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Bundesrathsbeschluss über

die Rekursbeschwerden betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Agno (Vezia).

(Vom 4. August 1891.)

Der schweizerische Bundesrath hat

in Sachen der Rekursbeschwerden betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Agno (Vezia) nach dem Bericht des Justiz- und Polizeidepartements folgenden T h a t b e s t a n d gefunden: A. Betreffend die Gemeinde Vezia.

I. Am 5. Februar 1889 verlangten Arrigoni, Michele, und Streitgenossen beim Regierungskommissär die Streichung folgender Bürger aus dem für die Großrathswahlen vom 3. März ausgestellten Stimmregister dieser Gemeinde : Pianezzi, Giovanni, fu Antonio, Pianezzi, Giacomo, di Giovanni, da dieselben seit 11. November 1888 in Sigrino niedergelassen seien.

Die Munizipalität antwortete, so viel sie wisse, seien die Genannten nicht schon seit dem 2. Dezember von Vezia weggezogen.

Der Kommissär wies darum den Rekurs ab.

Die Petenten rekurrirten hiegegen an den Staatsrath unter Wiederholung ihrer Behauptung.

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Dieser aber bestätigte das Dekret, da für die Behauptung der Rekurrenten kein Beweis vorliege.

Darauf wandten sieh die Rekurrenten an den Bundesrath, indem sie erklärten, nach gemachter Denuntiation sei es nicht ihre Aufgabe, sondern diejenige der Behörden, den wirklichen Thatbestand festzustellen.

Vor dem Bundesdelegirten wiederholte der Sindaco, daß die Genannten erst im Dezember weggezogen seien; Arrigoni erwiederte, es sei Uebung, daß Gutspächter, wie die, Genannten, auf Martinstag ihre Pacht antreten. In Sigirino waren sie nicht eingeschrieben.

B. Betreffend die Gemeinde Breganzona.

II. Am 4. März 1889 schrieb Dr. Em. Censi an den Bundeskommissär: Perazzi, Luigi, fu Antonio, von Magadino, ist in Breganzona domizilirt seit 1. November 1888; kurz nach diesem Tage machte er hievou dem dortigen Sindaco Mittheilung, indem er ihm sein Dienstbüchlein übergab. Die Mittheilung wurde wiederholt bei der Volkszählung vom 30. November. Perazzi wurde in Folge dessen in Magadino gestrichen, gleichwohl aber in Breganzona nicht zugelassen.

' Vor dem Bundesdelegirten ergab sich, daß Perazzi Diener bei Advokat Censi ist.

Der Sindaco von Breganzona war zugleich Sektionschef; er erklärt, daß ihm nur als solchem Perazzi sein Dienstbüchlein vorgewiesen habe, um seine Ankunft bescheinigen zu lassen. In Magadino ist er als weggezogen vom Kommissär gestrichen worden.

Einige Tage nach der Ausstellung des Stimmregisters kam, wie der Sindaco erklärte, Perazzi zu ihm, um seine Aufnahme in dasselbe nachzusuchen; es wurde ihm geantwortet, die Munizipalität dürfe von sich aus nichts mehr am Stimmregister ändern, er möge sich an den Kommissär wenden ; das that er aber nicht. Advokat Censi erklärte, er habe acht oder zehn Tage vor der Wahl ein Zeugniß der Munizipalität von Magadino produzirt, daß Perazzi das Aktivbürgerrecht habe. Der Kommissär hat keine diesfällige Eingabe erhalten.

Vor dem Bundesdelegirten wurde ferner Beschwerde darüber geführt, daß im Stimmregister von Breganzona erscheinen Brocchi, Brüder, fu Pietro, welche über sechzig Jahre abwesend, vielleicht nicht einmal mehr am Leben seien.

Conti, Pasquale, der Sindaco selbst, der schon seit Oktober sein Domizil nach Biogno verlegt habe.

61 C. Beireffend die Gemeinde Sorengo.

III. Auf das Gesuch von Carlo Bernardoni verfügte der Kommissär die S t r e i c h u n g von Dozio, Giovanni, wegen rückständiger Steuern.

Der Gestrichene rekurrirte hiegegen an den Staatsrath. Er wisse nicht, schreibt er, ob er hier überhaupt auf dem Steuerregister stehe, er sei früher in Lugano gewesen, jedenfalls habe nie Jemand eine Steuer von ihm verlangt. Er habe im November seine Eintragung in das Stimmregister nachgesucht, was ihm ohne Weiteres nach Zahlung des focatico und testatico für 1887 und 1888 bewilligt worden sei, etwas Mehreres sei nicht verlangt worden.

Er sei übrigens bereit, weiter zu zahlen, was der Staatsrath für gerechtfertigt halte. Er legte die Steuerquittungen für 1887 und 1888 bei, da der Kommissär auch diese Zahlungen in Zweifel gezogen hatte.

Der Staatsrath aber bestätigte die Streichung, da die Zahlung der Steuern ohne Aufforderung gesetzliche Pflicht sei.

Am 20. Februar gab Dozio auch dem Bundesrathe von seinem Rekurse Kenntniß; er theilte ihm nachher auch das Dekret des Staatsrathes mit und bat um den Schutz des Bundesrathes. Am 3. März unterzeichnete er einen gedruckten Protest gegen seinen Ausschluß mit dem Bemerken, daß er für die radikalen Kandidaten gestimmt haben würde.

Vor dem Bundesdelegirten bestätigte der Siudaco die Angaben Dozio^s; er erklärte, daß dieser niemals auf dem Steuerregister gestanden habe.

D. Betreffend die Gemeinde Agno.

IV. Am 1. März telegraphirte ,,Greppi Vicario", die Munizipalität wolle diejenigen Bürger nicht auf das Stimmregister nehmen, welche mit Militärsteuern im Rückstande seien, und wiederholte dies am nächsten Tage mit der Anfrage, ob das zulässig sei.

Rusca, Silvio, fu Beniamino, und Bianchi, Antonio, fu Carlo, erklärten durch Zuschrift vom 2. März, sie haben am 1. und 2. März ihre Militärsteuern bezahlt, seien aber gleichwohl von der Wahl ausgeschlossen worden, sie würden für die radikalen Kandidaten gestimmt haben.

