08.447 Parlamentarische Initiative Schutz der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen und Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Immunität Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 19. August 2010

Sehr geehrte Frau Präsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen Entwürfe für eine Änderung des Parlamentsgesetzes und des Geschäftsreglements des Nationalrats. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Anträge betreffend das parlamentarische Disziplinarrecht (zum Schutz der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen) wurden von der Staatspolitischen Kommission, die Anträge betreffend das Immunitätsrecht von der Kommission für Rechtsfragen (08.497 Pa.Iv. Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Immunität) ausgearbeitet.

Die Kommission beantragt, den beiliegenden Entwürfen zuzustimmen.

19. August 2010

Im Namen der Kommission Der Präsident: Yvan Perrin

2010-2047

7345

Übersicht Nach geltendem Recht sind es die Ratsplena von Nationalrat und Ständerat, die letztinstanzlich über Disziplinarmassnahmen gegen Ratsmitglieder und über Gesuche um Aufhebung der Immunität von Ratsmitgliedern und Magistratspersonen entscheiden. In beiden Fällen handelt es sich um Beschlüsse, die nicht in erster Linie nach politischen, sondern nach rechtlichen Kriterien gefällt werden sollten. Dafür sind die Ratsplena ihrer Natur nach weniger geeignet. Die Kommission für Rechtsfragen (RK) und die Staatspolitische Kommission (SPK) schlagen daher vor, diese Zuständigkeiten von den Ratsplena an Kommissionen zu übertragen.

Das parlamentarische Disziplinarrecht dient der Aufrechterhaltung der Ordnung im Ratssaal, der Wahrung des Ansehens der «obersten Gewalt im Bund» (Art. 148 BV) und vor allem auch der Wahrnehmung der verfassungsmässigen Aufgaben des Parlamentes und seiner Organe. Eine zentrale Voraussetzung für die Wahrnehmung der Aufgaben der parlamentarischen Kommissionen ist die Wahrung der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen. Ein Verzicht auf diese Vertraulichkeit würde die Aufgabenerfüllung gefährden, indem die Kommissionen ihr Recht auf Erhalt auch nicht öffentlicher Informationen gegenüber dem Bundesrat nicht mehr geltend machen können. Öffentlich tagende Kommissionen hätten mehr Mühe, Kompromisse und mehrheitsfähige Lösungen zu finden. Die Entscheidfindung würde in vorparlamentarische, nicht öffentliche Gremien verlagert, welche anders als die Kommissionen nicht repräsentativ zusammengesetzt sind und nicht nach demokratischen Regeln funktionieren.

Die Bedeutung der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen für die Wahrnehmung der Aufgaben des Parlamentes und damit für die Demokratie rechtfertigt die Ahndung ihrer Verletzung durch Disziplinarmassnahmen. Wie die Erfahrung zeigt, ist das heute angewendete Verfahren wenig geeignet. Die SPK schlägt vor, durch die Einrichtung eines geeigneten zuständigen Organs und durch ein besseres Verfahren die Voraussetzungen zu schaffen, damit der Zweck des Disziplinarrechts, der insbesondere auch im Schutz des Amtsgeheimnisses besteht, besser erfüllt werden kann. Im Nationalrat soll nicht mehr das durch andere wichtige Aufgaben stark belastete Ratsbüro, sondern eine neue kleine ständige Kommission für Disziplinarmassnahmen zuständig sein. Über
eine Einsprache gegen eine solche Massnahme soll nicht mehr das Ratsplenum, sondern das Büro entscheiden.

Dieselbe kleine ständige Kommission soll im Nationalrat auch über Gesuche um Aufhebung der Immunität entscheiden. Die Ratsplena werden damit nicht mehr befasst. Damit auf ein solches Gesuch eingetreten wird bzw. damit die Immunität aufgehoben werden kann, muss eine Kommission des Ständerates einen übereinstimmenden Beschluss fassen.

Während die Mehrheit der RK und eine Minderheit der SPK an der relativen Immunität der Ratsmitglieder in leicht eingeschränkter Form (siehe dazu weiter unten) festhalten möchte, will die Mehrheit der SPK und eine Minderheit der RK diese abschaffen. Ratsmitglieder sollen gegenüber anderen Personen nicht in der Weise privilegiert sein, dass sie in politischen Auseinandersetzungen ohne Risiko einer

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Strafverfolgung z.B. Ehrverletzungen begehen können, andere Personen hingegen nicht. Unverändert bestehen bleibt die absolute Immunität, d.h. der Schutz vor Strafverfolgung wegen Äusserungen eines Ratsmitglieds in den Räten oder Kommissionen. Beibehalten wird auch die relative Immunität der Mitglieder des Bundesrats und des Bundesgerichts bei strafbaren Handlungen im unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit oder Stellung, weil dieser Personenkreis in besonderem Ausmass exponiert ist. Ebenfalls abgeschafft wird hingegen die bisher bestehende relative Immunität der Mitglieder des Bundesrates und der eidgenössischen Gerichte bei strafbaren Handlungen, die keinen unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit oder Stellung haben.

