gemeinden.

­

Die Volksinitiative schlägt ein wenig zielgenaues Instrument vor, um die Einkommensungleichheit zu bekämpfen, weil sich die höhere Besteuerung primär auf die Art und nicht auf die Höhe der Einkommen bezieht.

­

Eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkommen würde die Standortattraktivität für kapitaleinkommensstarke Personen verschlechtern, hätte negative Auswirkungen auf die Anreize zur Vermögensbildung und würde dadurch mittelfristig das volkswirtschaftlich pro Arbeitskraft zur Verfügung stehende Kapital verringern. Dies hätte nicht zuletzt für Lohnabhängige negative 2839

BBl 2020

Konsequenzen. Im Weiteren würden aufgrund der hohen Steuerempfindlichkeit von Kapitaleinkommen die von den Initiantinnen und Initianten erhoffen Mehreinahmen kaum eintreffen, womit auch der bezweckte Umverteilungseffekt unterhöhlt würde.

­

2840

Die angestrebte Zweckbindung eines Teils der Steuererträge von Kapitaleinkommen würde zu einem von Bedarfsüberlegungen losgelösten Ausbau des Umverteilungsvolumens führen.