62 Vor dem Bundesdelegirten zeigte sich Folgendes : Rusca, Silvio, von und in Agno, hatte alle Steuern bezahlt bis auf die Militärsteuer, und wurde dieser Ausnahme wegen vom Kommissär gestrichen, worauf er am 2. März auch diese zahlte ; an den Staatsrath appellirte er nicht.

Bianchi, von Iseo, seit zehn oder zwölf Jahren mit seiner Familie in Savoyen ; hier gilt das Nämliche.

E. Betreffend die Gemeinde Gentilino.

V. Poncini, Alfred, wurde vom Kommissär und vom Staatsrath wegen rückständiger Steuern ausgeschlossen. Die Munizipalität setzte hievou am i. März den Bundesrath telegraphisch in Kenntniß und bat, da er sich ja bereit erklärt habe, die Rückstände zu zahlen, um dessen Schutz. Sie fügte später brieflich hinzu : Poncini, 1871 ausgewandert, kehrte 1887 zurück, heirathete und schlug seinen Wohnsitz in Gentilino auf, zahlte da auch seine Steuern ; frühere Steuern konnte die Munizipalität von ihm nicht verlangen. Sie hat ihn denn auch entgegen dem Dekret des Staatsrathes zur Abstimmung zugelassen. Die Untersuchung des Bundesdelegirten bestätigte diese Angaben.

F. Betreffend die Gemeinde Montagnola.

VI. Mit Eingabe vom 1. Februar 1889 verlangte Camuzzi, Demetrio, beim Regierungskommissär die S t r e i c h u n g folgender Bürger : Brambilla, Giuseppe, fu Giuseppe, seit 11. November in Sigirino domizilirt, Cameroni, drei Brüder, seit 11. November in Davesco domizilirt, Casali, Saverio, fu Francesco, Franchini, Antonio, di Annibale, Guardi, Nicola, fu Alessandro, seit über drei Monaten in Lugano domizilirt, Franchini, Annibale, und Sohn, ebenso in Pambio domizilirt, Luechini, Paolo, di Angelo, ebenso in Carona domizilirt, Pagnamenta, Luigi und Sohn, seit 11. November domizilirt in Montalbano, Gemeinde Lugano, und die E i n t r a g u n g von Vittori, Pietro, in Certenago seit 11. November 1888, Mangilli, Giovanni, in Semolcina seit 11. November 1888, Martinetti, Ernesto, fu Martino, in Cadepiano,

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Cavadini, Giuseppe, fu Giovanni Battista, in Montagliela seit 2. Dezember 1888.

Mit Schreiben vom 2. Februar verlangte Roncoroni Luigi die Eintragung in P a m b i o von Francliini, Annibale, und Sohn, da Letzterer seit über sechs Monaten daselbst geistlicher Verwalter sei.

Die Munizipalität von M o n t a g n o l à erklärte sich mit dem Begehren des Camuzzi einverstanden, ausgenommen Casali und die drei Francliini, an denen sie festhielt, weil Casali und Pranchini, Antonio, durch Dekret des Kommissärs vom 19. Januar d. J. als in Montagliela domizilirt erklärt worden seien, Franchini, Annibale, und Sohn in Pambio nur provisorische Wohnung haben und daselbst auch nicht eingetragen seien, und Martinetti, der gar nicht auf dem Verzeichniß der Bevölkerung stehe, nicht bekannt sei, keinerlei Steuer bezahle.

Die Munizipalität von P a m b i o aber widersetzte sich ebenfalls der Eintragung von ' Franchini, Annibale, und Sohn, da der Sohn ja geschrieben habe, daß er die Pfarrstelle noch nicht definitiv übernehmen könue, vielleicht darauf gefaßt sein müsse, von seinen geistlichen Obern von einem Tag auf den ändern nach Dalmatien gerufen zu werden.

Der Vater sei Ijald bei diesem Sohn, bald bei einem ändern in Montagnola.

Der Kommissär erließ folgende Entscheide : Auf den Rekurs von Camuzzi: Casali und Franchini, Antonio, sind schon durch Dekret vom 19. Januar als in Montagoola domizilirt anerkannt worden ; Franchini, Annibale und Sohn sind in Montagliela aufzunehmen, in Pambio auszuschließen; Martinetti kann aus den von der Munizipalität angeführten Gründen nicht aufgenommen werden, zudem hat er die Steuern nicht bezahlt.

Auf den Rekurs von Roncoroni : Die angeführten Momente genügten nicht, um ein Domizil des Sohnes Camillo Franchini in Pombio zu begründen, und eine Verlegung des Domizils seines Vaters nach Pambio ist ebenfalls nicht bewiesen.

Das an Camuzzi adressirte Couvert der Verfügung trägt den Poststempel Lugano 17. Februar, das an Roncoroni adressirte den vom 15. Februar.

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Am 19. Februar rekurrirte Camuzzi an den Staatsrath; sein Rekurs wurde dieser Behörde am 20. Februar eingereicht. Eierklärte das Dekret des Kommissärs für nichtig, weil verspätet, und behauptete im Einzelnen : Casali, Saverio, hat sein wahres Domizil in Lugano, wo er mit Frau und Tochter im Hause seiner Schwiegermutter, Wittwe Riva, lebt. Nur von Zeit zu Zeit geht er nach Montagnola, um seine Güter anzusehen oder auszuruhen. Seine Tochter geht in das Kollegium S. Anna in Lugano, er will bei ihr sein.

Franchini, Antonio, di Annibale, lebt getrennt von seiner Familie und wohnt zusammen mit seiner Schwester Marianna in Lugano, wo er eine eigene Klempnerwerkstätte betreibt; seine Eltern sind in Pambio, in Montagnola besucht er nur etwa Verwandte.

Franchini, Annibale, und Sohn wohnen zusammen mit des Erstem Gattin im Pfarrhaus S. Pietro Pambio. Der Vater Annibale hat sein Haus und seine Güter in Montagnola seinen Brüdern verpachtet, schon als er nach Pambio zog, vor sieben oder acht Monaten.

