10.059 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz vom 23. Juni 2010

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen den Bericht des Bundesrates über die Sicherheitspolitik mit dem Antrag, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

23. Juni 2010

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2009-2230

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Übersicht Der Bundesrat präsentiert in regelmässigen Abständen Berichte zur Sicherheitspolitik der Schweiz. Diese Berichte geben jeweils die Leitlinien vor für die Ausgestaltung der Sicherheitspolitik der nächsten Jahre. Der letzte solche Bericht stammt aus dem Jahr 1999. Der Bundesrat entschied 2008, einen neuen Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz auszuarbeiten. Gleichzeitig beschloss er, die zeitlichen Abstände zwischen solchen Berichten zu verkürzen und künftig grundsätzlich in jeder Legislaturperiode den geltenden Bericht zu überarbeiten oder einen neuen zu erarbeiten.

Der vorliegende Bericht nimmt eine Analyse der sicherheitspolitischen Entwicklung der letzten zehn Jahre vor. Er bewertet die Bedrohungen und Gefahren für die Schweiz und äussert sich zur Verwundbarkeit und zum internationalen Umfeld der Schweiz. Dabei kommt der Bericht zum Schluss, dass zwar markante sicherheitspolitische Akzentverschiebungen erfolgt oder noch im Gang sind ­ zum Beispiel die Verschiebung globaler Machtverhältnisse oder die sich weiter beschleunigende Globalisierung und Vernetzung ­, dass aber die sicherheitspolitische Situation der Schweiz insgesamt nicht grundlegend anders ist als vor zehn Jahren.

Die bisherige sicherheitspolitische Strategie der Schweiz wird denn auch im Grundsatz als nach wie vor richtig erachtet. Es geht weiterhin darum, ein möglichst effizientes und wirksames Zusammenspiel der sicherheitspolitischen Mittel von Bund, Kantonen und Gemeinden zu gewährleisten und mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten, um bestehenden und sich abzeichnenden Bedrohungen und Gefahren vorzubeugen, sie abzuwehren und zu bewältigen. Das Ziel der schweizerischen Sicherheitspolitik ist es, die Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Integrität der Schweiz und ihrer Bevölkerung sowie ihre Lebensgrundlagen gegen direkte und indirekte Bedrohungen und Gefahren zu schützen sowie einen Beitrag zu Stabilität und Frieden jenseits unserer Grenzen zu leisten. Der Bericht knüpft damit in wesentlichen Punkten an die bisherige Strategie an. Gleichzeitig führt er aber auch Neuerungen ein, die für eine bessere Umsetzung dieser Strategie und zur Behebung von Schwächen und Lücken nötig sind.

Zu den Neuerungen gehört, dass die Sicherheitspolitik umfassender verstanden wird als bisher. Sie umfasst nicht mehr nur die Abwehr
und Bewältigung von Gewalt «strategischen Ausmasses», sondern auch individuelle Gewaltanwendung, soweit sie Leib und Leben gefährdet. Es geht nicht nur um die Sicherheitspolitik des Bundes, sondern auch um jene der Kantone (und Gemeinden) und somit der gesamten Schweiz. Damit wird ein umfassenderes und bürgernäheres Bild der schweizerischen Sicherheitspolitik gezeichnet. Denn viele Sicherheitsaufgaben werden von den Kantonen wahrgenommen, gerade auch solche, die für die alltägliche Sicherheit und damit das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung wesentlich sind.

Ein Schwerpunkt des neuen Berichts ist ­ dieser integralen Sichtweise folgend ­ die Verbesserung und Intensivierung der Zusammenarbeit der verschiedenen nationalen Sicherheitsinstrumente über die verschiedenen Staatsebenen hinweg. Diese Zusammenarbeit hat in den letzten Jahren in der Praxis Fortschritte gemacht. Dennoch

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besteht weiterer Handlungsbedarf. Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen in Sicherheitsfragen soll unter der Bezeichnung «Sicherheitsverbund Schweiz» weiter optimiert und institutionalisiert werden. Dazu wird ein Koordinations- und Konsultationsmechanismus geschaffen, der gemeinsam von Bund und Kantonen betrieben wird. Dieser Mechanismus soll einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass in Sicherheitsfragen, die den Bund und die Kantone betreffen, die strategische Führung und das Krisenmanagement verbessert werden, unter anderem mit der Durchführung von regelmässigen grossangelegten Übungen.

Neuerungen gibt es auch bei der Beschreibung und Ausrichtung der einzelnen Sicherheitsinstrumente. Die wesentlichsten und weitreichendsten betreffen die Armee, die im Bericht ­ wegen der Grösse und Dringlichkeit der anstehenden Probleme und Veränderungen ­ besonders ausführlich behandelt wird. Der Bericht gibt Leitlinien vor für die Weiterentwicklung der Armee, ihre künftigen Aufgaben und Mittel, ohne allerdings die Ausrichtung im Detail festzulegen. Das wird Aufgabe eines separaten Berichts des Bundesrates zur Armee sein.

Der sicherheitspolitische Bericht legt für alle drei Aufgaben der Armee Neuerungen fest: Die Schwerpunktverlagerung auf Einsätze zur Unterstützung der zivilen Behörden soll weitergeführt werden. Dabei wird festgehalten, dass Bewachungs-, Schutzund Sicherungseinsätze im Inland ­ ausser im Fall eines militärischen Angriffs auf die Schweiz ­ immer subsidiär, zugunsten der Kantone, erfolgen und möglichst zeitlich begrenzt sein sollen. Ausserdem wird künftig auf den Begriff der Raumsicherung verzichtet, der für Unklarheit und Kontroversen, insbesondere seitens der Kantone, geführt hat. Die Verteidigung ist zwar nicht die aktuellste Aufgabe der Armee, in letzter Konsequenz aber nach wie vor ihre entscheidende Aufgabe. Zur Abwehr eines ­ aus derzeitiger Sicht unwahrscheinlichen, über lange Dauer aber nicht völlig auszuschliessenden ­ militärischen Angriffs soll die Armee alle nötigen Fähigkeiten und das Knowhow aufbauen und bewahren. Diese Kompetenzen sollen qualitativ auf einem guten Niveau sein, quantitativ aber auf ein Minimum reduziert werden. In der militärischen Friedensförderung soll die Armee ihre Beiträge erhöhen. Dabei steht ein Ausbau von hochwertigen Beiträgen an Einsätze der internationalen Gemeinschaft im Vordergrund, zum Beispiel durch die Bereitstellung von mehr Transporthelikoptern oder von besonders gesuchten Fachleuten.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Einleitung, Umschreibung der Sicherheitspolitik

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2 Sicherheitspolitische Interessen und Ziele

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3 Die Lage 3.1 Sicherheitspolitische Trends 3.2 Bedrohungen und Gefahren 3.2.1 Direkte Bedrohungen und Gefahren 3.2.2 Indirekte Bedrohungen und Gefahren 3.2.3 Zuordnung zur Sicherheitspolitik 3.3 Verwundbarkeit der Schweiz 3.4 Regionales Umfeld und sicherheitspolitisch bedeutsame Organisationen

5144 5144 5146 5146 5150 5152 5153

4 Strategie 4.1 Grundsätzliche Ausrichtung 4.2 Sicherheitsbereiche und Kernaufgaben 4.3 Hauptkomponenten der Strategie 4.3.1 Zusammenarbeit im Inland: Sicherheitsverbund Schweiz 4.3.1.1 Partner im Sicherheitsverbund Schweiz 4.3.1.2 Verantwortlichkeiten und Kompetenzen im Sicherheitsverbund Schweiz 4.3.1.3 Ausbildung im Sicherheitsverbund Schweiz 4.3.2 Zusammenarbeit mit anderen Staaten und internationalen Organisationen

5158 5158 5159 5160 5161 5161

5 Sicherheitspolitische Instrumente 5.1 Aussenpolitik 5.1.1 Zivile Friedensförderung 5.1.2 Menschenrechtspolitik 5.1.3 Humanitäres Völkerrecht 5.1.4 Abrüstung und Rüstungskontrolle 5.1.5 Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe 5.1.6 Neutralität 5.2 Armee 5.2.1 Aufgaben 5.2.1.1 Verteidigung 5.2.1.2 Unterstützung der zivilen Behörden 5.2.1.3 Friedensförderung 5.2.2 Weiterentwicklung der Armee 5.2.2.1 Aufgaben, Leistungen und Ressourcen 5.2.2.2 Demografie und Wertewandel 5.2.2.3 Dienstpflichtmodell 5.2.2.4 Ausbildungsmodell und Alimentierung der Stäbe 5136

5155

5162 5163 5163 5165 5165 5166 5166 5167 5168 5169 5170 5171 5171 5172 5174 5176 5181 5182 5183 5183 5184

5.2.2.5 Materielle Ausstattung, Ausbildungs-, Ausrüstungsund Technologieniveau 5.2.2.6 Bereitschaft 5.2.2.7 Rüstungspolitik und Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor 5.2.2.8 Internationale Kooperation und Zusammenarbeitsfähigkeit 5.2.2.9 Fazit: Weiterentwicklung der Armee 5.2.3 Weiterentwicklung des Rechts zu Armeeeinsätzen Bevölkerungsschutz 5.3.1 Aufgaben 5.3.2 Verbundsystem 5.3.3 Aufgabenteilung Bund ­ Kantone 5.3.4 Zusammenarbeit 5.3.5 Zivilschutz 5.3.6 Weiterentwicklung des Bevölkerungsschutzes Nachrichtendienst 5.4.1 Aufgaben 5.4.2 Arbeitsweise 5.4.3 Kontrolle des Nachrichtendienstes Wirtschaftspolitik 5.5.1 Sicherheitspolitische Aufgaben 5.5.2 Organisation und Wirkungsweise 5.5.3 Wirtschaftliche Landesversorgung 5.5.4 Exportkontrollen und Wirtschaftssanktionen Zollverwaltung Polizei 5.7.1 Die Rolle der Kantone 5.7.2 Die Rolle des Bundes 5.7.3 Ausblick Zivildienst 5.8.1 Aufgaben 5.8.2 Besonderheiten

5188 5189 5191 5192 5192 5193 5194 5194 5195 5195 5197 5198 5198 5199 5199 5199 5200 5201 5203 5204 5204 5205 5206 5208 5209 5209 5209

6 Strategische Führung und Krisenmanagement 6.1 Bund 6.2 Kantone 6.3 Defizite im sicherheitspolitischen Krisenmanagement 6.4 Schaffung eines Konsultations- und Koordinationsmechanismus SVS

5210 5211 5212 5214 5215

Anhänge 1 Sicherheitsverbund Schweiz: Sicherheitsbereiche, Aufgaben und Mittel 2 Vergleich der sicherheitspolitischen Berichte 2010 und 2000

5217 5219

5.3

5.4

5.5

5.6 5.7

5.8

5185 5187 5187

5137

Abkürzungsverzeichnis ABC BKP BWIS BSD CTBT DCAF ECURIE EDA EDI EJPD EKERD EO ABCN EOR EU EURO 08 Europol EVD EZV FADO G-8 GCSP GICHD GWK HOOGAN IAEA IKAPOL IKKS IKRK Interpol KILA KFO

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atomar, biologisch, chemisch Bundeskriminalpolizei Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit Bundessicherheitsdienst Comprehensive Test Ban Treaty (Abkommen über ein umfassendes Verbot von Nuklearversuchen) Geneva Centre for the Democratic Control of Armed Forces (Genfer Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte) European Community Urgent Radiological Information Exchange (Austausch der EU über dringende radiologische Information) Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten Eidgenössisches Departement des Innern Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Einsatzkonzept für den Fall eines Erdbebens in der Schweiz Bundesführungsorgan für ABCN-Ereignisse Einsatzorganisation Radioaktivität Europäische Union Fussball-Europameisterschaft 2008 European Police Office (Europäisches Polizeiamt) Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement Eidgenössische Zollverwaltung False and Authentic Documents (falsche und echte Dokumente) Group of Eight (Gruppe der acht grossen Industrienationen) Geneva Centre for Security Policy (Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik) International Geneva Centre for Humanitarian Demining (Genfer Internationales Zentrum für Humanitäre Minenräumung) Grenzwachtkorps Schweizerische Hooligan-Datenbank Internationale Atomenergie-Agentur Interkantonales Polizeikonkordat Interkantonaler Koordinationsstab Internationales Komitee des Roten Kreuzes International Criminal Police Organization (Internationale Organisation der Kriminalpolizei) Identitäts- und Legitimationsausweise Kantonale Führungsorgane

KKJPD KKPKS KVMBZ KSD LGSi MTCR MZDK Nato NAZ NDB NFIP NGO NPT NSG OECD OPCW OSZE OWARNA SANKO SARS SiA SIS SKH SND SOGE SONIA SOPA Stab SiA UNCTAD UNDDA UNECE

Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten der Schweiz Konferenz der Kantonalen Verantwortlichen für Militär, Bevölkerungsschutz und Zivilschutz Koordinierter Sanitätsdienst Lenkungsgruppe Sicherheit Missile Technology Control Regime (Vereinbarung zur Kontrolle der Raketentechnologie) Militär- und Zivilschutzdirektorenkonferenz North Atlantic Treaty Organization (Nordatlantische Vertragsorganisation) Nationale Alarmzentrale Nachrichtendienst des Bundes National Football Information Point (Nationaler Informationspunkt für Fussball) Non-Governmental Organisation (Nichtregierungsorganisation) Nuclear Non-Proliferation Treaty (Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen) Nuclear Suppliers Group (Gruppe der Nuklearlieferländer) Organization for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Optimierung von Warnung und Alarmierung Sanitätsdienstliches Koordinationsorgan Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom Sicherheitsausschuss des Bundesrates Schengener Informationssystem Schweizerisches Korps für Humanitäre Hilfe Strategischer Nachrichtendienst Sonderstab Geiselnahme und Erpressung Sonderstab Information Assurance Sonderstab Pandemie Stab Sicherheitsausschuss des Bundesrates United Nations Conference on Trade and Development (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) United Nations Department for Disarmament Affairs (Abteilung der Vereinten Nationen für Abrüstung) United Nations Economic Commission for Europe (Wirtschaftskommission der Uno für Europa)

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UNEP UNO UVEK VBS VOSTRA WEF WTO

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United Nations Environment Programme (Umweltprogramm der Vereinten Nationen) United Nations Organization (Vereinte Nationen) Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport Verordnung über das Strafregister World Economic Forum (Weltwirtschaftsforum) Word Trade Organization (Welthandelsorganisation)

Bericht 1

Einleitung, Umschreibung der Sicherheitspolitik

Der letzte Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz stammt vom 7. Juni 1999. In der Zwischenzeit haben Anschläge in New York und Washington, Bali, Istanbul, Madrid, London, Moskau und Mumbai stattgefunden; der Terrorismus bleibt allgegenwärtige Bedrohung. Ausserhalb von Kerneuropa sind bewaffnete Konflikte zwischen staatlichen Streitkräften eine Realität; bewaffnete Macht wird weniger zurückhaltend als früher angewendet, auch wenn sich solche Interventionen als langwierig und verlustreich erwiesen haben, bei ungewissem Erfolg. Naturkatastrophen mit verheerenden Auswirkungen scheinen sich wegen des Klimawandels zu häufen. Das Bedürfnis nach regelmässiger Beurteilung der Sicherheitspolitik ist gewachsen. Der Bundesrat beabsichtigt, von nun an in kürzeren Abständen seinen Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz zu überarbeiten oder neu zu verfassen.

Dieser Bericht legt dar, was die sicherheitspolitischen Ziele der Schweiz sind, wodurch sie bedroht oder gefährdet werden, wie das Umfeld der Schweiz aussieht, welche sicherheitspolitische Strategie sie verfolgt und mit welchen Mitteln diese umgesetzt wird.

Die Armee steht aus mehreren Gründen in besonders intensivem öffentlichem Interesse: Sie ist das umfangreichste und das vielseitigste aller sicherheitspolitischer Instrumente; durch das Milizsystem kommt ein grosser Teil der Bevölkerung in direkten Kontakt mit ihr, die Höhe der Verteidigungsausgaben ist ein wiederkehrendes Thema, und die Armee hat mehrere wohlbekannte Probleme zu überwinden. Das ist der Grund dafür, dass in diesem Bericht der Armee etwas mehr Raum als den anderen Instrumenten der Sicherheitspolitik eingeräumt wird ­ nicht weil die Armee Anspruch erheben würde, wichtiger als andere Instrumente zu sein, sondern weil in Bezug auf sie ein besonders grosser Bedarf an öffentlicher Diskussion besteht. Es geht in diesem Zusammenhang darum, Leitlinien für die Weiterentwicklung der Armee darzustellen. Gleichzeitig mit diesem Bericht über die Sicherheitspolitik der Schweiz legt der Bundesrat einen separaten Bericht über die Armee vor, in dem die Lage und die Perspektiven der Armee detaillierter dargestellt werden.

Es gibt verschiedene Vorstellungen darüber, was alles unter Sicherheitspolitik fallen sollte. Für diesen Bericht wird die
folgende Umschreibung verwendet: Sicherheitspolitik umfasst die Gesamtheit aller Massnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden zur Vorbeugung, Abwehr und Bewältigung machtpolitisch oder kriminell motivierter Drohungen und Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, die Schweiz und ihre Bevölkerung in ihrer Selbstbestimmung einzuschränken oder ihnen Schaden zuzufügen. Dazu kommt die Bewältigung natur- und zivilisationsbedingter Katastrophen und Notlagen.

Anders gesagt, ist die Sicherheitspolitik betroffen, wenn Staaten, nichtstaatliche Gruppen oder einzelne Personen der Schweiz und ihrer Bevölkerung ihren Willen aufzwingen oder der Schweiz, ihrer Bevölkerung oder den Interessen des Landes Schaden zufügen wollen oder solchen Schaden in Verfolgung eigener Ziele in Kauf

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nehmen.1 Zudem betrifft die Sicherheitspolitik natur- und zivilisationsbedingte Katastrophen, wo keine feindliche Absicht vorliegt.

Bund und Kantone regeln die Massnahmen in ihren jeweiligen Kompetenzbereichen und koordinieren diese untereinander. Bislang äusserte sich der Bundesrat nur zur Sicherheitspolitik des Bundes; er kann über die Sicherheitspolitik der Kantone und Gemeinden nicht bestimmen und ihnen keine Vorgaben machen. Kantone und Gemeinden haben aber deutlich gemacht, dass ihre Bemühungen um die Wahrung der öffentlichen Sicherheit auch als Teil der Sicherheitspolitik gesehen werden sollen, als kantonale und kommunale Sicherheitspolitik. Diesem Anliegen wird hier Folge gegeben. Damit lassen sich die staatlichen Massnahmen aller Ebenen zur Gewährleistung der Sicherheit der Schweiz und ihrer Bevölkerung vollständiger und auch bürgernäher abbilden.

Im Kern geht es bei der Sicherheitspolitik darum, dass die Schweiz über die Mittel und Abläufe verfügt, um ihre Selbstbestimmung zu wahren und zu stärken, Schaden für das Land, seine Bevölkerung und seine Interessen abzuwehren sowie natur- und zivilisationsbedingte Katastrophen zu bewältigen. Diese Mittel müssen effizient, wirksam und umsichtig eingesetzt werden. Bund, Kantone und Gemeinden müssen in jeder Lage handlungsfähig bleiben. Das verlangt nach einer abgestimmten Informationsbeschaffung, nach Koordination zwischen den Departementen auf Bundesebene sowie zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden und nach einer Arbeitsteilung zwischen zivilen und militärischen Kräften.

Politik und Recht sind untrennbar miteinander verbunden. Einerseits gestaltet Politik Recht, umgekehrt hat sich die Politik an das geltende Verfassungs- und Völkerrecht zu halten (oder kann dieses nur auf den rechtlich vorgezeichneten Wegen ändern).

Die öffentliche Sicherheit, generell die Sicherheit des Landes nach innen und aussen, bedeutet im Kern einerseits die Sicherheit der Verfassungs- und Rechtsordnung im Land, anderseits die Sicherheit der Friedens- und Völkerrechtsordnung unter den Staaten. Dementsprechend muss die Sicherheitspolitik klar, verlässlich und verfassungskonform rechtlich legitimiert und bestimmt sein. Sicherheitsrecht und Sicherheitspolitik befassen sich mit der ursprünglichen und eigentlichen Kernaufgabe auch des heutigen Staates. Ihre Ziele sind die
Gewalt- und Konfliktvermeidung sowie der Schutz vor Gefahren unterschiedlichster Art. Sie haben sich insbesondere in kritischen Situationen zu bewähren. Daher sollen sie nicht widersprüchlich interpretiert werden können. Das Sicherheitsrecht muss auch in ausserordentlichen Lagen oder bei besonderer Dringlichkeit ein Höchstmass an verfassungskonformer Rechtssicherheit vermitteln. Die Gesetzgebung des Bundes auf dem Gebiet der Sicherheit hat sich in den letzten Jahren ausgedehnt, was verfassungsrechtliche Fragen aufwirft. Im Rahmen der vorliegenden Neuformulierung der Sicherheitspolitik sollen deshalb einige grundlegende aktuelle Rechtsprobleme knapp dargelegt werden.

Vor der Erarbeitung dieses Berichts wurden Vertreterinnen und Vertreter von 45 Organisationen (Parteien, Verbände, Institute) sowie unabhängige Fachleute angehört, um ihre Interessen und Ansichten zur Sicherheitspolitik der Schweiz in Erfahrung zu bringen. Der vorliegende Bericht berücksichtigt die in den Anhörungen geäusserten Anliegen; es handelt sich aber nicht um eine Zusammenfassung

1

Letzteres betrifft z.B. die organisierte Kriminalität. Die Absicht dahinter ist kaum, der Schweiz zu schaden, aber kriminelle Organisationen nehmen in Kauf, dass ihr Tun dem Staat, der Wirtschaft und der Gesellschaft Schaden zufügt.

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dieser Hearings, sondern um eine Darstellung der Haltung des Bundesrates zur künftigen Sicherheitspolitik der Schweiz.

2

Sicherheitspolitische Interessen und Ziele

Gemäss Artikel 2 der Bundesverfassung2 schützt die Schweizerische Eidgenossenschaft die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und Sicherheit des Landes. Sie fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes. Sie sorgt für eine möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern. Sie setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen sowie für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung.

Das Ziel der Sicherheitspolitik kann folgendermassen umschrieben werden: Die schweizerische Sicherheitspolitik hat zum Ziel, die Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Integrität der Schweiz und ihrer Bevölkerung sowie ihre Lebensgrundlagen gegen direkte und indirekte Bedrohungen und Gefahren zu schützen sowie einen Beitrag zu Stabilität und Frieden jenseits unserer Grenzen zu leisten.

Es geht also um Selbstbestimmung auf staatlicher wie individueller Ebene, um die Unversehrtheit des Staates wie der einzelnen Person, um Lebensgrundlagen und Wohlstand. Das soll geschützt und notfalls verteidigt werden, wenn möglich aus eigener Kraft, wenn für die Effizienz oder Wirksamkeit nötig und mit der Neutralität vereinbar, in Zusammenarbeit mit anderen, die gleich gerichtete Interessen haben.

Die Frage, womit und wie Bedrohungen oder Gefahren entgegengewirkt werden soll, ist von Fall zu Fall zu beantworten, abhängig von Fähigkeiten, Aufwand und Erfolgsaussichten. Wenn die Schweiz sich mit zivilen oder militärischen Mitteln für die Stärkung von Stabilität und Frieden jenseits ihrer Grenzen einsetzt, so entspricht dies den Werten, für die sich die Schweiz seit Langem einsetzt, und liegt zudem im Sicherheitsinteresse des Landes.

In der Diskussion über die Sicherheitspolitik werden oft weitere Interessen genannt, darunter wirtschaftliche Prosperität und Mehrung des Wohlstands, Beschäftigung und Marktzugang, eine freiheitliche Gesellschaft, funktionierende politische Institutionen, Chancengleichheit, Identität, Zusammenhalt und Vielfalt. Das sind nationale Interessen, aber nicht Sicherheitsinteressen im engeren Sinn: Es ist zum Beispiel nicht die Aufgabe der Sicherheitspolitik, dafür zu sorgen, dass die politischen Institutionen funktionieren; sie hat aber zu verhindern,
dass das Funktionieren dieser Institutionen durch Machtpolitik oder Kriminalität beeinträchtigt wird. Gegen eine Ausweitung der sicherheitspolitischen Interessen auf das gesamte Spektrum nationaler Interessen spricht, dass damit die Sicherheitspolitik die Kompetenz anderer Politikbereiche in Frage stellen würde und dies dem Bestreben zuwider laufen würde, die Gesamtpolitik in praktisch handhabbare Bereiche aufzuteilen.

2

SR 101

5143

3

Die Lage

3.1

Sicherheitspolitische Trends

Die Welt, in der wir leben, ist nicht grundlegend anders als vor zehn Jahren. Sie hat sich aber in verschiedener Hinsicht geändert. Das hat sie zwar nicht unbedingt gefährlicher gemacht, wahrscheinlich aber unberechenbarer. Es sind verschiedene Entwicklungen zu beobachten, die auch in den kommenden Jahren die globale Sicherheit beeinflussen und prägen werden. Einige davon haben leicht erkennbare und unmittelbare Folgen für die Sicherheit, bei anderen ist das weniger offensichtlich und direkt.

Die Globalisierung, die mit einer vielfältigen Vernetzung ­ geografischer Art, zwischen weit voneinander entfernten Teilen der Welt, aber auch inhaltlicher Art, zwischen früher als separat betrachteten Sachbereichen ­ und Beschleunigung der Wirkungsabläufe einhergeht, ist auch für die Sicherheitspolitik eine Realität.3 Im Vergleich zur Wirtschaft ist die internationale Vernetzung und gegenseitige Abhängigkeit in der Sicherheitspolitik aber etwas weniger weit fortgeschritten. Sie ist nach wie vor primär national strukturiert, und gerade die Grossmächte sind nicht bereit, sich ihre Handlungsfreiheit im kollektiven Interesse einengen zu lassen. Dies muss nicht ständige Konfrontation bedeuten: Auch rivalisierende Mächte haben gemeinsame Interessen und gegenseitige Abhängigkeiten. Die Beziehungen werden weiterhin durch ein Nebeneinander von Kooperationsbereitschaft und Rivalität gekennzeichnet sein. Ein Krieg mit herkömmlichen Mitteln ist unter wirtschaftlich hochentwickelten Staaten auf absehbare Zeit unwahrscheinlich, aber sie werden auch künftig bereit sein, Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Interessen einzusetzen.

Zu den prägnanten und für die globale Sicherheit wichtigen Entwicklungen gehört, dass sich die Machtverhältnisse zwischen Staaten und ganzen Regionen geändert haben und sich die Gewichte weiter verschieben werden: Die Welt ist weniger unipolar als vor zehn Jahren, und dieser Trend wird sich fortsetzen. Verschiedene Staaten haben an Statur, an Einfluss gewonnen und ihre Ambitionen verstärkt: China und Indien sind durch ihre wirtschaftliche Entwicklung, verbunden mit der Bevölkerungsgrösse, zu Grossmächten geworden; ihr Gewicht wird weiter zunehmen. Russland hat zu neuem Selbstbewusstsein gefunden und drückt dieses in einer offensiveren Interessenpolitik aus. Diese und andere Staaten, wie etwa Brasilien,
wollen ebenso als Gestalter der künftigen Weltordnung wahrgenommen werden wie die USA, Europa oder Japan. Die USA werden aber wahrscheinlich auf absehbare Zeit die dominierende wirtschaftliche und militärische Macht bleiben.

Bei der Anwendung von Machtpolitik hat auf globaler Ebene die Bereitschaft zu vorbeugendem Einsatz militärischer Mittel zugenommen, um Bedrohungen und Gefahren zu bekämpfen, bevor sie das eigene Staatsgebiet erreichen. Dies ist zum Leitgedanken verschiedener Sicherheitsstrategien geworden. Gleichzeitig hat sich aber auch gezeigt, dass der Einsatz militärischer Macht sehr aufwendig ist und gerade die offensive Anwendung oft nicht die erhoffte Wirkung erbracht hat. Die Einsätze im Irak und in Afghanistan haben die Streitkräfte grosser Staaten an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht und auch die Nato grosser Belastung 3

Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat auch für hochentwickelte Staaten, Wirtschaften und Gesellschaften die Gefahren der Globalisierung deutlich gemacht. Für Länder wie die Schweiz wäre ein Versuch der Abkoppelung von der Globalisierung nicht zielführend, weil sie den wirtschaftlichen Wohlstand gefährden würde.

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ausgesetzt. Zu Machtpolitik gehört aber nicht nur der Einsatz militärischer Mittel; es gibt auch andere, subtilere Mittel: so die Manipulation der Energieversorgung, um andere Staaten unter Druck zu setzen, oder Cyber-Angriffe zur Blockierung der Informatik-Infrastruktur oder zur Aushorchung von Ministerien, Armeen und Unternehmen.

Die globale Vernetzung hat nichtstaatlichen Akteuren ein viel grösseres Aktionsfeld eröffnet: Die verstärkte Bedrohung durch nichtstaatliche Gruppierungen ­ und insbesondere die akutere Wahrnehmung einer solchen Bedrohung in Bezug auf Terrorismus und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen ­ ist eine der markantesten Veränderungen der letzten zehn Jahre. Die bei Anschlägen offenbarte Gewaltbereitschaft hat deutlich gemacht, dass auch massive Bedrohungen nicht mehr unbedingt von Staaten ausgehen müssen. Die Folgen davon sind umso grösser, als das internationale System und insbesondere das Völkerrecht traditionell darauf beruht, dass man es mit seinesgleichen, sprich einem anderen Staat, zu tun hat, und nicht mit einem diffusen Kontrahenten, der weitgehend immun ist gegen Mittel staatlicher Abschreckung, andere Wertvorstellungen hat und nicht durch Abkommen verpflichtet werden kann.

Die Vernetzung hat die Verletzlichkeit moderner Gesellschaften markant erhöht.

Versorgungs-, Kommunikations- und Transportnetze können durch Menschen, technische Probleme oder natürliche Ursachen gestört oder unterbrochen werden.

Das erfolgt vielfach überraschend und kann in seinen Folgen schnell grosses Ausmass annehmen. Betroffen ist nicht, wie das bei herkömmlichen Bedrohungen der Fall war, die Unversehrtheit des staatlichen Territoriums oder Luftraums, sondern direkt das Funktionieren von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, das wegen Kettenreaktionen (eine Störung in einem Bereich verursacht Störungen in anderen Bereichen, die sich ihrerseits fortpflanzen) mit geringem Aufwand empfindlich gestört werden kann. Der Schutz solcher Netzwerke ist zu einer wichtigen Aufgabe staatlichen Handelns geworden. Im Störfall sollen die Funktion und Handlungsfähigkeit von Behörden, Wirtschaft und Gesellschaft gewährleistet beziehungsweise möglichst rasch wieder hergestellt werden. Dabei spielen nebst technischen und organisatorischen Vorkehrungen auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in
die Problemlösungskompetenz und Leistungsfähigkeit der mit Krisenbewältigung betrauten Behörden und gesellschaftlichen Institutionen eine zentrale Rolle.4 Generell lässt sich sagen, dass die globale Vernetzung die Schutzwirkung von Grenzen und Distanz geschwächt und damit zu einem Bedeutungsrückgang des Territorialen beigetragen hat. Zu den Erfahrungen der letzten Jahre gehört, dass Globalisierung und Vernetzung Dimensionen erreicht haben, die staatliche Handlungsfähigkeit in Frage stellen können. Die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA waren auf der ganzen Welt zu spüren. Der Karikaturenstreit in Dänemark zeigte, wie schnell sich eine ungeahnte und für die Sicherheit des betroffenen Landes einschneidende Kettenreaktion ergeben kann. Es fällt Staaten zunehmend schwer, alle für ihre Sicherheit wichtigen Faktoren zu erkennen, deren Bedeutung einzuschätzen und so zu handeln, dass unbeabsichtigte Nebenwirkungen nicht die erwünschte Hauptwirkung in Frage stellen. Auch das ist ein Aspekt der globalen Vernetzung.

4

Für diese Fähigkeit wird im Französischen der Begriff «résilience», im Englischen «resilience» und im Deutschen gelegentlich «Resilienz» verwendet.

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3.2

Bedrohungen und Gefahren

Entscheidend für die Ausgestaltung der Sicherheitspolitik sind die konkreten und sich für die Zukunft abzeichnenden Bedrohungen und Gefahren.5 Nach ihnen hat sich die Sicherheitspolitik auszurichten, und sie bestimmen die Ausgestaltung der sicherheitspolitischen Instrumente.

In der Schweiz besteht seit Jahren bei der Analyse der Bedrohungen und Gefahren ein breiterer Konsens als bei der Frage, was zur Bewältigung dieser Bedrohungen und Gefahren nötig sei.6 Auch international besteht weitgehend Einigkeit über die wichtigsten Bedrohungen: Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Zerfall staatlicher Strukturen in manchen Regionen.

Eine systematische Betrachtung legt eine Unterteilung in zwei Gruppen von Bedrohungen nahe: solche, die direkt die Sicherheit der Schweiz und ihrer Bevölkerung berühren, und solche, die indirekt wirken, d.h. selber nicht direkt eine Bedrohung sind, aber direkte Bedrohungen verstärken. Ein Beispiel für eine direkte Bedrohung ist der Terrorismus, für eine indirekte Bedrohung der Zerfall staatlicher Strukturen.

Letzterer bedroht die Sicherheit der Schweiz und ihrer Bevölkerung nicht direkt, sondern indirekt, nämlich dadurch, dass er dem Terrorismus und der organisierten Kriminalität Vorschub leistet.

Es gibt eine weitere Überlegung, die Sorgfalt und Zurückhaltung bei einer Auflistung sicherheitspolitischer Bedrohungen und Gefahren nahelegt: Nicht alles, womit sich der Staat beschäftigt und das einen Bezug zu Sicherheit hat, ist Teil der Sicherheitspolitik.

Offenkundiges Beispiel ist die soziale Sicherheit, von der kaum jemand erwartet, dass sie Teil der Sicherheitspolitik sein soll anstatt der Sozialpolitik. Die Tätigkeit der Behörden muss in separate, handhabbare Politikbereiche aufgeteilt werden, auch wenn es zwischen diesen Politikbereichen viele und enge Querbeziehungen gibt. Drei im Kontext der Sicherheitspolitik oft genannte Gefahren oder Probleme, nämlich Klimawandel, Pandemien und Migration, haben zwar sicherheitspolitische Konsequenzen, die primäre Zuständigkeit dafür liegt aber bei der Umwelt-, Gesundheits- und Ausländerpolitik.

3.2.1

Direkte Bedrohungen und Gefahren

Zur ersten Kategorie unmittelbar wirksamer Bedrohungen und Gefahren gehören:7 Natur- und zivilisationsbedingte Katastrophen und Notlagen: Naturkatastrophen umfassen in der Schweiz Erdbeben, Stürme, Überschwemmungen, Lawinenniedergänge, Trockenheit und Waldbrände. Zu den zivilisationsbedingten Katastrophen gehören industrielle Grossunfälle wie in Tschernobyl (radioaktive Verstrahlung) 5

6

7

Bedrohung setzt einen Willen voraus, die Schweiz oder ihre Interessen zu schädigen oder zumindest eine solche Schädigung in Kauf zu nehmen. Gefahr setzt keinen Willen zur Schädigung voraus (z.B. Naturgefahren und technische Gefahren).

Eine breite Erfassung und Bewertung von Risiken für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft der Schweiz findet, geleitet vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz, unter dem Titel Risiken Schweiz statt.

Die Reihenfolge reflektiert weder die Gefährlichkeit noch die Wahrscheinlichkeit der Bedrohung oder Gefahr. Vielmehr sind die Bedrohungen und Gefahren nach dem Typ des Verursachers geordnet: zunächst solche, hinter denen keine Absicht steckt, danach jene, die von Staaten, nichtstaatlichen Gruppierungen und Individuen ausgehen.

5146

oder Schweizerhalle (Chemiebrand mit Verseuchung des Rheins). Es ist damit zu rechnen, dass Naturkatastrophen an Häufigkeit und Stärke zunehmen, auch in der Schweiz, die Auswirkungen voraussichtlich aber lokal oder regional begrenzt bleiben werden. Zivilisationsbedingte Katastrophen sind seltener, und die Eintretenswahrscheinlichkeit für sie ist in der Schweiz infolge höherer Sicherheitsvorkehrungen gesunken. Die hohe Siedlungs- und Nutzungsdichte in der Schweiz hat aber zur Folge, dass die Schäden im Fall von natur- oder zivilisationsbedingten Katastrophen gross sind. Sie können auch grosse indirekte Folgeschäden verursachen, z.B. durch Unterbrüche in der Energieversorgung, in der Telekommunikation und im Transport.

