147

# S T #

Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des S. Meier, Kaufmann in Zürich, betreffend den jüdischen Friedhof Endingen-Lengnau.

(Vom

11. September 1905.)

Der schweizerische Bundes rat

hat über die Beschwerde des S . M e i e r , Kaufmann in Zürich, betreffend den jüdischen Friedhof Endingen-Lengnau auf den Bericht des Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt: I.

Mit Eingabe vom 26. Oktober 1904 hat sich S. Meier, Kaufmann in Zürich, beim Bundesrat über · den Entscheid des Regierungsrates des Kantons Aargau vom 27. August 1904 beschwert, nach welchem Entscheid ihm das Betreten des jüdischen Friedhofs Endingen-Lengnau, auf dem seine Mutter bestattet ist, am Jahrzeittage und in der Zeit zwischen dem jüdischen Neujahrsund Versöhnungsfest verboten ist. Er stellte das Begehren: Der hohe Bundesrat wolle verfügen, daß der Beschwerdeführer den Friedhof Endingen-Lengnau jederzeit betreten darf.

Zur Begründung führte er folgendes an : Er sei Bürger von Neu-Lengnau und habe früher auch der dortigen jüdischen Kultusgemeind angehört. Seit 1903 wohne er

148

in Zürich und habe, nachdem er der zürcherischen, israelitischen Kultusgemeinde beigetreten sei, aufgehört, in Neu-Lengnau Kultussteuern zu entrichten. Daraufhin habe ihm der Ortsvorstand NeuLengnau eröffnet, er dürfe hinfort den jüdischen Friedhof Endingen-Lengnati nicht mehr betreten. Diese Verfügung sei vom Regierungsrat für die Jahrzeittage und die Zeit zwischen dem jüdischen Neujahrs- und Versöhnungsfest bestätigt worden. Der Regierungsrat sei hierbei davon ausgegangen, daß die Juden verpflichtet seien, an den genannten Tagen am Grabe ihrer Eltern Gebete zu verrichten. Der Rekurrent nehme also, indem er an diesen Tagen das Grab seiner Mutter besuche, an Kultushandlungen der Kultusgemeinde Neu-Lengnau Teil, worauf er nur dann Anspruch habe, wenn er die zur Durchführung dieses Kultus erhobene Steuer entrichte.

Es sei nun aber nicht richtig, daß die Verrichtung von Gebeten auf dem Grabe naher Verwandter an den Jahrzeit- und Vorbereitungstagen eine Kultushandlung darstelle und sich dadurch vom Besuch der Gräber an andere Tagen unterscheide. Rituelle Feiern und Gebete würden auf jüdischen Friedhöfen einzig bei Beerdigungen vorgenommen. Auch habe der Regierungsrat übersehen, daß heute ein Friedhof keine Kultusanstalt, sondern in erster Linie eine bürgerliche Anstalt mit sanitärem Zweck sei, die mit der Religion nichts zu schaffen habe. Daher lasse auch die Bundesverfassung die bürgerlichen Behörden über die Begräbnisplätze verfügen. Daraus folge denn, daß der Gebrauch und also auch das Betreten eines Begräbnisplatzes nicht von der Bezahlung von Kultussteuern abhängig gemacht werden könne; denn, wenn dies geschehe, so verfügten eben kirchliche Behörden U beiden Begräbnisplatz, was mit Art. 53, Absatz 2, der Bundesverfassung unvereinbar sei. Außerdem liege der Forderung von KultusSteuern in vorliegendem Fall ein indirekter Zwang zur Teilnahme an einer Kultusgemeinschaft, der mit Art. 47 und 50 der Bundesverfassung, Art. 71 der aargauischen Staatsverfassung im Widerspruch stehe. Endlich inrolviere die Erhebung von Steuern für die Kultusgemeinde Neu-Lengnau dem Rekurrenten gegenüber eine unzulässige Doppelbesteuerung, da er in Zürich Kultussteuern bezahle.

II.

Im Begleitschreiben zu seiner Beschwerde hatte der Rekurrent dem Bundesrat mitgeteilt, daß er seinen Rekurs gleichzeitig beim Bundesgericht,
anhängig gemacht habe. Auf dem Weg des Meinungsaustausches gemäß Art. 194 des Organisationsgesetzes wurde sodann dem Bundesgericht die Priorität zur Behandlung der ße-

149

scbwerde zugeschieden. Nachdem der Bundesrat am 1. Juni 1905 in den Besitz des bundesgerichtlichen Urteils gekommen war, das die Beschwerde, soweit sie sich auf die Art. 46, Absatz 2, Art. 49, Absatz 6, Art. 49, Absatz 2, und 50 der Bundesverfassung stutzt, für unbegründet erklärt, fragte er den Rekurrenten an, ob er seinen Rekurs an den Bundesrat aufrecht erhalte und forderte, nach Eingang einer bejahenden Antwort des Rekurrenten, den Regierungsrat des Kantons Aargau zur Einreichung seiner Gegenbemerkungen zu der Beschwerde auf.