Martinetti wohnt notorisch seit vielen Jahren mit seiner Mutter in Cadepiano im Hause seines Taufpathen, Carlo Tamburini; daß er hier auf keinen Registern erscheint, ist unerheblich. Das Gleiche trifft für Vitaliano Berrà in Lugano zu, und doch hat der Kommissär seine dortige Eintragung angeordnet.

Cavadini ist vom Kommissär übersehen worden.

Eine Abschrift des Rekurses wurde an den Bundesrath gesandt.

Die Munizipalität von Lugano bezeugte unter'm 16. Januar 1889, daß Casali und Franchini, Antonio, seit mehr als drei Monaten daselbst domizilirt und im Stimmregister eingetragen seien, wovon der Munizipalität von Montagnola gebührende Mittheilung gemacht worden sei.

Die Munizipalität von Montagnola antwortete auf den Rekurs : Casali hat immer sein Haus in Scairolo (Gem. Montagnola) offen gehalten. Wenn auch seine Tochter in einer Pension in Lugano ist und er einige Wochen bei seiner Schwiegermutter zubringt, so hat er damit doch sein hiesiges Domizil noch nicht aufgegeben.

Franchini, Antonio, hat freilich eine Werkstätte in Lugano, das ist aber nicht entscheidend.

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Martinetti steht auf dem Stimmregister von Barbengo.

Cavadiui betreifend anerkennen wir das Begehren des Rekurrenten.

t?

Im Uebrigen Wiederholung.

Auch Roncoroni rekurrirte an den Staatsrath. Der Rekurs enthält nichts Neues. Er wurde am 20. Februar eingereicht.

Die Munizipalität von Pambio antwortete, im Uebrigen früher Gesagtes wiederholend : Franchini, Camillo, habe sein Mobiliar noch nicht in das Pfarrhaus Pambio kommen lassen, vielmehr befinde sich dasselbe noch zum Theil im Ausland, zum Theil in Montagnola; es habe statt dessen ein Mitglied der Munizipalität ihm . von dem seinigen geliehen.

Im Januar stimmten die Beiden in Montagnola.

Der Staatsrath erklärte die Rekurse von Camuzzi und Roncoroni für verspätet und trat darum gar nicht auf die Sache ein.

VII. Auf gedrucktem Formular verlangte unter'm 3. Februar Reali, Luigi, in Cadrò, die S t r e i c h u n g von Berrà, Vitaliano, weil er vor etwa einem Jahr mit seiner Familie nach Lugano gezogen sei.

Der Regierungskommissär fand, daß Berrà in der That wenigstens seit 29. September 1887 mit seiner Familie im Hause von G. B. Ferrazzini in Lugano wohne, und strich ihn in Montagnola unter Anzeige hievon an die Munizipalität' von Lugano.

Hiegegen rekurrirte Berrà an den Staatsrath. Er erklärte : Ich zahle stets die Steuern in Montagnola, nicht in Lugano, wo ich nur Aufenthalter bin, wie Casali und Franchini, Antonio, und Reali selbst. Nur einige Monate im Jahr wohne ich in Lugano.

Eine Abschrift dieses Rekurses wurde an den Bundesrath gesandt.

Der Staatsrath bestätigte das Dekret des Kommissärs ohne neue Begründung.

Vili. Reali, Luigi, verlangte ferner vom Regierungskommissär die S t r e i c h u n g von Berrà, Guglielmo, weil er seit mehr als 6 Monaten in Gudo domizilirt sei.

Bundesblatt. 43. Jahrg. Bd. IV.

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Der Kommissär fand, daß Berrà in der That seit mehr als 6 Monaten bei der Tessinkorrektion in Gudo definitiv angestellt sei, und entsprach dem Begehren.

Hiegegen rekurrirte Dem. Camuzzi an den Staatsrath; er reichte eine Abschrift seines Rekurses auch dem Bundesrathe ein. Er schreibt: Perra hat seit seiner Heimkehr aus der Fremde sein Domizil mit seiner ganzen Familie in Certenago, Gemeinde Montagnola, aufgeschlagen. Allerdings wohnt er als Adjunkt des Leiters der Tessinkorrektion vorübergehend in Gudo, hatte aber nie die Absicht, sich da festzusetzen, sonst hätte er die Familie mit sich genommen.

Statt dessen kehrt er an allen Feiertagen, die ihm frei bleiben, heim zu seiner Familie. Uebrigens ist er in Gudo erst seit Mitte Dezember. Von dem Begehren des Luigi Reali hat Berrà vor dem Dekret des Kommissärs keine Kenntniß erhalten.

Der Staatsrath erklärte : Da dem Staatsrath von Camuzzi keine authentische Abschrift des angefochtenen Dekretes mitgetheilt worden ist, kann er sich nicht mit der Sache befassen und ist das Dekret des Kommissärs res judicata.

IX. Die Untersuchung des Bundesdelegirten bestätigte betreffend Franchini, Annibale, und Sohn die obigen thatsächlichen Angaben; Franchini, Antonio, wohnt seit Jahren in Lugano mit seiner Schwester zusammen und zahlt dort die Steuern.

Casali, Maler, in Nizza, wohnt nach der Behauptung von Camuzzi gewöhnlich im Winter in Lugano, hat aber da noch keine Steuern bezahlt ; der Kommissär erklärt, daß Casali niemals in Lugano gewesen sei*, sondern in Montagnola lebe.

Martinetti, Ernesto, ist Student in Turin, hat bis jetzt m seiner Heimatgemeinde Barbengo gestimmt. Der Kommissär sagt, daß derselbe in Montagnola nur einen Verwandten, nicht seine Familie habe, und eher in Barbengo bei seiner Mutter wohne.

Der Bundesrath zieht in Erwägung: 1. Was die Kompetenz des Bundesrathes zur Entscheidung der vorliegenden Rekurse betrifft, so ist vor Allem zu beachten, daß eine Reihe von Bürgern, deren Stimmrecht hier streitig ist, schweizerische Niedergelassene sind. Nach der Bundesverfassung, Art. 102, Ziff. 2, zusammengehalten mit Art. 113, ferner nach Art. 59, Ziff. 5, des Bundesgesetzes über die Organisation der

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Bundesrechtspflege vom 27. Juni-1874 ist die Entscheidimg von Rekursen betreffend Rechte der Niedergelassenen, welche sich auf Art. 43 der Bundesverfassung stützen, Sache des Bundesrathes.