Versorgungsstörungen infolge von Konflikten: Bewaffnete Konflikte oder der Zerfall staatlicher Strukturen können erhebliche Auswirkungen auf Länder haben, die mit dem Konflikt nichts zu tun haben und geografisch weit entfernt sind. Kampfhandlungen und das Fehlen staatlicher Ordnung können die Versorgung der Schweiz mit wichtigen Gütern beeinträchtigen, sei es, weil die Produktion konfliktbedingt oder mangels staatlicher Ordnungsmacht zurückgeht, sei es, weil Transportwege unterbrochen oder gefährdet werden. Das kann ohne jede Absicht geschehen, der Schweiz, ihrer Bevölkerung oder schweizerischen Unternehmen Schaden zufügen zu wollen.

Der Trend, aus Kostengründen möglichst wenige Güter an Lager zu halten, erhöht die Verwundbarkeit gegenüber solchen Ereignissen. Dies wird aber mindestens teilweise durch vermehrte und verbindlichere internationale Absprachen kompensiert.

Militärischer Angriff: Mit einem militärischen Angriff ist die Anwendung von Gewalt durch ausländische Streitkräfte gegen das Territorium oder den Luftraum der Schweiz gemeint. Die dazu benützten Mittel können sogenannte konventionelle Waffen sein, aber auch Massenvernichtungswaffen (d.h. nukleare, biologische oder chemische Waffen). Bezogen auf künftige Entwicklungen sind zwei Möglichkeiten besonders zu beachten: ­

Die Frage, mit welchen Mitteln militärische Angriffe in Zukunft geführt werden, muss offengelassen werden. Es ist denkbar, dass die schweren Mittel heutiger Streitkräfte wie Panzer, Artillerie und bemannte Kampfflugzeuge an Bedeutung einbüssen werden, wenn es in Folge technischer Entwicklungen möglich wird, das gleiche Ziel wirksamer, effizienter oder mit kleinerem Risiko zu erreichen. Umgekehrt können Lenkwaffen mittlerer und grosser Reichweite zur wichtigsten militärischen Bedrohung der Schweiz werden. Diese Entwicklungen müssen eng verfolgt werden: Die Abwehr muss sich der Bedrohung anpassen, wenn sie wirksam bleiben soll.

­

Es ist damit zu rechnen, dass Waffen, die heute nur Streitkräften zur Verfügung stehen, in Zukunft auch terroristischen Gruppierungen in die Hände fallen. Im Fall von Boden-Luft-Lenkwaffen ist dies bereits der Fall. Im Fall von Waffensystemen, die eine grössere Infrastruktur benötigen, ist diese Entwicklung weniger wahrscheinlich: Der Einsatz moderner Raketen mittlerer und grosser Reichweiten ist kaum ohne Duldung des Staates möglich, von dem aus sie abgefeuert würden, und Analoges gilt auch für Kampfflugzeuge oder Marschflugkörper. (Die Verwendung von Schiffen aus wäre denkbar, aber es wäre schwierig, grosse Systeme unauffällig zu verladen.)

Dennoch ist nicht auszuschliessen, dass auch Fernwaffen grösserer Reichweite dereinst im Besitz terroristischer Gruppierungen sein werden und von diesen eingesetzt oder als Drohmittel benutzt werden können. Dabei gilt auch zu berücksichtigen, dass die Schweiz allein auf sich gestellt gegenüber

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solchen Waffen keine wirksamen Abwehrmöglichkeiten hätte; eine wirksame Abwehr also nur in internationaler Kooperation möglich wäre.

Deshalb muss die Frage, was ein militärischer Angriff ist, immer wieder neu beurteilt werden, und es kann nötig werden, den Einsatz militärischer Mittel für den Fall zu regeln, dass terroristische oder andere nichtstaatliche Gruppierungen Waffen einsetzen, die bisher staatlichen Armeen vorbehalten waren.

Eine militärische Bedrohung für die Schweiz, sei sie direkt gegen die Schweiz gerichtet oder Folge bewaffneter Konflikte in oder zwischen anderen Staaten, hat gegenwärtig eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit. Niemand erwartet, dass Staaten im Umfeld der Schweiz sie militärisch angreifen werden. Das heisst nicht, dass die Beziehungen zu diesen Staaten in jeder Hinsicht konfliktfrei sein müssen. Es gibt sehr wohl Interessendivergenzen zwischen der Schweiz und anderen Ländern in der gleichen Region; die Anwendung militärischer Gewalt wird aber von keiner Seite als eine auch nur zu erwägende Option angesehen. Unterschiede bestehen in der Einschätzung der mittel- und längerfristigen Bedrohung durch einen militärischen Angriff. Ob der russisch-georgische Krieg im Sommer 2008 Vorbote einer Trendumkehr ist, erscheint ungewiss, zumal er aus spezifischen lokalen Ursachen und einem unüblichen Mass an Fehlkalkulationen ausbrach. Der Bundesrat betrachtet die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Angriffs auf die Schweiz für die absehbare Zukunft als gering. Sie darf aber wegen der enormen Konsequenzen dennoch keinesfalls ignoriert werden.

Nötigung mit wirtschaftlichen Mitteln: Solange der Wirtschaftsverkehr grundsätzlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten funktioniert, ist er nicht Gegenstand der Sicherheitspolitik. Wenn aber Waren- und Kapitalströme aus machtpolitischen Motiven manipuliert werden, ist die Sicherheitspolitik berührt. Im Energiebereich gibt es einige Beispiele, von der Erdölkrise 1973 bis zu Lieferunterbrüchen in Osteuropa in den vergangenen Jahren. Kurzfristig können solche Nötigungsversuche ähnliche Auswirkungen haben wie Versorgungsstörungen durch Konflikte, an denen die Schweiz nicht beteiligt ist. Die Bedrohung, und damit der Bezug zur Sicherheitspolitik, wäre aber grösser, wenn sie ausdrücklich auf die Schweiz gerichtet wäre und der Versorgungsunterbruch
länger andauern könnte. Es ist durchaus auch möglich, dass nicht nur die Energieversorgung als Druckmittel eingesetzt wird, sondern andere Wirtschaftsbereiche unter massiven Druck ausländischer Staaten geraten, die damit macht- oder wirtschaftspolitische Ziele verfolgen.

Verbotener Nachrichtendienst: Spionage hat in den letzten Jahren zugenommen.

Ausländische Nachrichtendienste sind in der Schweiz oder gegen schweizerische Interessen im Ausland aktiv. Dies wird auch dadurch beeinflusst, dass viele internationale Institutionen in der Schweiz ihren Sitz haben. Einige Ausländergemeinschaften werden von ihren Herkunftsstaaten ausgeforscht. Die Schweiz als Wirtschafts- und Forschungsstandort ist attraktiv für Wirtschaftsspionage, die auch durch staatliche Akteure mit elektronischen Mitteln betrieben wird. So wurden in jüngster Zeit Netzwerke von Schweizer Behörden und Rüstungsunternehmen angegriffen, zumeist erfolglos. Der verbotene Nachrichtendienst wird ein Problem bleiben.

Angriffe auf die Informatik- und Kommunikationsinfrastruktur: Information ist ein immer wichtiger werdendes Gut. Sie wird mit Informatik- und Kommunikationsinfrastrukturen bearbeitet, transportiert und gespeichert. Wirtschaft, Verkehr, Versorgung, Kommunikation und Verwaltung hängen davon ab, dass eine ganze Infrastruktur von vernetzten Informatik- und Kommunikationseinrichtungen ­ Computer, 5148

Server, Kommunikationslinien ­ funktioniert. Diese Infrastruktur ist verwundbar.

Informationen zu manipulieren, zu vernichten oder zu entwenden hat unterschiedlichste Motive verschiedenster Täterkreise: Von Einzeltätern wie Hackern ohne Bereicherungsabsicht über kriminelle Organisationen zwecks Erpressung oder Wirtschaftsdelinquenten bis hin zu staatlicher Spionagetätigkeit oder terroristischer Absichten, um Staat und Gesellschaft zu stören und destabilisieren. Angriffe auf Informatik- und Kommunikationsinfrastrukturen sind attraktiv, weil Angreifer aus weiter Distanz, mit kleinem Aufwand und geringem Erkennungsrisiko Schaden anrichten können. Diese Infrastrukturen sind deshalb jederzeit ­ und nicht nur in Krisenlagen ­ Bedrohungen und Risiken ausgesetzt. Die Schweiz verfügt derzeit über keine übergreifenden Massnahmen zur Abwehr von Angriffen auf Informatikund Kommunikationsinfrastrukturen. Es ist wahrscheinlich, dass Angriffe und kriminelle Aktivitäten dieser Art künftig in Zahl und Tragweite noch zunehmen werden; dies könnte sogar zur klassischen Form der Austragung von Konflikten zwischen Staaten werden. Der Bundesrat misst dem Schutz der InformatikInfrastrukturen hohe Bedeutung zu und wird eine Strategie zur Bekämpfung von derartigen Angriffen ausarbeiten, die effiziente und wirksame Massnahmen gegen Spionage, unbefugte Beschaffung und Missbrauch von Daten sowie Angriffe auf eigene Netzwerke umfasst.

Terrorismus: Unter Terrorismus sind Anschläge auf Personen und Objekte zu verstehen, die von nichtstaatlichen Gruppierungen aus politisch-ideologischen Motiven verübt werden. Die Gefährdung durch ethnisch oder nationalistisch motivierten Terrorismus ging in den letzten Jahren in der Schweiz zurück. Besondere Bedeutung hat aber der Dschihadismus, eine weltweite, auch dem Terrorismus der Al Qaida zugrunde liegende islamistische Strömung. Bisher waren die Schweiz oder Schweizer Interessen im Ausland nicht direktes Ziel von Angriffen von Dschihadisten. Die Schweiz liegt jedoch in der westeuropäischen Gefahrenzone des Dschihadismus und wird in der Propaganda wie andere europäische Länder als feindlich betrachtet.

Obwohl sie weiterhin nicht als primäres Anschlagsziel islamistisch motivierter Terroristen gilt, kann sie als Ausgangspunkt für terroristische Umtriebe missbraucht oder selbst zum Ziel
werden. Es gibt keine wirksamen Massnahmen dagegen, ohne dass gleichzeitig die individuellen Rechte eingeschränkt oder das Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft beeinträchtigt werden. Der Kampf gegen den Terrorismus erfordert deshalb sorgfältige Güterabwägungen.

Gewalttätiger Extremismus: Gewalttätiger Extremismus umfasst Umtriebe von Organisationen, deren Vertreter die Demokratie, die Menschenrechte oder den Rechtsstaat ablehnen und die Gewalttaten verüben oder befürworten. Er ist manchmal nur schwierig von Terrorismus zu unterscheiden. Extremistische Aktivitäten bergen ein Gewaltpotenzial in sich und können die Sicherheit bedrohen. Es gilt, potenziell gewalttätige Aktivitäten extremistischer Organisationen frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Ausländische extremistische Gruppen nutzen den Handlungsspielraum für Propaganda und Spendensammlungen. Die Bedrohung durch Extremismus ohne Bezug zu anderen Staaten und Ausländergruppen ist für die Schweiz im Vergleich zu anderen hier erwähnten Bedrohungen als eher gering zu veranschlagen.

Organisiertes Verbrechen: Organisiertes Verbrechen ist im globalen Massstab aktiv und kann zu einer ernsthaften Bedrohung für Gesellschaft, Staat und Wirtschaft werden. Das Einnisten in das normale Geschäftsleben durch Geldwäscherei und Korruption kann die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität gefährden. Auch 5149

die Staaten selbst, ihre Wirtschaftspolitik oder ihr Polizei- und Gerichtswesen sind Infiltrationsziele. Schwerpunkte teilweise miteinander vernetzter krimineller Gruppierungen sind Drogen-, Menschen- und Waffenhandel, Korruption, Erpressung, Geldwäscherei sowie Verbindungen zu terroristischen Gruppierungen und ausländischen Nachrichtendiensten. In der Schweiz hat das organisierte Verbrechen bislang keine grössere sicherheitspolitische Relevanz angenommen; es muss aber aufmerksam beobachtet und bekämpft werden.

Gewalt gegen Leib und Leben: Der Schutz vor Gewalt gegen Leib und Leben ist eine der ältesten und elementarsten Staatsaufgaben und Voraussetzung dafür, dass Staat, Wirtschaft und gesellschaftliches Zusammenleben überhaupt funktionieren können. Der Staat besitzt das Gewaltmonopol und muss dafür den physischen Schutz seiner Bevölkerung gewährleisten und Gewaltverbrechen wie Mord und Totschlag verhindern beziehungsweise ahnden. Im Gegensatz zu anderen Sicherheitsbedrohungen und -gefahren ist Gewalt gegen Leib und Leben keine latente Bedrohung, sondern tägliche Realität. Entsprechend ist deren Verhinderung und Ahndung eine permanente Aufgabe; es geht darum, die alltägliche Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Diese Aufgabe fällt in erster Linie den Polizeikorps von Kantonen und Gemeinden zu. Gewalt gegen Leib und Leben stellt in der Häufigkeit, in der sie in der Schweiz vorkommt, Existenz und Funktionieren des Staates nicht in Frage, aber sie prägt das Sicherheits- oder Unsicherheitsbewusstsein der Bevölkerung direkter und stärker als jede andere Bedrohung.

3.2.2

Indirekte Bedrohungen und Gefahren

Zur Kategorie von Bedrohungen und Gefahren, die indirekt wirken, gehören: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen längerer Reichweite: Mindestens neun Staaten besitzen Nuklearwaffen, und zwei weitere Staaten werden entweder verdächtigt, Nuklearwaffen beschaffen zu wollen, oder haben behauptet, solche Waffen zu besitzen. Eine grosse Anzahl weiterer Staaten hätte die technischen Fähigkeiten, innerhalb weniger Jahre Nuklearwaffen herzustellen, sollte sich ihre sicherheitspolitische Lage drastisch zum Schlechten verändern.

Spaltmaterial in den Händen von Terroristen kann als Rohstoff für schmutzige Bomben verwendet werden. Das Interesse an chemischen und biologischen Waffen ist ebenfalls weit verbreitet, und ballistische Raketen können von immer mehr Staaten über immer grössere Distanzen eingesetzt werden. Die Schweiz muss die hierzulande entwickelten Nukleartechnologien strikt kontrollieren.

Zerfall staatlicher Strukturen: Grosse Regionen, insbesondere im Mittleren Osten, in weiten Teilen Afrikas und in Zentralasien, sind durch Schwäche oder Zerfall staatlicher Ordnung, durch Rechtlosigkeit und Konflikte gekennzeichnet. Das hemmt die wirtschaftliche Entwicklung, fördert Flüchtlingsströme, unkontrollierte Migration, organisiertes Verbrechen, illegalen Handel, Terrorismus und Proliferation. Es sind diese Folgeerscheinungen, die den Staatszerfall zu einem sicherheitspolitischen Problem machen, und sie sind weit entfernt spürbar, auch in der Schweiz.

5150

Migrationsprobleme: Migration als solche ist nicht Thema der Sicherheitspolitik; es wäre falsch und unstatthaft, sie pauschal als Gefahr oder Bedrohung zu charakterisieren. Es gibt aber mehrere Bezüge zur Sicherheitspolitik: Ein Ansturm von Flüchtlingen8 kann die Empfangs- und Aufnahmestrukturen überfordern und den Einsatz von Armee, Zivilschutz und Zivildienst für die Bereitstellung von Aufnahmeplätzen und die Betreuung von Aufgenommenen nötig machen. Eine starke Zunahme illegaler Grenzübertritte könnte dazu führen, dass systematische Grenzkontrollen wieder einzuführen wären und die Armee allenfalls zur Verstärkung der Grenzüberwachung eingesetzt werden müsste. Wenn sich Gruppen gleicher Nationalität in gewissen Gebieten konzentrieren, besteht die Gefahr einer Ghetto-Bildung, mit negativen Folgen für die öffentliche Sicherheit. Kulturelle Eigenheiten und Integrationsschwierigkeiten können innenpolitisch polarisierend wirken. Schliesslich können politische Aktivitäten ausländischer Volksgruppen die Beziehungen der Schweiz zu ihrem Herkunftsland belasten.

Klimawandel: Es wird allgemein davon ausgegangen, dass sich das globale Klima verändert; Uneinigkeit herrscht über Ausmass und Geschwindigkeit sowie über den unmittelbaren Einfluss der menschlichen Zivilisation darauf. In der Schweiz erhöht der Klimawandel das Risiko von Naturkatastrophen. Befürchtungen, dass die Schweiz oder andere alpine Gebiete wegen ihrer Wasservorräte ein Angriffsziel werden könnten, sind auch auf längere Sicht wenig realistisch, weil ein solcher Angriff ja von einem Nachbarstaat ­ oder zumindest via diesen ­ erfolgen müsste und die Distanz zu potenziellen Trockengebieten den Transport sehr aufwendig machen würde. International intensiviert der Klimawandel Ressourcenkonflikte, führt zu Verlust von Nutz- und Siedlungsfläche und belastet staatliche Strukturen.

Das wiederum fördert politische Radikalisierung und internationale Auseinandersetzungen über die Opfersymmetrie bei der Bekämpfung des Klimawandels und schliesslich auch umweltbedingte Migration. Der Klimawandel und das Engagement der Schweiz, um die Klimaerwärmung zu verringern und zu verlangsamen, sowie ihre Konsequenzen zu mildern, fallen in die primäre Zuständigkeit der Umweltpolitik.

Pandemien: Pandemien gefährden unmittelbar die Gesundheit der Bevölkerung und sind
eine wiederkehrende Realität (in den letzten Jahren SARS, Vogelgrippe, Schweinegrippe). Traditionell wird aber die Führung für die Bekämpfung von Pandemien nicht der Sicherheitspolitik, sondern der Gesundheitspolitik zugewiesen.

Daran soll im Interesse von Wirksamkeit und Effizienz festgehalten werden. Pandemien können aber das Funktionieren von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft temporär so stark beeinträchtigen, dass der Einsatz der Armee, des Zivilschutzes oder des Zivildienstes nötig werden könnte.

Oft werden die demografische Entwicklung (Bevölkerungswachstum weltweit und besonders der verglichen mit Europa und Nordamerika disproportional hohe Bevölkerungsanteil junger Menschen und die fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven in vielen Ländern Afrikas und Asiens) und Ressourcenknappheit (Mangel an Nahrung, Wasser und Energie) unter den Bedrohungen oder Gefahren aufgeführt. Beides sind ebenfalls keine direkten sicherheitspolitischen Bedrohungen. Sie können sich indirekt auf die Sicherheit der Schweiz auswirken ­ wobei in beiden Fällen schwierig abzuschätzen ist, inwiefern sich diese Probleme überhaupt zu sicherheitspolitischen 8

Bei Flüchtlingen handelt es sich um eine spezielle Kategorie innerhalb der Migration; sie sind Opfer erzwungener Migration.

5151

Problemen, zumal für die Schweiz, entwickeln könnten. Die demografische Entwicklung wirkt sich, wenn überhaupt, ­ ähnlich wie der Klimawandel ­ via zunehmende Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Radikalisierung und daraus resultierende Emigration auf die Sicherheit der Schweiz aus. Bei der Ressourcenknappheit widerspiegelt der Nahrungs- und Wassermangel zumindest unter den gegenwärtigen klimatischen Bedingungen vor allem Verteilungsungleichheiten, nicht die Ausschöpfung des natürlichen und technischen Potenzials.9 Ähnlich ist es bei der Energie: Der Verbrauch fossiler Energieträger wird zwar global weiter zunehmen; gleichzeitig werden sich aber auch Technologien und Effizienz weiterentwickeln.

Eine Verknappung fossiler Energieträger würde die Schweiz in erster Linie via Preiserhöhungen treffen, die Versorgung des Landes wegen der bestehenden Zahlungskraft hingegen kaum ernsthaft gefährden. Wegen politischer, kriegerischer oder anderweitiger Vorkommnisse in Liefer- oder Transitländern könnten Versorgungsengpässe jedoch auch in der Schweiz jederzeit Realität werden.

3.2.3

Zuordnung zur Sicherheitspolitik

Die folgende Tabelle zeigt, in welchem Mass die eben dargelegten Bedrohungen und Gefahren von der Sicherheitspolitik erfasst werden: Direkte Bedrohungen und Gefahren Natur- und zivilisationsbedingte Katastrophen und Notlagen Versorgungsstörungen in Folge von Konflikten Militärischer Angriff Nötigung mit wirtschaftlichen Mitteln Angriffe auf die Informatik-Infrastruktur Verbotener Nachrichtendienst Terrorismus (politisch motiviert, zivile Akteure) Gewalttätiger Extremismus Organisiertes Verbrechen Gewalt gegen Leib und Leben

9

gehören zum Kernbereich Sicherheitspolitik fallen ab gewissem Ausmass unter Sicherheitspolitik gehört zum Kernbereich Sicherheitspolitik fällt ab gewissem Ausmass unter Sicherheitspolitik fallen ab gewissem Ausmass unter Sicherheitspolitik gehört zum Kernbereich Sicherheitspolitik gehört zum Kernbereich Sicherheitspolitik gehört zum Kernbereich Sicherheitspolitik gehört zum Kernbereich Sicherheitspolitik gehört zum Kernbereich Sicherheitspolitik

Die Vorstellung, dass die Welt die Weltbevölkerung nicht ernähren könne, ist deshalb zumindest derzeit unzutreffend.

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Indirekte Bedrohungen und Gefahren Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen Zerfall staatlicher Strukturen («Failed States») Migrationsprobleme (Politikbereich Ausländerpolitik) Klimawandel (Politikbereich Umweltpolitik) Pandemien (Politikbereich Gesundheitspolitik)

3.3

indirekte Bedrohung; verstärkt Bedrohung durch Terrorismus und militärischen Angriff indirekte Bedrohung; fördert Terrorismus, organisiertes Verbrechen, Proliferation können Armee-, Zivilschutz-, Zivildiensteinsätze nötig machen, öffentliche Sicherheit und diplomatische Beziehungen belasten verursacht Zunahme von Naturkatastrophen und Intensivierung von Konflikten können Armee-, Zivilschutz, Zivildiensteinsätze nötig machen

Verwundbarkeit der Schweiz

Die Frage nach der sicherheitspolitischen Gefährdung der Schweiz kann auch anders angegangen werden; von der Frage ausgehend, wie und wo die Schweiz durch einzelne Bedrohungen oder Gefahren oder eine Kombination derselben besonders empfindlich getroffen werden könnte. Statt um einzelne Bedrohungen oder Gefahren geht es bei dieser Sichtweise um die Anfälligkeit und damit die potenzielle Verwundbarkeit der Schweiz. Ein solcher Ansatz ist nicht grundlegend verschieden von der herkömmlichen Bedrohungs- und Gefahrenanalyse, und er führt auch nicht notwendigerweise zu anderen oder besseren Ergebnissen. Das Aufzeigen von Verwundbarkeiten kann aber helfen, Bedrohungen und Gefahren und deren mögliche Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft besser zu illustrieren ­ dies auch deshalb, weil die herkömmliche Lagebeschreibung unter den derzeitigen Bedingungen, mit einer unübersichtlichen Gemengelage von Bedrohungen und Akteuren, diffus und abstrakt bleiben muss.

Die Verwundbarkeit der Gesellschaft ist im Zuge der Urbanisierung angestiegen und wird weiter zunehmen. Die extremste und weitreichendste Form staatlicher Gefährdung ­ ein militärischer Angriff durch einen anderen Staat ­ hat zwar an Bedeutung verloren; die Möglichkeiten, das Funktionieren von Staaten und ihren Gesellschaft auf andere Weise zu beeinträchtigen, sind gleichzeitig aber grösser und vielfältiger geworden. Der Grund dafür liegt in der fortschreitenden globalen Vernetzung in Wirtschaft und Gesellschaft, vor allem aber in der Technologie. Dies erhöht ­ neben allen Vorzügen ­ auch die Abhängigkeit und Störanfälligkeit.

Das Funktionieren von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft hängt von einer Reihe elementarer Infrastrukturen ab, wie Energie-, Informatik- oder Verkehrsinfrastruktur. Sie gewährleisten den kontinuierlichen Fluss von Informationen, Energie, Waren und Personen. Grossflächige oder anhaltende Störungen und Ausfälle dieser kritischen Infrastrukturen können gravierende Konsequenzen für das Funktionieren von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft haben. Die Aufrechterhaltung, der Schutz und ­ im Fall von Störungen oder Ausfällen ­ die möglichst rasche Instandstellung

5153

kritischer Infrastrukturen sind deshalb zu wichtigen staatlichen Anliegen geworden.10 Es gibt verschiedene Arten von kritischen Infrastrukturen, die gegenüber unterschiedlichen Arten von Einwirkungen besonders empfindlich sind. Es gibt kritische Infrastrukturen, die vor allem gegenüber physischen Einwirkungen, das heisst Anschlägen oder Angriffen mit physischen Mitteln (z.B. durch Terrorismus), anfällig sind. Dazu gehören insbesondere: ­

die gesamte Verkehrsinfrastruktur mit Flughäfen, Bahnhöfen, Bahnlinien, Transversalen, Tunnels und Brücken;

­

die Energieproduktions-, Energiespeicher- und -verteilanlagen wie Kernkraftwerke, Wasserkraftwerke, Staudämme oder Hochspannungsnetze;

­

Telekommunikations- und Sendeanlagen, z.B. von Radio, Fernsehen.

Daneben gibt es kritische Infrastrukturen, die vor allem gegenüber elektronischer Einwirkung, das heisst Hacker- oder Cyber-Angriffen, verletzbar sind ­ dazu gehören: ­

zentrale Rechenzentren und Serversysteme;

­

der elektronische Zahlungsverkehr;

­

zentrale Verkehrssteuerungsanlagen (für Bahn-, Strassen- und Luftverkehr);

­

Elektrizitätsverteilzentren;

­

Telekommunikationsnetze mit Zugriffsmöglichkeiten auf schützenswerte Daten;

­

grosse Logistikzentren (zur Lagerung und Verteilung wichtiger Güter).

Die kritischen Infrastrukturen sind nicht die einzigen Verwundbarkeiten der Schweiz. Es gibt weitere, die ebenso gravierende Konsequenzen haben können und auf die sich die Schweiz und ihre Sicherheitspolitik auch einstellen müssen. Die Schweiz ist, als wirtschaftlich stark vernetztes Land und arm an eigenen Rohstoffen, auf den Zugang zu Rohstoffen und Nahrungsmitteln sowie auf einen freien internationalen Marktzugang generell angewiesen. Sie ist deshalb in besonderem Mass exponiert gegenüber Druck oder Nötigung mit wirtschaftlichen Mitteln. Wird ihr der Zugang zu Rohstoffen, insbesondere zu Energieträgern, oder auch der Zugang zu bedeutenden Import- oder Exportmärkten willentlich und gezielt verweigert, oder ist der Zugang anderweitig ­ als Resultat anderer, nicht direkt mit der Schweiz zusammenhängender Vorgänge ­ über längere Zeit nicht mehr gewährleistet, so kann das die Schweiz, ihre Versorgung und damit ihr wirtschaftliches Wohlergehen erheblich beeinträchtigen.

10

Die Widerstands- und Regenerationsfähigkeit solch kritischer Infrastrukturen wird auch mit dem Begriff der Resilienz umschrieben. Es ist Aufgabe des Staates, diese Resilienz in Zusammenarbeit mit privaten Betreibern zu stärken, um das Funktionieren der kritischen Infrastrukturen im Normalbetrieb wie auch im Fall von Störungen oder Ausfällen sicherzustellen. Dies schliesst nicht nur Massnahmen zum Schutz solcher Infrastrukturen ein, sondern beginnt bereits bei deren Planung, Bau und Alltagsbetrieb. Der Bundesrat hat 2009 in seiner Grundstrategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen dargelegt, dass Staat und Wirtschaft vermehrte Anstrengungen treffen müssen, um die Widerstands- und Regenerationsfähigkeit der kritischen Infrastrukturen zu stärken.

5154

Die Liste potenzieller Verwundbarkeiten liesse sich noch weiter verlängern. Es ist aber kaum möglich, einen abschliessenden und systematischen Überblick über alle denkbaren Verwundbarkeiten zu geben; nicht nur weil dies die Gefahr mit sich brächte, ins Uferlose zu führen und damit der Übersichtlichkeit abträglich wäre, sondern auch, weil dies sicherheitspolitisch möglicherweise gar nicht wünschbar ist.

Der Zweck der obigen Darstellung ist es deshalb lediglich, die ­ unter den derzeitigen Bedingungen ­ besonders ausgeprägten Verwundbarkeiten zu zeigen und damit, in Ergänzung zur herkömmlichen Bedrohungs- und Gefahrendarstellung, ein kompletteres Bild der möglichen Gefährdungen zu vermitteln. Ausserdem gilt, wie bei den Bedrohungen und Gefahren, dass nicht alle Verwundbarkeiten sicherheitspolitischer Natur sind. Es gibt Verwundbarkeiten, deren Wahrscheinlichkeit und Schadenpotenzial ebenfalls erheblich sind, die aber in die Verantwortung anderer Politikbereiche fallen. Das gilt etwa für die wirtschaftliche Verwundbarkeit, wie sie sich bei der Finanz- und Bankenkrise manifestiert hat, oder für die gesundheitliche Verwundbarkeit bei Pandemien (Schweinegrippe, SARS). In solchen Fällen hat die Sicherheitspolitik normalerweise keine Rolle zu spielen; sie hat nicht die nötigen Instrumente dazu. Die Sicherheitspolitik hat sich primär um diejenigen Verwundbarkeiten zu kümmern, die willentlich und gezielt zum Schaden der Schweiz ausgenützt werden oder bedingt sind durch mögliche Natur- und Zivilisationskatastrophen.

3.4

Regionales Umfeld und sicherheitspolitisch bedeutsame Organisationen

Die Schweiz liegt in einem sicherheitspolitisch günstigen Umfeld: Sie ist umgeben von Nachbarstaaten, von denen keine Anwendung militärischer Gewalt droht ­ auch wenn in einzelnen Sachfragen Interessendivergenzen bestehen können ­ und mit denen die Zusammenarbeit auch im sicherheitspolitischen Bereich eng ist. Daran anschliessend folgt ein breiter, noch im Wachsen begriffener Gürtel demokratischer Staaten, die wirtschaftlich und politisch stark integriert sind. Die Lage mitten in einer der stabilsten Regionen der Welt ist ein wesentlicher positiver Faktor für die Sicherheit der Schweiz.

Die beiden sicherheitspolitisch wichtigsten Organisationen Europas, die Europäische Union und die Nato, haben sich den letzten zehn Jahren erheblich entwickelt.

Das Gesamtbild ist von Bewegungen in verschiedene und zum Teil widersprüchliche Richtungen gekennzeichnet.

5155

Zugehörigkeit europäischer Staaten zur EU und zur Nato

Europäische Union

Europäische Mitglieder der Nato

Mehr Gewicht, weniger Einigkeit: ­

Einerseits sind mehr und mehr Staaten Europas Mitglieder der Europäischen Union und der Nato geworden. In den letzten 10 Jahren sind der EU und Nato je 12 Staaten beigetreten; die EU umfasst nun 27, die Nato 28. Ein grosser Teil der Länder des ehemaligen Ostblocks ist nun Mitglied dieser Organisationen, und weitere Staaten in Ost- und Südosteuropa sowie im Südkaukasus erwägen einen Beitritt oder sind bereits Kandidaten. Die Erweiterungen stärken das Gewicht von EU und Nato.

­

Anderseits haben diese Erweiterungen die Geschlossenheit der Organisationen geschwächt. Im Fall der EU hat zudem die Vertiefung der Integration das Potenzial für Divergenzen erhöht. Zahlreichere und vielfältigere Anliegen sind zu berücksichtigen, die Entscheidfindung ist aufwendiger geworden. Der Irak-Krieg hat dies für die Nato mit der Einteilung der NatoMitglieder in ein «altes» und ein «neues» Europa deutlich gemacht. Auch bei der EU ist festzustellen, dass z.B. bezüglich der Politik gegenüber Russland erhebliche Meinungsunterschiede bestehen.

Mehr Sicherheit im Kern, weniger an der Peripherie: ­

Einerseits stärkt die Integrations- und Erweiterungspolitik von EU und Nato insgesamt die Sicherheit und Stabilität in Europa und für Europa. Die Integration und damit auch die gegenseitige Abhängigkeit sind so weit fortgeschritten, dass mit einem Krieg zwischen Staaten innerhalb der EU und der Nato nicht mehr zu rechnen ist. Ein grosser Teil Europas ist damit gegenüber Spannungen und Konflikten, die in seinem Innern entstehen, widerstandsfähiger denn je.

­

Anderseits sind die EU und die Nato mit der Aufnahme neuer Länder Regionen näher gerückt, die durch Instabilität, ungelöste Konflikte, religiösen Extremismus, Unterentwicklung, demografische Ungleichgewichte, Korruption, Terrorismus und Proliferationsrisiken charakterisiert sind. Die Folgen wirken auf Europa selbst zurück, durch Migrationsströme und organisierte Kriminalität. Aber Einsätze in Krisenregionen können auch das

5156

Risiko von Anschlägen in Europa erhöhen. Die Peripherien von Nato und EU sind damit krisen- und konfliktanfälliger als früher.

Theoretisch verfügbare militärische Fähigkeiten, reale Einschränkungen: ­

Einerseits sind die Fähigkeiten der EU und der Nato gewachsen. Beide haben ihre militärischen und ­ im Fall der EU auch zivilen ­ Instrumente für Interventionen in Krisengebieten erweitert und mehrere Friedens- und Wiederaufbauoperationen lanciert. Die Armeen vieler Staaten Europas werden auf kleinere, flexiblere und über weite Distanzen verlegbare Einsatzkräfte ausgerichtet, zulasten der Territorialverteidigung gegen einen konventionellen Angreifer.

­

Anderseits hat sich gezeigt, dass die EU nach wie vor nur kleinere militärische Einsätze führen kann und dass einzelne Staaten nationale Interessen und geschichtlich gewachsene Prioritäten haben, die nicht von allen EU-Mitgliedern geteilt werden. In der Nato sind grosse Mitgliedstaaten unilateral vorgegangen und haben ­ zumindest solange der Einsatz auf Kurs zu sein schien ­ auf «Koalitionen von Willigen» gesetzt, um sich aufwendige Entscheidungsprozesse in der Allianz zu ersparen.

Vom Zivilen zum Militärischen, vom Militärischen zum Zivilen: ­

Einerseits sind die EU und die Nato bezüglich Ursprung und Entwicklung während der ersten Jahrzehnte ihrer Existenz fest in separaten Sachbereichen verankert. Die EU hat ihren Ursprung im wirtschaftlichen Bereich, obwohl sie von Anfang an auch als grosses europäisches Friedensprojekt konzipiert war. Die Nato wurde als Verteidigungsbündnis der USA, Kanada und westeuropäischer Staaten gegen die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion gegründet.

­

Anderseits ist festzustellen, dass die EU sich zunehmend in der Sicherheitspolitik engagiert. Sie führt friedensfördernde Einsätze, und die polizeiliche, gerichtliche und nachrichtendienstliche Kooperation im Innern wird ausgebaut. Die Nato hat in einem ersten Schritt in den 1990er Jahren die Führung von Friedensförderungseinsätzen unter Mandat des UNO-Sicherheitsrates übernommen, und sie beschäftigt sich nun zunehmend auch mit nichtmilitärischen Bedrohungen.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die EU und die Nato die sicherheitspolitisch wichtigsten Organisationen in Europa sind und dass ihr Engagement auch die Sicherheit der Schweiz stärkt. Während des Kalten Krieges stand in dieser Hinsicht die Nato im Vordergrund. Gegenwärtig ist es jedoch immer stärker die EU. Diese hat sich seit 2003 zu einer immer wichtigeren Akteurin auf dem Gebiet der Friedensförderung entwickelt. Sie hat inzwischen zahlreiche zivile und militärische Friedensförderungseinsätze inner- und ausserhalb Europas durchgeführt. Die Schweiz beteiligt(e) sich an mehreren dieser Operationen. Bisher schloss die Schweiz jeweils für die Teilnahme an jedem dieser Friedensförderungseinsätze ein spezielles Abkommen mit der EU ab. Ein Rahmenabkommen für die Teilnahme an solchen Einsätzen könnte diese speziellen Einzelabkommen ersetzen. Ein solches Rahmenabkommen würde die grundsätzlichen Modalitäten regeln, die für alle künftigen Teilnahmen der Schweiz an zivilen und militärischen Friedensförderungseinsätzen der EU gelten.