Eine Minderheit der SPK folgt der Mehrheit der RK und möchte an der relativen Immunität der Ratsmitglieder festhalten, wobei diese Immunität enger definiert werden soll. Immunität wird bisher gewährt gegen eine Strafverfolgung wegen einer strafbaren Handlung, die in Zusammenhang mit der parlamentarischen Tätigkeit steht. Neu soll bloss noch ein «unmittelbarer» Zusammenhang vor Strafverfolgung schützen. Zweck der relativen Immunität soll der Schutz der Ratsmitglieder vor einer Strafverfolgung sein, mit welcher Dritte die Amtsausübung der demokratisch gewählten Volksvertretung beeinträchtigen könnten. Wenn aber ein Ratsmitglied z.B. infolge seiner publizistischen Tätigkeit als Journalist oder Professorin wegen einer Ehrverletzung angeklagt wird, so soll es nicht privilegiert werden gegenüber Journalisten oder Professorinnen, die nicht Ratsmitglied sind.

Eine weitere Minderheit der SPK lehnt auch diese Einschränkung der relativen Immunität ab, weil die gewählte Formulierung nicht zur gewünschten Klarheit beitrage.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1 Entstehungsgeschichte 1.1 Disziplinarmassnahmen 1.1.1 Entstehungsgeschichte der heutigen Disziplinarregelung 1.1.2 Praxis der Handhabung des Disziplinarrechts 1.1.3 Vorstösse für eine Änderung des Disziplinarrechts 1.1.4 Ausarbeitung einer Vorlage durch die Staatspolitische Kommission (SPK) 1.2 Immunität 1.2.1 Geltendes Recht und neuere Praxis 1.2.1.1 Tragweite der parlamentarischen Immunität 1.2.1.2 Zuständigkeit 1.2.2 Überprüfung der Immunitätsvorschriften durch die Kommission für Rechtsfragen (RK)

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2 Grundzüge der Vorlage 2.1 Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen 2.2 Parlamentarisches Disziplinarrecht 2.3 Parlamentarische Immunität 2.4 Kompetenzdelegation an parlamentarische Kommissionen 2.5 Zuständige Organe der Bundesversammlung

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3 Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen 3.1 A. Änderung des Parlamentsgesetzes 3.2 B. Änderung des Geschäftsreglements des Nationalrats

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4 Finanzielle und personelle Auswirkungen

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5 Rechtliche Grundlagen

7373

A B

Bundesgesetz über die Bundesversammlung (Parlamentsgesetz, ParlG) (Entwurf)

7375

Geschäftsreglement des Nationalrates (GRN) (Entwurf)

7383

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

1.1

Disziplinarmassnahmen

1.1.1

Entstehungsgeschichte der heutigen Disziplinarregelung

Bis zur Änderung des Geschäftsreglementes des Nationalrates (GRN) vom 3. Februar 1995 kannte das Parlamentsrecht nur Disziplinarmassnahmen, welche der Aufrechterhaltung der Ordnung im Saal während einer laufenden Sitzung des Ratsplenums dienten. Diese bis heute fortbestehenden Disziplinarmassnahmen bestehen darin, dass die Ratspräsidentin oder der Ratspräsident einem Ratsmitglied das Wort entziehen kann, wenn es einen präsidialen Ordnungsruf wegen beleidigender Äusserungen oder Verletzung von Verfahrensregeln missachtet. Weiter kann die Präsidentin oder der Präsident ein Ratsmitglied aus dem Saal weisen oder von der Sitzung ausschliessen, wenn es trotz präsidialer Ermahnung wiederholt die Ratsverhandlungen durch Unruhe stört. Das betroffene Ratsmitglied kann Einsprache beim Rat erheben (Art. 13 Abs. 1 und 3 ParlG; früher Art. 52 des GRN vom 22. Juni 1990; das GRS kannte keine analoge Regelung).

In der Frühjahrssession 1994 wurde bekannt, dass ein Ratsmitglied das im Nationalrat gerade neu eingerichtete elektronische Abstimmungssystem missbräuchlich benützte, indem es gleichzeitig die eigene Stimme und die Stimme einer Sitznachbarin abgab. Dieser Vorfall veranlasste die Kommission für Rechtsfragen zur Einreichung eines Postulats (94.3180), mit welchem das Ratsbüro aufgefordert wurde, die Einführung strengerer Sanktionen bei vorsätzlicher Verletzung des Abstimmungsverfahrens zu prüfen. Mit Bericht vom 11. November 1994 schlug das Büro eine Ergänzung des GRN vor: «Verstösst ein Ratsmitglied in schwerwiegender Weise gegen parlamentarische Verhaltensregeln, kann das Büro einen Verweis erteilen. Das Ratsmitglied wird vom Büro angehört. Über Einsprachen des Betroffenen entscheidet der Rat ohne Diskussion» (BBl 1995 II 649). Der Rat stimmte diesem Vorschlag am 3. Februar 1995 zu. Der Bericht des Büros erwähnte als Beispiele derartiger schwerwiegender Verstösse neben der «Verletzung des Abstimmungsverfahrens» auch die «Verletzung des Sitzungsgeheimnisses».