III.

In seiner Rekursantwort vom 15. Juli 1905 beantragte der Regierungsrat Abweisung der Beschwerde aus folgenden Gründen : Der Bundesrat habe sich nur mit der Frage zu befassen, ob eine Verletzung von Art. 53, Absatz 2, der Bundesverfassung vorliege. Dies sei zu verneinen, denn es handle sich nicht um die Schicklichkeit einer Beerdigung, sondern darum, ob der Angehörige eines schon lange Beerdigten beanspruchen .dürfe, jederzeit und ohne Entgelt Zutritt zum Grabe zu haben. Der israelitische Friedhof in Lengnau gehöre nicht der politischen Gemeinde, sondern der jüdischen Kultusgemeinde Lengnau. Jene habe nur die Aufsicht und Verfügung darüber, soweit es sich um Beerdigungen handelt. Über die rituellen Handlungen und Über das Eigentum am Friedhof verfüge im übrigen die Kultusgemeinde. Dieses Verhältnis verstoße nicht gegen das Bundesrecht. Art. 53 der Bundesverfassung schreibe nicht die Unentgeltlichkeit des Zutritts zum Friedhof vor und insbesondere könne dann eine Gebühr erhoben werden, wenn der Zutritt verlangt werde, um auf dem Begräbnisplatz rituelle Handlungen vorzunehmen. Denn jeder Kultus sei mit Kosten verbunden, und wer an den Kultushandlungen einer Gemeinde teilnehmen wolle, von dem dürfe auch verlangt werden, daß er zu den Kosten des Kultus beitrage. Im vorliegenden Fall sei dies um so gerechtfertigter, als die jüdische Gemeinde NeuLengnau ihre Kultus- und Armenlasten kaum aufzubringen vermöge. Auch ändere die Erhebung einer solchen Gebühr nachträglich nichts an der Schicklichkeit einer Beerdigung.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

Soweit sich die Beschwerde auf Art. 46, Absatz 2, Art. 49, Absatz 2 und 6, und Art. 50 der Bundesverfassung stützt, fällt

150

ihre Beurteilung in die Kompetenz des Bundesgerichts. Der Bundesrat kann, weil ihm die Kompetenz dazu fehlt, auf diese Beschwerdepunkte nicht eintreten.

Soweit sich der Rekurrent auf Art. 71, Absatz 2, der aargauischen Staatsverfasaung beruft, fehlt ihm die Légitimation zur Beschwerdeführung. Die zitierte Bestimmung lautet nämlich ; ,,Der Staat handhabt die Ordnung und den öffentlichen Frieden unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften und trifft die geeigneten Maßnahmen gegen Eingriffe kirchlicher Behörden und Personen in die Rechte der Bürger und des Staates."

Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid angenommen, daß dieser Verfassungsartikel lediglich eine Norm des öffentlichen Rechts, nicht aber die Garantie eines Individualrechts der Bürger enthalte. Aber selbst wenn man die Legitimation des Rekurrenten zur Beschwerdeführung aus dieser Bestimmung, die sich mit Art. 50, Absatz 2, der Bundesverfassung deckt, annehmen wollte, so fiele die Beurteilung dieses Beschwerdegrundes wiederum, in die Kompetenz des Bundesgerichts und nicht in die des Bundesrats.

II.

Somit bleibt für den Bundesrat nur noch die Frage zu prüfen übrig, ob die Beschwerde aus Art. 53, Alinea 2, der Bundesverfassung begründet werden könne. Art. 53, Alinea 2, der Bundesverfassung lautet : ,,Die Verfügung über die Begräbnisplätze steht den bürgerlichen Behörden zu. Sie haben dafür zu sorgen, daß jeder Verstorbene schicklich beerdigt werden könne."

Diese Bestimmung bezieht sich auf die Friedhofspolizei, welche ausschließlich als Sache der bürgerlichen Behörden erklärt wird. Sie umfaßt alles dasjenige, was für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf einem Begräbnisplatze erforderlich ist. Das Verfügungsrecht der bürgerlichen Behörden ist also nicht das Verfügungsrecht des Eigentümers, sondern ist dasjenige des Inhabers der öffentlichen Polizeigewalt. Es hängt daher in erster Linie von dem kantonalen öffentlichen Rechte ab, wie das Bestattungswesen organisiert ist. Danach kann die Ordnung eine vollständige Laisierung der Kirchhöfe vorsehen, sie kann aber nach konstanter Praxis auch den einzelnen Konfessionen besondere Friedhöfe einräumen, wenn sie nur dafür sorgt, daß die Friedhofsordnung, soweit sie ein Teil der öffentlichen Ordnung ist, eingehalten, und daß ein schickliches Begräbnis jederzeit ermöglicht wird. Es ist des-