5157

Für die Zusammenarbeit mit der Nato und ihren Mitgliedstaaten besteht ein spezielles Gefäss: die Partnerschaft für den Frieden. Sie wurde 1994 lanciert, um einen Rahmen für Zusammenarbeit und Konsultationen zwischen der Nato, ihren Mitgliedern und Staaten, die nicht der Allianz angehören, zu schaffen. Die Partnerschaft hat dazu beigetragen, die Fähigkeiten zur Zusammenarbeit in der militärischen Friedensförderung zu verbessern, und sie hat den sicherheitspolitischen und militärischen Wandel in vielen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas gefördert. Von den ungefähr 30 Nicht-Nato-Staaten, die sich an der Partnerschaft beteiligt haben, sind inzwischen rund die Hälfte der Allianz beigetreten. Dies hat ­ zumindest aus Sicht der Nato ­ die Bedeutung der Partnerschaft verringert, zumal für die Beziehungen zwischen der Nato und Russland bzw. der Ukraine getrennte Gremien bestehen. Die Schweiz nimmt seit 1996 an der Partnerschaft für den Frieden teil und hat von Anfang an deutlich gemacht, dass das für sie keine Vorstufe zu einem Nato-Beitritt ist. Diese Beurteilung hat weiterhin Gültigkeit: Ein Beitritt der Schweiz zur Nato steht nicht zur Diskussion.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat angesichts der EU- und Nato-Erweiterung an Bedeutung verloren. Die OSZE hat zwar eine Rolle in gewissen Nischenbereichen, wie der Entsendung von demokratischen Aufbau- und Beobachtermissionen oder der Wahlbeobachtung, behalten und ist in gewissen Konfliktregionen nach wie vor präsent. Für die Sicherheit Europas aber ist die OSZE weniger wichtig als vor zehn Jahren.

Auf globaler Ebene sind die Vereinten Nationen die wichtigste sicherheitspolitische Organisation, und nur ihr Sicherheitsrat kann die Anwendung militärischer Gewalt rechtfertigen, die über Selbstverteidigung hinausgeht. Der Sicherheitsrat ist aber in wichtigen Fragen, welche die Interessen der Vetomächte betreffen, oft handlungsunfähig. Staaten wie Russland und China betreiben eine stärkere Interessenpolitik, und die Vereinigten Staaten haben das System der kollektiven Sicherheit durch unilaterales Vorgehen ohne Mandat des Sicherheitsrates geschwächt. Die Vereinten Nationen bleiben aber nach wie vor die zentrale Organisation für internationale Sicherheit und Frieden, wie auch für humanitäre Aktionen und Entwicklungszusammenarbeit;
dies schon allein deshalb, weil es keine Alternative gibt. Die UNO und damit alle Mitgliedstaaten bemühen sich um den Dialog und die Prävention von Krisen, um Mediation und die Gewährleistung der guten Dienste bei Konflikten. Der ersten UNO-Friedensoperation 1948 sind über 60 weitere gefolgt. Heute stehen weltweit über 100 000 Personen, verteilt auf über 15 Operationen, im Einsatz. Für die Schweiz ist die UNO auch deshalb besonders wichtig, weil die Schweiz hier im Gegensatz zu EU und Nato Mitglied ist und ihre Anliegen vertritt und weil sie ein starkes Interesse daran hat, dass in den internationalen Beziehungen das Recht ­ und nicht militärische oder wirtschaftliche Macht ­ bestimmend ist.

4

Strategie

4.1

Grundsätzliche Ausrichtung

Die sicherheitspolitische Strategie muss drei Grundbedingungen erfüllen: Sie muss auf die bestehenden und sich abzeichnenden Bedrohungen und Gefahren ausgerichtet sein und gegenüber ihnen wirksam sein, sie muss mit den Ressourcen der Schweiz (bzw. dem von den politischen Behörden beschlossenen Ressourcenansatz) realisierbar sein, und sie soll auf einem breiten Konsens basieren.

5158

Die sicherheitspolitische Strategie eines Staates sollte zudem von Kontinuität gekennzeichnet sein, solange nicht eine drastische Veränderung des Umfeldes oder ein einschneidendes Ereignis einen Kurswechsel verlangen. Die Schweiz hat keinen Anlass für eine radikale Abkehr von den Grundlinien ihrer bisherigen Sicherheitspolitik, und innerhalb der verfügbaren Ressourcen besteht auch keine angesichts der Bedrohungen verantwortbare radikale Alternative. Es ist aber durchaus angebracht, im Lichte der Veränderungen der vergangenen zehn Jahre Kurskorrekturen vorzunehmen.

Die Strategie kann folgendermassen umschrieben werden: Es geht darum, mit einem effizienten und wirksamen Zusammenspiel der sicherheitspolitischen Mittel von Bund, Kantonen und Gemeinden einen Sicherheitsverbund Schweiz zu bilden und mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten, um bestehenden und für die Zukunft bereits erkennbaren oder sich abzeichnenden Bedrohungen und Gefahren vorzubeugen, sie abzuwehren und zu bewältigen.

Dieser Ansatz reflektiert den Föderalismus, die Neutralität sowie das Bemühen, Sicherheit aus eigener Kraft zu gewährleisten, ebenso wie die Erkenntnis, dass manche Bedrohungen und Gefahren nur in Zusammenarbeit wirksam und effizient zu bewältigen sind. Zusammenarbeit ­ im Innern und mit anderen Staaten ­ ist zur Schaffung und Gewährleistung von Sicherheit unverzichtbar. Sie darf aber nicht dazu verleiten, in den eigenen Anstrengungen nachzulassen.

4.2

Sicherheitsbereiche und Kernaufgaben

Bedrohungen und Gefahren halten sich weder an territoriale noch an organisatorische Grenzen. Eine starre Trennung in innere und äussere Sicherheit wäre weder für das Verständnis der Bedrohungen und Gefahren noch für deren Bewältigung in einem arbeitsteiligen, koordinierten und vernetzten Ansatz hilfreich. Eine andere Einteilung ­ in vier Sicherheitsbereiche ­ ist nützlicher, um die Zuordnung von Aufgaben und Zuständigkeiten zu klären und um Fähigkeiten und Kapazitäten der Partner zur Prävention und Bewältigung von Ereignissen zu verbessern, aufeinander abzustimmen oder neu zu entwickeln.

Sicherheitsbereiche und Kernaufgaben11 Sicherheitsbereich

Kernaufgaben

a. Polizeiliche Gefahrenabwehr, Staatsschutz und Strafverfolgung

­ Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ­ Schutz der demokratischen rechtlichen Ordnung ­ völkerrechtliche Schutzaufgaben ­ Schutz kritischer Infrastruktur ­ Wahrung der Lufthoheit

11

Eine erweiterte Tabelle, die auch zeigt, welche Instrumente für welchen Sicherheitsbereich prioritär eingesetzt werden, ist im Anhang 1 dieses Berichts enthalten.

5159

Sicherheitsbereich

Kernaufgaben

b. Vorbeugung, Vorsorge und Bewältigung von natur- und zivilisationsbedingten Katastrophen und Notlagen

­ Vorbeugende und vorsorgliche Massnahmen ­ Warnung und Alarmierung von Behörden und Bevölkerung ­ Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen ­ Rettung, Hilfeleistung und erste Instandstellung der Basis-Infrastruktur ­ Sicherstellen des Minimalbetriebs kritischer Infrastrukturen ­ Sicherstellung der Versorgung mit strategischen Gütern

c. Abhalten und Abwehr eines militärischen Angriffs

­ Abhalten u. Abwehr eines militärischen Angriffs ­ Verteidigung des Luftraums ­ Wiederherstellen der territorialer Integrität

d. Wahrung der Interessen der Schweiz im Ausland und Beiträge zum internationalen Krisenmanagement

­ Wahrung der Interessen der Schweiz ­ Schutz von Schweizer Staatsangehörigen im Ausland ­ Humanitäre Hilfe bei Kriegen und Katastrophen ­ Friedensfördernde und vertrauensbildende Massnahmen

Die Kantone und Gemeinden sind primär für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit im Alltag und für die Prävention und Bewältigung von Katastrophen sowie anderen Notlagen zuständig (a, b). Der Bund nimmt Aufgaben wahr, welche die Sicherheit der Schweiz und ihrer Institutionen als Ganzes oder im Ausland betreffen (c, d). Zusätzlich übernimmt er einzelne Aufgaben in den Bereichen a und b und unterstützt die Kantone subsidiär, d.h. wenn deren Mittel nicht genügen. Es sind aber auch Ereignisse vorstellbar, zu deren Bewältigung die Federführung zwischen Bund und Kanton erst im konkreten Fall bestimmt und dem dafür am besten geeigneten Partner zugewiesen würde. Die Exekutiven von Bund und Kantonen sind sich bewusst, dass sie trotz aufgeteilter Kompetenzen eine gemeinsame politische Verantwortung haben: Sicherheitspolitik ist Sache des Bundes und der Kantone.

4.3

Hauptkomponenten der Strategie

Die beiden Hauptkomponenten zur Umsetzung der sicherheitspolitischen Strategie der Schweiz sind wie bis anhin die Zusammenarbeit von Bund, Kantonen, Gemeinden und Dritten innerhalb der Schweiz und mit dem grenznahen Ausland12 sowie die Zusammenarbeit mit anderen Staaten und internationalen Organisationen. Die bisherige Strategie Sicherheit durch Kooperation gilt somit weiterhin als Grundstrategie der schweizerischen Sicherheitspolitik.

12

Mit dem grenznahen Ausland sind an die Schweiz angrenzende Regionen der Nachbarländer gemeint, mit denen oft Vereinbarungen zur gegenseitigen Unterstützung z.B. bei Katastrophen bestehen.

5160

4.3.1

Zusammenarbeit im Inland: Sicherheitsverbund Schweiz

Bund und Kantone machten bei der Durchführung von sicherheitspolitisch relevanten Grossanlässen13 und der Bewältigung von Katastrophen und Notlagen14 die Erfahrung, dass kohärente gemeinsame Lösungen nötig sind und in manchen Fällen auch internationale Unterstützung. Sie wollen das Prinzip der vernetzten Sicherheit innerhalb der Schweiz und mit dem grenznahen Ausland künftig in Form des Sicherheitsverbunds Schweiz (SVS) umsetzen.

Der SVS vereinigt und koordiniert die Leistungen aller nationalen Sicherheitsakteure (im Einzelfall auch Unterstützung aus dem Ausland), sodass die Schweiz flexibel, umfassend, rechtzeitig und wirkungsvoll auf sicherheitspolitische Bedrohungen und Gefahren in der Schweiz und im grenznahen Ausland reagieren kann.

Damit soll das im Sicherheitspolitischen Bericht 2000 (SIPOL B 2000) als umfassende flexible Sicherheitskooperation im Inland skizzierte und als Nationale Sicherheitskooperation in Teilen ausgearbeitete Konzept weiterentwickelt und realisiert werden.

4.3.1.1

Partner im Sicherheitsverbund Schweiz

Hauptpartner im SVS sind der Bund und die Kantone mit ihren Mitteln. Sie tragen die politische Einsatzverantwortung und verfügen über die für ihren Aufgabenbereich nötigen Mittel, Führungsorgane und Führungsinfrastrukturen. Weitere Partner sind die Gemeinden, insbesondere die grossen Städte. Dazu kommen private Dienstleistungserbringer15 und Behörden des benachbarten Auslandes, basierend auf bilateralen Staatsverträgen.

Die Kantone sind zusammen mit den Gemeinden primär für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Alltag, dann aber auch für die Bewältigung von Gewaltakten, Katastrophen und anderen Notlagen zuständig. Sie sind in der Regel als erste gefordert, sei dies im Rahmen der Selbst- und Nachbarhilfe oder der Konkordate. Sie werden bei Bedarf durch den Bund unterstützt.16 Bei Ereignissen, die das alltägliche Mass übersteigen, sind die Kantone je nach Art und Dauer des Ereignisses auf Mittel des Bundes, insbesondere der Armee, oder Dritter angewiesen. Mittel des Bundes kommen (ebenso wie Unterstützung aus dem Ausland) auf Begehren der Kantone und nach dem Subsidiaritätsprinzip zum Einsatz.17 Die Kantone tragen die Einsatzverantwortung. Die Führungsverantwortung wird situativ 13 14 15

16

17

WEF in Davos, G-8-Treffen 2003 im Genferseegebiet, EURO 2008.

Unwetter 1999, 2005 und 2007, Stürme Lothar und Vivian, indirekt Pandemien (SARS, Vogelgrippe, H1N1).

Private Leistungserbringer, die Aufgaben der öffentlichen Sicherheit und beim Betrieb kritischer Infrastruktur (z.B. Informations- und Kommunikationstechnologie, Energieversorgung) übernehmen, werfen Fragen auf, insbesondere dann, wenn es darum geht, öffentliche gegen private und kommerzielle Interessen abzuwägen.

Z.B. von den Bundesämtern für Gesundheit, Polizei, Bevölkerungsschutz, Veterinärwesen oder Umwelt, dem Nachrichtendienst des Bundes dem Koordinierten Sanitätsdienst oder der Vollzugsstelle für den Zivildienst.

Subsidiarität bedeutet, dass Aufgaben auf der tiefstmöglichen staatlichen Ebene wahrgenommen werden und die übergeordnete Ebene nur unterstützt oder eingreift, wenn die untere Ebene ihre Aufgaben in personeller, materieller oder zeitlicher Hinsicht allein nicht zu bewältigen vermag.

5161

durch die beteiligten Partner festgelegt. Bei der Bewältigung grenzüberschreitender Bedrohungen und Gefahren arbeiten die Grenzkantone, gestützt auf ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen, mit ihren ausländischen Nachbarn regional zusammen.

Der Bund ist für die Abhaltung und Abwehr militärischer Bedrohungen, die Wahrung der Interessen der Schweiz gegenüber dem Ausland und für Beiträge zum internationalen Krisenmanagement zuständig. Im Innern hat er folgende Aufgaben: Schutz der Landesgrenzen, Staatsschutz auf gesamtstaatlicher Ebene (Wahrung der inneren Sicherheit, Massnahmen gestützt auf Art. 52 der Bundesverfassung18), Schutz der Behörden, Einrichtungen und Institutionen des Bundes sowie völkerrechtliche Schutzpflichten. Er ist auch für die Ergreifung von Massnahmen bei Ereignissen von gesamtstaatlichem Ausmass zuständig wie bei erhöhter Radioaktivität, Epidemien (Mensch und Tier), Talsperrenbrüchen und Satellitenabstürzen. Für weitere Fälle (z.B. Angriffe via und auf die Informatik- und Kommunikationsinfrastruktur, Stromausfall), die nationale oder gar internationale Auswirkungen haben können, werden die Zuständigkeiten und die Koordination im Ereignisfall geregelt.

Es ist Aufgabe des Bundes und der Kantone, gemeinsame Strategien und Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Einzubeziehen sind dabei auch die grossen Städte19 mit ihren Agglomerationen, einerseits wegen der hohen Bevölkerungsdichte und der Konzentration von kritischen Infrastrukturen, anderseits wegen ihrer Mittel zur Ereignisbewältigung. Darüber hinaus sind auch Dritte einzubeziehen, deren Leistungen für das Funktionieren der Zivilgesellschaft und des Staates wichtig sind.

4.3.1.2

Verantwortlichkeiten und Kompetenzen im Sicherheitsverbund Schweiz

Neben den Fähigkeiten und Mitteln sind für die Wirksamkeit des SVS die klare Zuordnung von Aufgaben und die Regelung der Einsatz- und Führungsverantwortung im Ereignisfall entscheidend.

Der SVS stellt die verfassungsrechtliche Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen nicht in Frage. Damit Bund und Kantone zur Verhütung und Bewältigung sicherheitspolitischer Bedrohungen und Gefahren gemeinsame Strategien und Lösungen entwickeln und die in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich liegenden Massnahmen definieren und umsetzen können, soll die Koordination zwischen dem Bund und den Kantonen sowie den Kantonen untereinander verbessert werden.

Dafür braucht es auf nationaler Ebene einen Konsultations- und Koordinationsmechanismus, der es Bund und Kantonen erleichtert, Entscheide und Massnahmen auf der strategischen und auf der operativen Stufe horizontal und vertikal aufeinander abzustimmen.

18

19

Gemäss Artikel 52 Absatz 2 der Bundesverfassung kann eine Bundesintervention erfolgen: a) auf Verlangen eines Kantons; b) auf selbstständige Initiative des Bundes (wenn der Kanton überfordert oder die nationale Sicherheit gefährdet ist); c) im Falle der Landesverteidigung. Die Bundesbehörden handeln an Stelle der kantonalen Behörden und übernehmen mit ihren Mitteln deren Staatsgewalt.

Die Stadt Zürich verfügt beispielsweise über eines der grössten Polizeikorps und mit «Schutz und Rettung» über die grösste kommunale Rettungsorganisation (Feuerwehr, Rettungsdienst und Zivilschutz) der Schweiz.

5162

Der SVS kommt vor, in und nach sicherheitspolitisch relevanten Ereignissen zum Tragen. Er schafft keine zusätzlichen Hierarchiestufen, und die Verantwortlichkeiten werden dort belassen, wo sie nach geltendem Recht angesiedelt sind. Die Konzeption des SVS geht von der Annahme aus, dass das Regierungssystem, der föderale Staatsaufbau und das politische Selbstverständnis auch in Konfliktsituationen und Notlagen nicht grundlegend verändert werden. Der Bund reisst auch in der Krise nicht alle Verantwortungen und Zuständigkeiten an sich, sondern arbeitet weiterhin mit den verschiedenen Trägern hoheitlicher Funktionen arbeitsteilig und kooperativ zusammen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Bund, Kantonen und den ihnen nachgeordneten Körperschaften.

4.3.1.3

Ausbildung im Sicherheitsverbund Schweiz

Rückblickend stellt der Bundesrat in Übereinstimmung mit den zuständigen kantonalen Regierungskonferenzen fest, dass der im SIPOL B 2000 postulierte Verbundgedanke im Innern noch nicht genügend umgesetzt und insbesondere in der Ausbildung zu wenig beachtet wurde.

Die Umsetzung des SVS soll durch gemeinsame Ausbildung unterstützt werden. Das sicherheitspolitische Krisenmanagement und die Zusammenarbeit aller Partner sind auf allen Ebenen des Verbundes zu schulen. Die Kenntnisse der jeweiligen Führungsprozesse und -standards sowie eine einheitliche Terminologie sollen die Zusammenarbeit im Ereignisfall erleichtern. Es sind regelmässig Übungen mit sicherheitspolitisch relevanten Themen durchzuführen. Bund und Kantone bilden dafür ­ sofern die Übung dies rechtfertigt ­ gemeinsame Projekt- und Übungsleitungen.

4.3.2

Zusammenarbeit mit anderen Staaten und internationalen Organisationen

Die Schweiz ist in verschiedenster Hinsicht und selbst für ein hochentwickeltes kleines Land überdurchschnittlich stark mit der Welt jenseits ihrer Grenzen vernetzt.

Sie engagiert sich auch aussen-, sicherheits-, wirtschafts- und entwicklungspolitisch, um zu einer besseren Welt beizutragen, als Ausdruck ihrer Werte und als Investition in ihre eigene künftige Sicherheit und Prosperität.

Die Zusammenarbeit soll ermöglichen, Bedrohungen und Gefahren wirksamer oder effizienter entgegenzuwirken, und aussenpolitischen Interessen dienlich sein. Internationale Zusammenarbeit ist insbesondere dann relevant, wenn Täter oder Gegner mobil sind (d.h. sich einem Zugriff durch Ausweichen in andere Länder entziehen können), wenn sie aus grosser Distanz operieren (und damit in der Schweiz gar nicht greifbar wären), wenn die Dimension eines sicherheitspolitischen Problems die Möglichkeiten eines einzelnen Staates überfordert, wenn schweizerische Interessen im Ausland tangiert sind oder wenn technische Vorkehrungen im Alleingang unbezahlbar oder ineffizient wären. Letzteres träfe z.B. für eine allfällige Raketenabwehr zu.

Die Schweiz wird ihre dauernde und bewaffnete Neutralität beibehalten. Die Neutralität ist kein Hindernis für eine umfassende sicherheits- und verteidigungspoltische Kooperation. Die Ausnahme bildet die Mitgliedschaft in einer Militärallianz, 5163

namentlich der Nato. Solange die Schweiz an der Neutralität festhält, ist ein Beitritt zu einer Militärallianz ausgeschlossen.

Wo es ihren Sicherheitsinteressen dient, arbeitet die Schweiz auch im militärischen Bereich mit ausländischen Partnern zusammen. Aufgrund des zunehmend grenzüberschreitenden Charakters der Bedrohungen drängt sich eine vermehrte Beteiligung der Schweiz an der internationalen Gewährleistung von Sicherheit auf. Es ist unumstritten, dass die Armee Beiträge zur Unterstützung humanitärer Hilfeleistungen im In- und Ausland leisten soll.20 Auch bei der Rüstungsbeschaffung, der Ausbildung der Kader und der Luftwaffe ist Zusammenarbeit bewährte Praxis. Friedensförderungseinsätze sind naturgemäss international, da sie in einem anderen Land stattfinden und in der Regel im Rahmen einer Mission erfolgen, an der viele Länder teilnehmen und die entweder von der UNO, der Nato oder der EU geführt wird. Die Schweiz leistet ­ sofern ein Mandat der UNO oder OSZE vorliegt ­ dort Beiträge an militärische Friedensförderungseinsätze, wo es einen nachvollziehbaren Bezug zur eigenen Sicherheit gibt und sie mit ihren Fähigkeiten einen Beitrag zur Stabilisierung von Konfliktregionen leisten kann. In nicht-militärischen Bereichen der Sicherheitspolitik ist die Zusammenarbeit ausgeprägter als bei der Armee. Das gilt insbesondere für die Polizei und die Zollverwaltung, die aufgrund der SchengenAssoziierungsabkommen die operative Zusammenarbeit mit den anderen SchengenStaaten erheblich intensiviert haben. Auch für den Nachrichtendienst ist die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Diensten anderer Staaten bedeutsam. Dasselbe gilt für die Wirtschaftspolitik und natürlich die Aussenpolitik, soweit sie zur Erfüllung sicherheitspolitischer Aufgaben beitragen.21 Die Schweiz nutzt verschiedene Möglichkeiten für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit. Bei der bilateralen Zusammenarbeit geht es darum, mit einzelnen Staaten, die aus Sicht der Schweiz wichtig sind oder ähnlich gelagerte Interessen haben, in ausgewählten Bereichen zu kooperieren. Für die Schweiz stehen dabei die Staaten ihres Umfelds im Vordergrund. Die Zusammenarbeit der Armee mit den Nachbarstaaten ist etabliert, so etwa bei der militärischen Ausbildung oder im Luftpolizeidienst. Für die gegenseitige Hilfe des Bevölkerungsschutzes im Fall von
Katastrophen bestehen Abkommen mit allen Nachbarstaaten. Mit dem schweizerisch-deutschen Polizeizusammenarbeitsvertrag wurde ein Vertragswerk geschaffen, das Vorbild für die Zusammenarbeit mit anderen Nachbarn ist und deutlich über die Möglichkeiten multilateraler Verträge, wie beispielsweise der Schengen-Assoziierungsabkommen, hinausgeht.

Bei der multilateralen Zusammenarbeit steht für die Schweiz die Kooperation im Rahmen der UNO, mit der EU und mit der Nato (in der Partnerschaft für den Frieden) im Vordergrund. Während die Schweiz UNO-Mitglied ist und sich vor allem via Aussenpolitik im gesamten sicherheitspolitischen Spektrum der Organisation engagiert (zivile Friedensförderung, Abrüstung, Militärbeobachtung, Embargomassnahmen etc.), arbeitete sie bisher mit der EU und der Nato auf einzelne Themen bezogen zusammen. Es liegt im Interesse der Schweiz, sich künftig insbesondere verstärkt an der gemeinsamen Sicherheitsproduktion im europäischen Rahmen zu beteiligen. Mit ihrer breiten Palette an zivilen und militärischen Instrumenten ver20

21

Für die Unterstützung humanitärer Hilfeleistungen im Ausland besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen der Humanitären Hilfe des Bundes, mit dem Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe, und der Armee.

So sind zum Beispiel im Fall der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe autonome Optionen eine seltene Ausnahme.

5164

folgt die EU eine umfassende Sicherheitspolitik, die den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Schweizer Sicherheitspolitik durchaus entspricht. Die weitaus bedeutendste multilaterale Zusammenarbeit ist die Mitwirkung der Schweiz beim Abkommen von Schengen. Sie ist integraler Teil eines EU-weiten polizeilichen Kontroll- und Fahndungssystems, das sich laufend weiterentwickelt.

Daneben nimmt die Schweiz auch an zivilen und militärischen Friedensförderungseinsätzen teil, die von der EU oder der Nato geleitet werden, und arbeitet in ausgewählten Bereichen der Rüstungsbeschaffung zusammen. Die Zusammenarbeit in der Partnerschaft für den Frieden erfolgt so, dass jeder Staat selber entscheidet, in welchen Themen und in welchem Mass er mit den rund 50 teilnehmenden Staaten zusammenarbeiten will. Die Schweiz führt ihre Teilnahme an der Partnerschaft im bisherigen Rahmen weiter: Sie beteiligt sich am regelmässigen Dialog über sicherheitspolitische Probleme im euro-atlantischen Raum, sie unterstützt Projekte zur Demokratisierung und Modernisierung von Sicherheitskräften in den Ländern Südost- und Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens, und sie nimmt an Übungen und Kursen teil, um die eigenen Fähigkeiten zur Teilnahme an Einsätzen zur Unterstützung humanitärer Hilfeleistung und zur Friedensförderung zu verbessern.

5

Sicherheitspolitische Instrumente

Sicherheitspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Letztlich tragen alle politischen Bereiche in unterschiedlicher Intensität zur Sicherheit bei und sind für Massnahmen in ihrem Bereich verantwortlich. Wirkungsvoll können die sicherheitspolitischen Instrumente Bedrohungen und Gefahren aber meist nur vernetzt bekämpfen. Die Sicherheitspolitik muss deshalb neben der Weiterentwicklung der einzelnen Instrumente auch dafür besorgt sein, deren effizientes Zusammenwirken zu gewährleisten und zu optimieren. Das ist das Anliegen des Sicherheitsverbundes Schweiz.

5.1

Aussenpolitik

Die Aussenpolitik ist selber einer der wesentlichen Politikbereiche eines Staates, genauso wie die Sicherheitspolitik. Aussen- und Sicherheitspolitik haben enge Querverbindungen und Überlappungen: Die Aussenpolitik liefert wichtige Beiträge für eine wirksame Sicherheitspolitik, genauso wie die Sicherheitspolitik Beiträge an die Aussenpolitik leistet. Ein Teil der Aussenpolitik ist Sicherheitspolitik, und ein Teil der Sicherheitspolitik ist Aussenpolitik.

Mit der Zunahme nicht-militärischer, in vielen Fällen grenzüberschreitender Bedrohungen und Gefahren hat die Bedeutung der Aussenpolitik in der Sicherheitspolitik zugenommen. Die Aussenpolitik verfügt über verschiedene Instrumente zur Förderung von Stabilität, Frieden und Sicherheit in Konflikt- und Krisenregionen und damit auch zur Stärkung der Sicherheit der Schweiz in einer globalisierten und vernetzten Welt.

5165

5.1.1

Zivile Friedensförderung

Die Art der Konfliktaustragung hat sich verändert. Es wird immer schwieriger, zwischen staatlichen und nichtstaatlichen bewaffneten Akteuren zu unterscheiden.

Bei Konflikten stehen sich immer seltener die regulären Streitkräfte zweier oder mehrerer Staaten gegenüber, wie es in herkömmlichen Kriegen der Fall war. Lange Zeit stand die Sicherheit des Staates, seiner Grenzen und seiner Institutionen im Vordergrund. Heute ist in Konflikten immer häufiger der Schutz des Individuums vordringlich. Dies kommt im Konzept der menschlichen Sicherheit zum Ausdruck.

Dabei stehen der Schutz und die Unversehrtheit des Menschen im Zentrum, und sowohl die Staaten als auch die nichtstaatlichen bewaffneten Akteure sollen dazu gebracht werden, sich an Grundregeln zu halten. Dazu gehören etwa die Einhaltung der Genfer Konventionen und gewisser rechtsstaatlicher Prinzipien (bezüglich Streitkräften, Polizei- und Justizwesen) oder das Verbot von Personenminen.

Das friedliche Zusammenleben der Völker ist eines von fünf Zielen der schweizerischen Aussenpolitik. Diese unterstützt deshalb Konfliktparteien bei der Friedensvermittlung und -konsolidierung und engagiert sich in der Prävention bewaffneter Gewalt. Konkret umfasst die zivile Friedensförderung: ­

gute Dienste, das heisst, sie stellt Fachpersonen für Mediationen und Vermittlungen sowie Logistik für Verhandlungen in der Schweiz oder vor Ort zur Verfügung;

­

Programme zur zivilen Konfliktbearbeitung, bei denen es darum geht, das Verständnis für Menschenrechte und Demokratie zu fördern, Antipersonenminen zu entschärfen, Soldaten zu resozialisieren oder die Konfliktvergangenheit zu bewältigen;

­

die Entsendung von Fachleuten, beispielsweise zur Beobachtung von Wahlen oder zum Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen (Verfassungsfragen, Polizeireform);

­

die Lancierung diplomatischer Initiativen, etwa zum Verbot von Antipersonenminen oder zur Kontrolle von Kleinwaffen.

Für Einsätze in der Wahlbeobachtung, der Polizeiberatung oder für Verfassungsfragen und Rechtsstaatlichkeit kann die Schweiz auf einen Expertenpool für zivile Friedensförderung zurückgreifen. Er umfasst rund 600 Fachleute, die freiwillig für befristete Einsätze in Konfliktregionen zur Verfügung stehen. Weitere Instrumente, die im Auftrag der Schweiz Beiträge an die zivile Friedensförderung leisten, sind die von der Schweiz gegründeten und massgeblich finanzierten Zentren in Genf: das Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik, das Genfer Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung und das Genfer Zentrum für die Demokratische Kontrolle der Streitkräfte.

5.1.2

Menschenrechtspolitik

Die Einhaltung der Menschenrechte sowie Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung generell sind für jedes Land unerlässliche Voraussetzungen für Frieden und nachhaltige Sicherheit. Damit eine Gesellschaft ohne Gewalt funktionieren kann, müssen die Menschenrechte, die elementaren Grundrechte wie das Recht auf Leben, auf Gesundheit oder die Meinungsfreiheit gewährleistet sein. Die systematische 5166

Verletzung dieser Grundrechte ist jedoch immer noch weit verbreitet und häufig sowohl Ursache als auch Folge von Konflikten. Frieden und Sicherheit können auf Dauer aber nur in einer Gemeinschaft von Staaten erreicht werden, die auch innerhalb ihrer eigenen Grenzen die Menschenrechte und Grundfreiheiten achten, den Vorrang des Rechts vor politischer Willkür anerkennen und politische Macht demokratischer Kontrolle unterstellen. Die Respektierung der Menschenrechte zu fördern, entspricht deshalb nicht nur einer langen Tradition der Schweiz; es liegt auch in ihrem eigenen sicherheitspolitischen Interesse. Es handelt sich dabei nicht um Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten, weil die Menschenrechte anerkannter Bestandteil des Völkerrechts sind.

Die Schweiz setzt politische, diplomatische, rechtliche und wirtschaftliche Mittel ein, um die Achtung der Menschenrechte zu stärken oder Angriffen gegen diese entgegenzutreten. Die Aussenpolitik engagiert sich insbesondere: ­

für die Wahrung und Förderung der elementaren Menschenrechte, insbesondere gegen die Folter, die Rassendiskriminierung und gegen die Todesstrafe;

­

für den Schutz besonders verletzlicher Gruppen, wie Kinder, Frauen, Minderheiten oder Strafgefangene;

­

für eine menschenrechtskonforme Wirtschafts- und Unternehmenspolitik.

Die Menschenrechtspolitik der Schweiz verfügt über verschiedene Instrumente, wie den Dialog mit bestimmten Ländern und koordinierte Aktionen in multilateralen Foren wie der UNO, dem Europarat oder der OSZE, oder die Unterstützung der Menschenrechte via Projekte der Friedensförderung oder der Entwicklungszusammenarbeit.

5.1.3

Humanitäres Völkerrecht

Das humanitäre Völkerrecht, das heisst die Gesamtheit der Regeln zur Respektierung und für den Schutz der menschlichen Person in bewaffneten Konflikten, hat in der Politik der Schweiz schon seit Langem einen besonderen Stellenwert. Oft wird es als Teil der aussenpolitischen Identität der Schweiz aufgefasst. Jenseits des Interesses an der Bewahrung grundlegender moralischer Werte ist das Engagement der Schweiz für das humanitäre Völkerrecht eng mit der Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit verbunden. Es liegt im ureigenen Interesse der Staaten, dass das Verhalten der Streitkräfte bei Ausbruch eines bewaffneten Konflikts im Sinne eines minimalen Respekts für die einzelne Person geregelt ist. Wenn solche Regeln massiv und systematisch verletzt werden, führt dies zu einer gegenseitigen Brutalisierung der Kampfführung und einer gefährlichen Gewaltspirale, unter der in erster Linie die Zivilbevölkerung leidet. Zudem besteht ein grosses Risiko, dass der Konflikt durch die ausgelösten Flüchtlingsströme auch andere Staaten destabilisiert.

Werden Kriegsverbrechen nicht bestraft, so trägt dies den Keim weiterer Konflikte und Verletzungen des humanitären Völkerrechts in sich.

Die gegenwärtige Entwicklung stellt das humanitäre Völkerrecht vor neue Herausforderungen. Die meisten Kriege werden heute innerhalb von Staaten geführt. Dabei stehen sich oft reguläre Armeen, Rebellen und andere Gewaltakteure gegenüber, und mittendrin befindet sich die Zivilbevölkerung, die unter der Gewalt am meisten leidet. Es handelt sich um Konflikte, für die das auf zwischenstaatliche Konflikte zugeschnittene humanitäre Völkerrecht ursprünglich nicht vorgesehen war. Es 5167

genügt deshalb nicht, nur das Einhalten des bestehenden humanitären Völkerrechts zu fordern; es muss auch weiterentwickelt und an neue Realitäten angepasst werden.

Die schweizerische Aussenpolitik setzt sich deshalb nicht nur für die strikte Einhaltung des humanitären Völkerrechts ein, sie unterstützt auch Bemühungen, es weiterzuentwickeln, etwa bezüglich der wachsenden Bedeutung international organisierter, bewaffneter Akteure oder der Rolle privater Sicherheitsunternehmen in bewaffneten Konflikten. Als Instrumente stehen ihr dazu diplomatische Interventionen, öffentliche Aufrufe, multilaterale Initiativen oder die Unterstützung von Organisationen, die sich für den Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen, zur Verfügung, allen voran das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.

5.1.4

Abrüstung und Rüstungskontrolle

Die unkontrollierte Ausbreitung von Kleinwaffen und leichten Waffen ist Nährboden für innerstaatliche Konflikte und für Gewalt, die sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung wendet. Terroristische und kriminelle Gruppierungen sind, wie mutmasslich auch einzelne Staaten, in illegalen Waffenhandel verwickelt und suchen auch Zugang zu Massenvernichtungswaffen. Die Abrüstung und Stärkung der internationalen Waffenkontrolle hat vor diesem Hintergrund grosse Bedeutung für die Wahrung von Frieden und Sicherheit.

Die schweizerische Politik der Rüstungskontrolle und Abrüstung verfolgt das Ziel eines weltweit möglichst tiefen Rüstungsniveaus. Die Schweiz setzt sich dafür ein, dass insbesondere Massenvernichtungswaffen nuklearer, biologischer und chemischer Art nicht weiterverbreitet, sondern vollständig beseitigt werden. Sie strebt, im Sinne einer möglichst grossen Transparenz, Rüstungskontroll- und Abrüstungsregimes an, die für alle Staaten gelten und auch kontrolliert werden können. Völkerrechtlich bindende und universelle Abkommen haben für die Schweiz Vorrang vor lediglich politisch verbindlichen Absprachen und einseitigen Massnahmen. Die Schweiz ist ­ mit Ausnahme des Open-Skies-Vertrages von 2002 ­ allen ihr offenstehenden Verträgen beigetreten. Sie beteiligt sich an den Arbeiten multilateraler Gremien der Rüstungskontrolle und Abrüstung, so etwa im Ersten Ausschuss der Generalversammlung der UNO, in der Genfer Abrüstungskonferenz, beim Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, bei den Arbeiten für ein umfassendes Verbot von Nuklearversuchen, in der Organisation für das Verbot chemischer Waffen sowie im Rahmen von Ad-hoc-Initiativen wie z.B. des Ottawa-Prozesses, der zum Verbot von Antipersonenminen und deren Vernichtung geführt hat. Neben der Arbeit in politischen Gremien unterstützt sie die Umsetzung und Weiterentwicklung von Verifikationsmassnahmen direkt durch technisch-wissenschaftliche Dienstleistungen des Labors Spiez.

Die Schweiz unterstützt in der UNO und der OSZE auch Bemühungen, grössere Klarheit über die sicherheitspolitischen und militärischen Absichten und Handlungen von Staaten zu schaffen und damit die Risiken überraschender militärischer Aktivitäten zu verringern. Der Transparenz, der Verhinderung der Weiterverbreitung von Waffen und der Kontrolle zivil und militärisch
verwendbarer Güter und Technologien dient auch die Teilnahme an Exportkontrollregimes (Gruppe der Nuklearlieferstaaten, Raketentechnologie-Kontrollregime, Australien-Gruppe, WassenaarVereinbarung).