Mit dem Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 2002 erhielten die bisher nur auf Verordnungsstufe (das GRN ist eine Parlamentsverordnung) vorgesehenen Disziplinarmassnahmen die gemäss Artikel 164 BV notwendige Grundlage in einem formellen Gesetz. Gleichzeitig wurde als neue Sanktion bei schwer wiegenden Verstössen gegen die Ordnungs- und Verfahrensvorschriften
der Ausschluss eines Ratsmitglieds aus seinen Kommissionen bis zu sechs Monaten eingeführt. Die Verletzung des Amtsgeheimnisses wird als Sanktionsgrund ausdrücklich erwähnt.

Dies steht in engem Zusammenhang mit dem Ausbau der parlamentarischen Informationsrechte: Die weitgehenden Einsichtsrechte, welche die Ratsmitglieder und die Kommissionen zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen, setzen voraus, dass die Ratsmitglieder ihrerseits an das Amtsgeheimnis gebunden sind (vgl. Art. 8 ParlG).

Weil wichtige Parlamentsrechte auf dem Spiel stehen, muss das Parlament eine Verletzung des Amtsgeheimnisses disziplinarisch ahnden können.

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1.1.2

Praxis der Handhabung des Disziplinarrechts

In der Praxis ist es insbesondere die Verletzung des Amtsgeheimnisses (in Form eines Verstosses gegen die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen), welche seit längerer Zeit immer wieder zu Diskussionen Anlass gibt. Häufig bleibt dabei die Urheberschaft der Indiskretion unbekannt, so dass sich die Frage gar nicht stellen kann, ob eine Disziplinarmassnahme ergriffen werden soll oder nicht. Aber auch in den nicht seltenen Fällen, in welchen die Quelle der Indiskretion namentlich bekannt geworden ist, wurde diese Frage nicht gestellt. In einigen Fällen führten Indiskretionen zu engagierten Diskussionen über den Zweck der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen; diese Diskussionen endeten in der Regel in einem Appell an die Einhaltung der Vorschriften (siehe z.B. die Medienmitteilung der nationalrätlichen SPK vom 20. Oktober 2006: «Staatspolitische Kommission des Nationalrates betont die Bedeutung der Vertraulichkeit von Kommissionssitzungen und kritisiert Indiskretionen»).

Das Büro des Nationalrates hat einen Verweis gemäss Artikel 9 Absatz 6 des GRN in der vom 3. Februar 1995 bis 1. Dezember 2003 geltenden Fassung bloss zweimal gegen ein Ratsmitglied ausgesprochen, und zwar am 2. Dezember 1996 wegen Aussagen über ein vertrauliches Dokument der damaligen Parlamentarischen Untersuchungskommission zur Abklärung von Organisations- und Führungsproblemen bei der Pensionskasse des Bundes (AB 1996 N 2091), sowie am 17. Juni 2003 wegen beleidigenden Äusserungen (AB 2003 N 1090). In beiden Fällen akzeptierte das betroffene Ratsmitglied ausdrücklich den Verweis.

Am 6. März 2007 kündigte das Büro des Nationalrates den Ratsmitgliedern in einem Schreiben an, den seit dem 1. Dezember 2003 in Kraft stehenden Artikel 13 Absatz 2 ParlG «ab sofort» anzuwenden. Es sei Aufgabe der Kommissionen, dem Büro Verstösse zu melden. Diese Ankündigung des Büros wurde ausgelöst durch ein Schreiben des Präsidenten der SPK vom 28. September 2006 an das Büro, womit dieser im Auftrag der Kommission das Büro über eine von zwei Mitgliedern der SPK begangene Verletzung der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen informierte, mit der Bitte um Prüfung, ob eine Disziplinarmassnahme zu ergreifen sei.