Der citirte Art. 43 bestimmt in Absatz 5, daß der niedergelassene Schweizerbürger in kantonalen Angelegenheiten das Stimmrecht nach einer Niederlassung von 3 Monaten erwerbe. Da gerade dieses Stimmrecht den hierortigen Streitgegenstand bildet, so ist damit die Kompetenz des Bundesrathes begründet. Daß unter den niedergelassenen Schweizerbürgern 4es citirten Art. 43 nicht nur die außerkantonalen, sondern auch die im Niederlassungskanton selbst verbürgerten zu verstehen sind, ist von den Bundesbehörden von jeher angenommen und festgehalten worden, vergleiche den Entscheid des Bundesrathes betreffend die Munizipahvahlen von Locamo vom 1. Mai 1887, Erwägung 1.

2. In Bezug auf die Anwendung dea kantonalen Rechts bei kantonalen Wahlen ist Folgendes in Betracht zu ziehen : Den Kantonsbehörden gehört allerdings die Handhabung des kantonalen Rechts ; sie haben dasselbe auszulegen und festzustellen.

Wenn aber in einem Gebiete, dessen Schutz der Bund übernommen, hat, von den kantonalen Behörden bei gleichen Verhältnissen ungleiches Recht angewendet, das einmal festgestellte Recht nicht überall gleichmäßig gehandhabt wird, so haben die davon betroffenen Bürger laut Art. 4 der Bundesverfassung das Recht, den Schutz des Bundes anzurufen, und der Bund hat die Aufgabe, die Kantonsbehörde zur Handhabung des von ihr in gleichartigen Fällen festgestellten Rechtes zu verhalten. Es haben übrigens die Buudesbehörden auch für das kantonale Stimmrecht bindende Grundsätze aufgestellt, welche die Kantonsbehörden nicht mißachten dürfen (vergleiche Entscheid des Buodesrathes in Sachen Dürnten, Bundesblatt 1876, Bd. I, p. 437J.

Nun wird von den Rekurrenten gerade das behauptet, daß die Gleichheit der Bürger durch die Entscheidungen der Munizipalitäten, des Regierungskommissärs und des Staatsrathes des Kantons Tessin verletzt worden sei, und ihre Beschwerden stützen sich gerade auf Art. 4 der Bundesverfassung und Art. 5 derselben, durch welchen der Bund die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger gewährleistet.

Es ist also in der That die Aufgabe des Bundes, zu prüfen, ob die Beschwerden begründet sind oder nicht.

Und zwar fällt diese
Prüfung in die Kompetenz des Bundesrathes, da laut Art. 102, Ziff. 2, der Bundesverfassung, zusammengehalten mit Art. 59, Ziff. 9, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Juni 1874, Beschwerden

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gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen detn Entscheide des Bundesrathes unterliegen (vergleiche Entscheid betreffend Sessa, Bundesblatt 1875, Bd. IV, p. 429, bestätigt von der Bundesversammlung; betreffend Caneggio, Bundesblatt 1877, Bd. IV, p. 133, ebenfalls von der Bundesversammlung bestätigt).

3. Gegen die Behandlung dieser Angelegenheit durch den Bundesrath wendet nun aber der Staatsrath des Kantons Tessin vor Allem ein, daß von den Rekurrenten nicht alle kantonalen Instanzen durchlaufen worden seien, daß denselben vielmehr noch die Appellation gegen den Entscheid des Staatsrathes an den Großen Rath offen gestanden wäre, und daß daher nach feststehender eidgenössischer Praxis die Rekurrenten angebrachter Maßen abzuweisen seien.

Es ist richtig, daß der Bundesrath erklärt hat, daß nach konstanter Praxis die in Art. 59, Ziff. 9, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechlspflege vorgesehenen Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen erst dann beim Bundesi-athe angehoben werden können, wenn die zuständigen kantonalen Behörden 0 entschieden haben. So lehnte der Bundesrath seine Intervention au eine Beschwerde hin ab, welche dahin ging, daß die Regierung des Kantons Luzern die Kassation stattgefundener Richterwahlen, bei denen die Kantonsverfassung verletzt worden sei, abgewiesen hatte, gestützt darauf, daß nach § 51 der Luzeruer Verfassung über diesfällige Entscheide des Regierungsrathes die Beschwerdeführung an den Großen Rath vorbehalten ist (Bundesbl. 1878, Bd. II, p. 496), und ebenso wurde entschieden in Sachen Gruyère am 15. Dezember 1881 (vergi. Entscheid in Sachen Escholzmatt, Bundesbl. 1884, H, 760 ff.).

Die hier zur Anwendung kommenden Artikel 6 und 7 des tessinischen Gesetzes über das Verfahren in nicht streitigen Verwaltungssachen vom 27. November 1863 bestimmen ausdrücklich : ,,Gegen den Entscheid des Staatsrathes können die Parteien den Rekurs an den Großen Rath ergreifen, der in seiner nächsten ordentlichen Sitzung zu entscheiden hat. Dieser Rekurs ist innerhalb' der peremtorischen Frist von 15 Tagen von der Mittheilung des Entscheides der Regierung beim Regierungskommissär einzureichen, der ihn dem Staatsrath übermittelt."

Es steht fest, daß ein solcher Rekurs von den Rekurrenten nicht eingereicht worden ist.

l.' Allein der Bundesrath hat im Geschäftsberichte über das Jahr 1875, welcher von der Bundesversammlung genehmigt worden

69 ist, hinwieder grundsätzlich erklärt, die Durchlaufung aller kantonalen Instanzen bilde nicht für alle Fälle eine Voraussetzung seiner Kompetenz. Er spricht sich nämlich daselbst folgendermaßen aus (Bundesbl. 1876, Bd. II, p. 258): ,,Wir müssen darauf halten, daß die höhern kantonalen Behörden nicht ohne Weiteres umgangen werden. Wo es sich um Verletzung k a n t o n a l e r Verfassungsvorschriften handelt, müssen alle kantonalen Instanzen angerufen sein und entschieden haben, bevor ein Rekurs angenommen werden kann. Wenn es sich dagegen um Verletzung der B u n d e s v e r f a s s u n g oder von Bundesgesetzen, insbesondere um klar und bestimmt aufgestellte Individualrechte der Bürger handelt, so kann zwar ohne Zweifel gegen jede Verfügung kantonaler Behörden, welche eine solche Verletzung bewirkt haben sollen, an die Bundesbehörden rekurrirt werden, allein wir fördern eine solche Umgehung der kantonalen Regierungen keineswegs. In der Regel sollte zunächst bei der Kantonsregierung Beschwerde geführt werden und erst gegen einen solchen Entscheid Rekurs an die Bundesbehörden stattfinden."· Im vorliegenden Falle handelt es sich in der That um eine Verletzung der Bundesverfassung.

