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Botschaft des

Bundesrathes an die Bundesversammlung betreffend das Begnadigungsgesuch des Johannes Kolp in Lichtensteig (St. Gallen).

(Vom 8. Mai 1891.)

Tit.

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Das Bezirksgericht Neutoggenburg, Kantons St. Gallen, hat in seiner Sitzung vom 21. Oktober 1890 in Anwendung von Art. 74, 67 und 8 des Bundesgesetzes über das Bundesstrafrecht wegen fahrläßiger Eisenbahngefährdung verurtheilt : 1. J o h a n n e s K o l p von Ebnat, Stationsvorstand in Lichtensteig, geboren 1839, zu 8 Tagen Gefängniß und Fr. 20 Geldbuße, 2. J o s e p h K e ß l e r von Krinau, Bahnarbeiter in Lichtensteig, geboren 1842, zu 14 Tagen Gefängniß und Fr. 20 Geldbuße, sowie beide solidarisch zur Tragung der Kosten.

Der diesem Erkenntniß zu Grunde liegende Thatbestand ist im Wesentlichen folgender : Am 6. Juni 1890, Nachmittags, ist der von Wyl kommende Zug Nr. 307 der Toggenburgerbahn auf der Station Lichtensteig infolge falscher Weichenstellung in das unrichtige Geleise eingefahren und dabei seitlich mit einem beladenen Steinwagen zusammengestoßen. Eine Verletzung von Personen fand nicht statt, dagegen entstand ein Materialschaden von circa Fr. 230.

Es hatte am besagten Tage der Eisenbahnarbeiter Joseph Keßler vom Hauptgeleise einen Steinwagen zum Ausladen auf das

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864 Rampengeleise zu verbringen. Er schob diesen indessen auf diesem Geleise in vorschriftswidriger Weise nicht über den Polizeipfahl hinaus. Außerdem versäumte er, nach beendigtem Manöver die Weiche Nr. l, welche der Steinwagen hatte passiren müssen, um auf das Neben- und dann das Rampengeleise zu gelangen, auf das Hauptgeleise zurückzustellen. Infolge dessen fuhr der Zug 307 in das Nebengeleise ein und stieß an den über den Markirpfahl hereinragenden Steinwagen an. -- Dein Stationsvorstand Kolp fällt zur Last, daß er sich entgegen den bestehenden Vorschriften um das fragliche Manöver gar nicht bekümmert, sowie unterlassen hat, vor der Ankunft des Zuges 307 vom richtigen Stande der Weichen sich zu überzeugen.

Während Joseph Keßler die ihm auferlegte Strafe erstanden, hat dies J o h a n n e s K o l p bis jetzt nicht gethan. Er reichte vielmehr bei dem Justizdepartement des Kantons St. Gallen zu Händen der Bundesbehörden ein Begnadigungsgesuch, d. d. 24. Oktober 1890, ein, in welchem er ersucht, es möchte seine Freiheitsstrafe in eine verhältnißmäßige Geldbuße umgewandelt oder doch die Zahl der Gefängnißtage auf ein Minimum herabgesetzt werden.

Kolp begründet sein Gesuch namentlich mit seiner angegriffenen Gesundheit und seinem bisherigen klaglosen Verhalten als Stationsvorstand und als Bürger.

Das Gesuch wird von 7 Bürgern von Lichtensteig empfohlen.

Der Eingabe sind beigelegt: 1. Ein Arztzeugniß des Dr. Eugster in Wattwyl, d. d. 24. Oktober 1890, worin bezeugt wird, daß Kolp an Asthma und Emphysem (Lungenblähung) mit Herzkvampf leide. Der Gesundheil szustand des Kolp sei derart, daß er die ihm auferlegte Freiheitsstrafe nicht ohne Gefahr für seine Gesundheit in einem gewöhnlichen Arrestlokal absitzen könne. Es sei daher sein Gesuch um Milderung oder besser um Umwandlung der Freiheitsstrafe als sehr begründet zu erachten.