5168

Die Schweiz wird ihr Engagement im Bereich der nuklearen Abrüstung in den kommenden Jahren zusätzlich verstärken. Ins Auge gefasst werden insbesondere das Angebot guter Dienste für Verhandlungen im Bereich der Abrüstung, Schritte im Hinblick auf ein Verbot des Einsatzes von Nuklearwaffen und Vorstösse, die die Transparenz der Nukleararsenale fördern sollen. Die Schweiz ist in einer guten Position, um in diesen Themen eine aktivere Rolle zu spielen. Dank ihrer traditionellen Neutralität und der damit einhergehenden Allianzfreiheit verfügt sie über eine hohe Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit beim Einsatz zugunsten von Abrüstung und Nonproliferation.

In Bezug auf konventionelle Waffen setzt sich die Schweiz für Massnahmen gegen die unkontrollierte Weiterverbreitung von Kleinwaffen und leichten Waffen sowie für ein Verbot von Personenminen und Streumunition ein. Das humanitäre Völkerrecht verbietet oder beschränkt den Einsatz konventioneller Waffen, um die Auswirkungen von Kriegen auf die Zivilbevölkerung zu mildern. Spezifische internationale Konventionen enthalten Vorschriften wie das Verbot von Waffen, die unterschiedslos wirken können oder unnötiges Leiden verursachen (unidentifizierbare Munitionsrückstände, Minen, Sprengfallen, Brandwaffen). Die Schweiz setzt sich für die Einhaltung der entsprechenden Abkommen sowie deren Anpassung an neue Waffentechnologien ein.

5.1.5

Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe

Die Anzahl zwischenstaatlicher Konflikte ist seit den 1990er Jahren zurückgegangen, innerstaatliche Konflikte haben aber an Zahl und Intensität zugenommen. Sie haben viele Ursachen, zu denen auch strukturelle Gründe wie Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung oder schlechte Regierungsführung gehören. Die Behebung oder Linderung dieser Ursachen ist, neben der Bewältigung von unmittelbaren Folgen wie Flüchtlingsströmen und Versorgungsproblemen, eine Voraussetzung für die nachhaltige Stabilisierung und Befriedung von Konfliktgebieten. Mit Not- und Wiederaufbauhilfe kann die Entwicklungshilfe kurzfristig, mit technischer und wirtschaftlicher Unterstützung und Zusammenarbeit auch langfristig zur Verringerung struktureller Konfliktpotenziale beitragen. Die Entwicklungshilfe hat vor diesem Hintergrund auch eine sicherheitspolitische Dimension: Ohne Entwicklung gibt es keine nachhaltige Sicherheit und Stabilität.

Eines der fünf Ziele der schweizerischen Aussenpolitik ist es, laut Bundesverfassung, die Not und Armut in der Welt zu lindern. Die Schweiz tut dies, weil es ihrer ethischen Grundhaltung entspricht, aber auch aus eigenem Interesse, weil fehlende Entwicklung Konflikte, erzwungene Migration und weitere negative Phänomene zur Folge hat, die auch die Schweiz betreffen. Die Schweiz kann auf Vorteile setzen, die ihre Glaubwürdigkeit in der Entwicklungshilfe erhöhen: Sie war nie eine Kolonialmacht, hat keine versteckten Machtaspirationen und ist neutral.

Die Schweiz verfügt mit der Entwicklungszusammenarbeit, der Zusammenarbeit mit Osteuropa sowie der humanitären Hilfe über Instrumente, um Stabilität und nachhaltige Entwicklung zu fördern. Entwicklungszusammenarbeit und die Zusammenarbeit mit Osteuropa sind im Sinne der Prävention auf die Bekämpfung von Konfliktursachen ausgerichtet. Sie unterstützen den Aufbau stabiler Strukturen in den Partnerländern durch Beiträge zur wirtschaftlichen, sozialen, politischen und institutionellen Stabilität und zum Schutz der Umwelt. Zur Bekämpfung akuter Konflikt5169

potenziale gehören die Hilfe an Flüchtlinge und Vertriebene, Wiederaufbauhilfe, die Förderung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, die Unterstützung von Reformen im Sicherheitssektor (z.B. Demobilisierung und Wiedereingliederung von Kämpfern, Polizeireformen) sowie die Förderung lokal verankerter Formen der Konfliktbeilegung.

Die Schweiz ist sich bei ihrer Entwicklungszusammenarbeit bewusst, dass Interventionen innerhalb einer Gesellschaft und eines Staatswesens auch negative Auswirkungen haben können. Die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit schenkt dieser Problematik besondere Beachtung und bemüht sich, dieses Risiko zu vermindern. Grundlagen sind eine hohe Sensibilität, gute Kenntnisse des lokalen Umfeldes sowie das Vertrauensverhältnis, das sich durch langfristige Zusammenarbeit mit Partnern auf nationaler wie lokaler Ebene aufbauen lässt. Im Sinne eines gesamtheitlichen Ansatzes ist die Schweiz bestrebt, ihre verschiedenen Politiken und Instrumente mit der grösstmöglichen Kohärenz einzusetzen.

5.1.6

Neutralität

Aus der Neutralität ergeben sich eine Reihe von Rechtspflichten, die in den Haager Konventionen von 1907 über die Rechte und Pflichten der Neutralen im Land- und im Seekrieg sowie im Völkergewohnheitsrecht niedergelegt sind. Der völkerrechtliche Anwendungsbereich des Neutralitätsrechts ist allerdings beschränkt. Er regelt im Wesentlichen das Verhalten von Neutralen in bewaffneten zwischenstaatlichen Konflikten. Neutralen ist es untersagt, an einem solchen Konflikt teilzunehmen oder eine Partei militärisch zu unterstützen. Die Pflichten dauernd Neutraler in Friedenszeiten ergeben sich einzig aus dem Völkergewohnheitsrecht. Heute beschränkt sich die Rechtspflicht dauernd Neutraler darauf, in Friedenszeiten keine unwiderruflichen Bindungen einzugehen, die ihnen im Konfliktfall die Einhaltung ihrer Neutralitätspflichten verunmöglichen würden. Dies bedeutet namentlich ein Verbot der Einrichtung ausländischer Truppenstützpunkte auf neutralem Territorium und der Mitgliedschaft in Militärbündnissen.

Unter Neutralitätspolitik fallen alle Massnahmen, die die Schweiz aus eigenem Antrieb trifft, um die Glaubwürdigkeit ihrer Neutralität zu erhalten. Die Ausgestaltung dieser Politik liegt in ihrem eigenen Ermessen. Die Neutralitätspolitik ist deshalb entsprechend dem aussen- und sicherheitspolitischen Umfeld einem Wandel unterworfen.

Die UNO-Charta bestimmt in Artikel 103, dass die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang vor widersprechenden Pflichten aus andern internationalen Übereinkünften haben. Die Unterstützung von Zwangsmassnahmen der Vereinten Nationen durch die Schweiz steht jedoch in keinem Fall in Widerspruch zur Neutralität, da die UNO nie Konfliktpartei ist, sondern im Namen der gesamten Staatengemeinschaft für Recht, Frieden und Ordnung sorgt. Im Fall von UNO-Zwangsmassnahmen bestehen deshalb weder völkerrechtliche Neutralitätspflichten, noch stellen sich neutralitätspolitische Fragen. Die allgemeine Verpflichtung der Staaten, auf Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer (aussen-)politischen Interessen zu verzichten, entspricht den Grundsätzen der lange praktizierten Neutralitätspolitik der Schweiz.

In den Fällen eines bewaffneten Konfliktes, in denen das UNO-System der kollektiven Sicherheit nicht greift, verhält sich die Schweiz gemäss den Pflichten der Neutralität. Im Rahmen ihrer Möglichkeit setzt sie sich auch dafür ein, Konflikte zu 5170

verhindern, Kriegsopfer zu schützen, zur Wiederherstellung des Friedens beizutragen und die Ursachen von Gewalt zu bekämpfen.

5.2

Armee

Ursprünglich lag der Zweck der Schweizer Armee allein darin, potenzielle Gegner davon abzuhalten, die Schweiz militärisch anzugreifen und einen solchen Angriff, sollte er dennoch stattfinden, abzuwehren. Seit geraumer Zeit hat die Armee zusätzliche Aufgaben: Sie stärkt die Sicherheit nicht nur gegenüber militärischen Angriffen, sondern auch gegenüber anderen Bedrohungen. Sie beschränkt sich nicht auf Abhaltung und Abwehr von Bedrohungen, sondern trägt auch zum Schutz von Bevölkerung und Lebensgrundlagen bei, wenn diese Bedrohungen im eigenen Land Wirklichkeit werden sollten. Schliesslich leistet sie durch Einsätze im Ausland auch einen Beitrag zur Friedensförderung.

Im Rahmen des Sicherheitsverbundes Schweiz ist die Armee ein strategisches Mittel in der Hand des Bundesrates. Sie bleibt auf absehbare Zeit die bedeutendste sicherheitspolitische Reserve des Bundes. Im Falle eines militärischen Angriffs ist sie das entscheidende Instrument. Bei allen anderen Einsätzen unterstützt sie die zivilen Behörden mit Fähigkeiten und Mitteln, die diesen fehlen. Qualitativ bringt sie Schlüsselbeiträge22 ein, quantitativ erhöht sie die Durchhaltefähigkeit und bricht personelle Belastungsspitzen. Im Hinblick auf Einsätze im Verbund kommt der reibungslosen Zusammenarbeit mit den zivilen Organen grosse Bedeutung zu.

Deshalb bringen gemeinsame Übungen einen gegenseitigen Nutzen und sollten künftig wieder vermehrt durchgeführt werden.

Die Armee berührt durch die Dienstpflicht stärker als jedes andere Instrument der Sicherheitspolitik einen grossen Teil der Bevölkerung direkt: Die Mehrheit der Bürger aus allen Landesteilen und freiwillig auch Bürgerinnen leisten Militärdienst.

Zur öffentlichen Beachtung der Armee trägt auch bei, dass sie in den vergangenen zwanzig Jahren von allen sicherheitspolitischen Instrumenten am meisten Änderungen erfahren hat und mittelfristig weitere Anpassungen an die sich weiter verändernden Rahmenbedingungen ­ Bedrohungslage, demografische Entwicklung, Sicherheitsansprüche, gesellschaftliches und wirtschaftliches Umfeld, Finanzlage, Umweltbedingungen, technische Entwicklungen ­ anstehen werden.

5.2.1

Aufgaben

Die Aufgaben23 der Armee sind in Artikel 58 Absatz 2 der Bundesverfassung definiert und in Artikel 1 des Militärgesetzes vom 3. Februar 199524 umschrieben. Sie umfassen Kriegsverhinderung und Erhaltung des Friedens, Verteidigung, Unterstützung der zivilen Behörden und Friedensförderung. Aufgaben sind die längerfristigen 22 23

24

Z.B. Schutz des Luftraums, Aufklärung aus der Luft, ABC-Abwehr, Katastrophenhilfe, Führungsinfrastruktur.

Im ersten Titel des Militärgesetzes, in der Botschaft zur neuen Bundesverfassung (Erläuterungen zum Art. 54 des Verfassungsentwurfs) wie auch im SIPOL B 2000 wird der Begriff Armeeaufträge verwendet. Es erscheint sinnvoll, diesen Ausdruck durch Armeeaufgaben zu ersetzen.

SR 510.10

5171

Vorgaben für die Armee. Aus ihnen leitet das VBS aufgrund einer regelmässigen Überprüfung der Bedrohungen und Gefahren die Aufträge an die Armee ab. Diese wiederum werden im Leistungsprofil der Armee konkretisiert.

Kriegsverhinderung und Erhaltung des Friedens wurden im SIPOL B 2000 nicht als eigentliche Armeeaufgaben aufgeführt. Der Grund dafür liegt darin, dass diese Aufgabe de facto mit erfüllt wird, wenn die Armee zwei andere ihrer Aufgaben erledigt, nämlich ihre Fähigkeit zur Verteidigung sicherzustellen und sich in der internationalen Friedensförderung zu engagieren. Die Armee leistet schon allein durch ihre Existenz, ihre Bereitschaft und ihre Ausrüstung einen präventiven Beitrag zu Sicherheit, Frieden und Stabilität. Dieser Beitrag erfolgt in der Regel in Zusammenarbeit mit den sicherheitspolitischen Partnern im Inland sowie durch internationale Kooperation in der militärischen Ausbildung, in der Rüstungsbeschaffung und in der militärischen Friedensförderung.

5.2.1.1

Verteidigung

Ausserhalb der die Schweiz umgebenden Grossregion der EU- und Nato-Staaten sind bewaffnete Konflikte zwischen staatlichen Streitkräften nach wie vor eine wiederkehrende Realität. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Angriffs auf absehbare Zeit sehr gering ist, muss die Schweiz die Fähigkeiten aufrechterhalten, einen Gegner abzuhalten und einen militärischen Angriff abzuwehren.

Der Grund dafür ist, dass die Rückkehr einer konventionellen militärischen Bedrohung angesichts der weiterhin bestehenden Waffenpotenziale langfristig nicht auszuschliessen ist und dass ein militärischer Angriff auch in Zukunft die Existenz von Staat und Gesellschaft in Frage stellen könnte.

Es wäre jedoch äusserst kostspielig, ein so hohes Ausbildungs- und Ausrüstungsniveau aufrechtzuerhalten und eine solche Bereitschaft sicherzustellen, dass jederzeit ein grossangelegter militärischer Angriff abgehalten oder abgewehrt werden könnte.

Im Lichte der aktuellen und absehbaren Bedrohungen ist es sicherheitspolitisch vertretbar und in Bezug auf die Ressourcen zurzeit unvermeidlich, ein tieferes Niveau zu akzeptieren. Dieses muss aber immer noch ausreichen, um nach längerer Vorbereitungszeit, aber rechtzeitig, die volle Fähigkeit zur Abwehr eines militärischen Angriffs zu erreichen. Die Armee muss die zentralen Fähigkeiten zur Führung militärischer Verteidigungsoperationen erhalten und weiterentwickeln, qualitativ hochstehend, aber quantitativ begrenzt. Die Abwehr eines militärischen Angriffs mit konventionellen Streitkräften stellt die höchste Eskalationsstufe beim Einsatz militärischer Gewalt dar, auf die sich die Armee vorbereiten muss. Sie muss deshalb im Sinne einer Kernkompetenz mindestens den Einsatz von Brigaden oder Kampfgruppen beherrschen und über die dafür notwendigen führungsmässigen Voraussetzungen verfügen. Diese Fähigkeiten erfordern die Weiterentwicklung eines qualitativ umfassenden, möglichst vernetzten Gesamtsystems, von der Führung über die Führungsunterstützung, Überwachung und Aufklärung bis hin zum Kampf und zur Kampfunterstützung am Boden, im Luftraum und aus der Luft sowie in der Informations- und Kommunikationstechnologie.

Der Wandel in der Bedrohung legt aber auch nahe, die Zweckmässigkeit bisheriger Mittel, Massnahmen und Einrichtungen zu überprüfen. Festungsanlagen waren lange Zeit ein wichtiger Pfeiler des Abwehrkampfes, dem vor allem im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg eine grosse, auch symbolische Wirkung zukam. Aufgrund der 5172

veränderten Bedrohungslage ist die sicherheitspolitische Bedeutung der Festungsanlagen stark gesunken, und ihr Kampfwert wurde durch moderne Präzisions- und Abstandswaffen so stark verringert, dass sie kaum einen wesentlichen Beitrag zur Abwehr eines Gegners mehr leisten würden.

Die Armee überwacht mit bodengestützten Radarstationen und mit Flugzeugen permanent den Luftraum über der Schweiz und setzt die luft- und bodengestützten Mittel der Luftwaffe ein, um die Lufthoheit zu wahren. Bei der Abwehr eines militärischen Angriffs wird der Luftraum verteidigt. Wie lange die Luftwaffe ihre Bereitschaft und Fähigkeiten durchhalten kann und mit welchem Erfolgsaussichten sie den Luftraum verteidigen kann, hängt stark von der Anzahl und Leistungsfähigkeit der Kampfflugzeuge ab. Jüngste Kriege haben überdies gezeigt, dass der Kampf um die Luftherrschaft oft für den Verlauf des ganzen Krieges entscheidend ist. Um ihre Aufträge, insbesondere den Luftpolizeidienst, effektiv und nachhaltig umsetzen zu können, muss die Armee auch künftig über eine ausreichend grosse Anzahl Kampfflugzeuge verfügen, die den technischen Anforderungen entsprechen.

Die Aufklärung, die Störung der Führungsfähigkeit und die Manipulation der Entscheidfindungsprozesse einer Gegenseite bzw. eines Gegners sind übliche Methoden moderner Auseinandersetzungen geworden und dürften weiter an Bedeutung gewinnen. Angriffe auf die Informationstechnik und irreführende Informationen gefährden die Leistungserbringung der Armee und könnten sie im schlimmsten Fall handlungsunfähig machen. Deshalb muss sich die Armee dagegen vorsehen und die eigenen Systeme schützen (Cyber Defence). Darüber hinausgehende Aktivitäten (z.B. Eindringen in Systeme des Gegners) sind nicht für alle Zukunft auszuschliessen; die Rechtsgrundlagen für solche Aktivitäten in Friedenszeiten müssten aber erst geschaffen werden.

Auf die Weiterverwendung des im SIPOL B 2000 eingeführten Begriffs Raumsicherung wird verzichtet. Aus Sicht der Kantone erwies sich die Abgrenzung zu subsidiären Sicherungseinsätzen in der (Übungs-)Praxis als problematisch. Die bislang unter Raumsicherung vorgesehenen Überwachungs-, Bewachungs-, Schutz- und Sicherungseinsätze im Inland sind Teil der Armeeaufgabe Unterstützung der zivilen Behörden und werden ­ solange es sich nicht um das Abhalten oder um
die Abwehr eines militärischen Angriffs handelt ­ subsidiär und auf Verlangen der zivilen Behörden erbracht. Die Einsatzverantwortung verbleibt dabei bei den zivilen Behörden der Kantone und des Bundes.25 Mit dem Verzicht auf die Raumsicherung werden die Leistungen der Armee aber nicht gekürzt: Die Armee wird weiterhin und in unverändertem Mass bereit und fähig sein, Überwachungs-, Bewachungs-, Schutzund Sicherungseinsätze zu leisten. Sie wird dazu die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen der Kantone verstärken.

25

Auch wenn der Bund als ultima ratio gestützt auf Artikel 52 der Bundesverfassung zum Schutz der verfassungsmässigen Ordnung eingreifen müsste und dies gegebenenfalls mit Mitteln der Armee täte, bliebe die zivile Einsatzverantwortung gewahrt; sie würde durch den Bund wahrgenommen.

5173

5.2.1.2

Unterstützung der zivilen Behörden

Die Armeeaufgabe Unterstützung der zivilen Behörden26 umfasst die Hilfe bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Leistungen werden aber nicht nur in ausserordentlichen Lagen erbracht, sondern auch in der normalen und der besonderen Lage, z.B. mit dem Luftpolizeidienst und der Luftraumüberwachung. Im Übrigen kann die Armee gemäss der Verordnung vom 8. Dezember 199727 über den Einsatz militärischer Mittel für zivile und ausserdienstliche Tätigkeiten auch zur Unterstützung von Grossanlässen eingesetzt werden.

In Bezug auf die konkret zu leistenden Einsätze wird die Unterstützung ziviler Behörden für die Armee in den kommenden Jahren voraussichtlich weiterhin im Zentrum stehen. Die Wichtigkeit dieser Leistungen wird dadurch nicht beeinträchtigt, dass solche Einsätze subsidiär erfolgen.

Bewaffnete Gewalt wird immer mehr auch von nichtstaatlichen Akteuren angewendet: von Terroristen, Sezessionsbewegungen, oder von wirtschaftlich oder politisch motivierten Personen und Gruppierungen. Auch die Schweiz muss in der Lage sein, die Kontrolle der Grenzen zu verstärken und kritische Infrastruktur zu sichern und zu schützen, die für das Funktionieren von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft essenziell sind, wie Flughäfen, Bahnhöfe, wichtige Strassen- und Schienenknotenpunkte und -verbindungen, alpenquerende Strassen-, Bahn- und Energieverbindungen, Kraftwerke, Stromverteilanlagen und Industriekomplexe usw. Wenn viele potenzielle Ziele bedroht sind und diese Bedrohung über längere Zeit anhält, reichen die Instrumente der Kantone quantitativ und qualitativ nicht aus, und zusätzliche Mittel des Bundes, in der Regel die Armee, müssen eingesetzt werden. Die Armee muss dann nach Vorgaben der zivilen Behörden überwachen, sichern, bewachen und intervenieren, retten oder helfen. Unkonventionelle Bedrohungen können unversehens auftreten, Terroranschläge überraschend erfolgen. Die Bereitschaft der Armee hat sich darauf auszurichten. Dafür entwickelt sie ihre Fähigkeiten für Überwachung, Sicherung und Bewachung weiter. Es geht darum, im Sicherheitsverbund Schweiz eine Eskalation der Gewalt zu verhindern und die normale Lage wiederherzustellen, sodass die zivilen Mittel wieder alleine genügen.

Der Bund ist in allen Lagen für die Sicherheit im
Schweizer Luftraum verantwortlich. Aktionen im Luftraum können überraschend oder mit kurzer Vorwarnzeit erfolgen. Deshalb hat die Armee den Luftraum in allen Lagen mit ihren luft- und bodengestützten Mitteln zu kontrollieren und zu schützen. Neben der Aufbereitung der Luftlage bedingt dies auch die Fähigkeit zur Intervention. Um autonom rasch und wirksam intervenieren zu können, muss die Armee eine permanente Alarmbereitschaft sicherstellen und diese noch erhöhen, wenn sich eine Bedrohung verstärkt oder konkretisiert.28 In der normalen Lage, aus Neutralitätsgründen aber nicht für den Kriegsfall, kann die Frühwarnung und Alarmierung durch Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten verbessert werden.

26 27 28

Zivile Behörden sind in diesem Kontext eidgenössische Departemente und Kantone.

SR 513.74 Dabei werden Flugzeuge am Boden permanent so bereit gehalten, dass sie innert weniger Minuten intervenieren können («quick reaction alert»).

5174

Einsätze der Armee zur Unterstützung der zivilen Behörden erfolgen nach dem Subsidiaritätsprinzip. Das heisst, dass die Mittel der Armee auf Antrag der zivilen Behörden nur dann eingesetzt werden, wenn die Hilfe im öffentlichen Interesse liegt und es den zivilen Behörden nicht mehr möglich ist, ihre Aufgaben in personeller, materieller oder zeitlicher Hinsicht allein zu bewältigen. Die Einsatzverantwortung liegt dabei immer bei den zivilen Behörden der Kantone oder des Bundes29, die militärische Führungsverantwortung beim Truppenkommandanten. Es geht darum, Belastungsspitzen zu bewältigen,30 qualitative oder quantitative Lücken zu schliessen und die Durchhaltefähigkeit der zivilen Partner zu erhöhen. Die zivilen Behörden benötigen in der Regel Monate, um auf eine andauernde Lageveränderung nachhaltig zu reagieren. Die Armee wird eingesetzt, um diese Anlaufzeit zu überbrücken. Als Grundsatz gilt dabei, dass Truppen so kurz wie möglich eingesetzt werden sollen, damit die zivilen Mittel nicht ersetzt oder konkurrenziert werden, der Bund über seine Mittel möglichst rasch wieder verfügen kann und die Armee sich wieder auf ihre anderen, nicht subsidiären Aufträge konzentrieren kann. Subsidiäre Einsätze bei internationalen und nationalen Grossveranstaltungen sind restriktiv zu handhaben. Sie machen Sinn, wenn die Veranstaltung auf Armeehilfe angewiesen ist oder wenn der praktische Einsatz der Ausbildung nützt und das Gewerbe nicht konkurrenziert. In den vergangenen Jahren wurde die Frage aufgeworfen, ob die Unterstützung der zivilen Behörden durch die Armee nur für zeitlich begrenzte, vorübergehende Situationen erfolgen dürfe oder auch dann, wenn für eine Aufgabe längerer Dauer nicht genügend ziviles Personal zur Verfügung steht (beispielsweise für Botschaftsbewachung, Flugbegleitung und Grenzsicherung). Der Gesetzeswortlaut lässt nach Ansicht des Bundesrates länger dauernde Einsätze von Armeeangehörigen durchaus zu, denn die Hilfeleistung kann auch dann erfolgen, wenn die Bewältigung der Aufgabe den zivilen Behörden allein in zeitlicher Hinsicht nicht möglich ist.31 Allerdings teilt der Bundesrat die Auffassung, dass solche Truppeneinsätze zurückhaltend erfolgen sollten.

Soweit schweizerische Interessen zu wahren sind, können Mittel der Armee auch im Ausland eingesetzt werden, um Personen und besonders
schutzwürdige Sachen zu schützen und schweizerische Staatsangehörige zu retten und in die Schweiz zurückzuführen. Einsätze der Armee zur Unterstützung der zivilen Behörden erfolgen auch im Ausland nach dem Subsidiaritätsprinzip. Sie können Beratungs- und Verbindungsaufgaben vor Ort, Objekt- und Personenschutz oder Mithilfe bei der Evakuation von Schweizer Staatsangehörigen aus Krisengebieten umfassen. Entsprechend der Art und Intensität der Bedrohung, des Umfelds und der zu erbringenden Leistung wird in aller Regel spezialisiertes militärisches Berufspersonal in den Einsatz gelangen.

Der Bundesrat hält es für denkbar, dass künftig ein Bedarf an weiteren Sicherheitsleistungen entstehen kann, bei denen Mittel der Armee im Ausland subsidiär eingesetzt würden. So kann es im Interesse der Schweiz liegen, sich an internationalen Polizeioperationen zu beteiligen, falls die Besonderheiten des Auftrags dies erfordern, auch mit militärischem Personal.

29 30 31

Bei Aktionen im Luftraum oder subsidiären Einsätzen nach Artikel 52 Absatz 2 der Bundesverfassung.

Zu den regelmässigen Belastungsspitzen für die kantonalen Polizeikorps gehören etwa die Jahrestagungen des WEF in Davos.

Siehe Artikel 67 Absatz 2 des Militärgesetzes.

5175

Im Ausland unterstützt die Armee auch die humanitäre Hilfe des Bundes. Dies erfolgt im Rahmen der Rettungskette Schweiz oder auf Antrag des EDA durch materielle Beiträge oder Zurverfügungstellung von massgeschneiderten Beiträgen in Form von Spezialisten oder Detachementen oder ereignisbezogenen und bedarfsorientierten Einsatzverbänden. Ein militärischer Beitrag an die humanitäre Hilfe der Schweiz kann im Rahmen der Katastrophenvorsorge sowie der Not- und Überlebenshilfe zum Tragen kommen. Massnahmen zum Wiederaufbau nach einer Katastrophe erfolgen ausschliesslich mit zivilen Mitteln.

Solche Einsätze orientieren sich ausschliesslich an der humanitären Lage im Einsatzraum und an den Bedürfnissen der dort tätigen nationalen oder internationalen Hilfsorganisationen. Sie müssen praktisch ohne Vorwarnung geleistet werden können, und sie dauern selten länger als einige Wochen. Von der Armee kommen Mittel zum Einsatz, die auch im Inland oder in der militärischen Friedensförderung zur Anwendung gelangen können, namentlich Rettungs-, Sanitäts-, Luft- und Bodentransport-, Genie-, Brandbekämpfungs-, ABC- oder Führungsunterstützungsformationen. Die Erfahrungen mit dem verheerenden Erdbeben in Haiti zeigen, dass wohl auch in Zukunft Situationen auftreten können, in denen humanitäre Hilfe in Zonen fragiler oder fehlender Staatsmacht geleistet werden muss. Die Armee muss in der Lage sein, auf Ersuchen des EDA oder einer internationalen humanitären Organisation Helfer, Installationen oder die Verteilung von Hilfsgütern zu schützen.

Für solche Einsätze kommen in erster Linie Teile der Berufsverbände in Frage.

Besonders zu klären ist in solchen Fällen zudem die Frage des rechtlichen Status des militärischen Schutzelements. Die Gesamtverantwortung für einen Einsatz wie auch die Einsatzverantwortung vor Ort liegen nach bewährtem Muster bei den Vertreterinnen und Vertretern der humanitären Hilfe des Bundes oder der bezeichneten internationalen humanitären Organisation.

5.2.1.3

Friedensförderung

Umfeld Militärische Einsätze zur Konfliktlösung und Krisenbewältigung sind komplexer geworden. Standen im Kalten Krieg Einsätze zur Überwachung von Waffenstillstandsabkommen im Vordergrund, so geht es heute darum, Krisenregionen langfristig zu stabilisieren. Die Sicherheitslage vor Ort wird von nichtstaatlichen bewaffneten Konfliktparteien geprägt. Die Gefährdung bzw. das Risiko, zum Selbstschutz und zur Auftragserfüllung auf die Anwendung von Waffengewalt zurückgreifen zu müssen, ist damit höher als früher. Die häufig nur lose Kontrolle der einheimischen Akteure über ihre bewaffneten Kämpfer sowie die Vermischung von politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Interessen haben zur Folge, dass die Sicherheitslage für die Zivilbevölkerung oft über lange Zeit prekär ist. Hinzu kommt, dass diese Gruppen internationale Schutzembleme (z.B. Rotes Kreuz, Roter Halbmond) oft missachten und Angehörige humanitärer Organisationen und Hilfswerke zunehmend zum Ziel von Übergriffen werden.

Angesichts dieser Realitäten wurden die Methoden internationaler Friedensförderung in den vergangenen zehn Jahren weiterentwickelt. Die UNO und die von ihr mandatierten Organisationen bemühen sich, nicht nur Symptome, sondern auch die Ursachen bewaffneter Konflikte anzugehen: Friedensmissionen folgen einem integrierten Ansatz, der den (Wieder-)Aufbau einer friedlichen Ordnung und staatlicher 5176

Institutionen anstrebt und wo militärische Massnahmen nur einen Teilbereich bilden.32 In manchen Konfliktsituationen sind militärische Kräfte aber unverzichtbar, um ein stabiles und sicheres Umfeld zu schaffen, das humanitäre Aktionen erst ermöglicht. Die eigentliche Lösung bewaffneter Konflikte kann aber nie allein mit militärischen Mitteln erreicht werden. Erfolgreich sind militärische Friedensoperationen dann, wenn die lokalen Sicherheitsorgane so weit befähigt sind, dass der staatliche, politische, soziale und wirtschaftliche Wieder- oder Neuaufbau eines vormaligen Krisengebiets ohne Dauerpräsenz internationaler Truppen erfolgen kann.

Angehörige internationaler Streitkräfte werden dann aber häufig noch immer für Training und Beratung beim Aufbau demokratisch kontrollierter Sicherheitsstrukturen benötigt.

Bisheriges Engagement der Schweiz in der militärischen Friedensförderung Militärische Friedensförderung ist als Armeeaufgabe im Militärgesetz festgeschrieben.33 Sie umfasst Einsätze der Armee im Ausland, zusammen mit Streitkräften anderer Staaten, um die Lage nach bewaffneten Konflikten zu stabilisieren und dadurch eine friedliche politische und wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen.34 Die Schweiz kann sich an solchen Einsätzen nur dann beteiligen, wenn ein Mandat der UNO oder der OSZE vorliegt. Der Einsatz von Angehörigen der Armee im militärischen Friedensförderungsdienst erfolgt stets auf freiwilliger Basis. Die Entscheidung über Art, Dauer und Rahmen ihres Beitrages bzw. des Rückzuges aus solchen Einsätzen verbleibt immer bei der Schweiz.35 Der aktuelle Stand der Beteiligung der Schweizer Armee an internationalen Friedensförderungseinsätzen ist das Resultat einer pragmatischen Entwicklung. Diese ist durch drei Faktoren geprägt worden: konkrete Anfragen; Interesse des Bundesrates an der Teilnahme an spezifischen Mission; Fähigkeiten der Armee, dem jeweiligen Bedürfnis entsprechen zu können. Die Schweiz hat in den vergangenen zehn Jahren ihr Engagement in der militärischen Friedensförderung erhöht. Mit einer Revision des Militärgesetzes wurde zudem die Möglichkeit geschaffen, im Friedensförderungsdienst eingesetzte Truppen zu bewaffnen, soweit dies für ihren Schutz und die Erfüllung ihres Auftrages erforderlich ist. In den letzten Jahren waren jederzeit rund 280 Angehörige der Armee eingesetzt, die meisten davon in Kontingenten in Kosovo und in Bosnien und Herzegowina oder als UNO-Militärbeobachter. Die 32

33 34

35

Dieser integrierte Ansatz umfasst die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit, Reformen des Sicherheitssektors (Armee, Polizei, Gerichtswesen, Entwaffnung und Wiedereingliederung der Kämpfenden), die Förderung der Menschenrechte und des internationalen Völkerrechts, Verhandlungsprozesse für Waffenstillstands- und Friedensabkommen, die Räumung von Minen, Blindgängern, Explosivstoffen, Munition und Waffen, die Durchführung von Wahlen sowie wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung.

Sie stützt sich auf Artikel 58 Absatz 2 der Bundesverfassung in Verbindung mit Artikel 1 des Militärgesetzes.

Einsätze im Ausland zur Unterstützung humanitärer Hilfe fallen nicht unter die Armeeaufgabe Friedensförderung, sondern unter Unterstützung der zivilen Behörden (Art. 69 Abs. 1 Militärgesetz).

Militärische Beiträge an internationale Friedensoperationen dauern in der Regel mehrere Jahre, wobei jeder Teilnehmerstaat stets die Möglichkeit hat, sein Kontingent unter Einhaltung einer gewissen Notifikationspflicht zurückzunehmen. Erfahrungsgemäss erfolgt dies am ehesten, wenn die Lage vor Ort sich so verändert, dass die innenpolitische Unterstützung für eine weitere Teilnahme nicht mehr gegeben ist oder der eigentliche Zweck der Operation nicht mehr erreichbar scheint. Auch Ressourcenengpässe können zu einer vorzeitigen Beendigung eines Einsatzes führen.

5177

Armee hat daneben besonders in der humanitären Minenräumung, in der sicheren Lagerung oder Vernichtung leichter Waffen und Munition sowie in der Reform des Sicherheitssektors Leistungen erbracht. Die Schweiz leistet darüber hinaus auch beträchtliche finanzielle Beiträge an die internationale militärische Friedensförderung.36 Einsätze von Angehörigen der Armee 2004­2009 (Anzahl Diensttage) Jahr

Friedensförderung

Subsidiäre Sicherungseinsätze

Militärische Katastrophenhilfe

2004 2005 2006 2007 2008 2009

92 876 97 827 101 012 100 326 99 958 95 843

282 164 323 777 339 976 294 489 429 988 271 876

389 17 089 74 1 661 0 430

Die Schweiz beteiligt sich aktuell an folgenden Missionen (in Klammer Anzahl Armeeangehörige): Kontingente in Kosovo (220), in Bosnien und Herzegowina (20) und in Korea (5); UNO-Militärbeobachter im Nahen Osten (12), in der Demokratischen Republik Kongo (3), in Burundi (1) und in Nepal (3); Experten für humanitäre Minenräumung in Laos (4) und im Sudan (2); militärische Spezialisten am KofiAnnan-Ausbildungszentrum für Friedensförderung in Ghana (1), bei der OSZE in Wien (1) und für Sicherheitssektorreform im Südsudan (1). Zwischen 2004 und 2009 war die Schweiz zusätzlich in folgenden Einsätzen engagiert: 2001­2004 in Georgien (OSZE, 2); 2000­2007 in Äthiopien/Eritrea, (4); 2003­2008 in Afghanistan (2­4); 1994­2009 in Georgien (UNO, 4). In der humanitären Minenräumung ist die Entsendung von maximal 10 Armeeangehörigen bewilligt. Die Bestände variieren von Jahr zu Jahr, ohne diese Obergrenze zu überschreiten.

Für die Kontingentseinsätze in Kosovo und in Bosnien und Herzegowina ebenso wie bei den unbewaffneten UNO-Militärbeobachtern werden die Teilnehmer vor allem aus Milizangehörigen rekrutiert. Da das militärische Berufspersonal und Zeitsoldaten weitgehend im Inland in der Ausbildung und in subsidiären Sicherungseinsätzen gebunden sind, ist ihre Beteiligung an militärischen Friedensförderungseinsätzen auf Führungs- und Spezialistenfunktionen beschränkt. Die Betonung des Milizcharakters der Armee auch im Auslandeinsatz hat zur Folge, dass vor allem Einsätze und Funktionen erwogen werden, für die voraussichtlich geeignete freiwillige Angehörige der Miliz gefunden werden können. Dabei sollen auch Durchdiener eingesetzt werden können. Ebenso soll auch das Berufspersonal Einsätze im Rahmen der militärischen Friedensförderung leisten. Solche Einsätze sollen ein integraler Bestandteil des Curriculums sein.