Einige Rekurrenten haben die kantonalen Instanzen nicht ordnungsgemäß bis zur Kantonsregierung hinauf durchlaufen, und es rechtfertigt sich, diese von vorneherein von der Hand zu weisen, da gar nichts dafür vorliegt, daß dem Betreten dieses regelrechten Weges Schwierigkeiten in den Weg gelegt worden wären. Soweit aber der Instanzenzug in der That bis zur obersten Administrativbehörde des Landes hinauf durchlaufen worden ist, würde eine solche Aliweisung durchaus ungerechtfertigt erscheinen, wenn man bedenkt, daß nach Art. 10 des Gesetzes vom 27. November 1863 der Rekurs gegen den Entscheid des Staatsrathes die Exekution desselben weder unterbricht, noch aufhebt (non interrompono né sospendono), also nicht als ordentliches, sondern als außerordentliches Rechtsmiltel erscheint, das hier gerade den von den Rekurrenten zunächst verfolgten Zweck, die Theilnahme oder den Ausschluß von den bevorstehenden Wahlen zu erzielen, verfehlt haben würde, und daß es sich gerade um die Wahlen von Mitgliedern des Großen Rathes handelte, welche zu der die Mehrheit desselben bildenden politischen Partei gehören.

5. Sobald man davon ausgeht,
daß die Rekurrenten bis an den Staatsrath des Kantons gelangt sein müssen, bevor der Bundesrath über ihr Stimmrecht entscheiden kann, versteht es sich von selbst, daß diese Anrufung der kantonalen Behörden gemäß den Bestini-

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munger» der kantonalen Verfassung und Gesetze und innerhalb der von diesen angesetzten Fristen erfolgt sein muß, um eine Einmischung von Bundes wegen zu rechtfertigen ; denn sonst haben ja die kantonalen Behörden mit Fug und Recht die Rekurrenten zurückgewiesen. Der vom Staatsrath gegenüber einigen Rekursen geltend gemachte formelle Abvveisungsgrund (motivo d' ordine) besteht in der angeblichen Verspätung der Rekurseingabe. Es fragt sich also, ob diese Einwendung begründet sei.

6. Nun bestimmt Art. 4 des Gesetzes über die Abfassung der Stimmregister für die periodische Wahl des Großen Rathes vom 3. Dezember 1888 Folgendes: ,, ,,Gegen den Entscheid des Kommissärs steht innerhalb drei Tagen von der Mittheilung an die Appellation an den Staatsrath offen, welchem die Gegenparteien ihre Bemerkungen innerhalb dreier Tage einreichen können. a Wie ist diese Appellationsfrist von drei Tagen zu berechnen ?

Das Gesetz selbst sagt hierüber lediglich in Art. ÏO: ,,Die in diesem Gesetz bestimmten Fristen sind ununterbrochene (sogenanntes tempus continuum)" 1 . Das Gesetz vom 15. Juli 1880 über die Ausübung des Aktiv bürgerrech tes enthält gar keine direkte Bestimmung hierüber. Dagegen sagt dasselbe in Art. 8, daß alle Fragen betreffend seiue Anwendung gemäß dem Gesetze über das Administrativverfahren vom 27. November 1863 zu behandeln seien. In diesem letzteren Gesetze spricht Art. 2 vom Rekurs an den Staatsrath, und ' Art. 12 lautet: ,,Die Fristen dieses Gesetzes sind tempus continuum, ohne Ausschluß der Festtage; jedoch werden in die Frist weder der Tag der Zustellung noch derjenige des Ablaufes mit eingerechnet (non computandosi però nel termine né quello dell' intimazione né quello della scadenza)."

Danach ist also nicht nur der Tag der Zustellung der Verfügung des Kommissärs, sondern auch derjenige der Einreichung der Rekursschrift an die Munizipalität zu Händen des Staatsrathes nicht mitzurechnen. Wenn dem gegenüber in den Dekreten des Staatsrathes betont wird, daß das Gesetz ausdrücklich sage ,, i n n e r t drei Tagen" ( e n t r o tre giorni), so kann dieser Umstand hiegegen nicht ins Gewicht fallen; denn auch das zitirte Gesetz vom 27.

November 1863 selbst, welches bestimmt, daß die Fristen in der angegebenen Weise berechnet werden sollen, bedient sich für deren Bezeichnung des nämlichen Ausdruckes (so art. l § l : entro 10 giorni; art. 2: entro giorni quindici dalla comunicazione; art. 7: entro il perentorio termine di 15 giorni), der eben nur sagen will

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,,vor Ablauf der Frist". Noch weniger gerechtfertigt aber und kaum zu begreifen ist die Argumentation der Dekrete des Staatsralhes, daß der Gesetzgeber in der Frist von drei Tagen beide Tage, den der Insinuation des appellirten Entscheides und den der Einreichung der Appellationsschrift, mit Inbegriffen haben müsse, weil er, wenn er etwas Anderes gewollt hätte, das gesagt haben würde, wie in dem Gesetz von 1863; denn der Staatsrath erklärt ja selbst mit Recht, das Gesetz vom Jahre 1880 stehe noch in Kraft, und dieses verweist ja gerade auf jenes von 1863. Uebrigens wenn das nicht der Fall wäre, so dürfte daraus gewiß nicht geschlossen werden, daß nun gerade das Gegentheil gelte. Berechnet doch auch das schweizerische Obligationenrecht Art. 88, das gemeine Recht Deutschlands, der Codice di Proc. Civ. Ital. art. 43, wie-das Gesetz von 1863 bei Fristen .den Tag der Zustellung nicht, und sagt doch das tessinische Zivilprozeßgesetz in Art. 567 ausdrücklich, daß in die Fristen weder der Tag der Zustellung noch derjenige des Auslaufes der Frist einzurechnen sei.