2. Ein Zeugniß der Direktion der Vereinigten Schwei/erbahnen, d. d. St, Gallen, 27. Oktober 1800, wodurch bescheinigt wird, daß Kolp seit dem Jahre 1870 und zwar seit 13. November 1874 in der Eigenschaff, als Vorstand der Station Liehtenisteig im Dienste der Vereinigten Schweizerbahnen stehe und daß ihm, von dem Vorfalle vom 6. Juni a. c., welcher seine Verurtheilung zur Folge hatte, abgesehen, in Bezug auf die ganze Dauer seiner Anstellung das Zeugniß eines zuverläßigen und pflichtgetreuen Beamten von solidem Charakter und tadellosem Verhalten ertheilt werden könne.

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3. Ein Schreiben des Herrn Fürsprecher Suter in St. Gallen an das Justizdepartement des Kantons St. Gallen, d . d . 25. Oktober 1890, in welchem das Gesuch des Kolp ebenfalls empfohlen wird.

In dem Schreiben des Regierungsrathes des Kantons St. Gallen vom 27. Oktober 1890 wird das Gesuch des Kolp im Sinne von Art. 174 des Gesetzes über die Bundesstrafrechtspflege unterstützt, mit dem Bemerken : ,,Abgesehen davon, daß das körperliche Befinden des Petenten laut ärztlichem Attest der Art ist, daß die Abbüßung der Freiheitsstrafe nicht ohne Gefährdung der Gesundheit des Verurtheilten stattfinden könnte, halten wir eine Begnadigung deßhalb für gerechtfertigt, weil die ausgefällte Strafe von 8 Tagen Gefängniß und Fr. 20 Buße irn Vergleich zu andern Urtheilen eine unverhältnißmäßig harte ist. Kolp, ein sonst zuverläßiger Mann, hat im Drange der andern Geschäfte lediglich unterlassen, nachzusehen, ob der bei der betreffenden Weiche stehende und dieselbe bedienende Wärter die Weiche richtig gestellt habe, was er doch wohl, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß der Wärter an seinem Platze sei, anzunehmen berechtigt war. Einen weitern .Begnadigungsgrund finden wir für Kolp darin, daß durch den Unfall kein derartiger Schaden entstanden ist, der eine so hohe Strafe rechtfertigen wurde. a Nach unserer Auffassung liegen jedoch keine zureichenden Gründe für eine Begnadigung vor. Der Petent muß zugeben, daß er ein Vergehen verübt habe und die Strafe begründet sei. Wenn behauptet wird, die letztere (8 Tage Gefängniß und Fr. 20 Buße) sei eine verhältnißmäßig zu harte, so hätte dies Anlaß bieten können, den zweitinstanzlichen Richter anzurufen, der nach freiem Ermessen die erwähnten Milderungsgründe hätte berücksichtigen können.

Das eidg. Justiz- und Polizeidepartement hat den Regierungsrath des Kantons St. Gallen hierauf aufmerksam gemacht, aber, wie es scheint, wollte Kolp dieses Verfahren nicht einschlagen. Es kann nun nicht Aufgabe der Begnadigung sein, gleichsam als Appellationsinstanz, gerichtliche Urtheile zu remediren; im Interesse der Rechtspflege sollten überhaupt gerichtliche Urtheile ohne zwingende Gründe im Wege der Begnadigung nicht aufgehoben werden.

Der Behauptung, daß das körperliche Befinden des Petenten nach ärztlichem Attest der Art sei, daß die Abbüßung der Freiheitsstrafe nicht ohne
Gefahrdung der Gesundheit des Verurtheilten stattfinden könnte, vermögen wir keine große Bedeutung beizumessen, wenn wir in Betracht ziehen, daß der Petent noch die Geschäfte

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eines Stationsvorstandes besorgt. Uebrigens ist es Sache der Vollziehung, Vorsorge zu treffen, daß eine solche Gefahr nicht eintreten kann.

Indem wir daher den Antrag auf Abweisung dieses Begnadigungsgesuches erneuern, benutzen wir den Anlaß, Sie unserer vollkommensten Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 8. Mai 1891.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Welti.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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20.05.1891

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