36

2008 leistete das EDA einen Plichtbeitrag von 113,65 Mio. Franken an das Budget der UNO für Friedenssicherungseinsätze, während die Kosten des VBS für sämtliche Einsätze der militärischen Friedensförderung 46,4 Mio. Franken betrugen. Die friedenserhaltenden Operationen der UNO werden mit Pflichtbeiträgen ihrer Mitglieder finanziert. Der Verteilschlüssel ist gleich wie bei den Pflichtbeiträgen an die UNO als Ganzes und richtet sich hauptsächlich nach der Wirtschaftskraft.

5178

Das Militärgesetz schliesst die Teilnahme an Kampfhandlungen zur Friedenserzwingung aus, und schreibt vor, dass für bewaffnete Einsätze, die mehr als 100 Personen umfassen oder länger als drei Wochen dauern, die Zustimmung des Parlaments erforderlich ist. Neben dem Zeitbedarf für das parlamentarische Bewilligungsverfahren führt die Notwendigkeit, Kontingente ad hoc aus Freiwilligen zu rekrutieren und erst auf den konkreten Einsatz hin auszubilden, dazu, dass die Schweiz kaum in der Lage ist, rasch und verbindlich auf internationale Anfragen zu reagieren. Hingegen kann bei hohem Milizanteil die Durchhaltefähigkeit der Einsatzleistung gewährleistet werden. Ziviles und militärisches Berufspersonal des VBS kann in gewissem Umfang vergleichsweise rasch zur Verfügung stehen, muss mehrheitlich aber nach wenigen Wochen ausgewechselt oder zahlenmässig reduziert werden, wenn einschneidende Auswirkungen im angestammten Arbeitsbereich in der Schweiz vermieden werden sollen.

Weiterentwicklung der militärischen Friedensförderung Die Schweiz hat als international vernetzter und wirtschaftlich erfolgreicher Staat ein starkes Interesse an Stabilität. Dies trifft ganz besonders für Europa und die Peripherie Europas zu. Einsätze der militärischen Friedensförderung der internationalen Gemeinschaft in diesem Raum, z.B. in Kosovo oder Bosnien und Herzegowina, können einen direkten Beitrag zur Sicherheit unseres Landes leisten. Solche Einsätze sind mit grossem Aufwand verbunden, und es besteht eine allgemeine Erwartung, dass sich Staaten nach Massgabe ihrer Fähigkeiten an solchen Einsätzen beteiligen. Die Schweiz kann es sich aus realpolitischen und moralischen Erwägungen nicht leisten, abseits zu stehen; sie kann aber Art, Ort und Zeitraum ihres Engagements so gestalten, wie es ihren Fähigkeiten und den aussen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen am besten entspricht. Auch die humanitäre Tradition legt nahe, nicht nur während und nach einem Konflikt den Opfern zu helfen, sondern sich auch in der Gewalteindämmung zu engagieren. Die Armee profitiert im Übrigen vom Engagement in der militärischen Friedensförderung: Nebst dem unmittelbaren Vergleich mit anderen Streitkräften bezüglich der Qualität unserer Leistungen fliesst Einsatzerfahrung vor allem der Kader in die Ausbildung in der Schweiz zurück.

Darüber hinaus
können die eigenen Verfahren und die eigene Ausrüstung im Einsatz geprüft bzw. angepasst und verbessert werden.

Die Schweizer Armee ist für gewisse Aufgaben in der militärischen Friedensförderung besonders gut geeignet: Die Neutralität der Schweiz, das Fehlen machtpolitischer Ambitionen und die Tradition der guten Dienste begünstigen die Akzeptanz Schweizer Armeeangehöriger in Konfliktregionen und stärken das Interesse von internationalen Organisationen und Staaten an einer Teilnahme der Schweizer Armee an internationalen Friedensoperationen. Das Milizsystem mit seiner engen Verknüpfung von Militär und Zivilgesellschaft ist in der Schweiz gesellschaftliche Realität, was Angehörigen unserer Armee im Umgang mit der Zivilbevölkerung im Einsatzland zugutekommt. Vor allem für Einsätze in Afrika besteht seitens der UNO zudem eine starke Nachfrage nach französischsprachigen Offizieren, die aber auch in einem englischsprachigen Umfeld arbeiten können.

Die bisherigen Debatten zeigen, dass die Bewaffnung von Angehörigen der Armee in Friedensförderungseinsätzen in der öffentlichen Diskussion oft gleichgesetzt wird mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, dass schweizerische Soldaten in potenziell neutralitätskompromittierende Kampfhandlungen verwickelt werden könnten. Unbewaffnete Einsätze sind einfacher zu realisieren und in Öffentlichkeit und Parlament 5179

leichter zu vertreten. Man muss aber gleichzeitig bedenken, dass unbewaffnete Kontingente für Schutz und Sicherheit vollständig vom Gaststaat oder von Kontingenten anderer Staaten abhängig sind. Einsätze unbewaffneter schweizerischer Kontingente können deshalb meist nur an Orten erfolgen, wo die lokalen Behörden die Sicherheitslage weitgehend kontrollieren und bereit sind, auch den Schutz unbewaffneter Kontingente wahrzunehmen. Wo dieser Zustand herrscht, besteht in der Regel jedoch kaum mehr ein Bedarf nach Friedensförderungstruppen. Für unbewaffnete Einsätze kommen deshalb heute in der Regel nur noch Einsätze von Einzelpersonen (z.B. Militärbeobachter, Minenräumer) oder Einsätze nach Konfliktende (z.B. Reform des Sicherheitssektors) in Frage; hier ist der unbewaffnete Einsatz internationaler Standard. Im Fall erhöhter Bedrohung wird in solchen Fällen der Einsatz angepasst oder sistiert, bis sich die Lage gebessert hat.

In quantitativer Hinsicht bleibt es das Ziel des Bundesrates, die Kapazitäten für die militärische Friedensförderung zu erhöhen. Entsprechende Massnahmen werden baldmöglichst eingeleitet.

Angesichts der absehbaren Bedürfnisse der internationalen Gemeinschaft, der Schwierigkeiten eines quantitativen Ausbaus der Schweizer Teilnahme an der militärischen Friedensförderung und des Bedürfnisses nach einer Verbreiterung der innenpolitischen Abstützung solcher Einsätze sieht der Bundesrat am meisten Potenzial in einer qualitativen Steigerung des Engagements, verbunden mit einer inhaltlichen Fokussierung. Dabei muss jede Teilnahme sicherheits- und aussenpolitisch sinnvoll und innenpolitisch vermittelbar sein.

Bei der Entsendung militärischer Kontingente sieht der Bundesrat eine Konzentration auf die Bereiche Lufttransport, terrestrische Logistik- und Transportleistungen sowie Nischenleistungen in Sanität, Nachrichtendienst und im Sicherheitsbereich vor ­ Bereiche, die für den Erfolg eines Einsatzes wichtig und deshalb besonders stark nachgefragt sind. Beim Lufttransport soll die Armee dazu befähigt werden, dauernd eine gewisse Anzahl Transporthelikopter in kurz- oder längerfristigen Missionen im Ausland einzusetzen, für militärische Friedensförderung oder zur Unterstützung ziviler Behörden, z.B. in der humanitären Hilfeleistung.37 Während diese Kapazität primär mit Angehörigen des zivilen
und militärischen Personals der Luftwaffe erbracht werden soll, basieren die Leistungen im terrestrischen Logistik- und Transportbereich (stärker) auf Milizangehörigen und auf militärischem Berufspersonal (Berufsmilitär, Zeitsoldaten). Diese Aufgabe kann und soll durch bewaffnete Ad-hoc-Formationen in Kompaniestärke wahrgenommen werden. Die Ausstattung der Armee erlaubt es, solche Kontingente in unserer und den angrenzenden Klimazonen einzusetzen, ohne kostspielige Anpassungen am Material vornehmen zu müssen. Im sanitätsdienstlichen Bereich steht die Bereitstellung von Militärärztinnen und -ärzten und sanitätsdienstlichem Fachpersonal im Zentrum.

Damit kann die Schweizer Armee Leistungen erbringen, die auf absehbare Zeit einem kritischen Bedürfnis entsprechen. Um die Durchhaltefähigkeit und Einsatzbereitschaft sicherzustellen, soll sich die Armee auf ziviles und militärisches Personal sowie auf Angehörige der Miliz mit befristeten Verträgen abstützen. Im Informations- und Nachrichtenwesen können Beiträge (inkl. elektronische Sensorik) zum Nachrichtenverbund vor Ort geleistet werden. Neben sogenannten «Liaison and Monitoring»-Teams ist auch der Betrieb von Nachrichtenzellen möglich. Im Sicher37

Die Bereitstellung eines Transporthelikopters wird im internationalen Massstab gleich hoch gewichtet wie 70 Infanteriesoldaten.

5180

heitsbereich geht es darum, Sicherungs- und Schutzleistungen mit den eigens dafür vorgesehenen Mitteln der Armee (Militärische Sicherheit und Armeeaufklärungsdetachement) für eigene Kontingente und Detachemente und für die entsprechenden Missionen zu erbringen.

Bei unbewaffneten Einzelpersonen und Kleindetachementen wird die vermehrte Entsendung von Militärbeobachtern, Stabsoffizieren und Experten der humanitären Minenräumung angestrebt. Gleichzeitig sollen die Anstrengungen zur Unterstützung der Reform des Sicherheitssektors vor Ort bzw. der Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kämpfern in die Zivilgesellschaft mit Expertise (im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe) unterstützt werden. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es Militärs vor Ort oft einfacher fällt, Ratschläge und Kritik von Personen entgegenzunehmen, die ebenfalls Militärs sind, und die Schweiz kann hier dank ihres Milizsystems inhaltliche Impulse geben. Der Bundesrat ist ferner der Ansicht, dass der Geschlechterperspektive in militärischen Friedensmissionen noch vermehrt Rechnung zu tragen ist. Auf die militärische Friedensförderung bezogen sollen die Bemühungen noch verstärkt werden, weibliche Freiwillige für die verschiedenen Einsätze zu gewinnen.

Um diese Leistungen erbringen zu können, muss die Armee Lücken schliessen, die vor allem im Personalbereich bei den hochwertigen Angeboten (z.B. Lufttransport, Militärärztinnen und -ärzte) bestehen. Ebenso soll das Potenzial der Miliz, insbesondere der Durchdiener und der Zeitmilitärs, besser genutzt werden, wobei der Friedensförderungsdienst freiwillig bleibt. Auf eine umfangreiche Beschaffung von Rüstungsgütern eigens für Friedensförderungseinsätze kann weitgehend verzichtet werden.

5.2.2

Weiterentwicklung der Armee

Die Armee muss den Veränderungen in der sicherheitspolitischen Lage und in der Gesellschaft angepasst werden, wenn sie ein wirksames und von der Öffentlichkeit getragenes Instrument bleiben will. Eine Milizarmee verkraftet es aber nicht, Grundlagen wie Dienstpflichtmodell, Rekrutierung, Ausbildung oder Einsatzkonzepte immer wieder in schneller Abfolge zu ändern. Folgerichtig ist ein schrittweiser Anpassungsprozess zu wählen. In einem ersten Schritt muss die Armee konsolidiert werden; dieser Konsolidierungsprozess ist mit dem Entwicklungsschritt 2008/11 im Gange. Die Armee muss aber in einem zweiten Schritt modernisiert und weiterentwickelt werden. Dies umfasst unter anderem die Verbesserung der Reaktionszeit und der Durchhaltefähigkeit, die Modernisierung des Milizsystems, die Streitkräfteentwicklung und die Verstärkung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation.

Die aufgrund der veränderten Bedrohungslage wichtigste Entwicklungslinie der Armee besteht darin, sich ausgehend von einer früher fast vollständigen Ausrichtung auf reine Territorialverteidigung gegen ausländische Armeen zu einem gegen vielfältigere Bedrohungen und Gefahren wirksamen Instrument weiterzuentwickeln, ohne dabei ihre Kernfunktion, nämlich die Verteidigungskompetenz, aufzugeben.

Nur mit effizienten Strukturen, die aus den zu erbringenden Leistungen abzuleiten sind, kann die Armee ihre Einsatzbereitschaft und Durchhaltefähigkeit mit den gegebenen finanziellen Ressourcen sicherstellen. Mit der Akzentverschiebung von 5181

der Verteidigung zu umfassenden subsidiären Überwachungs-, Bewachungs-, Sicherungs- und Schutzaufgaben lassen sich auch mittelfristig Reduktionen bei den Betriebskosten der Armee erzielen. Dies, indem der Gesamtbestand der Armee verkleinert und vor allem die «robusten Verbände» (z.B. Panzertruppen, Artillerie) reduziert und nicht mehr benötigte Waffensysteme und Anlagen ausser Betrieb genommen werden. Zudem soll das Dienstpflicht- und Ausbildungsmodell überprüft und angepasst werden. Die Einsparungen, die damit erzielt werden, sollen dazu benutzt werden, intern die Mittel gemäss neuen Prioritäten umzulagern.

Die Kantone unterstützen die Armee in vielen Bereichen (Orientierungstag, Rekrutierungsprozess, Kontrollführung, Entlassungen, Schiesswesen ausser Dienst, Disziplinarstrafwesen, kantonale Waffenplätze, Betrieb von Retablierungsstellen der Logistik). Als Ansprechpartner der Dienstpflichtigen und Dienstleistenden sind sie für die Milizarmee unverzichtbar.

5.2.2.1

Aufgaben, Leistungen und Ressourcen

Die Fähigkeit zur Abwehr eines militärischen Angriffs muss durch eine noch konsequentere Ausrichtung auf Erhalt und Weiterentwicklung der Kompetenz im Sinne eines umfassenden Gesamtsystems Verteidigung, in hoher Qualität und im kleinstmöglichen Umfang, gestärkt werden. Die mit höherer Wahrscheinlichkeit und geringerer Vorbereitungszeit anfallenden Leistungen zur Unterstützung der zivilen Behörden, wie die Katastrophenhilfe oder subsidiäre Sicherungseinsätze, müssen mit gut ausgebildeten und einsatzbezogen ausgerüsteten Kräften erbracht werden.

Weil Angriffe auf die Informatik-Infrastruktur die Leistungserbringung der Armee in allen Aufgaben nachhaltig beeinträchtigen können, muss der Verteidigung in diesem Bereich künftig noch mehr Beachtung geschenkt werden.

Durch die Einführung moderner Systeme sind die Kosten für den Betrieb und Unterhalt stark angestiegen, was den Handlungsspielraum für Investitionen weiter einschränkt. Wegen Kürzungen gegenüber der ursprünglichen Planung in den letzten 10 bis 15 Jahren und weil die Betriebskosten nicht wie erwartet gesenkt werden konnten und Sparmassnahmen sich nicht wie erwartet auswirkten, konnten an sich notwendige Beschaffungen nur teilweise realisiert werden. Dadurch ist heute die Erfüllung der Armeeaufgaben zum Teil in Frage gestellt. Die mit der erwähnten Weiterentwicklung der Armee angestrebte Senkung der Betriebskosten ist insbesondere auch notwendig, damit genügend Ressourcen für ein neues Gleichgewicht zwischen Beschaffungen, Aufgaben und Ressourcen verfügbar sind. Da die Mechanik der Verpflichtungskredite dazu führt, dass vertraglich festgelegte Beschaffungen über mehrere Jahre finanzielle Mittel binden, braucht die Armee eine gewisse finanzielle Planungssicherheit. Die Regelung, wonach Minderausgaben in einem Jahr in den Folgejahren kompensiert werden können, erleichtert dies und ist beizubehalten.

Die Armee soll ihrerseits Finanz-, Personal- und Führungsprozesse etablieren, die eine wirksame betriebswirtschaftliche Führung ermöglichen. Weiter ist die Einführung eines Kosten-Leistungs-Rechnungssystems voranzutreiben.

5182

5.2.2.2

Demografie und Wertewandel

Ab 2011 wird die Anzahl der Stellungspflichtigen und der Rekruten pro Jahr rückläufig sein. Bei gleichbleibendem Wehr- und Dienstpflichtmodell und unveränderter Tauglichkeit wird der Bestand der aktiven Formationen der Armee bis 2025 um rund einen Viertel sinken. Die demografische Entwicklung wird bereits mittelfristig Anpassungen des von der Armee zu erbringenden Leistungsumfangs und/oder des Wehr- und Dienstpflichtmodells nötig machen. Das hat zur Folge, dass entweder Verbände abgebaut oder die Grösse der Verbände reduziert werden müssen.

Die Quote der Militärdiensttauglichen pro Gesamtjahrgang der Stellungspflichtigen liegt nach der Rekrutenschule bei rund 60 %, und 50­55 % bleiben bis zur ordentlichen Entlassung eingeteilt. Diese Zahlen liegen in der gleichen Grössenordnung wie in den vergangenen Jahrzehnten (als die Zahlen vor der Rekrutenschule höher lagen, dafür mehr Abgänge in den Rekrutenschulen zu verzeichnen waren). Zu berücksichtigen ist auch der Einfluss der Einführung des Tatbeweises beim Zivildienst, d.h. der Verzicht auf die Gewissensprüfung, auf die Armeebestände. Ein genügend grosses Interesse und eine hohe Akzeptanz der Armee seitens der Gesellschaft und der Wirtschaft sowie die Bereitschaft zur Übernahme einer Kaderfunktion sind die Grundvoraussetzungen für das schweizerische Milizsystem. Sind diese Voraussetzungen aber nicht mehr in ausreichendem Mass gegeben, drängen sich Reformen des Wehrmodells auf. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass das Milizsystem modernisiert und gestärkt werden muss. Beispielsweise sind Zertifizierungen von Leistungen weiterzuentwickeln, die während eines Dienstes erbracht wurden und die für die Dienstleistenden im Berufsleben nützlich sind.

Die Bereitschaft, ausserhalb von Beruf und privaten Beziehungen Leistungen zugunsten der Gemeinschaft zu erbringen, sinkt. Das Milizsystem ist, so gesehen, in einen Gegensatz zu Grundströmungen in Wirtschaft und Gesellschaft geraten. Die Armee ist davon direkt betroffen, vor allem durch eine für die Deckung der Armeebedürfnisse ungenügende Bereitschaft für eine militärische Karriere und dadurch, dass rund 25 % der Angehörigen der Armee ihre jährlichen Dienstleistungen nicht wie geplant absolvieren, sondern den Dienst verschieben, um beruflichen Verpflichtungen und Ausbildungen (z.B. aufgrund des Bologna-Modells) nachzukommen.

5.2.2.3

Dienstpflichtmodell

Das Dienstpflichtmodell bestimmt, in welchem Zeitraum wie viele Truppen mit welchem Ausbildungsstand zum Einsatz gebracht werden können. Der Bundesrat sieht keinen Anlass, das Milizsystem oder die allgemeine Wehrpflicht in Frage zu stellen. Denn ein Übergang zu einer Wehrpflichtarmee, in der die Dienstpflicht von allen an einem Stück geleistet würde, hätte die Aufgabe des Milizprinzips unter Fortführung der Wehrpflicht zur Folge. Das Kader der Armee müsste weitgehend professionalisiert werden, womit die Führung der Truppen durch Milizoffiziere und -unteroffiziere geopfert würde. Die Option Freiwilligenmiliz würde die Aussetzung der Wehrpflicht bedeuten. Die Vorteile dieses Modells liegen im Wegfall des Zwangs und daraus resultierender Motivations- und Produktivitätsgewinne. Wie und ob mit materiellen und immateriellen Anreizen genügend Dienstwillige gefunden werden könnte, ist aber fraglich. Auch die Variante einer Berufsarmee widerspricht

5183

dem sicherheitspoltischen Selbstverständnis der Schweiz und würde zu erheblichen Rekrutierungsschwierigkeiten führen.

Eine Milizarmee, mit einem Kern von Berufsoffizieren und -unteroffizieren und der Möglichkeit für einen Teil der Milizangehörigen, ihren Ausbildungsdienst als Durchdiener am Stück zu leisten, ist weiterhin die für die Schweiz geeignete Lösung. Dafür sprechen die wehrpolitische Tradition, die Nutzbarmachung ziviler Kenntnisse und Fertigkeiten für die Armee, die soziale und regionale Durchmischung der Armee, die enge Verbindung zwischen Armee und Gesellschaft und die finanziellen Realitäten. Auch der Umstand, dass die Armee nur mit vergleichsweise geringen Kräften Einsätze aus dem Stand oder nach kurzer Vorbereitungszeit leisten muss, und der Einsatz von grossen Truppenverbänden erst nach einer längeren Vorbereitungszeit nötig (und möglich) ist, rechtfertigt aus sicherheitspolitischer Sicht die staatspolitische Präferenz für eine Milizarmee. Das Milizsystem ist aber nicht starr, sondern innerhalb gewisser Grenzen anpassungsfähig. Die konkrete Ausgestaltung des Dienstpflichtmodells ist damit nicht für alle Zeiten festgelegt.

Eine Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen von Bedrohungen, Demografie und Gesellschaft im Sinne einer Flexibilisierung ist zu prüfen. So ist es beispielsweise denkbar, dass für spezifische Einsätze, beispielsweise bei Grossanlässen38, geeignete Armeeangehörige über ihre Dienstpflichtzeit hinaus auf freiwilliger Basis verpflichtet werden können oder dass mittel- und langfristig unter anderem die Kräfte für die Abwehr eines militärischen Angriffs einen verlängerten Grundausbildungsdienst leisten und für den Rest ihrer Dienstdauer in eine Reserve mit einer definierten Bereitschaft übertreten. Damit würde das System der abgestuften Bereitschaft gestärkt, indem die Bereitschaftsformationen39 von diesen Aufträgen entlastet würden. Der Durchdieneranteil soll ausgenutzt werden. Zu prüfen ist auch die Möglichkeit, Jahrgangsverbände einzuführen. Ferner ist zu prüfen, ob für die Unterstützung von Grossanlässen ergänzend zu den Einsätzen von Armeangehörigen Zivildienstleistende eingesetzt werden können. Ebenso wie die Neutralität ist das Milizsystem nicht Selbstzweck, sondern ein Instrument, das übergeordneten Zielen dient, in diesem Fall der Effizienz, Wirksamkeit und gesellschaftlichen Abstützung der Armee.

5.2.2.4

Ausbildungsmodell und Alimentierung der Stäbe

Das heutige Ausbildungsmodell mit einem Grundausbildungsdienst und anschliessenden jährlichen Wiederholungskursen für das Gros der Armee muss mit Blick auf die zivilen Bildungsstätten hinterfragt werden. Das WK-System ist nicht nur mit der Wirtschaft, sondern auch mit der Bildungslandschaft nicht mehr kompatibel, und dies führt heute zu einer grossen Anzahl von Dienstverschiebungsgesuchen. Deshalb müssen mittelfristig auch alternative Ausbildungsmodelle untersucht werden.

Geprüft werden muss allenfalls auch die Frage, ob eine Rücksichtnahme auf den individuellen Wunschtermin für den Beginn der Rekrutenschule weiterhin vertretbar 38

39

Einsätze gemäss der Verordnung vom 8. Dezember 1997 über den Einsatz militärischer Mittel für zivile und ausserdienstliche Tätigkeiten (VEMZ, SR 513.74), wie beispielsweise Eidgenössische Turn- und Sportfeste, Schützenfeste, Sportanlässe von nationaler Bedeutung (Skirennen) usw.

Das sind Formationen, die sich im Ausbildungsdienst (z.B. Wiederholungskursen) befinden und im Hinblick auf einen möglichen Einsatz in einer höheren Bereitschaft stehen als andere Formationen im Ausbildungsdienst.

5184

ist: Im Interesse betriebswirtschaftlicher Effizienz und aus ausbildungstechnischen Überlegungen ist eine möglichst ausgeglichene Belegung der Infrastruktur anzustreben. Basierend auf diesen Überlegungen sind aufgrund vertiefter Abklärungen weitere Varianten zu erarbeiten, beispielsweise die Verlängerung des Grundausbildungsdienstes für den Erhalt der Verteidigungskompetenz und eine Weiterentwicklung des Ausbildungsmodells für diese Aufgabe, das die Miliz wieder verstärkt einbezieht. Nach der Grundausbildung würde die Truppe im Sinne einer Bereitschaftsreserve noch für wenige Jahre reduzierte Wiederholungskurse leisten.

Zusammen mit dem Einbezug der Miliz in die Ausbildung hätte ein solches System bei gleichbleibender Leistung möglicherweise erhebliche Einsparungen im Betrieb der Armee zu Folge. Die Dauer der Gesamtdienstzeit würde sich so grundsätzlich nach den Aufgaben und der dafür notwendigen Bereitschaft richten.

Herausforderungen stellen sich auch bei der Kaderausbildung. Es gibt zu wenige Offiziere, um die Stäbe in ihrer heutigen Zahl und Grösse zu alimentieren. Das Milizsystem bringt es zudem mit sich, dass die Armee eine begrenzte Praxiserfahrung der Kader akzeptieren muss, weil diese nur zeitlich beschränkt verfügbar sind.40 Eine Verlängerung der Gesamtdienstzeit für Kader wäre aber keine Lösung, weil sie die Bereitschaft für eine Milizkarriere weiter schwächen würde. Die Realität ist bereits heute so, dass der Kadernachwuchs nicht genügt, um die jetzige Struktur der Armee auf Dauer zu alimentieren.

5.2.2.5

Materielle Ausstattung, Ausbildungs-, Ausrüstungsund Technologieniveau

Wegen der knappen Finanzmittel und weil die Betriebskosten nicht gesenkt werden konnten, mussten die Rüstungsprogramme in den letzten zehn Jahren klein gehalten werden. Die Armee sah sich deshalb bereits vor geraumer Zeit gezwungen, die vollständige Ausrüstung nicht nur der Reserveverbände, sondern auch der aktiven Armee aufzugeben. Das hat zur Konsequenz, dass bei einem Einsatz eines beträchtlichen Teils der Armee die aktiven Formationen nicht mehr alle komplett ausgerüstet werden können. Zwar war die Armee, bezogen auf die Abwehr eines militärischen Angriffs, noch nie wirklich vollständig ausgerüstet, aber heute ist diese Lücke grösser denn je. So ist es zum Beispiel nicht möglich, mehr als zwei Einsatzverbände der Stufe Brigade gleichzeitig vollständig ausgerüstet einzusetzen und deren Logistikbedürfnisse abzudecken.

Zur Unterstützung der zivilen Behörden wird die vollständige Ausrüstung der dafür vorgesehenen Truppen bei gleichzeitig laufender Grundausbildung in Schulen und Kursen angestrebt. Zudem muss die Infrastruktur modernen Anforderungen genügen, und das Stationierungskonzept muss überarbeitet werden. Die angestrebte Senkung der Betriebskosten soll zur Finanzierung dieser Massnahmen beitragen.

Die der Armee zur Verfügung stehenden oder realistisch anstrebbaren personellen und finanziellen Ressourcen genügen nicht, sie permanent auf einem Ausbildungs-, Ausrüstungs- und Bewaffnungsniveau und in einer Bereitschaft zu halten, die sie praktisch aus dem Stand oder binnen Wochen in die Lage versetzen würde, einen 40

Das Milizsystem hat aber gleichzeitig den Vorteil, von ihrer zivilen Tätigkeit her gut bis sehr gut ausgebildete Angehörige der Armee für die Bedienung komplexer Führungs-, Aufklärungs- und Waffensysteme rekrutieren zu können.

5185

grossangelegten konventionellen militärischen Angriff auf die Schweiz abzuwehren.

Dies ist auch nicht notwendig. Die Armee kann in Anbetracht der sicherheitspolitischen Lage gewisse Lücken bei der Bereitschaft und den militärischen Fähigkeiten in Kauf nehmen. Dies ist nicht neu; Verzicht und Wiederaufbau von militärischen Fähigkeiten sind Bestandteil herkömmlicher langfristiger Armeeplanung. Für den Fall, dass sich ein militärischer Angriff auf die Schweiz als Möglichkeit (auch nur mittel- oder längerfristig) abzeichnen würde, müssten Ausrüstung, Fähigkeiten und Bereitschaft der Armee wieder auf einen Stand gebracht werden, der es ermöglichen würde, einen konventionellen Angriff mit Aussicht auf Erfolg abzuhalten oder abzuwehren. Die dazu zur Verfügung stehende Zeit wird durch die Gegenseite und durch die Fähigkeit der eigenen Nachrichtendienste bestimmt. Es ist aber klar, dass ein solcher Vorgang Jahre in Anspruch nähme und äusserst kostspielig wäre.

Die Armee ist auf ein bestimmtes Leistungsprofil ausgerichtet, eine Anpassung an ein anderes Leistungsprofil braucht Zeit und Geld. Damit die Voraussetzungen für die Abwehr eines militärischen Angriffs überhaupt geschaffen werden können, müssen alle für den möglichen Einsatzfall nötigen Fähigkeiten erhalten werden, wenn auch ressourcenbedingt auf quantitativ tiefem Niveau. Erhalt und Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten im qualitativen Sinn sind unverzichtbar. Für die Abwehr eines militärischen Angriffs ist ein umfassendes, vernetztes Gesamtsystem Verteidigung, mit Truppen für den Einsatz am Boden und in der Luft, vorzusehen.

Der Bundesrat würde es für verfehlt halten, ein detailliertes Aufwuchskonzept für einen möglichen künftigen militärischen Konflikt auszuarbeiten, weil Art und Ausmass der benötigten Fähigkeiten von der konkreten Bedrohung abhängen würden: Solange nicht klar ist, worauf die Armee sich vorbereiten muss, ist es nicht möglich, die Erlangung der nötigen militärischen Fähigkeiten im Detail zu planen. Die Armee muss aber dafür sorgen, dass die in Kauf genommenen Fähigkeitslücken nicht zu gross werden und ein Aufbau rechtzeitig erfolgen könnte. Um die Voraussetzungen für die Erkennung von Anzeichen zu verbessern, aufgrund deren die Fähigkeiten der Armee erhöht werden müssten, will der Bundesrat die Armeeführung beauftragen, alle 12
Monate dem Sicherheitsausschuss des Bundesrates eine Lagebeurteilung zu unterbreiten. Diese soll gestützt auf die zusammen mit den Nachrichtendiensten erarbeitete Beurteilung der armeerelevanten Bedrohung und der Fähigkeiten der Armee aufzeigen, ob es Anzeichen dafür gibt, dass zusätzliche militärische Fähigkeiten erlangt werden müssten, in welchen Bereichen dies zu erfolgen hätte und welche Anträge für Planung und Durchführung zu stellen wären.

Damit die Armee die von ihr erwarteten Leistungen erbringen kann, muss sie über Fähigkeiten verfügen, die dem gesamten Bedrohungs- und Gefahrenspektrum entsprechen und je nach konkretem Bedarf flexibel und bedarfsgerecht miteinander kombinierbar sind. Dazu braucht es ein differenziertes Technologieniveau mit einer Prioritätensetzung, wobei dem Aspekt der steigenden Betriebskosten vermehrt Beachtung zu schenken ist. Eine Herausforderung liegt auch darin, Technologien zum richtigen Zeitpunkt einzuführen, sodass die Armee weder technologische Schritte verpasst noch in unreife Technologien investiert. Zudem muss die Technologie milizkompatibel sein. Angesichts der Vielfalt dieser Anforderungen wäre es unzweckmässig, pauschale Aussagen über das anzustrebende Technologieniveau der Schweizer Armee zu machen.

5186

5.2.2.6

Bereitschaft

Die Armee muss innert nützlicher Frist die nötigen Kräfte verfügbar haben, gleichzeitig aber vermeiden, Kräfte in unnötig hoher Bereitschaft zu halten. Eine abgestufte Bereitschaft soll beide Bedürfnisse erfüllen: Verschiedene Teile der Armee stehen in unterschiedlich hoher Bereitschaft.

In höchster Bereitschaft stehen Berufsformationen wie die Einsatzzüge der Militärischen Sicherheit, die Betriebsorganisation für die Flugplätze, für den Lufttransport und die Luftraumüberwachung sowie die Führungsnetze. Sie decken die Grundlast der täglichen Aufträge ab. Wenn Einsätze grössere Kapazitäten verlangen, z.B. bei Katastrophen, stehen Durchdiener zur Verfügung. Für noch grössere Einsätze, die nicht vorhersehbar sind, aber nach kurzer Vorbereitungszeit (Stunden oder Tage) geleistet werden müssen, sollen Alarmformationen bezeichnet werden. Genügen auch diese Kräfte noch nicht, sollen in Wiederholungskursen befindliche Truppen eingesetzt werden. In letzter Priorität würden weitere Truppen aus der aktiven Armee (d.h. Angehörige der Armee, die noch nicht alle Wiederholungskurse geleistet haben) aufgeboten. Diese bräuchten mehr Zeit, um sich auf einen Einsatz vorzubereiten.

Die Armee hat derzeit zudem eine Reserve. Es soll aber geprüft werden, ob es sinnvoll ist, sie beizubehalten, da der Zeitbedarf für ihre Einsatzvorbereitung noch grösser wäre und ihre Ausrüstung nicht sichergestellt werden kann. Auf Angehörige der Reserve, die nicht in Formationen der Armee eingeteilt sind, soll in jedem Fall verzichtet werden.

5.2.2.7

Rüstungspolitik und Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor

Der Rüstungssektor hat in den letzten Jahren starke Veränderungen erfahren. Dies betrifft die Rüstungsgüter, die schneller entwickelt und technologisch komplexer werden, gleichzeitig aber auch die Rüstungsindustrie, die zunehmend geprägt ist von unternehmerischen und industriellen Verflechtungen und Multinationalisierungen, dem Auftauchen und Verschwinden von Nischenanbietern, Grossfirmen und Ad-hoc-Konsortien.

Mit seiner Rüstungspolitik legt der Bundesrat fest, wie in diesem sich wandelnden Umfeld die Bedürfnisse der Armee nach Gütern, Infrastrukturen, Dienstleistungen und Fachwissen möglichst langfristig und verlässlich erfüllt werden und dadurch Handlungsfreiheit geschaffen wird. Dabei legt er den Weg fest im Spannungsfeld widersprüchlicher Anforderungen zwischen autonomer Erfüllung hoheitlicher Sicherheitsaufgaben des Bundes und dem wirtschaftlichen Umgang mit Ressourcen.

Schliesslich gibt die Rüstungspolitik Richtlinien vor für den Umgang mit dem privaten Sektor, dem im Rüstungsbereich eine entscheidende Rolle zukommt.

Angesichts der technologischen Abhängigkeit der Armee vom Ausland bei Schlüsselkomponenten, deren Verfügbarkeit staatlichen Bewilligungen und Kontrollen unterworfen ist, ist rüstungstechnische Autarkie in normalen wie in ausserordentlichen Lagen technologisch und wirtschaftlich undenkbar geworden. Dennoch sind in der Schweiz in ausgewählten Bereichen relevante industrielle Kapazitäten zu fördern, die unmittelbar Leistungen für die Armee erbringen können, aber auch Beteiligungen an Beschaffungen und den Zugang zu Technologien und Märkten 5187

ermöglichen. Da der Bedarf der Armee für eine wirtschaftliche Produktion der Schweizer Industrie nicht ausreicht, bleibt diese auf den Zugang zu Exportmärkten angewiesen. Direkte oder indirekte Offsetgeschäfte sollen deshalb die Wettbewerbsfähigkeit stärken, ohne dass Strukturerhaltungspolitik betrieben wird.

5.2.2.8

Internationale Kooperation und Zusammenarbeitsfähigkeit

Die Schweizer Armee oder Teile davon sind für fast alle denkbaren Einsätze auf Zusammenarbeit angewiesen, in erster Linie mit Partnern des Sicherheitsverbundes Schweiz, dann aber auch mit anderen Staaten und internationalen Organisationen.

Die nationale Zusammenarbeit ist Selbstverständlichkeit und seit Langem geübte Praxis; sie soll aber weiter verbessert werden. Auch die internationale Kooperationsfähigkeit der Armee soll, wo politisch sinnvoll und im Sicherheitsinteresse der Schweiz, konsolidiert und ausgebaut werden.

Der internationale Vergleich kann Ausgangspunkt für Verbesserungen sein. Für die Entwicklung der Armee ist es wichtig, dass über Auslandausbildungen und -aufenthalte von Angehörigen der Armee neue Erfahrungen für die aktuelle Armee und für die Weiterentwicklung der Armee einfliessen können. Die Teilnahme an Ausbildungskursen im Ausland kann auch dazu dienen, Kosten und Personal einzusparen. Manche Einsätze können in der Schweiz nur sehr eingeschränkt oder gar nicht geübt werden. In der Rüstungsbeschaffung ist die internationale Dimension schon allein mangels Alternativen zwingend, in der Ausbildung ist sie geübte Praxis.

In der Friedensförderung erfolgen alle Einsätze zusammen mit anderen Streitkräften, und in der Unterstützung humanitärer Hilfe geht es auch darum, mit internationalen Organisationen sowie militärischen und zivilen Organen anderer Staaten zu kooperieren.

Zusammenarbeit ist nicht nur eine Frage des Wollens, sondern auch des Könnens.

Die Fähigkeit von Streitkräften oder Teilen davon, mit internationalen und nationalen Partnern in Einsätzen zusammenzuarbeiten, wird Interoperabilität genannt.