7. Ein Rekurs ist vom Staatsrathe deswegen ohne Weiteres abgewiesen worden, weil demselben das appellirte Dekret nicht beigelegt war. Nun ist klar, daß ordnungsgemäß ein solches Dekret stets der Appellationsschrift beigelegt werden sollte; allein es fragt sich, ob in der That die Unterlassung dieser Beilegung die Ungültigkeit des ganzen Rechtsmittels zur Folge haben könne, und, wenn ja, ob sie die Ungültigkeit immer zur Folge habe.

Der Staatsrath selbst beruft sich dabei nicht auf eine gesetzliche Bestimmung. Das Gesetz vom 3. Dezember 1888 spricht sich hierüber nicht aus; ebensowenig dasjenige vom 15. Juli 1880 und dasjenige vom 27. November 1863. Unter diesen Urnständen erscheint es als durchaus unzulässig, an jene Unterlassung eine so weit gehende Folge zu knüpfen, zumal es ja für den Staatsrath ein Leichtes gewesen wäre, sich von dem Kommissär oder der Munizipalität das Dekret zu verschaffen. Daß der Gesetzgeber das nicht gewollt hat, ergibt sich wohl auch schon daraus, daß nach Art. 3 des Gesetzes vom 3. Dezember 1888 das Dekret des Kommissärs nur dem Petenten und der Munizipalität mitgetheilt werden muß, dagegen eine Mittheilung an diejenigen Bürger, welche nach dem Begehren des Ersteren gestrichen worden sind und nun a n d e n S t a a t
s r a t h g e l a n g e n m ü s s e n , wenn s i e i h r Stimmrecht behalten wollen, gar nicht vorgeschrieben ist. Der Staatsrath scheint das auch selbst gefühlt zu haben; denn er hat keineswegs in allen Fällen einfach den Rekurs als dahingefallen erklärt, sondern ist ganz verschieden vorgegangen, hat bisweilen bei den Rekurrenten das fehlende Dekret reklamirt, bisweilen ihnen auch für dessen Ein-

72 reichung eine peremtovische Frist angesetzt unter der Androhung, daß sonst der Rekurs als dahingefallen erklärt würde. So gerade in dem vorliegenden Rekurse des Dem. Camuzzi betreffend Gugl. Berrà.

8. Bei dieser Sachlage muß also in der That auf die eingereichten Rekurse gegen staatsräthliche Dekrete eingetreten werden, soweit sie nicht nach der in Erwägung 6 aufgestellten Norm als verspätet erscheinen. Es mag freilich eingewendet werden, daß damit der Bundesrath auf das Materielle der Sache eintrete, während ein materieller Entscheid der Vorinstanz, des Staatsrathes, noch gar nicht vorliege; allein dieser Umstand kann die Prüfung durch den Bundesrath nicht hindern; es genügt, wenn der Staatsrath in gehöriger Weise angerufen worden ist. Von den materiellen Gründen der Ausschließung eines Bürgers vom Stimnirechte sind es zwei, die beständig wiederkehren, und welche daher hier vor dem Eintreten in die einzelnen Rekurse grundsätzlich zu behandeln sich rechtfertigt : a. das Fehlen des Domizils in der Gemeinde; b. Rückstand mit den Steuerzahlungen.

9. Was die Frage des Domizils betrifft, so kann als solches nur derjenige Ort angesehen werden, ari welchem der Bürger thatsäehlich wohnt. Weder die Bundesverfassung noch die tessinisehen Gesetze berechtigen zu der Ansicht, daß ein fiktives Domizil anzunehmen sei. Diese Ansicht müßte auch zu großer Unsicherheit und unter Umständen weitläufigen Untersuchungen führen. Nur das Eine ist zuzugestehen, daß, da bei einem Wechsel des Domizils das Stimmrecht am neuen Niederlassungsorte erst nach Ablauf von drei Monaten erworben ist, der Bürger aber nicht unterdessen lediglich dieses Wechsels wegen seines Aktivbürgerrechtes beraubt sein kann, während dieser Zeit noch sein Stimmrecht am alten Domizil fortdauern muß. Dagegen ist die Ansieht zu verwerfen, daß der im Auslande befindliche Tessiner Bürger, der seinen heimatlichen Wohnsitz aufgegeben hat, noch ein politisches Domizil an seinem Heimatorte habe; irn Gegentheil hat das Gesetz vom 15. Juli 1880 grundsätzlich gerade im Gegensatz zum Heimatorte den Ort des Domizils für das politische Stimmrecht maßgebend erklärt.

10. Betreffend den Rückstand mit Steuern fällt Folgendes in Betracht : Art. 4 des tessinisehen Gesetzes über die Ausübung des Aktivbürgerrechtes sagt : ,,Ausgeschlossen von der Ausübung des Aktivbürgerrechtes ist :

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e. Wer seit zwei Jahren die Kantons- und die Gemeindesteuern nicht bezahlt.

,,Diese Ausschließungsgründe hören mit ihrer Beseitigung auf zu wirken.'1 Danach ist klar, daß ein Bürger nicht ausgeschlossen werden kann wegen des Rückstandes von Steuern nur eines Jahres, oder wegen des Rückstandes nur eines Theils der Steuern für die zwei letzten Jahre.

° Auch kann von einem Rückstande dann nicht mehr gesprochen werden, wenn die Steuerforderung verjährt ist, was mit dem Ablauf von fünf Jahren der Fall ist. Es kann sich also bei diesem Ausschließungsgrunde nur um Rückstände aus den letzten fünf Jahren handeln.