15t

halb vom Standpunkt des Art. 53, Absatz 2, der Bundesverfassung nichts dagegen einzuwenden, daß in der aargauischen Gemeinde Endingen-Lengnau ein besonderer im Eigentum der israelitischen Kultusgemeinde stehender Friedhof' existiert. Ebensowenig ist dagegen etwas zu erinnern, daß die israelitische Kultusgemeinde als Eigentümerin über den Friedhof verfugt, soweit sie sich mit ihien Verfügungen 'innert den Schranken hält, welche in der öffentlichen Ordnung bestimmt sind.

Der Regierungsrat des Kantons Aargau -- zweifellos eine bürgerliche Behörde -- hat bestimmt, daß das Betreten dieses Friedhofes im allgemeinen freigegeben ist, daß nur an gewissen im jüdischen Kultus vorgesehenen Tagen die Kultusgemeinde das Recht haben soll, · das Betreten des Friedhofes nur ihren Angehörigen, d. h. denjenigen zu gestatten, welche durch Entrichtung von Kultussteuern ihre Pflichten gegenüber der Kultusgemeinde erfüllt haben.

Darin kann eine Verletzung des Art. 53, Absatz 2, der Bundesverfassung nicht erblickt werden. Denn die vom Regierungsrate aufgestellte Spezialnorm anerkennt nur innert gewissen Grenzen die Ausübung des Eigentumsrechtes der Kultusgemeinde am Begräbnisplatze. Dadurch, daß die Kultusgemeinde von dem ihr zustehenden Eigentumsrecht Gebrauch macht, entsteht an sich keineswegs eine Verletzung des Verfassungsrechtes.

Die vom Regierungsrate aufgestellte Norm selbst verstößt ebenfalls nicht gegen das Verfassungsrecht. Es ist kein Grund aufzufinden und es ist auch vom Rekurrenten kein solcher geltend gemacht worden, warum es mit der öffentlichen Ordnung des Bestattungswesens im Widerspruch stehen sollte, daß ein einer bestimmten Kultusgemeinschaft angehöriger Friedhof an bestimmten Tagen des Jahres für die Angehörigen dieser Konfession reserviert bleibt. Sobald diese öffentliche Ordnung selbst das Bestehen konfessioneller Friedhöfe zuläßt, ergibt sieh daraus auch in ganz natürlicher Weise, daß für dritte, nicht zu dieser Kultusgemeinschaft gehörige Personen eine Beschränkung in der Benutzung und insbesondere im Betreten dieser Friedhöfe bestehen kann.

Sogar das Betreten von für den allgemeinen Gebrauch bestimmten Friedhöfen ist der polizeilichen Ordnung unterworfen; sobald aber ein konfessioneller Friedhof besteht, steht verfassungsrechtlich nichts entgegen, daß das Betreten des Friedhofes nach mit der
konfessionellen Zugehörigkeit im Zusammenhang stehenden Re geln geordnet wird, sobald diese Regeln allgemein bestehende oder für den speziellen Fall von der bürgerlichen Behörde aufgestellte Normen nicht verletzen. Dem Rekurrenten ist es überdies

152

nicht verwehrt, das Grab seiner Mutter zu besuchen. Nur an einzelnen bestimmten Tagen des Jahres kann er den Zutritt nur erhalten, wenn er sich als Angehöriger der Kultusgemeinde Endingen-Lengnau ausweist. Ein Recht des Individuums, jederzeit das Betreten eines Begräbnisplatzes zu verlangen, läßt sich aus Art. 53, Absatz 2, der Bundesverfassung nicht ableiten, sondern dieses Recht ist abhängig von der im Einzelfall bestehenden Ordnung, die bei einem einer Konfession eingeräumten Spezialfriedh auch, wie oben auseinandergesetzt, innert den Schranken der öffentlichen Polizeivorschriften eine konfessionell bedingte sein kann.

Demnach wird erkannt:

Der Bundesrat tritt wegen Inkompetenz auf die Beschwerde nicht ein, soweit sie sich auf die Art. 46, 49 und 50 der Bundesverfassung stutzt; im übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 11. September 1905.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Buchet.

Der II. Vizekanzler: Gigandet

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des S. Meier, Kaufmann in Zürich, betreffend den jüdischen Friedhof Endingen-Lengnau. (Vom 11. September 1905.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1905

Année Anno Band

5

Volume Volume Heft

38

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

13.09.1905

Date Data Seite

147-152

Page Pagina Ref. No

10 021 609

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.