Grundsätzlich erhöht Interoperabilität die Handlungsfreiheit, indem sie sicherstellt, dass im Ereignisfall einer politisch gewollten Zusammenarbeit mit in- und ausländischen Partnern keine technischen, prozessualen oder mentalitätsbedingten Hindernisse im Wege stehen. Das ist aus Sicht des Bundesrates anzustreben, solange es keine Sachzwänge schafft und auch nicht die Fähigkeit der Armee beeinträchtigt, im Einsatzfall ihre Leistung zu erbringen. Dies gilt grundsätzlich für alle Armeeaufgaben; in Bezug auf die Verteidigung sind aber neben neutralitätsrechtlichen auch neutralitätspolitische Aspekte zu berücksichtigen.41

41

Rein neutralitätsrechtlich wäre es durchaus zulässig, mit anderen Staaten die gemeinsame Verteidigung zu üben, um für den Fall eines Angriffs auf die Schweiz die Handlungsfreiheit zu maximieren. Um die Glaubwürdigkeit der Neutralität zu erhalten und zu stärken, ist allerdings in diesem Zusammenhang Zurückhaltung angebracht.

5188

5.2.2.9

Fazit: Weiterentwicklung der Armee

Die Armee muss bezüglich der Veränderungen in der sicherheitspolitischen Lage, der personellen Realitäten und finanziellen Vorgaben sowie der Gesellschaft angepasst werden, wenn sie ein wirksames und von der Öffentlichkeit getragenes Instrument bleiben soll. Dies entspricht einem Beschluss des Bundesrates vom 26. November 200842 und bedeutet in der heutigen Lage konkret:

42

­

An der allgemeinen Wehrpflicht und am Milizprinzip soll festgehalten werden.

­

Die konkrete Ausgestaltung des Milizprinzips, darunter das Ausbildungsund Dienstleistungsmodell, soll laufend überprüft werden, auch in Bezug auf Möglichkeiten zur Kostensenkung.

­

Der Gesamtbestand der Armee wird abnehmen. Das wird sich in einer Reduktion der Anzahl der Formationen (insbesondere der sogenannten «robusten Verbände», z.B. Artillerie und Panzertruppen) und der Stäbe niederschlagen.

­

Die Armeeorganisation wird bedarfsgerecht künftigen Entwicklungen angepasst. Dabei ist sie so anpassungsfähig zu gestalten, dass die Grundstruktur auch dann nicht verändert werden muss, wenn einzelne Bataillone oder Kompanien aus Bestandesgründen gestrichen oder verkleinert werden. Doppelspurigkeiten in der Armee und ihren Verwaltungseinheiten müssen vermieden werden.

­

Berufsformationen und Durchdiener sind die Mittel in höchster Bereitschaft.

Wenn sie nicht ausreichen, sollen Alarmformationen eingesetzt werden. Erst dann sollen Truppen zum Einsatz kommen, die sich gerade in der Ausbildung befinden. Darüber hinaus ist das Aufgebot der Armee oder von Teilen von ihr vorzubereiten.

­

Die Ausbildung soll mit redimensionierter Infrastruktur effizient erfüllt werden.

­

Es gilt, den Kadernachwuchs langfristig sicherzustellen.

­

Die Festungsanlagen, die permanenten Sperrstellen und die dazugehörigen Formationen sind so rasch als möglich stillzulegen beziehungsweise aufzulösen.

­

In der Kompetenz des Chefs VBS liegende Anpassungen werden als Sofortmassnahmen nach der Beratung des sicherheitspolitischen Berichts im Parlament umgesetzt. Dem Parlament werden möglichst rasch nach Abschluss der Behandlung des sicherheitspolitischen Berichts und eines Der Bundesrat beschloss am 26. November 2008, dass das VBS parallel zum sicherheitspolitischen Bericht einen Plan zur unverzüglichen Reduktion des Bestandes der Armee angesichts der demografischen Gegebenheiten 2010­2025 ausarbeiten solle. Diese Reduktion solle auch eine Verringerung beim Material einschliessen, sodass das Material mit den geplanten finanziellen Mitteln unterhalten und modernisiert werden könne. Der Reduktionsplan solle auch die Problematik der Alimentierung der Milizkader berücksichtigen. Der sicherheitspolitische Bericht solle ein neues Gleichgewicht zwischen Aufgaben und Mitteln unter Berücksichtigung der strategischen Gegebenheiten und der ordentlichen Finanzplanung herstellen. Eine weitere Intensivierung der internationalen Kooperation solle nach Massgabe der Sicherheitsbedürfnisse und innenpolitisch verträglich erfolgen.

5189

Armeeberichts die notwendigen Gesetzesanpassungen für die Weiterentwicklung der Armee in einer Botschaft vorgelegt.

­

Aufgaben, Leistungen und Mittel müssen im Gleichgewicht stehen.

Für die Aufgaben können die folgenden Konsequenzen identifiziert werden: ­

Die Akzentverschiebung von der Verteidigung hin zu umfassenden Überwachungs-, Bewachungs-, Sicherungs- und Schutzaufgaben wird fortgesetzt.

­

Die Armee soll die Unterstützung der zivilen Behörden für Schutz und Hilfe mit territorial oder regional verankerten Grossen Verbänden und Truppenkörpern erbringen. Die Einsatzverbände sollen dabei voll ausgerüstet sein.

­

Die Kompetenz für die Abwehr eines militärischen Angriffs wird mit der Weiterentwicklung eines qualitativ guten, quantitativ minimalen, aber robusten Gesamtsystems gewahrt. Dieser Teil der Armee soll, wenn nötig, sekundär auch für die Unterstützung der zivilen Behörden eingesetzt werden können.

­

In der Friedensförderung soll das Gewicht auf den Einsatz hochwertiger Mittel gelegt werden (z.B. Transporthelikopter, terrestrische Logistik und Transport). Die Einsätze sollen zu einem guten Teil durch Freiwillige aus der Miliz unter Anrechnung an die Dienstpflicht sowie durch militärisches Berufspersonal erbracht werden.

­

Die Sonderoperationskräfte der Armee, Berufs- und Milizformationen sollen künftig ­ aus Gründen der Effizienz und der Wirksamkeit ­ zentral ausgebildet und eingesetzt werden.

Armeebericht Basierend auf den Rahmenbedingungen und Aufgaben wird der Handlungsbedarf und -spielraum bei den notwendigen Parametern43 der Armee in einem Armeebericht 2010 aufgezeigt. Dessen Zielsetzung ist eine zweifache: Erstens geht es darum, im Sinne eines Standberichtes über die Leistungen der Armee zu orientieren sowie die eingeleiteten und die beabsichtigten Massnahmen zur Behebung der wesentlichen Mängel der Armee konkret darzulegen. Aufzuzeigen sind mögliche Sofortmassnahmen und eine Verzichtsplanung samt deren Auswirkungen ­ insbesondere auch die finanziellen Konsequenzen. Veranlassung für diesen Aspekt des Armeeberichtes sind verschiedene parlamentarische Vorstösse.44 Zweitens werden die Rahmenbedingungen und Perspektiven aus dem sicherheitspolitischen Bericht bezüglich Weiterentwicklung der Armee konkretisiert: Ausgehend von den Bedrohungen werden die Aufträge an die Armee und deren künftiges Leistungsprofil konkretisiert sowie mögliche Armeemodelle identifiziert und quantifiziert. Aus der tragfähigsten Lösung werden Eckwerte für die Weiterentwicklung der Armee abgeleitet.

43 44

Doktrin, Organisation, Unternehmen, Ausbildung, Material, Personal, Finanzen, Infrastruktur.

Zum Beispiel die Motionen 09.4332 Gutzwiller und 09.4333 Schwaller vom 11.12.2009: Handeln statt klagen: die Mängel der Armee endlich beheben.

5190

Die Massnahmen zur Mängelbehebung wie auch die Phasen der Weiterentwicklung der Armee sowie dazu nötige Anpassungen der Rechtslage werden zeitlich festgelegt. Das Gros der Massnahmen zur Mängelbehebung ist bereits terminlich festgelegt. Die Umsetzung der Massnahmen für die Weiterentwicklung der Armee wird gegen Ende der nächsten Legislatur voll greifen.

5.2.3

Weiterentwicklung des Rechts zu Armeeeinsätzen

Fragen zum Rechtsschutz Die Rechtsetzung im Sicherheitsbereich scheint sich durch eine gewisse rechtliche Unsicherheit auszuzeichnen, namentlich in Bezug auf das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Dies betrifft beispielsweise den Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber konkreten Anordnungen militärischer Organe, namentlich im Rahmen von Assistenzdiensteinsätzen. Wo Bundesorgane zugunsten der Kantone eingesetzt werden, gilt die Rechtsweggarantie des Artikels 29a der Bundesverfassung (unter Vorbehalt der menschenrechtlichen Rechtsweggarantien) nur eingeschränkt. In gewissen Bereichen wird zudem gerügt, dass eine genügende formellgesetzliche Grundlage fehle, wie sie für schwere Grundrechtseingriffe in der Bundesverfassung vorausgesetzt wird (Art. 36 Abs. 1 sowie 164 Abs. 1 der Bundesverfassung). Wie bereits erwähnt werden einige dieser Fragen in anderem Zusammenhang zu klären sein. Generell gilt, dass der Rechtsschutz von Personen, die von militärischen Massnahmen betroffen sind, verfassungs- und völkerrechtskonform ausgestaltet sein muss.

Subsidiäre Sicherungseinsätze Artikel 57 der Bundesverfassung sieht vor, dass Bund und Kantone im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die Sicherheit des Landes und den Schutz der Bevölkerung sorgen; im Bereich der inneren Sicherheit haben sie ihre Anstrengungen zu koordinieren. Dabei geht man übereinstimmend davon aus, dass die Kantone primär für die innere Sicherheit verantwortlich sind. Einige Staatsrechtsspezialisten rügen jedoch, dass die Kantone diese Verantwortung nicht immer genügend wahrnehmen würden und die Schwelle für (subsidiäre) Einsätze der Armee allzu tief gesetzt werde (z.B.

Botschaftsbewachung, wo der Beizug der Armee mehrmals verlängert wurde).

Die Subsidiarität ist bei solchen Einsätzen in zweierlei Hinsicht zu beachten: einerseits im Rahmen der Abgrenzung zwischen zivilen und militärischen Aufgaben und anderseits hinsichtlich der Zuständigkeiten zwischen Bund und Kantonen.

Zu prüfen sind daher im Lichte der relativ offenen Formulierung von Artikel 57 der Bundesverfassung die Grenzen für die Unterstützung der zivilen Behörden durch Einsätze der Armee, dies bezüglich der Art der Einsätze (Abgrenzung von sicherheitsbezogenen Einsätzen zu Aufgaben ohne solchen Bezug; Grenzen für präventive Massnahmen wie z.B. Personenkontrollen)
und ihrer Dauer.

Friedensförderungs- und Assistenzdiensteinsätze im Ausland Bei den Einsätzen der Schweizer Armee im Ausland geht es einerseits um Beiträge der Schweiz zu Massnahmen der internationalen Gemeinschaft, die der Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit dienen. Solche Massnahmen bezwecken, Spannungen zu entschärfen, zur friedlichen Beilegung von Streitfällen 5191

beizutragen oder zumindest günstige Voraussetzungen für Verhandlungen zu schaffen. Anderseits besteht mit dem Assistenzdienst eine Einsatzart für humanitäre Aktionen, insbesondere für Katastrophenhilfe, die auch im Ausland geleistet werden kann.

Nun sieht sich die internationale Staatengemeinschaft im Rahmen der Krisenbewältigung zunehmend der Herausforderung gegenüber, dass sich staatliche Strukturen in einer wachsenden Anzahl von Staaten in einem Auflösungsprozess befinden. Diese Erscheinung wirkt sich einerseits negativ auf die Sicherheit bei humanitären Operationen aus, andererseits hat sie auch Folgen für die Sicherheit und Wohlfahrt anderer Staaten, etwa durch kriminelle Netzwerke, Flüchtlingsströme oder die Beeinträchtigung der Energie- und Rohstoffversorgung. Als Antwort auf diese Erscheinung führt die Staatengemeinschaft vermehrt sogenannte internationale Polizeieinsätze durch.

Dabei werden namentlich gezielte Massnahmen gegen zivile Akteure krimineller Netzwerke ergriffen, die einen «Failed State» als Operationsbasis für ihre Aktivitäten nutzen.

5.3

Bevölkerungsschutz

Für die Vorsorge und Bewältigung von Katastrophen und Notlagen ist das sicherheitspolitische Instrument Bevölkerungsschutz zuständig. Es besteht aus den Partnern Polizei45, Feuerwehr46, Gesundheitswesen47, technische Betriebe48 und Zivilschutz, die bei grossen Ereignissen mit aufeinander abgestimmten Aufgaben unter der Führung gemeinsamer Krisenstäbe (Führungsorgane) zum Einsatz kommen.

Katastrophen und Notlagen können ohne Vorwarnung eintreten; der Bevölkerungsschutz muss deshalb seine Leistungen jederzeit aus dem Stand heraus erbringen können. Mit seinen Partnern und der Sicherstellung der zivilen Führungsfähigkeit auf Stufe Kantone und Gemeinden ist er ein wichtiger Leistungsträger des Sicherheitsverbundes Schweiz.

5.3.1

Aufgaben

Zum Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und Notlagen sowie bei einem bewaffneten Konflikt trägt der Bevölkerungsschutz durch vorsorgliche Planungen und Massnahmen, die Sicherstellung der zivilen Führungsfähigkeit sowie Schutz, Rettung und Betreuung im Ereignisfall bei.

Vorsorgliche Planungen und Massnahmen: Als Grundlage für vorsorgliche Planungen und Massnahmen werden für den Bevölkerungsschutz auf den verschiedenen 45

46

47 48

Bei der Bewältigung von Katastrophen und Notlagen sind polizeiliche Mittel zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung nötig (Verkehrsleitung, Absperrungen, Schutz vor Plünderungen usw.).

Kernaufgabe der Feuerwehren sind die Intervention zum Schutz von Menschen, Tieren, Umwelt und Sachwerten bei Bränden, Naturereignissen, Explosionen, Einstürzen, Unfällen oder ABC-Ereignissen.

Primär sind dies Mittel des Gesundheitswesens zur Rettung und Erstbehandlung (sanitätsdienstliches Rettungswesen) im Rahmen des Koordinierten Sanitätsdienstes (KSD).

Die technischen Betriebe (öffentlich- oder privatrechtlicher Status) stellen das Funktionieren ihrer Einrichtungen sicher. Dies betrifft etwa die Elektrizitäts-, Wasser- und Gasversorgung, Entsorgung, Verkehrsverbindungen sowie die Telekommunikation.

5192

staatlichen Ebenen Gefährdungs- und Risikoanalysen erstellt und aktualisiert.

Gestützt darauf werden Leistungsaufträge an die Partnerorganisationen des Bevölkerungsschutzes abgeleitet, die Einsatzkonzeption definiert, das Material für Führung und Einsatz beschafft sowie die Ausbildung geplant. Dazu kommen die Werterhaltung und die Weiterentwicklung der Infrastruktur des Bevölkerungsschutzes, insbesondere der Schutzbauten, der Führungsanlagen, der Systeme zur Alarmierung und Information der Bevölkerung, der Telematiksysteme sowie spezialisierter Einrichtungen wie Labors.

Sicherstellung der zivilen Führungsfähigkeit: Der Bevölkerungsschutz stellt mit seinen Führungsorganen auf Stufe Kanton und Gemeinde die Führungsfähigkeit bei Katastrophen und Notlagen sowie bei einem bewaffneten Konflikt sicher. Dazu gehören die Warnung, Alarmierung und Verbreitung von Verhaltensanweisungen an die Bevölkerung49, die Bereitstellung eines Lagebildes, die Koordination der den zivilen Behörden unterstellten Einsatzmittel und die Bereitstellung der Führungsunterstützung.

Schutz, Rettung und Betreuung im Ereignisfall: Der Bevölkerungsschutz ist mit seinen Partnerorganisationen für die zivile Ereignisbewältigung bei Katastrophen und Notlagen sowie bei einem bewaffneten Konflikt zuständig. Dabei geht es insbesondere um den vorsorglichen Schutz der Bevölkerung, um die Rettung im Ereignisfall und die Betreuung der betroffenen Personen bei und nach einem Ereignis.

5.3.2

Verbundsystem

Der Bevölkerungsschutz ist ein modular aufgebautes Verbundsystem, basierend auf den Blaulicht-Organisationen Polizei, Feuerwehr und Gesundheitswesen (inkl.

sanitätsdienstliches Rettungswesen), die bei einem grösseren Ereignis durch die technischen Betriebe und den Zivilschutz ergänzt und unterstützt werden. Von Bevölkerungsschutz wird dann gesprochen, wenn ein Ereignis die Partnerorganisationen gemeinsam betrifft und deshalb unter der Führung der gemeinsamen Krisenstäbe bewältigt wird. Diese zivilen Führungsorgane werden durch die Exekutiven von Kanton, Region und Gemeinde eingesetzt, und sie stützen sich für Einsatzplanungen sowie für die Koordination und Führung der Partnerorganisationen im Ereignisfall auf umfassende Gefährdungs- und Risikoanalysen. Auf Stufe Bund verfügt der Bevölkerungsschutz über das Labor Spiez und die Nationale Alarmzentrale. Letztere ist ein Koordinationsorgan auf Bundesebene zur Bewältigung von zivilisations- und naturbedingten Katastrophen und Notlagen und dient heute auch als Melde- und Lagezentrum.

Der Bevölkerungsschutz verfügt über eine vernetzte Infrastruktur. Diese gilt es gesamthaft zu schützen. Dazu gehören neben den Schutzbauten (Schutzräume für die Bevölkerung, Führungseinrichtungen und sanitätsdienstliche Anlagen), deren Werterhaltung sichergestellt wird, Systeme für die Alarmierung und Information der Bevölkerung (Sirenen und Notfallsender), die modernisiert und ergänzt werden. Ein 49

Zum Schutz der Bevölkerung vor Naturereignissen beschloss der Bundesrat 2007 (Bundesratsbeschluss OWARNA vom 30. Mai 2007) die Umsetzung einer Reihe von Massnahmen zur Optimierung der Warnung und Alarmierung. Die Umsetzung dieser Massnahmen betrifft zahlreiche Bundesämter des EDI, des VBS und des UVEK und hat zum Ziel, eine wesentliche Verbesserung der Bewältigung von natur- und zivilisationsbedingten Katastrophen zu erreichen.

5193

wichtiger Pfeiler dieses Systems ist die Telematik, die mit dem Sicherheitsfunknetz Schweiz (Polycom) eine flächendeckende Versorgung der Behörden und Organisationen für Rettung und Sicherheit ermöglicht.

5.3.3

Aufgabenteilung Bund ­ Kantone

Die Kantone regeln Organisation, Ausbildung, Bereitschaft und Einsatz der Partnerorganisationen im Bevölkerungsschutz. Sie gewährleisten die zeit- und lagegerechte Führung und sind für den Vollzug der vom Bund erlassenen Vorschriften über den Zivilschutz verantwortlich. Sie regeln zudem die interkantonale Zusammenarbeit im Rahmen der Katastrophenhilfe.

Der Bund ist zuständig für Fälle erhöhter Radioaktivität, Notfälle bei Stauanlagen, Satellitenabstürze, Epidemien und Tierseuchen sowie bei einem bewaffneten Konflikt. Bei Ereignissen, die mehrere Kantone, das ganze Land oder das grenznahe Ausland betreffen (z.B. Erdbeben), kann der Bund im Einvernehmen mit den Kantonen die Koordination und allenfalls die Führung übernehmen. Zudem regelt er grundsätzliche Aspekte des Bevölkerungsschutzes, insbesondere des Zivilschutzes.

Dazu gehören Rechte und Pflichten der Schutzdienstpflichtigen, die Ausbildung, die Koordination und Unterstützung der Kantone bei der Beschaffung des Materials, die Alarmierung- und Telematiksysteme und die Schutzbauten. Hinsichtlich Naturgefahren besteht eine wichtige Aufgabe des Bundes in der Erhebung und Bereitstellung von relevanten Daten, in der Erstellung von Vorhersagen und Warnungen sowie in deren Verbreitung an die Fach- und Führungsstellen der Kantone.

Bei der Weiterentwicklung des Bevölkerungsschutzes, der Ausbildung, der Information, der internationalen Zusammenarbeit sowie Forschung und Entwicklung arbeiten Bund und Kantone zusammen. In der Forschung und Entwicklung betrifft dies insbesondere die Risikoanalyse Schweiz, die Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen und den ABC-Schutz.

5.3.4

Zusammenarbeit

Im Bevölkerungsschutz arbeiten öffentliche und private Institutionen zusammen.

Dazu gehören Fachstellen des Bundes und der Kantone für Naturgefahren, Behörden des Gesundheitswesens, Forschungsanstalten und Nichtregierungsorganisationen der Katastrophenhilfe (z.B. Organisationen des Schweizerischen Roten Kreuzes). Dazu kommen die koordinierten Bereiche50 (Telematik, ABC-Schutz, Sanität, Verkehr, Wetter), welche die Zusammenarbeit in der Planung, Vorbereitung und Umsetzung von Massnahmen in wichtigen Fachgebieten sicherstellen. Eine ähnliche Funktion im Bereich der Naturgefahren erfüllt der Lenkungsausschuss Intervention Naturgefahren. Die Zusammenarbeit mit der Armee ist eingespielt. Militärische Mittel sollen erst dann zum Einsatz kommen, wenn die zivilen Mittel im interregionalen bzw.

interkantonalen Verbund ausgeschöpft sind.

50

Die koordinierten Bereiche sind primär für die Planung und Vorbereitung in spezifischen Bereichen zuständig. Damit soll die optimale Abstimmung der Aufgabenerfüllung verschiedener ziviler Stellen des Bundes und der Kantone sowie der Armee gewährleistet werden.

5194

Katastrophen sind vielfach grenzüberschreitend, was eine internationale Zusammenarbeit nötig macht. Die Schweiz hat Katastrophenhilfeabkommen mit allen Nachbarstaaten abgeschlossen. Diese ermöglichen es, gegenseitig im grenznahen Ausland direkt Katastrophenhilfe zu leisten. Der Bevölkerungsschutz ist zudem auch in multilaterale Netzwerke einbezogen. Dazu gehören etwa der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat und die Partnerschaft für den Frieden, die Internationale Atomenergie-Agentur, ECURIE (European Community Urgent Radiological Information Exchange), die Uno-Wirtschaftskommission für Europa, das Uno-Entwicklungsprogramm, die Uno-Abteilung für Abrüstungsangelegenheiten, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen oder die Weltgesundheitsorganisation.

5.3.5

Zivilschutz

Eine besondere Rolle im Verbundsystem Bevölkerungsschutz hat der Zivilschutz, da er als einzige Partnerorganisation in der Bundesverfassung verankert ist und auf einer nationalen Dienstpflicht basiert. Der Zivilschutz ist die einzige zivile Organisation, die bei lange andauernden und schweren Ereignissen die Durchhaltefähigkeit gewährleisten und die anderen Organisationen längerfristig unterstützen, verstärken und entlasten kann. Zudem erbringt er spezialisierte Leistungen wie die Führungsunterstützung für die Krisenstäbe der Kantone und Gemeinden, die Alarmierung der Bevölkerung, die Bereitstellung der Schutzinfrastruktur, die Betreuung von Schutz suchenden und obdachlosen Personen, den Schutz von Kulturgütern, die Durchführung schwerer Rettungen sowie Instandstellungsarbeiten. Mit diesem Leistungsprofil und seiner Durchhaltefähigkeit ist der Zivilschutz ein unverzichtbares Mittel des Bevölkerungsschutzes. Er muss seine Leistungen praktisch ohne Vorbereitungszeit und teilweise sogar aus dem Stand erbringen, da viele der heute wahrscheinlichen Ereignisse ohne Vorwarnzeit eintreten. Eine adäquate Ausrüstung, Ausbildung und Bereitschaft der Zivilschutzangehörigen ist deshalb unabdingbar. Mit Blick auf künftige Gefährdungen wie den Klimawandel wird die Bedeutung des Zivilschutzes noch zunehmen.

5.3.6

Weiterentwicklung des Bevölkerungsschutzes

Der Bevölkerungsschutz basiert auf dem Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetz vom 4. Oktober 200251, das seit 2004 in Kraft ist. Die Kantone haben ihre rechtlichen Grundlagen angepasst und das System Bevölkerungsschutz auch auf kantonaler Ebene etabliert. Das System hat bei Ereignissen der letzten Jahre seinen Nutzen bewiesen. Der Bevölkerungsschutz ist auf die derzeitigen und absehbaren Gefahren ausgerichtet. Gemeinden, Regionen und Kantone verfügen über funktionierende Führungsorgane, die Regionalisierung des Zivilschutzes ist auf Kurs und die Zusammenarbeit der Partnerorganisationen funktioniert gut. Dennoch gilt es, das System Bevölkerungsschutz und den Zivilschutz weiterzuentwickeln. Kurzfristige Anpassungen werden im Rahmen der zurzeit laufenden Revision des Bevölkerungsund Zivilschutzgesetzes vorgenommen. Dabei geht es im Wesentlichen um eine flexiblere Lösung bei der Zahl der Schutzdienst- respektive Ausbildungstage für Kader und Spezialisten sowie um die Werterhaltung der bestehenden Schutzraum51

SR 520.1

5195

infrastruktur. Für die längerfristige Weiterentwicklung hat das VBS in Absprache mit der Militär- und Zivilschutzdirektorenkonferenz (MZDK) eine gemeinsame Arbeitsgruppe eingesetzt, die bis Mitte 2011 eine «Strategie Bevölkerungs- und Zivilschutz 2015 plus» zuhanden des Bundesrates und der MZDK vorschlagen soll.

Aus heutiger Sicht stehen in den nächsten zehn Jahren folgende Bereiche im Vordergrund: Zivile Führung auf Stufe Bund bei Katastrophen und Notlagen: Zurzeit fehlt beim Bund ein Pendant zu den Krisenstäben (Führungsorganen) in den Kantonen und Regionen oder Gemeinden, was besonders von den Kantonen als Defizit betrachtet wird. Zur Koordination des operativen Krisenmanagements des Bundes sind, basierend auf bestehenden Elementen, Prozesse und Strukturen zu schaffen. Zentral für die Optimierung des horizontalen und vertikalen Zusammenspiels im Sicherheitsverbund Schweiz ist die technisch-kommunikative Vernetzung der Krisenstäbe.

Nationale Standards für den Bevölkerungsschutz: Die weitgehende Föderalisierung des Bevölkerungsschutzes, besonders der Krisenstäbe und des Zivilschutzes, hat zu unterschiedlichen Lösungen in den Kantonen geführt. Die Zusammenarbeit unter den Kantonen sowie zwischen Bund und Kantonen wird dadurch erschwert.

Zusammen mit den Kantonen soll der Bund einheitliche Standards für Organisation, Material und Ausbildung erarbeiten. Zudem ist in Teilbereichen auch die Aufgabenteilung zu überprüfen.

Dienstpflicht im zivilen Bereich: Die Dienstpflichtsysteme bei den Milizorganisationen des Verbundsystems Bevölkerungsschutz sind unterschiedlich. Dies wird von verschiedenen Seiten bemängelt. Eine Harmonisierung soll deshalb geprüft werden.

Allenfalls ist weiteren Organisationen im Bereich des Katastrophenschutzes zu ermöglichen, ihre Leistungen im Rahmen einer zivilen Dienstpflicht zu erbringen (z.B. Krisenstäbe, Samariter).

Infrastruktur und Material des Zivilschutzes: Die Anforderungen an den Zivilschutz werden in Zukunft steigen. Entsprechend ist zu prüfen, ob mehr finanzielle Mittel für die Infrastruktur und das Material des Zivilschutzes nötig sind, damit er weiterhin die geforderten Leistungen erbringen kann. Insbesondere das Korpsmaterial für den Einsatz bei Katastrophen ist veraltet und entspricht nicht mehr den heutigen Einsatzerfordernissen sowie den geltenden
Sicherheitsstandards. Die teils individuelle Beschaffung durch die Kantone gefährdet die Interoperabilität bei der interkantonalen Hilfeleistung und erschwert aufgrund der grösseren Mobilität der Dienstpflichtigen eine effiziente Ausbildung. Es ist deshalb abzuklären, inwieweit sich der Bund künftig bei der Standardisierung dieser Materialkategorie beteiligen wird.

Bereitschaft des Zivilschutzes: Die Gefahren verlangen eine hohe Bereitschaft des Zivilschutzes. Bereits heute bestehen in den Kantonen Lösungsansätze, um mit kantonalen Mitteln zur Schwergewichtsbildung oder mit erhöhten Bereitschaftsgraden gewisser Zivilschutzformationen schneller und effizienter Hilfe leisten zu können. Es ist zu prüfen, ob diese Ansätze weiterentwickelt werden können, z.B. in Richtung eines Stützpunktsystems mit speziellen, mobil und schnell einsetzbaren Zivilschutzformationen, die innert Stunden grossräumig zur Katastrophenhilfe eingesetzt werden können.

5196

Katastrophenhilfeeinsätze im Ausland: Während der Bevölkerungsschutz Katastrophenhilfe im Inland und im grenznahen Ausland leistet, sind das Schweizerische Korps für Humanitäre Hilfe und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit für internationale Katastrophenhilfeeinsätze zuständig.52

5.4

Nachrichtendienst

Die diffuse Bedrohungslage, mit der die Schweiz konfrontiert ist, erhöht die Bedeutung nachrichtendienstlicher Aufklärung und Früherkennung. Bundesrat und Parlament forderten angesichts der zunehmenden Interdependenz von innerer und äusserer Sicherheit seit Längerem eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen dem Dienst für Analyse und Prävention (Inlandnachrichtendienst) und dem Strategischen Nachrichtendienst (Auslandnachrichtendienst). Mit dem Bundesgesetz vom 3. Oktober 200853 über die Zuständigkeiten im Bereich des zivilen Nachrichtendienstes verpflichtete das Parlament beide Dienste auf eine gemeinsame und umfassende Beurteilung der Bedrohungslage. Um dieser gesetzlichen Forderung besser Rechnung zu tragen, beschloss der Bundesrat am 25. März 2009, die beiden zivilen Nachrichtendienste in einem neuen Bundesamt zusammenzuführen. Die Gründung des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) auf den 1. Januar 2010 und seine Verankerung als sicherheitspolitisches Instrument sind zweckmässige Antworten auf die heutigen und künftigen sicherheitspolitischen Herausforderungen unseres Landes. Im Zuge der Fusion wird es auch darum gehen, Synergiepotenziale zu suchen. Nach der durch die Fusion notwendigen Konsolidierungsphase wird der NDB auch in Zukunft weiterentwickelt und gegebenenfalls an neue Erfordernisse angepasst werden müssen. Es wäre aber verfrüht, diese Weiterentwicklung bereits heute skizzieren zu wollen, zumal die aus heutiger Sicht nötigen Konsequenzen bei seiner Schaffung vor einem Jahr berücksichtigt worden sind.

Der NDB ist das Kompetenzzentrum für sämtliche nachrichtendienstlichen Belange der inneren und äusseren Sicherheit. Er unterstützt die politische und militärische Führung und weitere Dienststellen bei Bund und Kantonen und trägt mit seinen Erkenntnissen und Beurteilungen zu bedrohungsgerechten und breit abgestützten Entscheiden bei. Der NDB richtet den Einsatz seiner Mittel nach den Bedürfnissen und Erwartungen seiner Partner und Leistungsbezüger aus. So generiert er einen nachrichtendienstlichen Nutzen, mit dessen Hilfe eine umfassende führungsrelevante Nachrichtenlage für Entscheidträger jeglicher Ebenen geschaffen werden soll.54

52

53 54

Zunehmende Bedeutung erhält eine Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU im Rahmen des Civil Protection Mechanism, da beide Seiten auf einen gut funktionierenden Informationsaustausch vor, während und nach Ereignissen angewiesen sind.

SR 121 Die Armee verfügt zusätzlich über den Nachrichtendienst der Armee, der bedeutsame Informationen im Hinblick auf die Verteidigung des Landes, den Friedensförderungsdienst und den Assistenzdienst im Ausland beschafft und auswertet. Dazu stützt er sich auf Sensoren der Armee, die Zusammenarbeit mit in- und ausländischen Dienststellen und offene Quellen. Konkret stellt der Nachrichtendienst der Armee die Verfolgung und Darstellung der Lage bei Armeeeinsätzen für die militärische Führung aller Stufen und die Truppe sicher. Für die Armeeführung stellt er zudem die mittelfristige Bedrohungsentwicklung und die Entwicklung ausländischer Streitkräftepotenziale dar.

5197

5.4.1

Aufgaben

Die Themen und Interessensgebiete, mit denen sich der NDB befasst, sind im Bundesgesetz vom 21. März 199755 über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) und in einem vom Bundesrat erlassenen Grundauftrag festgehalten. Der NDB arbeitet innerhalb dieses Rahmens entweder aufgrund allgemeiner, selbst wahrzunehmender gesetzlicher Aufträge oder im Einzelfall auf konkreten Auftrag der politischen und militärischen Führung, anderer Stellen der Bundesverwaltung oder der Kantone. Der Sicherheitsausschuss des Bundesrates erfasst regelmässig die sensitiven Informationsbedürfnisse verschiedener Bundesstellen und bestimmt die mittelfristige Ausrichtung der nachrichtendienstlichen Aufklärung.

Der NDB hat den generellen gesetzlichen Auftrag, die Lage umfassend zu beurteilen. Dazu gehören nicht nur die Aufklärung, Beschreibung und Beurteilung der aktuellen Situation, sondern auch die Früherkennung möglicher Gefährdungen. In erster Linie interessieren dabei Entwicklungen, die direkt oder indirekt die Interessen der Schweiz, insbesondere ihre Sicherheit und Handlungsfähigkeit betreffen.

Früherkennung ermöglicht es der politischen und militärischen Führung und anderen Dienststellen der Verwaltung von Bund und Kantonen, zweckmässige Entscheidungen zu treffen. Der NDB gewährleistet mit dem Bundeslagezentrum die fortlaufende Lagedarstellung und -beurteilung im Bereich der inneren und äusseren Sicherheit sowie die Warnung und Alarmierung im Ereignisfall. Bei interkantonalen, nationalen und internationalen Ereignissen mit Bezug zur inneren oder äusseren Sicherheit wird über das Bundeslagezentrum des NDB zudem der Nachrichtenverbund geführt.

Eine besondere Aufgabe hat der NDB mit der Bearbeitung von Informationen der inneren Sicherheit. Er ist ein wesentlicher Teil des Staatsschutzes. Gemäss BWIS betrifft dies Terrorismus, verbotenen Nachrichtendienst, gewalttätigen Extremismus und den rechtswidrigen Handel mit Waffen, radioaktiven Materialien und sensibler Technologie (Proliferation). Der Bund trifft zusammen mit den Polizeiorganen der Kantone vorbeugende Massnahmen zur frühzeitigen Verhinderung und Bekämpfung solcher Gefahren.

Als Auslandnachrichtendienst hat der NDB den Auftrag, sicherheitspolitisch relevante Informationen über das Ausland zu beschaffen, auszuwerten und zu verbreiten. Dazu gehören auch
Erkenntnisse zur sicherheitspolitischen und militärischen Lage Europas, die eine Veränderung der Bereitschaft der Armee oder die Einleitung eines Aufwuchses erfordern könnten. Da sich innere und äussere Sicherheit kaum noch voneinander unterscheiden lassen, tragen sicherheitspolitisch relevante Informationen über das Ausland auch zur Wahrung der inneren Sicherheit bei.

5.4.2

Arbeitsweise

Der NDB beschafft Informationen, die andere Bundesstellen mit ihren Rechtsgrundlagen und Mitteln nicht besorgen können, und wertet sie unter Berücksichtigung öffentlich zugänglicher Informationen aus. Exklusive Informationen erhält er insbesondere aus menschlichen Quellen, der Aufklärung von Kommunikationsmitteln im Ausland und einem grossflächigen Netz ausländischer Partnerdienste. Nachrichtendienstliche Erkenntnisse und Einschätzungen stützen sich wenn immer möglich auf 55

SR 120

5198

mehrere Informationen unterschiedlicher Herkunft. Der NDB arbeitet mit Dienststellen von Bund und Kantonen, der Armee sowie Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Die Informationspflichten der Kantone und die Pflichten betreffend Meldungen und Auskünfte von Amtsstellen gegenüber dem NDB sind im BWIS festgehalten.

Der NDB erstellt nachrichtendienstliche Erkenntnisse und Einschätzungen politisch unabhängig und kann zu anderen Beurteilungen als andere Dienststellen der Verwaltung kommen. Der NDB ist ein ständiges Mitglied in interdepartementalen Arbeitsgruppen und Institutionen wie der Lenkungsgruppe Sicherheit.

Der NDB ist gegenüber der Öffentlichkeit so offen wie möglich. Gewisse Informationen und Bereiche können aber aus Gründen des Quellen- und des Mitarbeiterschutzes nicht offengelegt werden. Dazu gehören Strukturen und Fähigkeiten sensitiver Beschaffungsbereiche, detaillierte Bearbeitungsgebiete und die Liste internationaler Partner.