Es ist ferner die Frage, wie es sich verhalte mit denjenigen Bürgern, die gar nicht um Zahlung ihrer Steuern angegangen worden sind. Dabei ist zu beachten, daß in den tessinischen Gemeinden nicht, wie anderwärts, jedem einzelnen Steuerpflichtigen ein Steuerzettel ins Haus geschickt zu werden scheint, sondern lediglich eine öffentliche Aufforderung, die Steuern zu bestimmter Zeit beim Einnehmer zu bezahlen, erlassen wird. Man kann also wohl daraus schließen, daß eben jeder Steuerpflichtige, welcher dieser Aufforderung nicht Folge leistet, unter Art. 4, Ut. e, falle. Allein bei näherem Zusehen erscheint dieser Schluß doch bedenklich. Es ist ja leicht möglich, daß ein Aktivbürger gar nicht weiß, oder nicht daran denkt, daß er sleuerpflichtig sei, meint, daß er schon bezahlt habe, oder daß ein Anderer für ihn bezahl^ habe, oder sogar mit Recht sich für nicht steuerpflichtig hält, während die Gemeindebehörde ihn unter die Pflichtigen aufgenommen hat ; hieran aber ohne Weiteres die so weit gehende Folge des Entzuges des Aktivbürgerrechtes zu knüpfen, erscheint nicht als gerechtfertigt. Zahlt Jemand nicht, während er auf dem Steuerregister steht, so ist es wahrhaftig nicht zu viel verlangt, daß er eine spezielle Aufforderung zur Zahlung erhalte, bevor man ihn seines Stimmrechtes verlustigerklärt; das Gegentheil würde einer Gemeindebehörde von politischer Parteifarbe das Mittel an die Hand geben, bei einem Wähler von der Gegenpartei zur Nichtzahlung der Steuer einfach fein stillzuschweigen, um ihn dann nachher unversehens seines Wahlrechtes zu berauben, und schon der Schein eines solchen Manövers ist zu vermeiden. Der Bundesrat'h kann daher die Auslegung des Gesetzes, wonach es einer erfolglosen
Aufforderung an den Rückständigen, die Steuer zu bezahlen, gar nicht bedürfte, um ihn des Aktivbürgerrechtes zu berauben, nicht theilen. Vollends kann von einem Entzuge des Aktivbürgerrechtes, wenn der Bürger gar nicht

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auf dem Steuerregister erseheint, also von ihm auch nicht einmal durch das öffentliche Register eine Steuer verlangt worden ist, keine Rede sein.

11. Da der angeführte Art. 4 bestimmt, daß mit der Beseitigung eines Ausschließungsgruades auch seine Wirkung aufhöre, so wird der Aktivbürger mit dem Momente, in welchem er die Rückstände von zwei Jahren bezahlt, stimmberechtigt. Allein, damit ist noch nicht gesagt, daß er nun sofort schon an der unmittelbar darauf folgenden Abstimmung theilnehmen könne; vielmehr müssen in seiner Person auch außerdem alle diejenigen Requisite erfüllt sein, welche das Gesetz für die Theilnahme an einer Wahl aufstellt, und zu diesen Requisiten gehört vor Allem, daß der Betreffende auf Anordnung einer der kompetenten Behörden in das öffentliche Stimmregister aufgenommen worden sei. Daraus folgt ohne Weiteres, daß alle Diejenigen , welche erst zur Abstimmung mit den Rückständen in der Hand erschienen, und gegen deren Entrichtung zur Wahl zugelassen zu werden verlangten, mil, Recht zurückgewiesen worden sind.

Es fragt sich ferner, ob die Munizipalität auch noch nach Ausstellung des Stimmregisters Recht und Pflicht gehabt habe, einen Aktivbürger, der seine Rückstände bezahlte, in das Stirnrnregister aufzunehmen. Diese Frage ist zu verneinen.

Wenn auch ernste Zweifel darüber bestehen, ob das Gesetz vom S.Dezember 1888 rechtsbeständig sei, weil es die Genehmigung des Bundes nicht erhalten hat, so will und kann der Bundesrath doch den kantonalen Behörden nicht^yerwehren, eine Praxis zu befolgen, die mit den Vorschriften jenes Gesetzes in einem Spezialpunkte übereinstimmt, da das vom Bundesrathe genehmigte Gesetz von 1880 über diesen Punkt schweigt und die eingeschlagene Praxis mit dem Inhalte dieses Gesetzes nicht in Widerspruch steht.

Nur daran muß der Bundesrath festhalten, daß die Praxis der kantonalen Behörden allen Bürgern gegenüber die gleiche sei. Nun verbietet Art. 7 des Gesetzes vom 3. Dezember 1888 den Munizipalitäten durchaus, nach Publikation des Stimmregisters von sich aus irgend welche Modifikationen an denselben anzubringen ; nach Art. 2 daselbst kann das Begehren um Aufnahme in das Stimmregister nach der Publikation nur noch beim Regierungskommissär gestellt werden.

Nach den Großrathsverhandlungen, welche bei der Berathung dieses Gesetzes gepflogen worden sind, ging die Tendenz des Gesetzgebers offenbar dahin, das Stimmregister von seiner Ausstellung an unabhängig zu machen von jeder Verfügung der Munizipalität, und

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Aenderungen derselben, wie sie gerade in Locamo im Jahre 1887 noch sogar am Wahltage selbst vorgekommen waren, durchaus auszuschließen. Danach ist zweifellos, daß die Munizipalität auch :gegen Zahlung der Rückstände nach Ausstellung des Stimmregisters nicht mehr im Stande ist, von sich aus den Zahlenden in das Stimmregister aufzunehmen.

Eine andere Frage ist, ob der Kommissär die Aufnahme eines solchen nachträglich Zahlenden noch verfügen kann, vorausgesetzt, daß die Zahlung und der Rekurs an ihn innerhalb der in Art. 2 hiefür angesetzten Frist von fünfzehn Tagen seit Publikation des Stimmregisters eingereicht wird; denn nachher ist gemäß ausdrücklicher Bestimmung dieses Artikels keine Reklamation dieser Art mehr zuläßig.

Diese Frage muß bejaht werden. Der Grundsatz des Gesetzes ist nicht etwa der, daß durchaus derjenige Thatbestand maßgebend sein soll, welcher im Momente der Publikation des Stimmregisters vorhanden ist; vielmehr bestimmt Art. l, § l, desselben ausdrücklich, daß auch diejenigen Bürger aufgenommen werden sollen, welche noch n a c h dieser Publikation und bis .zum Tage der Abstimmung entweder volljährig werden, oder die vorgeschriebenen drei Monate des Domizils vollenden. Im Zweifel ist aber auch hier zu Gunsten der Aufnahme in das Stimmregister zu entscheiden.