5.4.3

Kontrolle des Nachrichtendienstes

Die Tätigkeiten des NDB werden aus fachlicher und aus politischer Sicht überwacht.

Intern findet eine Kontrolle durch die Exekutivbehörden und extern durch die parlamentarische Aufsicht statt.

Die Kontrolle durch die Exekutivbehörden erfolgt auf verschiedenen Ebenen: Die Nachrichtendienstliche Aufsicht des Generalsekretariats VBS überprüft die Tätigkeiten des NDB auf Rechtmässigkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit. Dabei berücksichtigt sie die Prioritäten, die durch die Nachrichtenbedürfnisse der politischen Instanzen vorgegeben sind. Ein interdepartementales Gremium überprüft die Recht- und Verhältnismässigkeit der Aufträge an die Ständige Funkaufklärung. Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte prüft die Gesetzmässigkeit der Personendatenbearbeitung der Inlandbeschaffung. Der Bundesrat führt und kontrolliert den NDB in Fragen hoher politischer Bedeutung; insbesondere erteilt er den Grundauftrag und genehmigt die Beobachtungsliste gemäss BWIS. Er wählt die Mitglieder des interdepartementalen Gremiums zur Überprüfung der Funkaufklärungsaufträge und genehmigt und überprüft schliesslich auch die Beziehungen zu ausländischen Diensten.

Der NDB wird weiter durch parlamentarische Aufsicht kontrolliert. Die Geschäftsprüfungsdelegation der eidgenössischen Räte überwacht die Tätigkeiten in Bezug auf Rechtmässigkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit und hat dazu umfassende Einsichtsrechte. Der NDB wird zudem durch die Finanzkontrolle im Auftrag der Finanzdelegation der eidgenössischen Räte jährlich kontrolliert.

5.5

Wirtschaftspolitik

5.5.1

Sicherheitspolitische Aufgaben

Die Wirtschaftspolitik stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der schweizerischen Volkswirtschaft und fördert dadurch Wohlstand und politische Stabilität. Dabei soll nachhaltiges Wirtschaftswachstum gefördert werden, das namentlich die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, die Berücksichtigung der Umwelt und die Sicher5199

stellung des sozialen Ausgleichs und damit des gesellschaftlichen Zusammenhangs einschliesst.

Die Wirtschaftspolitik fördert über die Rahmenbedingungen den Wirtschaftsstandort Schweiz in seiner Attraktivität für Investitionen und qualifizierte Arbeitskräfte. Sie wird dabei durch die Nationalbank mit einer stabilitätsorientierten Geld- und Währungspolitik unterstützt. Die Aussenwirtschaftspolitik verbessert über die Öffnung der Märkte die Rahmenbedingungen für eine Diversifikation bei der Herkunft und Destination der Exporte und Importe sowie für Auslandinvestitionen. Sie schafft damit günstige Voraussetzungen für die Versorgung der Schweiz auch in ausserordentlichen Lagen. Indem sich Handel in aller Regel zum wechselseitigen Vorteil der Beteiligten auswirkt, verringert er das wirtschaftliche Gefälle, das eine Quelle sicherheitspolitischer Probleme ist.

Die Wirtschafts- und die Aussenwirtschaftspolitik fördern die globale Stabilität durch die Vertiefung der internationalen Wirtschaftszusammenarbeit, und sie sichern ein offenes Welthandelssystem. Durch völkerrechtliche Vereinbarungen, Konsultationsmechanismen und Schiedsverfahren trägt die Aussenwirtschaftspolitik zur Schaffung international gültiger Regeln und zur Beilegung von Streitigkeiten in den internationalen Wirtschaftstätigkeiten bei und reduziert damit die Gefahr, dass diese zu machtpolitischen Auseinandersetzungen eskalieren.

5.5.2

Organisation und Wirkungsweise

Wirtschaftliche Verflechtung trägt ein stabilisierendes Element in sich: Exportstaat wie Importland haben ein Interesse daran, eingespielte Wirtschaftsbeziehungen aufrechtzuerhalten, drohen bei Lieferunterbrechungen doch Arbeitsplatzverluste wegen fehlender Exporte respektive der Stillstand von Produktionsanlagen wegen ausbleibender Zulieferungen. Wirtschaftliche Verflechtung enthält aber auch Risiken, namentlich wenn die wirtschaftlichen Abhängigkeiten einseitig sind oder wenn sie entlang eines politischen Machtgefälles verlaufen. Es ist deshalb wichtig, dass Aussenwirtschaftsbeziehungen in ein Regelwerk eingebunden sind, an dessen Einhaltung die massgebenden Handelsmächte ein gemeinsames Interesse haben. In Verhandlungen in der Welthandelsorganisation sollen deshalb die Rahmenbedingungen für die Weltwirtschaft weiterentwickelt und verstärkt werden. Die Schweiz unterstützt dieses Anliegen auch in anderen internationalen Organisationen, z.B. der OECD, dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development).

Das Wachstum der Weltwirtschaft verbessert das allgemeine Wohlstandsniveau, verstärkt aber auch den Druck, durch harmonisierte Massnahmen auf globaler Ebene das ökologische Gleichgewicht zu erhalten. Die Schweiz unterstützt solche Bemühungen, z.B. zum Schutz der Erdatmosphäre, zur Erhaltung der biologischen Vielfalt oder zur Kontrolle von Transporten gefährlicher Abfälle.

Die sich abzeichnende Verknappung natürlicher Ressourcen verstärkt das Konfliktpotenzial, das um die Kontrolle der entsprechenden Vorkommen und der Transportwege seit je besteht. Die Durchsetzbarkeit staatsvertraglicher Ansprüche ist begrenzt, namentlich wenn der Zugriff auf Ressourcen als Druckmittel bei politischen Spannungen eingesetzt wird. Auch ohne in solchen Situationen direkt involviert zu sein, muss sich die Schweiz auf Versorgungskrisen einstellen. Neben pri5200

vaten Vorkehren (Diversifizierung der Versorgungsquellen, private Lagerhaltung) dienen die Massnahmen der wirtschaftlichen Landesversorgung des Bundes der Sicherung der Wirtschaftstätigkeit und der politischen und wirtschaftlichen Handlungsfreiheit der Schweiz in solchen Situationen.

Ganz generell setzt sich die Schweiz dort, wo die internationale Wirtschaftstätigkeit durch sicherheitspolitisch motivierte Massnahmen eingeschränkt wird, dafür ein, dass deren Auswirkungen so wenig handelsverzerrend wie möglich sind und die Massnahmen nicht diskriminierend umgesetzt werden. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben zu verstärkten Sicherheitsüberprüfungen bei Warenströmen, aber auch bei finanziellen Transaktionen und im Geschäftsreiseverkehr Anlass gegeben. Es ist zu verhindern, dass diese Vorkehren zu protektionistischen Zwecken missbraucht werden.

Die Zusammenarbeit mit Europa bleibt für die Schweiz unabdingbar, um der Wirtschaft Stabilität, optimale Versorgungssicherheit und Entwicklungsmöglichkeiten zu sichern. Dabei leiten neben Interessenerwägungen auch gemeinsame Wertvorstellungen und Solidarität die Schweizer Politik. Die EU setzt seit ihrer Gründung auf wirtschaftliche Verflechtung als Instrument zur Verringerung des Wohlstandsgefälles und zur politischen Stabilisierung. Die Schweiz fördert das zentrale Anliegen der dauerhaften Gewährleistung von Sicherheit und Frieden in Europa unter anderem mit der technischen und finanziellen Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas.

In einer globalisierten Wirtschaft mit wenigen mächtigen Wirtschaftsblöcken würde ein Abseitsstehen die Schweiz für wirtschaftliche Druckversuche aller Art verwundbar machen. Dies gilt auch in der Währungs- und Finanzpolitik. Die Einhaltung internationaler, unter Mitwirkung der Schweiz erarbeiteter Standards zu Geldwäscherei, Potentatengeldern, Terrorismusfinanzierung und Amtshilfe in Steuersachen dient dazu, ungerechtfertigten Ansinnen die Legitimation zu entziehen.

Bei den meisten (aussen-)wirtschaftspolitischen Instrumenten laufen sicherheitspolitische Risikominderung und Mehrung des Wohlstands parallel, weil wirtschaftlicher Austausch neben Einkommen auch einen Beitrag zur Sicherheit schafft. Wirtschaftliche Landesversorgung und Exportkontrollen und Sanktionen bringen als spezifisch sicherheitspolitische
Instrumente der Wirtschaftspolitik dagegen auch Kosten und unternehmerische Einschränkungen mit sich. Sie tragen aber über die Risikominderung, die sie bewirken, zur Förderung der Wohlfahrt bei.

5.5.3

Wirtschaftliche Landesversorgung

Die Globalisierung der Weltwirtschaft hat sich in den vergangenen zehn Jahren beschleunigt und zu einer alle Kontinente umfassenden Internationalisierung der Märkte geführt. Damit ging eine deutliche Verstärkung des weltweiten Wettbewerbs einher, der die Wirtschaftssubjekte zu Innovation, Kosteneinsparung und Spezialisierung zwingt. Die daraus resultierende zunehmende internationale Arbeitsteilung bewirkt, dass ein bestimmtes Produkt dort produziert wird oder ein bestimmter Produktionsschritt dort erfolgt, wo die spezifischen Produktionsbedingungen unter Berücksichtigung der Transportkosten am günstigsten sind. Insbesondere höherwertige Produkte werden oft nicht mehr vollständig an einem einzigen Ort hergestellt.

Sie werden aus Komponenten gefertigt, die von den unterschiedlichsten Standorten der Welt stammen, ehe sie zu den Abnehmern gelangen. Die neuen Informations-, 5201

Kommunikations- und Transporttechnologien, welche die eigentlichen Treiber der Globalisierung sind, ermöglichen zudem stark reduzierte Lagerbestände von Rohstoffen, Energieträgern, Halbfabrikaten und Ersatzteilen. Da Lagerbestände Kapital binden, werden die Waren und Rohstoffe nach dem Just-in-time-Prinzip möglichst erst zu jenem Zeitpunkt geliefert, in dem sie benötigt werden. Diese globalisierten Wirtschaftsstrukturen, in welche die Schweizer Wirtschaft integriert ist, haben zwar zu Wohlstandsgewinnen geführt, sind gleichzeitig aber wegen fehlender Reserven vor Ort sehr viel verletzlicher geworden. Voraussetzung für das Funktionieren dieses Systems ist ein weitgehend störungsfreies Umfeld. Gelingt es nicht, Störungen durch politische und militärische Ereignisse, natürliche und technische Katastrophen, Terrorismus und andere Einflüsse rasch zu beheben, so reagieren die Märkte regelmässig zuerst mit massiven Preissteigerungen, denen meist rasch kürzere oder länger anhaltende Versorgungsengpässe in den betroffenen Sektoren folgen.

Die Wirtschaftliche Landesversorgung konzentriert sich auf sektorielle Versorgungsengpässe kurzer und mittlerer Dauer von 6­18 Monaten. Dabei gilt es in erster Linie, den Markt mit lebenswichtigen Gütern (Energie, Ernährung und Heilmittel) durch Angebotslenkung so lange wie möglich zu 100 Prozent zu versorgen. Pflichtlagervorräte würden rasch freigegeben, gleichzeitig würden Importe gezielt gefördert und allenfalls die Produktion gelenkt. Die Marktversorgung zu 100 Prozent soll grundsätzlich während sechs Monaten aufrechterhalten werden. Normalisieren sich die Marktverhältnisse nicht innerhalb dieser Zeit, lässt sich eine Versorgung auf so hohem Niveau nicht mehr gewährleisten. Setzt sich eine Versorgungskrise trotz Angebotslenkungen fort, so kommen Massnahmen der Nachfragelenkung wie Kontingentierung, Rationierung oder ähnliche Massnahmen zum Zuge. Ziel ist es, eine möglichst ausgewogene Versorgung auf einem reduzierten Niveau zu gewährleisten.

Die zentrale Bedeutung des Dienstleistungssektors in der globalisierten Wirtschaft verlangt zudem geeignete Massnahmen zur Sicherstellung lebenswichtiger Transporte sowie von Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen. Damit diese Bereiche auch bei Störungen und Unterbrüchen ihren Versorgungsauftrag erfüllen können, braucht
es Lenkungs- und Sicherungsmassnahmen wie die Sicherstellung von Transportmitteln, insbesondere von Hochseeschiffen, von Logistikinfrastrukturen und Kommunikationseinrichtungen (inkl. Datennetze). Ebenso ist die Aufrechterhaltung von angemessenen Kapazitäten für die Produktion landwirtschaftlicher Güter in der Schweiz sicherzustellen. Dadurch wird auch bei einer schwerwiegenden Störung der internationalen Handelsflüsse die Versorgung der Schweizer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln garantiert.

Die starke Vernetzung der eigenen Wirtschaft mit der Weltwirtschaft bewegt die Schweiz vermehrt dazu, auch in Fragen der Versorgung mit dem Ausland zu kooperieren. Bewirtschaftungsmassnahmen im Inland bedürfen auch deshalb einer Abstimmung mit Massnahmen der umliegenden Länder, um ein Abfliessen rar gewordener Güter ins Ausland zu verhindern. Ein internationaler Informationsaustausch und die Beteiligung an gemeinsamen Vorkehrungen liegen im Versorgungsinteresse der Schweiz. Auf internationaler Ebene engagiert sie sich deshalb für Fragen der Erdölversorgung in der Internationalen Energie-Agentur und für weitere Krisenversorgungsfragen insbesondere in den Bereichen Verkehr, Ernährung und Industrie im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat und in der Partnerschaft für den Frieden.

5202

5.5.4

Exportkontrollen und Wirtschaftssanktionen

Um der Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihren Trägersystemen sowie übermässiger konventioneller Aufrüstung zu begegnen, beteiligt sich die Schweiz seit den 1970er Jahren an der Erarbeitung international harmonisierter Kontrollmassnahmen, die ihren Niederschlag in vier Exportkontrollregimen gefunden haben. Drei davon befassen sich mit Massenvernichtungswaffen und ihren Trägersystemen bzw. mit Gütern, die zur Entwicklung, Herstellung oder zum Einsatz solcher Waffen oder Trägersysteme dienen können. Viele dieser Güter sind sogenannte Dual-Use-Güter, d.h. sie können sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden. Die entsprechenden Exportkontrollregime sind die Gruppe der Nuklearlieferländer, die Australien-Gruppe (B- und C-Waffen) sowie das Raketentechnologie-Kontrollregime. Das vierte Exportkontrollregime, das WassenaarArrangement, befasst sich mit konventionellen Waffen und (Dual-Use-)Gütern zu ihrer Herstellung. Innerstaatlich sind die in diesen Regimen vereinbarten Kontrollen im Kriegsmaterialgesetz vom 13. Dezember 199656 und im Güterkontrollgesetz vom 13. Dezember 199657 umgesetzt. Die international harmonisierten Exportkontrollen bedeuten zwar eine Einschränkung des internationalen Handels, aber sie sind wichtige Instrumente im Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihren Trägersystemen sowie gegen übermässige konventionelle Aufrüstung.

Dadurch tragen sie zur Sicherheit auch der Schweiz bei.

Die Aufrechterhaltung einer industriellen Kapazität bei der Schweizer Rüstungsindustrie ist von Bedeutung für die nationale Sicherheit. Da der Bedarf der Schweizer Armee für eine wirtschaftliche Produktion nicht ausreicht, ist die Industrie auf den Zugang zu Exportmärkten angewiesen. Bei der Exportkontrolle von Kriegsmaterial ist auch dieser Aspekt zu berücksichtigen.

Seit ihrem UNO-Beitritt im September 2002 ist die Schweiz völkerrechtlich zur Durchführung der Beschlüsse des Sicherheitsrates verpflichtet. Da die Schweiz die Sanktionsbeschlüsse des Sicherheitsrates bereits seit 1990 auf autonomer Basis umsetzte, ergaben sich durch diesen Schritt in der Praxis keine grösseren Veränderungen. Am 1. Januar 2003 trat das Embargogesetz vom 22. März 200258 in Kraft, das den Bundesrat ermächtigt, zur Umsetzung international abgestützter Sanktionen Zwangsmassnahmen
auf Verordnungsstufe zu erlassen. Im konkreten Fall regeln diese Verordnungen sämtliche Verbote oder andere Einschränkungen bezüglich des Güter-, Dienstleistungs-, Zahlungs-, Kapital-, Luft- und Personenverkehrs sowie allfällige weitere Zwangsmassnahmen. Durch die Beteiligung an international abgestützten Sanktionen gegen Staaten, die z.B. in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen versuchen, solche Waffen an andere Staaten weitergeben, terroristische Gruppen unterstützen oder finanzieren, wird letztlich auch die Sicherheit der Schweiz erhöht. Es ist daher im Interesse der Schweiz, diese Bemühungen der Staatengemeinschaft zu unterstützen.

56 57 58

SR 514.51 SR 946.202 SR 946.231

5203

5.6

Zollverwaltung

Die Zollverwaltung erbringt sowohl mit dem zivilen Zoll als auch mit dem Grenzwachtkorps (GWK) einen Beitrag zur Sicherheitspolitik. Neben der Veranlagung von Waren im Reise- und Handelswarenverkehr vollzieht sie rund 150 Erlasse zum Schutz der Bevölkerung, der Umwelt und der Wirtschaft: Sie bekämpft den Schmuggel und kontrolliert in den Bereichen Betäubungsmittel, Waffen und Kriegsmaterial, gefährliche Güter, Kulturgüter, Arten, Markenartikel, Lebensmittel, Barmittel usw. den Verkehr über die Zollgrenze. Das GWK leistet zudem einen Beitrag zur Bekämpfung der illegalen Migration, zu den Personen-, Fahrzeug- und Sachfahndungen und zur Aufdeckung von Dokumentenfälschungen.

Zum Teil als Feststellungsbehörde, zum Teil aber auch als Strafverfolgungsbehörde bildet die Zollverwaltung demnach einen wichtigen Filter zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Dieser Filter besteht nicht nur aus statischen Kontrollen, sondern auch aus mobilen Kontrollen im Grenzraum.

Bereits seit 1964 findet eine enge Zusammenarbeit zwischen der Zollverwaltung und den Kantonen ­ vor allem zwischen dem GWK und den kantonalen Polizeikorps ­ statt. Für die fremdenpolizeilichen und sicherheitspolizeilichen Personenkontrollen haben die Kantone gewisse Aufgaben dem GWK übertragen, um durch die Nutzung von Synergien ihrerseits eine gewisse Entlastung zu erreichen.

Das Abkommen von Schengen erlaubt keine systematischen Personenkontrollen an der Grenze zwischen Schengen-Staaten. Dagegen können Kontrollen als nationale Ersatzmassnahmen im rückwärtigen Raum stattfinden. Diese liegen aufgrund der kantonalen Polizeihoheit in der Verantwortung der Kantone. Das GWK unterstützt diese auf Wunsch im Rahmen seiner originären Aufgaben gemäss den entsprechenden Vereinbarungen. Die Zollaufgaben sind hingegen von den Schengen-Assoziierungsabkommen kaum tangiert und werden weiterhin wahrgenommen. Wegen der zusätzlichen internationalen Vernetzung konnte der Filter an der Grenze mit den Schengen-Assoziierungsabkommen verstärkt werden.

Das GWK leistet mit Detachementen auch Einsätze im Ausland, sei es im Rahmen von Einsätzen zur zivilpolizeilichen Beobachtung, als Sicherheitsbeauftragte im zivilen Luftverkehr oder vor allem zur Sicherung der Schengen-Aussengrenzen.

5.7

Polizei

Innere Sicherheit umfasst im Wesentlichen die Gefahrenabwehr zur Gewährleistung der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sowie die Strafverfolgung zur Ahndung begangener Straftaten. Was allgemein als Polizei bezeichnet wird, ist somit zu differenzieren, auf der Ebene der Kantone wie derjenigen des Bundes. Es geht um die Sicherheitspolizei, die sich mit dem Schutz z.B. von Leib und Leben befasst, und um die Gerichtspolizei als Teil der Strafverfolgung bzw. der Justiz. Beide leisten wesentliche Beiträge zur Sicherheit der Bevölkerung.59

59

Der Staatsschutz als weiteres Element der inneren Sicherheit ist unter Ziffer 5.4 Nachrichtendienst beschrieben.

5204

Die polizeiliche und justizielle Tätigkeit ist in der Schweiz föderalistisch strukturiert. Den Kantonen und dem Bund sind je eigenständige Aufgabenbereiche zugewiesen; Bund und Kantone sind aber verpflichtet, ihre Anstrengungen im Bereich der inneren Sicherheit zu koordinieren.60

5.7.1

Die Rolle der Kantone

Grundsätzliche Zuständigkeit für die innere Sicherheit Die Kantone üben als selbstständige Gemeinwesen die Gebietshoheit über ihr Territorium aus und tragen damit die primäre Verantwortung für die Sicherheit auf ihrem Kantonsgebiet.61 Aus der Gebietshoheit fliesst die Polizeihoheit. Aus dieser wiederum ergibt sich der allgemeine und umfassende Auftrag zur Gefahrenabwehr bezüglich der «klassischen» Polizeigüter, also der Schutzgüter Leib und Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Besitz. Dazu gehört auch die Strafverfolgung, also die Ermittlung eines Delikts und dessen justizförmige Beurteilung bei den meisten Straftatbeständen.

Interkantonale Zusammenarbeit Angesichts knapper personeller Ressourcen und der kleinräumigen Verhältnisse spielt die interkantonale Zusammenarbeit eine entscheidende Rolle. Rechtlich geregelt ist diese Zusammenarbeit primär durch Polizeikonkordate. Basis sind die vier regionalen Konkordate, an denen alle Kantone ausser Tessin und Zürich beteiligt sind: Nordwestschweiz

Ostschweiz

Westschweiz

Zentralschweiz

Aargau Bern Basel-Stadt Basel-Landschaft Solothurn

Appenzell Innerrhoden Appenzell Ausserrhoden Glarus Graubünden Schaffhausen St. Gallen Thurgau Fürstentum Liechtenstein

Freiburg Genf Jura Neuenburg Wallis Waadt

Luzern Nidwalden Obwalden Schwyz Uri Zug

Eine besondere Vereinbarung regelt die interkantonalen Polizeieinsätze (IKAPOL).

Ihr gehören neben den oben erwähnten Konkordatskantonen auch die Kantone Zürich und Tessin sowie die Stadt Zürich an.

Hat ein Kanton ein Ereignis zu bewältigen, das seine eigenen Kapazitäten und auch die seiner Nachbar- und Konkordatskantone übersteigt, so kann er gestützt auf die IKAPOL-Vereinbarung zusätzliche Polizeikräfte anfordern. Für solche Begehren bzw. Einsätze sind auf politischer und operativer Stufe besondere Abläufe und Gremien vorgesehen: die Arbeitsgruppe Operationen der Konferenz der kantonalen 60 61

Artikel 57 Absätze 1 und 2 der Bundesverfassung.

Vergleiche Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 130 237.

5205

Polizeikommandanten der Schweiz (KKPKS), die Arbeitsgruppe GIP der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) und für die Unterstützung der Einsätze der Interkantonale Koordinationsstab (IKKS). Interkantonale Polizeieinsätze sind z.B. zum Schutz von Grossanlässen wie dem jährlichen Weltwirtschaftsforum in Davos oder internationalen Konferenzen wie dem G-8-Gipfel von 2003 in Evian oder für Sportgrossanlässe wie die Euro 2008 erforderlich. Für die Unterstützung, insbesondere die Vorbereitung von Fussball- und Eishockeyspielen mit erhöhtem Risiko, führen die Kantone gemeinsam die Zentralstelle für Hooliganismus.

Die gesamtschweizerische Koordination in den Bereichen Polizei und Justiz auf politischer Ebene ist Sache der KKJPD. Für die regionale Koordination sind Regionalkonferenzen der Justiz- und Polizeidirektoren in der Westschweiz, in der Zentralschweiz, in der Nordwestschweiz und in der Ostschweiz zuständig. An Letzterer ist auch das Fürstentum Liechtenstein beteiligt.

Die Zusammenarbeit in der Ausbildung wurde in den vergangenen zehn Jahren intensiviert. In Hitzkirch wurde eine Polizeischule für die Polizeiangehörigen aus den Konkordaten Zentralschweiz und Nordwestschweiz und in Amriswil eine für die Mitglieder des Ostschweizer Konkordats errichtet. In der Westschweiz betreiben die Kantone Wallis und Waadt die Académie de police du Chablais in St-Maurice/ Savatan. Die Ecole régionale de police in Colombier wird von den Kantonen Neuenburg, Jura und Bern getragen. Die vier in der Westschweiz bestehenden Polizeischulen in St-Maurice/Savatan, Genf, Colombier und Freiburg sind 2006 unter die Aufsicht eines Koordinators gestellt worden. Gestützt auf das bildungspolitische Gesamtkonzept für die Schweizer Polizei, das im Auftrag der KKJPD erarbeitet wurde, wird das Schweizerische Polizei-Institut in Zukunft noch stärker für die Weiterbildung von Spezialisten und Polizeikadern verantwortlich sein.

5.7.2

Die Rolle des Bundes

Sicherheitspolizeiliche Aufgaben Der Bund ist im Sinne der Gefahrenabwehr für spezifische Bereiche sicherheitspolizeilich tätig. Der Bundessicherheitsdienst des Bundesamts für Polizei sorgt zusammen mit den Kantonen für den Schutz von Bundesbehörden und Gebäuden des Bundes sowie von Personen und Gebäuden, für die der Bund völkerrechtliche Schutzpflichten hat (u.a. Botschaftsschutz). Weiter ist er für Rekrutierung, Ausbildung und Einsatz der Sicherheitsbeauftragten im zivilen Luftverkehr zuständig.

Richtlinien über deren Aufgaben werden vom Bundesamt für Polizei in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Zivilluftfahrt erstellt. Zum Einsatz kommen vor allem Angehörige kantonaler und städtischer Polizeikorps, der Militärischen Sicherheit und des GWK.

Eine besondere sicherheitspolizeiliche Zusammenarbeit mit den Kantonen pflegt ­ wie erwähnt ­ die Zollverwaltung.

Kriminalpolizeiliche Aufgaben Wesentlich dafür, dass sich Bürgerinnen und Bürger sicher bewegen und im Alltag sicher fühlen können, ist ein zeitgemässes, klar formuliertes Straf- und Strafverfahrensrecht und dessen konsequente Anwendung. Wie bei den sicherheitspolizeilichen 5206

Aufgaben haben Bund und Kantone auch in der Strafverfolgung (Repression) unterschiedliche Zuständigkeiten. Der Bund ist für den Erlass des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts zuständig. Für schwere, grenzüberschreitende und komplexe Kriminalität (organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, grenzüberschreitende Wirtschaftskriminalität, terroristisch motivierte Straftaten oder deren Finanzierung, verbotener Nachrichtendienst, Sprengstoffdelikte und Korruption) liegt die Zuständigkeit für die Strafverfolgung beim Bund und wird von der Bundesanwaltschaft wahrgenommen. Im Bundesamt für Polizei unterstützt die Bundeskriminalpolizei (BKP) als Gerichtspolizei des Bundes die Bundesanwaltschaft im Bereich der Strafverfolgung. Ausserhalb der fachlichen Aufsicht durch die Bundesanwaltschaft ist die BKP für sämtliche Informationsbearbeitungen koordinierender, analytischer und ermittelnder Natur in Erfüllung ihrer Aufgaben als Zentralstelle zuständig, dies in den Bereichen organisiertes Verbrechen und Wirtschaftsdelinquenz.

Internationale Polizeikooperation Gestützt auf seine Kompetenz im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten hat der Bund in den vergangenen Jahren die internationale Polizeikooperation ausgebaut.

Diese basiert auf drei Pfeilern: der bilateralen Zusammenarbeit hauptsächlich mit unseren Nachbarstaaten und ausgewählten Drittstaaten, der europäischen Zusammenarbeit namentlich im Rahmen von Schengen und Europol sowie der globalen multilateralen Zusammenarbeit insbesondere via Interpol. Die Schnittstellenfunktion des Bundes gegenüber dem Ausland zugunsten der nationalen und kantonalen Partner im polizeilichen Bereich wird durch die Hauptabteilung Internationale Polizeikooperation des Bundesamts für Polizei wahrgenommen. Dieses dient auch als Zentralstelle des Bundes für den Austausch kriminalpolizeilicher Meldungen. Der Fachbereich Hooliganismus des Bundesamts für Polizei koordiniert den Austausch von Informationen bei internationalen Sportveranstaltungen mit Schweizer Bezug.

Dienstleistungen des Bundes für die Kantone Unverzichtbares Hilfsmittel für die Polizei wie für die übrigen Strafverfolgungsorgane sind rasch arbeitende und rund um die Uhr zur Verfügung stehende polizeiliche Informationssysteme. Das Bundesamt für Polizei stellt den Kantonen, der Zollverwaltung und ausländischen
Kooperationspartnern für Personen- und Sachfahndungen und zur Identifikation von Personen und Spuren seit 2008 den Zugang zum Schengener Informationssystem zur Verfügung. Im justiziellen Bereich führt das Bundesamt für Justiz das elektronische Register über die strafrechtlichen Verurteilungen (Strafregister-Datenbank VOSTRA).

Das Bundesamt für Polizei trägt zur Sicherheit bei Sportveranstaltungen bei, indem es das Informationssystem HOOGAN und die nationale Fussball-Informationsstelle NFIP (National Football Information Point) führt. Gegenüber gewaltbereiten Personen können das Bundesamt für Polizei und das Bundesamt für Migration je in ihrem Zuständigkeitsbereich Ein- bzw. Ausreiseverbote erlassen. HOOGAN steht den Polizeibehörden der Kantone, der Schweizerischen Zentralstelle Hooliganismus und der Zollverwaltung über ein Abrufverfahren zur Verfügung. Das am 1. Januar 2007 zusammen mit den Massnahmen Rayonverbot, Meldeauflage, Polizeigewahrsam und Ausreisebeschränkung eingeführte System unterstützt die Kantone im Kampf gegen Gewalt bei Sportveranstaltungen.

5207

Die Zentralstelle Sprengstoff und Pyrotechnik und die Zentralstelle Waffen beim Bundesamt für Polizei haben die Oberaufsicht über den Vollzug der entsprechenden Bundesgesetzgebungen. Sie sind einzigartig auf Bundesstufe und nehmen zudem die Aufgabe eines Fachkompetenzzentrums in ihren Bereichen wahr. Als solche beraten und unterstützen sie einerseits die für den Vollzug zuständigen Kantone und andererseits alle interessierten Bundesstellen (wie z.B. Bundesanwaltschaft, Staatssekretariat für Wirtschaft, Eidgenössische Zollverwaltung, Bundesamt für Berufsbildung und Technologie), die betroffenen Berufsverbände und Wirtschaftskreise bis hin zur einzelnen Bürgerin und zum einzelnen Bürger. Sie stellen ebenfalls die internationalen Kontakte zu den entsprechenden Fachstellen sicher.

Weiter führt das Bundesamt für Polizei in der Abteilung Ausweise und besondere Aufgaben die Koordinationsstelle Identitäts- und Legitimationsausweise. Diese stellt dem GWK sowie den Polizeibehörden die Referenzdatensammlung ARKILA mit Beschrieben von echten Dokumenten zu Vergleich- und Kontrollzwecken zur Verfügung und führt die Datenbank FRAUDE, in welcher schweizweit Ausweisfälschungen und -missbräuche erfasst werden können. Ebenfalls aufgebaut wurde 2010 die Verbindung zur EU-Datenbank False and Authentic Documents (FADO). Mit der weltweiten Einführung von Ausweisen mit elektronisch gespeicherten biometrischen Daten (z. B. E-Pass und die Einführung im Ausländerausweis), musste weiter eine Kontaktstelle für den internationalen Austausch der für das Auslesen und Kontrollieren von Ausweisen notwendigen Zertifikate eingerichtet werden. Die im Ausland beschafften Zertifikate können mittels einer Online-Applikation von berechtigten Stellen beim GWK und den Polizeibehörden bezogen werden. Gleichzeitig beantwortet die Koordinationsstelle Zertifikatsanfragen aus dem Ausland für Schweizer Ausweise.

5.7.3

Ausblick

Die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Kantonen sowie unter den Kantonen ist eng. Dies zeigen die Kooperationsvorhaben im Rahmen der bestehenden Polizeikonkordate und die Einführung des landesweiten FunkSicherheitsnetzes Polycom, an dem sich Bund und Kantone beteiligen. Die Kantone haben dank Vereinbarungen wie IKAPOL ihre Fähigkeit zur flexiblen Schwerpunktbildung verstärkt.

Auch die internationale Justiz- und Polizeizusammenarbeit hat sich in den letzten zehn Jahren markant intensiviert, wobei insbesondere die Terroranschläge vom 11. September 2001 Handlungsdruck geschaffen haben. Die engere Vernetzung der Schweiz in der internationalen Polizeikooperation hat sich auf europäischer Ebene in jüngster Zeit vor allem mit der Assoziierung an die Abkommen von Schengen und Dublin gezeigt.

Manchmal wird die geltende bundesstaatliche Kompetenzordnung ­ Stichwort Föderalismus ­ als Hindernis für eine zeitgemässe Gewährleistung der inneren Sicherheit in der Schweiz dargestellt. In Wirklichkeit waren aber auch innerhalb dieser Kompetenzordnung seit dem SIPOL B 2000 wesentliche Neuerungen und Reformen möglich, mit denen neue Herausforderungen bewältigt werden konnten.

Zuletzt erwies sich die Flexibilität der schweizerischen Polizeistruktur bei der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen den Kantonen und dem Bund zur Gewährleistung der Sicherheit im öffentlichen Raum während der Euro 2008. Dass weiter5208

hin Kapazitätsgrenzen bestehen, machte allerdings auch die Notwendigkeit deutlich, Nachbarstaaten um zusätzliche Polizeikräfte zu ersuchen. Deren Integration in das schweizerische Dispositiv verlief reibungslos. Für die Kantone und ihre Polizeikorps bleibt damit die Frage weiterhin aktuell, welche Korpsgrössen zur Sicherstellung der polizeilichen Grundversorgung erforderlich sind und ab wann eine subsidiäre Unterstützung durch die Armee notwendig ist.

5.8

Zivildienst

5.8.1

Aufgaben

Wer Zivildienst leistet, erfüllt die verfassungsmässige Pflicht, indem er oder sie sich ausserhalb der Armee mit gemeinnütziger Arbeit für Staat und Gesellschaft einsetzt.

Der Status der Zivildienstleistenden entspricht weitestgehend jenem der Angehörigen der Armee. Deshalb können die Zivildienstpflichtigen auch zu ausserordentlichen Zivildiensteinsätzen verpflichtet werden. Diese entsprechen der Verpflichtung der Angehörigen der Armee, Assistenz- und Aktivdienst zu leisten. Bisher sind allerdings noch nie ausserordentliche Zivildiensteinsätze angeordnet worden.

Gemäss dem Zielkatalog, der im Zivildienstgesetz festgeschrieben ist, leistet der Zivildienst auch Beiträge im Rahmen der nationalen Sicherheitskooperation sowie Beiträge, um die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu erhalten. Damit ist der Zivildienst auch ein Instrument der Sicherheitspolitik, wobei über die Frage, welche konkreten sicherheitspolitischen Beiträge er leisten kann und soll, noch Unklarheit herrscht. 2005 und 2006 sind Gruppeneinsätze zur Behebung der Folgen von Naturkatastrophen durchgeführt worden. Sie haben aufgezeigt, dass der Zivildienst Beiträge zur Bewältigung der Folgen von natur- oder zivilisationsbedingten Katastrophen und Notlagen erbringen kann. Im Inland kann er zur Prävention von Naturkatastrophen und, wenn ein grösseres Schadenereignis eingetreten ist, zur Schadensbehebung, zur Unterstützung der Zivilbevölkerung und zur Sicherung und Wiederherstellung der Lebensgrundlagen eingesetzt werden. Die Rechtsgrundlagen dazu und die Führungsinstrumente sind vorhanden. Abgesehen von der Unterstützung von zivilen Behörden ist der Zivildienst jedoch für weitere sicherheitspolitische Aufgaben nicht geeignet, insbesondere nicht für Einsätze im Ausland ausserhalb des grenznahen Raums.

5.8.2

Besonderheiten

Der Zivildienst ist ein ziviles Mittel in der Hand des Bundes. Für ausserordentliche Zivildiensteinsätze liegt die Aufgebotskompetenz beim Bundesrat, für Einsätze der Katastrophen- und Nothilfe liegt sie bei der Vollzugsstelle für den Zivildienst. Die Entscheidungswege sind kurz, und die Zahl der Zivildienstpflichtigen, die aufgeboten werden können, wächst. Ende 2010 wird sie voraussichtlich bei rund 25 000 liegen. Mehrere Hundert von ihnen verfügen über eine Kaderausbildung. Einsätze von mehreren Monaten Dauer sind möglich. Die Einsatzbereitschaft des Zivildienstes ist derzeit tief: Gruppen von Zivildienstleistenden können heute nicht aus dem Stand alarmiert und eingesetzt werden. Sie sind weder speziell ausgebildet, noch haben sie, ausser wetterfesten Arbeitskleidern, eine eigene Ausrüstung. Der Zivildienst kann sich im Einsatz nicht auf eine eigene Infrastruktur stützen. Die Vorberei5209

tung für einen Gruppeneinsatz erfordert deshalb heute mehrere Wochen und umfassende Absprachen mit den Verantwortlichen am Einsatzort. Der Einsatz von Einzelpersonen ist dagegen sehr rasch möglich und hat sich bewährt. Daher eignet sich der Zivildienst nicht als Mittel der Sofort- und Nothilfe, und er tritt nicht in Konkurrenz zu Blaulichtorganisationen, Zivilschutz und Armee. Seine Stärke liegt vielmehr darin, Zivilschutz und Armee mittel- und längerfristig bei der Schadenbewältigung und der Instandstellung zu verstärken und abzulösen sowie die Arbeiten des Wiederaufbaus, die nicht an das lokale Gewerbe vergeben werden können, über längere Zeit fortzuführen. Zu prüfen ist, ob er darüber hinaus zur Entlastung anderer Akteure des Sicherheitsverbundes Schweiz eingesetzt werden kann sowie ob und allenfalls wofür seine Einsatzbereitschaft erhöht werden soll.

6

Strategische Führung und Krisenmanagement

Der Bundesrat und die Kantonsregierungen sind in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen für die politische Führung und das Krisenmanagement zuständig.

Politische Führung ist in der Regel plan- und steuerbar, erfolgt ohne besonderen Zeitdruck und basiert auf umfassenden und konsolidierten Grundlagen. Im Gegensatz dazu sind in Krisen62 der Entscheid- und Zeitdruck sowie die Ungewissheit hoch. Das Risiko, dass die Lage sich verschlimmern könnte, wenn zu spät oder falsch entschieden würde, setzt die Führung unter Druck. Zudem ist die Komplexität der Entscheidfindung grösser, wenn mehrere Stellen mit unterschiedlichen Kompetenzen in der gleichen Sache kohärent entscheiden und koordiniert handeln müssen.

Schliesslich ist Information und Kommunikation ­ bereits in der normalen Lage sehr wichtig ­ in Krisen von überragender Bedeutung zur Herstellung von Transparenz, Ruhe und Vertrauen.

Die Führung muss mental und fachlich auf solche Lagen vorbereitet sein, und die Unterstützungsorgane müssen in ihren Strukturen und Abläufen fähig sein, die benötigten Leistungen und Produkte (z.B. Lagedarstellung, Handlungsoptionen, Anträge) zur richtigen Zeit zu erbringen. Führungsgrundsätze können die Regelung der Zusammenarbeit und Kompetenzabgrenzungen erleichtern, ersetzen aber nicht die vorgängige Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und das Üben der Entscheidfindungsprozesse in den dafür vorgesehenen oder ad hoc zusammengesetzten Führungsstrukturen.

62

Es gibt keine allgemein gültige Definition von Krisen. Sie sind u.a. durch einen eskalierenden Verlauf der Ereignisse und intensive Einwirkungen von aussen geprägt. Ordentliche Prozesse einer Organisation zur Entscheidfindung werden gestört oder verunmöglicht, und es stehen bedeutende Interessen oder gar die Existenz einer Organisation auf dem Spiel. Der Ernst der Lage verlangt, rasch das Richtige zu entscheiden und es auch richtig umzusetzen.

5210

6.1

Bund

Die Führung auf Stufe Bund ist in normalen, besonderen und ausserordentlichen Lagen grundsätzlich die gleiche. Die Reaktionszeiten können aber in einer Krise durch Anpassungen des Führungsverhaltens und der Führungsorganisation (Einsatz von Krisenstäben) verkürzt werden.63 Der Bundesrat als oberste leitende und vollziehende Behörde der Schweiz ist verantwortlich für die politische Führung in nationalen und internationalen Belangen.

Die Departemente tragen die Linienverantwortung, die Departementchefs und -chefinnen zusätzlich die politische Verantwortung. Das oberste Koordinationsorgan der Bundesverwaltung ist die von der Bundeskanzlerin oder vom Bundeskanzler geleitete Generalsekretärenkonferenz. Sie sorgt in allen Situationen, auch unter Zeitdruck, für eine ordentliche Durchführung der Entscheidverfahren, und die Bundeskanzlei sorgt für den Einbezug des Parlaments und der Kantone. In dringlichen Fällen kann die Bundespräsidentin oder der Bundespräsident vorsorgliche Massnahmen durch Präsidialentscheide anordnen. Solche Entscheide sind stets provisorisch und so rasch wie möglich durch ordentliche Beschlüsse des Bundesrates bzw. des Parlaments abzulösen. Die Kommunikation auf Stufe Landesregierung wird durch den Bundesratssprecher oder die Bundesratssprecherin sichergestellt. Er oder sie koordiniert über die Konferenz der Informationsdienste auch die Kommunikation der Departemente. Die Bundeskanzlei informiert Kantone und weitere Partner.

Der Bund hat Sonder- und Krisenstäbe, die auf die Bewältigung bestimmter Ereignisse ausgerichtet sind und nur im Ereignisfall aufgeboten werden. Ihre Bereitschaft wird durch Alarmorganisationen, Piketts, feste Standorte und Infrastrukturen sowie regelmässige Trainings zusammen mit externen Partnern (u.a. Kantone) sichergestellt. Es handelt sich bei diesen Stäben insbesondere um die Einsatzorganisation Radioaktivität (EOR/VBS), den Sonderstab Geiselnahme und Erpressung (SOGE/ EJPD), das Sanitätsdienstliche Koordinationsorgan (SANKO/VBS), den Sonderstab Pandemie (SOPA/ EDI), den Sonderstab für Informationssicherung (SONIA/EFD), die Koordination des Verkehrswesens im Ereignisfall (KOVE/UVEK) und weitere spezialisierte Krisenstäbe des UVEK. Der Führungsstab der Armee ist insofern besonders, als er nicht nur im Ereignisfall aufgeboten wird, sondern permanent aktiv ist.
Das EDA führt das auslandbezogene Krisenmanagement. Zur Erhöhung der Reaktionsfähigkeit wurden die Vertretungen im Ausland ausgebildet und ein Kriseneinsatzpool zur ihrer raschen Verstärkung geschaffen. Für die Betreuung von Schweizern und Schweizerinnen im Ausland bzw. für deren Rückführung im Krisenfall wurden die Abläufe verfeinert oder neu entwickelt, eingeführt und bei mehreren Ereignissen mit Erfolg angewandt. Der Bereich Humanitäre Hilfe wird im internationalen Krisenmanagement eingesetzt. In allen Fällen wird interdepartemental zusammengearbeitet.

Bei Bedarf kann der Bund weitere Ad-hoc-Stäbe, Koordinationsorgane oder Task Forces bilden. Diese haben, wie die Sonder- und Krisenstäbe, nur beschränkte Weisungs- oder Entscheidbefugnisse und unterstützen den Bundesrat, die Departemente oder Dritte, indem sie, basierend auf den Produkten des Nachrichtenverbundes und weiterer Quellen, die Grundlagen für die Lagebeurteilung und Entscheid63

Weisungen vom 24. Oktober 2007 über organisatorische Massnahmen in der Bundesverwaltung zur Bewältigung besonderer und ausserordentlicher Lagen.

5211

findung beschaffen, Entwürfe für Anordnungen oder Anträge erarbeiten und den Vollzug von Entscheiden überwachen. Zudem koordinieren sie die Zusammenarbeit zwischen den Departementen und externen Stellen.

Sicherheitspolitische Führung des Bundes Die in den vorhergehenden Absätzen dargelegten Kompetenzen, Gremien und Strukturen beziehen sich auf die politische Führung und das Krisenmanagement auf Stufe Bund im Allgemeinen. Für die Sicherheitspolitik, ihre Führung und das sicherheitspolitische Krisenmanagement stellt sich die Lage folgendermassen dar.

Der Bundesrat kann Massnahmen zur Wahrung der Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz treffen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung sowie der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen.64 Er hat damit die Kompetenz für ein Krisenmanagement in allen Sicherheitsbereichen: polizeiliche Gefahrenabwehr, Staatsschutz und Strafverfolgung, Vorbeugung und Bewältigung von natur- und zivilisationsbedingten Katastrophen und Notlagen, Abhalten und Abwehr eines militärischen Angriffs sowie Wahrung der Interessen der Schweiz im Ausland und Beiträge zu internationalem Krisenmanagement.

Der Sicherheitsausschuss des Bundesrates besteht aus den Chefs und Chefinnen des VBS (Vorsitz), des EDA und des EJPD. Er bereitet Beratungen und Entscheide des Bundesrats in sicherheitspolitischen Fragen vor und koordiniert sicherheitspolitisch relevante Geschäfte. Er beurteilt die sicherheitsrelevante Lage, koordiniert Aufträge an den NDB, an das Bundesamt für Polizei und an das Politische Sekretariat des EDA. Er bespricht departementsübergreifende Bundesratsanträge sicherheitspolitischen Inhalts und nimmt Kenntnis von Berichten zur Früherkennung sicherheitspolitischer Bedrohungen und Gefahren sowie von Vorsorgeplanungen.

Die Lenkungsgruppe Sicherheit beurteilt die strategische Lage und deren mögliche Entwicklungen. Sie stellt die Früherkennung und Frühwarnung sicher und erarbeitet Strategien und Handlungsoptionen zuhanden des Sicherheitsausschusses, hat aber keine Weisungsbefugnisse. Sie besteht aus den Chefs und Chefinnen der Verwaltungseinheiten, die sich mit sicherheitspolitischen Geschäften befassen und wird im Jahresturnus vom Staatssekretär oder der Staatssekretärin des EDA und vom Direktor oder der
Direktorin des Bundesamtes für Polizei präsidiert. Sie umfasst ständige und nichtständige Mitglieder; seit 2005 sind die Kantone ständig mit je einem Mitglied der KKJPD und der MZDK vertreten. Bei Bedarf zieht die Lenkungsgruppe Sicherheit weitere Linienverantwortliche der Bundesverwaltung oder externe Fachleute bei. Der Stab Sicherheitsausschuss des Bundesrates bereitet die Geschäfte für den Sicherheitsausschuss des Bundesrates und die Lenkungsgruppe Sicherheit vor.

6.2

Kantone

Das Krisenmanagement auf Stufe Kanton ist mit jenem des Bundes vergleichbar.

Primär sind dafür die Direktionen bzw. Departemente sowie kantonalen Ämter verantwortlich. Sie bereiten sich inhaltlich und organisatorisch (Task Forces, Sonderstäbe) auf die Bewältigung von Krisenlagen vor und stellen der kantonalen Exekutive entsprechende Anträge.

64

Artikel 185 der Bundesverfassung.

5212

Innerhalb des Kantonsgebiets trägt die Kantonsregierung die politische Verantwortung für die Sicherheit der Bevölkerung. Wie der Bund arbeiten die Kantone im Ereignis- oder Krisenfall so lange wie möglich in ihren ordentlichen Strukturen: Bei Alltagsereignissen führt ein Einsatzleiter oder eine Einsatzleiterin ­ in der Regel eine Führungskraft der Polizei oder Feuerwehr ­ die Partnerorganisationen. Wenn mehrere Partnerorganisationen zusammen über längere Zeit im Grosseinsatz stehen, übernimmt das Kantonale Führungsorgan (KFO) die Koordination der Mittel und die Sicherstellung der Verbindung zu den vorgesetzten Regierungsstellen. Das KFO steht bei Katastrophen und Notlagen immer in der Führungsverantwortung, die operative Führung der Einsatzkräfte delegiert es aber in der Regel an die Führungskräfte der eingesetzten Formationen. Das KFO beurteilt die Bedrohungen und Gefahren und veranlasst Planungen und Vorbereitungen. Es berät die Exekutive und schlägt allfällige Notmassnahmen vor. Im Einsatz koordiniert bzw. führt das KFO den Einsatz von Polizei, Feuerwehr, Gesundheitswesen, technischen Betrieben, Zivilschutz sowie Dritten (z.B. Armee oder zivile Partner). Das KFO besteht in der Regel aus der Leitung, Vertreterinnen und Vertretern der Verwaltung und den Ressortchefs oder -chefinnen von Polizei, Feuerwehr, Gesundheitswesen, technischen Betrieben und Zivilschutz. Bei Bedarf werden weitere Spezialisten oder Spezialistinnen aufgeboten.

Im Bereich der Polizei arbeiten die Kantone in Konkordaten zusammen.65 Kann ein Polizeikorps ein Ereignis mit eigenen Mitteln nicht bewältigen, so fordert es in einem ersten Schritt die Unterstützung eines oder mehrerer Polizeikorps aus dem eigenen Polizeikonkordat an. Genügt dies nicht, kommt die IKAPOL-Vereinbarung zum Tragen, welche die Grundsätze für die gegenseitige Hilfe und die finanziellen Abgeltungen für interkantonale Polizeieinsätze regelt. Der Kanton richtet ein Unterstützungsgesuch an die Arbeitsgruppe Operationen der KKPKS. Diese prüft das Gesuch und leitet es mit einem Antrag zum Entscheid an die Arbeitsgruppe Gesamtschweizerische Interkantonale Polizeizusammenarbeit bei besonderen Ereignissen (GIP) weiter. Diese tagt unter dem Vorsitz des Präsidenten oder der Präsidentin der KKJPD und besteht aus den Polizeidirektorinnen und -direktoren der betroffenen
Kantone, den Präsidien der Polizeikonkordate, dem Präsidenten oder der Präsidentin der KKPKS und dem Direktor oder der Direktorin des Bundesamtes für Polizei. Die interkantonale Polizeizusammenarbeit ist etabliert und hat sich bei Ereignissen wie dem jährlich stattfindenden WEF, der EURO 2008 und anderen Grossveranstaltungen bewährt. Die GIP ist auch zuständig, wenn es darum geht, beim Bundesrat subsidiäre Unterstützung durch Bundesmittel oder ausländische Einsatzkräfte zu beantragen66 und den Nachrichtenverbund Schweiz67 zu aktivieren.

65 66

67

Ausnahmen sind der Kanton und die Stadt Zürich und der Kanton Tessin, die keinem Polizeikonkordat angehören.

An ihrer Frühjahrsversammlung 2007 beschloss die KKJPD, dass Gesuche um subsidiäre Armeeunterstützung im Bereich der inneren Sicherheit künftig immer auf Vorschlag der Arbeitsgruppe Operationen (AGOP) durch die Arbeitsgruppe Gesamtschweizerische Interkantonale Polizeizusammenarbeit (GIP) an den Bundesrat gestellt werden sollen.

Im Rahmen des Nachrichtenverbunds machen sich mit Sicherheitsfragen befasste Behörden von Bund und Kantonen lagerelevante Informationen gegenseitig zugänglich. Ein solcher durch das Bundeslagezentrum des NDB geführter Nachrichtenverbund besteht bereits in der normalen Lage. Bei einem sicherheitspolitisch bedeutenden Ereignis wird er ausgebaut, und unter Einbezug aller Partner wird ein umfassendes Lagebild erstellt und laufend aktualisiert. Dieses Lagebild ist für alle angeschlossenen Stellen auf einer geschützten elektronischen Plattform abrufbar.

5213

Im Bereich der Katastrophenhilfe und der Hilfe in Notlagen spielt grundsätzlich die Nachbarschaftshilfe; zum Teil gibt es auch regionale Vereinbarungen. Überregional gibt es wenige bindende Vereinbarungen zwischen den Kantonen; auf nationaler Ebene schlossen die Kantone 2005 eine entsprechende Vereinbarung ab.68 Die Bewältigung von Schadenereignissen in den vergangenen Jahren (Sturm Lothar 1999, Hochwasser 2005 und 2007) hat aufgezeigt, dass die Führungs- und Einsatzkräfte der Kantone, insbesondere die Feuerwehr und der Zivilschutz, sich rasch, unbürokratisch, wirksam und über längere Zeit gegenseitig unterstützen können.

Seit Herbst 2009 sind die Stabschefs und -chefinnen der Kantonalen Führungsorgane im Rahmen der Konferenz der Kantonalen Verantwortlichen für Militär, Bevölkerungsschutz und Zivilschutz in einer interkantonalen Plattform zusammengeschlossen. Gleiches gilt für die ABC-Koordinatoren und -Koordinatorinnen der Kantone und des Bundes. Diese Plattformen dienen aber in erster Linie der Koordination vorsorglicher Massnahmen und nicht der Ereignisbewältigung.

6.3

Defizite im sicherheitspolitischen Krisenmanagement

Die Koordination zwischen dem Bund, den Kantonen und Dritten soll verbessert werden. Die bestehenden Organe und Stäbe sind noch nicht ausreichend in der Lage, kohärente und vernetzte Strategien zu entwickeln und die dazu nötigen Entscheide und Massnahmen sowohl auf der strategischen als auch auf der operativen Stufe horizontal und vertikal aufeinander abzustimmen.

Nur im Bereich der Polizei existieren Strukturen und Entscheidabläufe, die alle Kantone und die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen und dem Bund abdecken.

Im Bereich der Katastrophen- und Nothilfe fehlen zum Voraus festgelegte kantonsübergreifende Koordinations- und Führungsstrukturen sowie verbindliche und standardisierte Abläufe, die in Krisen eine effiziente Zusammenarbeit unter den Kantonen sowie zwischen den Kantonen und dem Bund fördern. Dieser Mangel kann sich insbesondere bei grossflächigen Krisen, die ohne grosse Vorwarnzeit eintreffen, negativ auswirken. Wenn 26 Kantonsregierungen und kantonale Führungsorgane gleichzeitig in der Verantwortung stehen und im Einsatz sind, ohne eingeübte Koordinationsmechanismen zu haben, besteht die Gefahr, dass die Verständigung über die gemeinsame Bewältigung des Ereignisses, die Kommunikation, die Verteilung der Mittel und die Koordination mit dem Bund oder gar mit dem Ausland viel Zeit in Anspruch nimmt, die gerade in Krisen kostbar ist.

Der Bund hat mit dem Bundesrat, seinem Sicherheitsausschuss, der Lenkungsgruppe Sicherheit sowie den Sonder- und Krisenstäben Gremien, die für die Bewältigung von Krisen auf Stufe Bund vorgesehen sind. Die Kantone sind in einzelnen beratenden und vorbereitenden Gremien des Bundes vertreten.69 Zu verbessern sind die Koordination auf Bundesebene und die Zusammenarbeit zwischen den Organen des Krisenmanagements von Bund und Kantonen.

68 69

Vereinbarung vom 13. Mai 2005 über die interkantonale Hilfeleistung durch den Zivilschutz bei Katastrophen und Notlagen (von sämtlichen Kantonen unterzeichnet).

Eine Vertretung der Kantone in entscheidbefugten Bundesgremien steht nicht zur Debatte; sie würde der verfassungsrechtlichen Kompetenzaufteilung grundlegend widersprechen.

5214

Zu den Anliegen der Kantone gehören die Bezeichnung eines einzigen Ansprechpartners auf Stufe Bund für sicherheitspolitische Angelegenheiten, die Einrichtung eines von Bund und Kantonen gemeinsam getragenen Konsultations- und Koordinationsorgans und eine klarere Festlegung, wer in welchen Situationen in der Führungsverantwortung steht, also für die Anordnung von Massnahmen zuständig ist.

6.4

Schaffung eines Konsultations- und Koordinationsmechanismus SVS

Bund und Kantone wollen die Konsultation und Koordination im Rahmen des Sicherheitsverbunds Schweiz (SVS) verbessern.

Ein erster Schritt in diese Richtung wurde mit der 2005 geschaffenen Plattform KKJPD-VBS-EJPD-MZDK gemacht ­ einem Gefäss, in dem gemeinsame Fragestellungen von Bund und Kantonen im Sicherheitsbereich bearbeitet und politischen Entscheiden zugeführt werden können.70 Sie wird von der KKJPD und dem VBS gemeinsam geleitet und besteht aus einer Fachgruppe und einem politischen Gremium. Basierend auf den positiven Erfahrungen ­ sie wird von allen Seiten als nützlich gewürdigt ­ soll die Plattform, unter Einbezug auch künftiger Mitglieder, zu einem Mechanismus oder System weiterentwickelt werden. Dieser Konsultationsund Koordinationsmechanismus SVS (KKM SVS) befasst sich im Alltagsgeschäft mit der sicherheitspolitischen Agenda des SVS, sicherheitspolitischen Lagebeurteilungen, mittel- und langfristigen Nachrichtenbedürfnissen von Bund und Kantonen, sicherheitspolitischen Risikoanalysen und Vorsorgeplanungen, und er steuert Ausbildungsmassnahmen und Übungen im SVS. Im überregionalen oder nationalen Ereignisfall, also bei Grossereignissen, Katastrophen und Notlagen, die mehrere oder alle Partner des SVS fordern, sorgt der Mechanismus für die rasche gemeinsame Entscheidfindung und wirksame Zusammenarbeit aller Partner und ihrer Mittel.

Der KKM SVS soll entscheidende Beiträge dazu leisten, die Zusammenarbeit von Bund und Kantonen in der Sicherheitspolitik zu verbessern. Die Hauptpartner des SVS sollen im Mechanismus paritätisch vertreten sein. Der Bundesrat ist mit den Chefs oder den Chefinnen des VBS und des EJPD vertreten, die kantonalen Fachkonferenzen mit den Präsidenten oder Präsidentinnen der KKJPD und der MZDK.

Bei Bedarf können weitere Exekutivmitglieder beigezogen werden. Auf der operativen Ebene sind die zuständigen Bundesamtsdirektoren und -direktorinnen sowie Vertreterinnen und Vertreter interkantonaler Konferenzen, Fach- und Koordinationsgremien tätig. Der Vorsitz der operativen Ebene wird durch einen von Bund und Kantonen gemeinsam ernannten Delegierten wahrgenommen, der durch eine Geschäftsstelle unterstützt wird. In Fach- und Arbeitsgruppen werden technische, einsatzspezifische und organisatorische Problemstellungen sowie Ausbildungsfragen inklusive Übungen bearbeitet. Zumindest in einer Anfangsphase unterstützt die Nationale Alarmzentrale den KKM SVS.

70

Die Plattform hat indessen keine Aufgaben im Krisenmanagement.

5215

Konsultations- und Koordinationsmechanismus Sicherheitsverbund Schweiz

Für den KKM SVS gelten folgende Grundsätze: ­

Subsidiarität: Die staatlichen Verantwortlichkeiten und Aufgaben werden durch die tiefstmögliche zuständige Staatsebene wahrgenommen.

­

Partnerschaft: Bund und Kantone handeln bei der Bewältigung der Ereignisse gemeinsam, allenfalls unter Einbezug von Dritten und internationalen Partnern.

­

Krisenmanagement: Der SVS erstreckt sich auf Prävention, Bewältigung und Regeneration sowie Nachbereitung.

­

Kontinuität in der Führung: Die Führung wird auch in Krisen und Notlagen durch die ordentlichen Organe des Bundes und der Kantone sichergestellt.

In einem befristeten Pilotversuch und mit breit angelegten Übungen sollen die Funktionsweise und die Zusammensetzung der KKM SVS überprüft sowie Überlappungen und Schnittstellen mit bestehenden Organen identifiziert und Vorschläge zu ihrer Regelung ausgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang sind auch die Organisation und die Aufgaben der heute bestehenden Organe der sicherheitspolitischen Führung des Bundesrates (Sicherheitsausschuss des Bundesrates, Lenkungsgruppe Sicherheit, Stab Sicherheitsausschuss des Bundesrates) und des sich im Aufbau befindenden Organs für ABCN-Ereignisse zu überprüfen. In der Folge werden Bund und Kantone über die definitive Form und Weiterführung des KKM SVS entscheiden, wobei auch die Option einer Angliederung an bestehende Organe geprüft werden soll. Noch offen ist die Frage nach der Bezeichnung eines einzigen sicherheitspolitischen Ansprechpartners für die Kantone auf Stufe Bund sowie die klare Festlegung, wer in welchen Situationen in der Führungsverantwortung steht.

5216

Anhang 1

Sicherheitsverbund Schweiz: Sicherheitsbereiche, Aufgaben und Mittel Sicherheitsbereich

(Kern-)Aufgaben

Mittel

Polizeiliche Gefahrenabwehr, Staatsschutz und Strafverfolgung

­ Aufrechterhaltung der öffentl. Ordnung und Sicherheit ­ Schutz der demokratischen Rechtsordnung ­ Völkerrechtliche Schutzaufgaben ­ Schutz kritischer Infrastrukturen ­ Wahrung der Lufthoheit

Kantone:* Polizei, Feuerwehr, Gesundheitswesen, Zivilschutz, technische Betriebe Bund: Aussenpolitik (Diplomatie), Polizei (BKP, BSD, internationale Polizeikooperation), Nachrichtendienste, Armee (Luftpolizeidienst, subsidiäre Unterstützung), Labor Spiez, NAZ, EZV Dritte: Private Leistungserbringer, Skyguide, internationale Organisationen und NGO

Vorbeugung, Vorsorge und Bewältigung von natur- und zivilisationsbedingten Katastrophen und Notlagen

­ Vorbeugende und vorsorgl.

Massnahmen ­ Warnung und Alarmierung von Bevölkerung und Behörden ­ Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen ­ Rettung, Hilfe, Instandstellung ­ Sicherstellen des Minimalbetriebs krit. Infrastrukturen ­ Sicherstellung der Versorgung mit strateg. Gütern

Kantone:** Bevölkerungsschutz (Polizei, Feuerwehr, Gesundheitswesen, technische Betriebe, Zivilschutz) Bund: Aussenpolitik (Diplomatie, SKH), Polizei (BKP, BSD, internationale Polizeikooperation), Nachrichtendienste, Armee (subsidiäre Unterstützung), Labor Spiez, NAZ, Zivildienst, wirtschaftl. Landesversorgung Dritte: private Leistungserbringer, internationale Organisationen, NGO

Abhalten und Abwehr eines militärischen Angriffs

­ Abhalten und Abwehr eines militärischen Angriffs ­ Verteidigung des Luftraums ­ Wiederherstellung der territorialen Integrität

Bund: Aussenpolitik (Diplomatie), Polizei (BKP, BSD), Nachrichtendienste, Armee (Verteidigung), Labor Spiez, NAZ, EZV Kantone: Bevölkerungsschutz (Polizei, Feuerwehr, Gesundheitswesen, technische Betriebe, Zivilschutz) Dritte: private Leistungserbringer, Skyguide (militarisiert)

5217

Sicherheitsbereich

(Kern-)Aufgaben

Mittel

Wahrung der Interessen der Schweiz im Ausland und Beiträge zum internationalen Krisenmanagement

­ Wahrung der Interessen der Schweiz ­ Schutz von Schweizer Staatsangehörigen im Ausland ­ friedensfördernde und vertrauensbildende Massnahmen

Bund: Aussenpolitik (Diplomatie, zivile Friedensförderung, Menschenrechtspolitik, humanitäres Völkerrecht, Abrüstung/Rüstungskontrolle, Neutralitätspolitik, humanitäre Hilfe), Polizei (BKP, BSD, internat. Polizeikooperation), Nachrichtendienste, Armee (Friedensförderung, Unterstützung ziviler Behörden), Labor Spiez, NAZ, EZV Kantone: Polizei Dritte: internationale Organisationen, NGO

*

Bei politisch motivierten Geiselnahmen liegt die Führung beim Bund. Er hat auch die Federführung bei der gemeinsamen Verfolgung schwerer grenzüberschreitender komplexer Kriminalität (organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, grenzüberschreitende Wirtschaftskriminalität, terroristisch motivierte Straftaten, verbotener Nachrichtendienst, Sprengstoffdelikte, Korruption).

** Für die Fälle erhöhte Radioaktivität, Epidemien (Mensch und Tier), Talsperrenbruch und Satellitenabstürze liegt die Führung beim Bund.

5218

Anhang 2

Vergleich der sicherheitspolitischen Berichte 2010 und 2000 Die in diesem Bericht vorgelegte sicherheitspolitische Strategie unterscheidet sich nicht grundlegend von jener des SIPOL B 2000, obwohl notwendige Anpassungen vorgenommen wurden. Die beiden sicherheitspolitischen Berichte haben auch grosse Ähnlichkeiten in Bezug auf Aufbau und Umfang.

Die Definition der Sicherheitspolitik wurde angepasst, um Rolle und Anliegen der Kantone besser einbeziehen zu können. 2000 ging es bei der Sicherheitspolitik um die Prävention und Bewältigung von Gewalt strategischen Ausmasses. 2010 geht es um die Vorbeugung, Abwehr und Bewältigung machtpolitisch oder kriminell motivierter Drohungen und Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, die Schweiz und ihre Bevölkerung in ihrer Selbstbestimmung einzuschränken oder ihnen Schaden zuzufügen. Damit kann auch Gewalt gegen Leib und Leben ­ ein Hauptbereich kantonaler Sicherheitspolitik ­ abgedeckt werden.

Die Ziele der Sicherheitspolitik sind in der Substanz identisch: Selbstbestimmung und Unversehrtheit der Schweiz und ihrer Bevölkerung sowie die Leistung von Beiträgen zu Stabilität und Frieden ausserhalb der Schweiz.

Das Kapitel zur Lage im Bericht 2010 entspricht jenem zu Risiken und Chancen im SIPOL B 2000; beide enthalten eine Diskussion von Bedrohungen und Gefahren in ähnlichem Detaillierungsgrad. Die Darstellung der internationalen Sicherheitsstruktur ist im SIPOL B 2000 länger und detaillierter; umgekehrt enthält der Bericht 2010 zusätzliche Unterkapitel zu grossen sicherheitspolitischen Trends und zur Verwundbarkeit der Schweiz.

Die beiden Berichte decken ein ähnliches Spektrum der Bedrohungen und Gefahren ab: Bericht 2010

SIPOL B 2000

Natur- und zivilisationsbedingte Katastrophen und Notlagen

Natur- und zivilisationsbedingte Katastrophen

Angriff mit militärischen Mitteln

Abnahme herkömmlicher militärischer Bedrohungsfaktoren

Versorgungsstörungen infolge von Konflikten Nötigung mit wirtschaftlichen Mitteln

Einschränkungen des freien Wirtschaftsverkehrs und wirtschaftlicher Druck

Angriffe auf die Informatik-Infrastruktur

Bedrohung der Informatik- und Kommunikationsinfrastruktur

Verbotener Nachrichtendienst Terrorismus Gewalttätiger Extremismus Organisiertes Verbrechen Gewalt gegen Leib und Leben

Terrorismus, gewalttätiger Extremismus, Spionage, Kriminalität und organisiertes Verbrechen

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Bericht 2010

SIPOL B 2000

Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen

Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Waffensystemen grosser Reichweite

Zerfall staatlicher Strukturen («Failed States») Migrationsprobleme

Demografische Entwicklungen, Migrationen

Klimawandel

Wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklungen

Pandemien Sicherheitspolitisch relevante technologische Entwicklungen

Die Strategie ist im Kern die gleiche. Zu einer engen Kooperation zwischen den nationalen sicherheitspolitischen Instrumenten, ebenso wie zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden, gibt es angesichts der departementalen Struktur der Bundesverwaltung und der föderalistischen Gliederung des Landes keine Alternative. Was die internationale Kooperation betrifft, ist festzustellen, dass die Bedrohungen und Gefahren nach wie vor stark inter- und transnationaler Art sind. Ein Verzicht auf internationale Kooperation wäre der Sicherheit der Schweiz abträglich, und die gegenteilige Alternative, Integration, ist auf absehbare Zeit in Bezug auf die EU oder die Nato weder sicherheitspolitisch zwingend noch innenpolitisch mehrheitsfähig. ­ Im SIPOL B 2000 hiess es, die Schweiz verfolge ihre sicherheitspolitischen Ziele mit einer Strategie der nationalen und internationalen Sicherheitskooperation; 2010 ist die Rede von der Bildung eines Sicherheitsverbundes Schweiz und der Zusammenarbeit mit anderen Staaten. 2000 ging es darum, eine in den vorhergehenden Jahren ausgeweitete internationale Kooperation zu verankern und in die Zukunft zu projizieren. Gleichzeitig sollte die zwar hochentwickelte, aber starre Zusammenarbeit im Innern (Gesamtverteidigung) flexibilisiert werden. Deshalb stand die internationale Kooperation im Vordergrund. 2010 stellt sich die Lage etwas anders dar. In der sicherheitspolitischen Kooperation und Koordination zwischen Bund und Kantonen bestehen Defizite, die aus sachlichen Gründen behoben werden müssen, und die real gesunkenen Mittel für die Sicherheitspolitik unterstreichen diese Notwendigkeit. Der zentrale Grund dafür, die Zusammenarbeit im Innern in den Vordergrund zu stellen, liegt also nicht in einer Ablehnung internationaler Kooperation, sondern im Bedarf nach Erneuerung, Revitalisierung und Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen. Der Verzicht auf einen Untertitel im neuen Bericht ­ 2000 lautete er «Sicherheit durch Kooperation» ­ ist darum keine Absage an (internationale) Kooperation, sondern entspricht dem Bemühen nach Sachlichkeit und dem Verzicht auf Auseinandersetzungen um Symbole zugunsten von Debatten über reale Gegenstände.

Auch bei den sicherheitspolitischen Instrumenten dominiert die Kontinuität. Aussenpolitik, Armee und Bevölkerungsschutz figurieren in
beiden Berichten an erster Stelle unter den sicherheitspolitischen Instrumenten. Während 2000 Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Landesversorgung als separate Instrumente aufgeführt wurden, wird 2010 Letztere unter Ersterer subsumiert. 2000 wurden Staatsschutz und Polizei als ein Instrument erwähnt. 2010 wird die Polizei allein genannt; der 5220

Staatsschutz ist unter dem Nachrichtendienst subsumiert, der neu als Instrument figuriert. Die Zollverwaltung und der Zivildienst sind weitere Instrumente, die erst im Bericht 2010 erscheinen. Schliesslich wird 2010 auf die Aufführung von Information und Kommunikation als sicherheitspolitischem Instrument verzichtet. Das ist eine Querschnittsaktivität, die jede Regierungstätigkeit und auch jedes Instrument der Sicherheitspolitik betrifft, aber nicht ein davon abgesetztes separates Instrument.

Die Charakterisierung von Information und Kommunikation als Instrument könnte auch Befürchtungen Vorschub leisten, man wolle die Information manipulieren.

Der SIPOL B 2000 stand am Beginn gross angelegter Reformen von Armee und Bevölkerungsschutz. Der Bericht 2010 soll vor allem für die Armee Impulse geben; bei den anderen Instrumenten stehen in nächster Zeit keine tiefgreifenden Reformen an. Die Sachlage ist insofern schwieriger als 2000, als die Armee bereits begonnene Reformen und Entwicklungsschritte konsolidieren muss und ihre finanziellen Ressourcen noch viel knapper sind als vor zehn Jahren. Immerhin werden im Bericht die Grundlinien ihrer Weiterentwicklung neu skizziert oder bestätigt: eine quantitative Reduktion der Fähigkeiten zur militärischen Verteidigung auf ein Minimum, bei guter Qualität und Erhalt aller notwendigen Elemente, der Verzicht auf den Begriff der Raumsicherung ohne Abbau der Leistungen für die Kantone, die Absicht, permanente subsidiäre Sicherungseinsätze zu vermeiden, und der Wille, in der militärischen Friedensförderung nicht nachzulassen, aber von den komparativen Stärken der Schweiz besseren Gebrauch zu machen, indem mehr hochwertige Sachbeiträge geleistet und weniger Gewicht auf die reine Anzahl eingesetzter Angehöriger der Armee gelegt werden sollen.

Bei der sicherheitspolitischen Führung ging es mit dem SIPOL B 2000 darum, den Sicherheitsausschuss des Bundesrates zu verankern, eine Lenkungsgruppe Sicherheit einzusetzen und mit dem Stab Sicherheitsausschuss des Bundesrates die Unterstützung dieser zwei Gremien sicherzustellen. 2010 geht es darum, einen tragfähigen ­ für normale Situationen ebenso wie für die Bewältigung von Krisen geeigneten ­ Mechanismus zur sicherheitspolitischen Konsultation und Koordination zwischen Bund und Kantonen zu skizzieren, der sukzessive (auch
mit Übungen) weiterentwickelt, geprüft und konkretisiert werden soll. Die Frage, inwieweit bestehende Gremien in Frage gestellt werden könnten, kann und soll darum jetzt noch nicht abschliessend beantwortet werden.

Der SIPOL B 2000 enthielt ein Kapitel Ressourcen zum Dienstpflichtsystem und zu den Finanzen. Obwohl diese beiden Themen mehrere Instrumente betreffen, sind sie derzeit vor allem in Bezug auf ein Instrument, nämlich die Armee, von besonders grosser Bedeutung. Sie werden denn auch in diesem Kontext angesprochen.

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