12. Was Ant. P i a n e z z i und Sohn betrifft, so liegt unzweifelhaft demjenigen, welcher behauptet, daß ein Bürger das Stimmrecht, das er bisher besaß, verloren habe, der Beweis dafür ob. Dieser Beweis ist hier nicht geleistet und daher das Begehren um Streichung der beiden Bürger mit Recht abgewiesen worden.

13. Bezüglich P e r a z z i ist der Bundesrath nicht in der Lage, einen Entscheid zu treffen, da die kantonalen Instanzen mit Bezug auf ihn nicht angegangen worden sind. Ebenso verhält es sich mit Bezug auf B r o c c h i und C o n t i .

14. D o z i o , G i o v a n n i , betreffend, trifft das in Erwägung 10 Gesagte vollständig zu. Er kann nicht wegen Steuerrück stand es mit dem Entzuge des Wahlrechtes bestraft werden, während er gar nicht auf dem Steuerregister stand. Er ist somit in Sorengo einzutragen.

15. Ueber die beiden Bürger R u s e a und B i a n c h i von Agno kann der Bundesrath nicht entscheiden, da diesfalls der Staatsrath nicht angerufen worden ist. Mit Bezug auf Rusca hätte sonst der Rekurs nach dem oben Gesagten allerdings begründet erklärt werden müssen.

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16. Betreffend P on ci ni in Gentilino ist mit seiner Zulassung zur Abstimmung dei Rekurs gegenstandslos geworden; auch dieser hätte nach dem oben Gesagten gutgeheißen werden müssen. ° 17. Der Rekurs des Dem. Camuzzi an den Staatsrath, betreffend die Wahlen von Montagnola, war nach dem oben Gesagten nicht verspätet; das angefochtene Dekret war dem Rekurrenten am 17. Februar zugekommen und sein Rekurs wurde am 20. eingereicht. Dagegen trifft die Verspätung allerdings bei dem Rekurse von Roncoroni zu, der sein Dekret schon am 15. Februar erhalten hatte, den Rekurs aber ebenfalls erst am 20. Februar einreichte.

Was F r an c h i n i, Annibale, und Sohn betrifft, so kann, Alles erwogen, doch nicht als erwiesen angenommen werden, daß sie ihr bisheriges Domizil in Montagnola schon aufgegeben und ein solches in Painbio erworben haben. Es spricht nämlich für einen bloßen Aufenthalt in Pambio im Gegensatz zur förmlichen Niederlassung das bloße Provisorium der Anstellung des Sohnes und der Umstand, daß dieser deswegen nur einen Theil seines Mobiliars hat nach Pambio kommen lassen.

Was M a r t i n é t t i betrifft, so liegt kein Beweis dafür vor, daß er jemals das Domizil in Montagnola erworben habe, wenn er sich auch etwa in der Ferienzeit bei einem Verwandten daselbst aufgehalten haben mag.

Daß C a s a l i seiu Domizil in Montagnola verloren habe, ist nicht nachgewiesen; jedenfalls liegt ein Beweis dafür, daß er dasselbe nach Lugano verlegt habe, nicht vor; es kann sich fragen, ob er überhaupt ein tessinisches Domizil besitze, irn Zweifel aber muß jedenfalls sein bisheriges Domizil aufrecht erhalten bleiben.

18. Dagegen erseheint klar, daß Fr an c h i n i , Antonio, in der That nicht in Montagnola, sondern in Lugano domizilirt ist. Hier hat er seinen Haushalt, hier seine ganze Berufs- und Geschäftsthätigkeit; er ist denn auch mit Recht hier im Stimmregister eingetragen und zahlt hier auch die Steuern. Er ist daher in Montagnola zu s t r e i c h e n .

19. Nachdem nicht bestritten werden konnte, daß B e r r à , Vitaliano, schon seit dem September 1887 mit seiner Familie in Lugano wohne, würde es besonderer Gründe bedurft haben, damit man gleichwohl sein Domizil nicht in Lugano, sondern in Montagnola hätte annehmen können. Die Behauptung, nur einige Monate im Jahr wohne er in Lugano, ist nur beiläufig gemacht und nicht näher präzisirt worden. Die Zahlung von Steuern in Montagnola ist für sich allein nicht entscheidend für das dortige Domizil.

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So erscheint seine Streichung in Montagoola nicht als ungerechtfertigt.

20. Dagegen ist zweifellos, daß B e r r à , ' G u g l i e l m o , in Montagnola und nirgends anderswo domizilirt ist. Sein Aufenthalt in Gudo trägt alle Merkmale eines b l o ß e n Aufenthaltes an sich ; nach Montagnola kehrt er immer wieder heim, dort ist seine Familie; er ist daher auch dort e i n z u t r a g e n .

21. Die vorigen Erwägungen ergeben, daß noch hätten eingetragen werden sollen: Dozio und Berrà, Guglielmo . . . 2 Bürger, und gestrichen Franchini, Antonio . l Bürger.

Bedenkt man nun, daß nach der Publikation des Wahlkreisbüreaus das absolute Mehr betrug 754 Stimmen daß der Letzte der Gewählten erhielt 858 ,, der Erste der nicht Gewählten 629 ,, so ergibt sich, daß obige Modifikation der Stimmregister ohne Einfluß auf das Wahlresultat bleibt.

Demnach hat der Bundesrath beschlossen: 1. Die in diesem Wahlkreis getroffenen Wahlen werden als rechtsgültig anerkannt.

2. Mit Bezug auf die Stimmrechte einzelner Bürger wird auf obige Erwägungen verwiesen.

3. Mittheilung an den Staatsrath des Kantons Tessin für sich und zu Händen der betheiliglen Behörden und Bürger.

B e r n , den 4. August

1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesrathsbeschluss über die Rekursbeschwerden betreffend die Großrathswahlen vom 3. März 1889 im tessinischen Wahlkreise Agno (Vezia). (Vom 4. August 1891.)

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