Das Büro hat Artikel 13 Absatz 2 ParlG erstmals angewendet, als es am 10. März 2008 einen Verweis aussprach gegen fünf Mitglieder der
Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK), welche die Öffentlichkeit über die Aussagen bestimmter Teilnehmer an einer Kommissionssitzung informierten. Am 19. März 2008 erteilte das Büro zwei weiteren Ratsmitgliedern einen Verweis. Diese hatten unmittelbar nach einer Sitzung der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) eine Medienkonferenz abgehalten, um Kommissionsbeschlüsse zu kommentieren, über welche die Kommission erst einige Stunden später offiziell informierte. In beiden Fällen drohte das Büro den sanktionierten Ratsmitgliedern im Wiederholungsfall die schärfere Disziplinarmassnahme des Ausschlusses aus ihren Kommissionen an. Alle sieben Ratsmitglieder erhoben Einsprache. Am 20. März 2008 begründete der Ratspräsident die Verweise vor dem Rat und vier der betroffenen Ratsmitglieder erhielten Gelegenheit, ihre Einsprache vor dem Rat zu begründen. Darauf hiess der Rat die Einsprachen mit 129 zu 40 bzw. 113 zu 63 Stimmen gut und lehnte damit die Verweise des Büros ab (AB 2008 N 443).

7350

1.1.3

Vorstösse für eine Änderung des Disziplinarrechts

Die Diskussionen um Indiskretionen und ihre Sanktionierung im Frühjahr 2008 führten dazu, dass das geltende Recht in Frage gestellt wurde.

Das Büro des Nationalrates beschloss an seiner Sitzung vom 2. April 2008, die Behandlung einer weiteren Amtsgeheimnisverletzung zu sistieren und die SPK zu ersuchen, das geltende Recht zu überprüfen.

In der Frühjahrssession 2008 wurden drei parlamentarische Initiativen zu dem Thema eingereicht. Zwei Initiativen (08.410 Pa.Iv. Fraktion V. Veröffentlichung der Kommissionsprotokolle; 08.427 Pa.Iv. Noser. Kommissionsprotokolle veröffentlichen) forderten einen Verzicht auf die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen. Die SPK lehnte die beiden Initiativen am 26. Juni 2008 mit je 14 zu 11 Stimmen ab; der Rat folgte diesem Antrag am 25. September 2008 mit 106 zu 56 bzw. 98 zu 60 Stimmen (AB 2008 N 1357). Im Gegensatz zu diesen Initiativen verlangte eine weitere Initiative eine Verschärfung der Disziplinarmassnahmen (08.422 Pa.Iv. Lustenberger. Kommissionsgeheimnis schützen). Die Mehrheit der SPK war wie der Initiant der Ansicht, dass sich die Bundesversammlung um die verstärkte Durchsetzung der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen bemühen sollte. Zu diesem Ziel führt aber weniger eine Verschärfung der Disziplinarmassnahmen als ein geeignetes Verfahren zur wirksamen Durchsetzung von Disziplinarmassnahmen. Die Kommission beschloss deshalb mit 15 zu 8 Stimmen einen entsprechenden neuen Initiativtext (08.447 Pa.Iv. SPK-NR. Schutz der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen). Nationalrat Lustenberger hat daraufhin seine Initiative zurückgezogen.

Indem die SPK des Ständerates am 28. August 2008 der parlamentarischen Initiative einstimmig zugestimmt hat, hat sie «grünes Licht» erteilt für die Ausarbeitung einer Gesetzesrevision.

1.1.4

Ausarbeitung einer Vorlage durch die Staatspolitische Kommission (SPK)

Die SPK hat an ihrer Sitzung vom 21. November 2008 Grundsatzentscheide im Hinblick auf die Ausarbeitung einer Gesetzesrevision gefasst. Die Kommission hielt ohne Gegenstimme daran fest, dass die bestehenden Sanktionen für Disziplinarvergehen nicht verändert werden sollen. Sie bestätigte auch ihre Auffassung, die heute geltenden Bestimmungen über die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen nicht zu verändern, und lehnte es mit 14 zu 6 Stimmen ab, eine teilweise Lockerung ins Auge zu fassen. Hingegen soll das Verfahren bei Disziplinarmassnahmen geändert werden. Die Einsprache an den Rat soll abgeschafft werden; als erste Instanz und als Rekursinstanz sollen Organe des Rates dienen.

Die SPK nahm davon Kenntnis, dass die Kommission für Rechtsfragen (RK) des Nationalrates bei ihrer Überprüfung der gesetzlichen Bestimmungen über die parlamentarische Immunität (08.497 RK-NR. Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Immunität) bezüglich des Verfahrens zu einer analogen Schlussfolgerung gelangt ist: Auch die Behandlung von Gesuchen um die Aufhebung der Immunität soll von den Räten an Kommissionen delegiert werden.

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Weil sich die Bestrebungen der beiden Kommissionen (RK und SPK) in einem zentralen Punkt treffen, hat die SPK an ihrer Sitzung vom 19. Februar 2009 einen Vorentwurf ihres Sekretariates beraten, welcher die Anliegen beider Kommissionen in einer Vorlage zu vereinigen versucht. Die SPK übermittelte den von ihr angenommenen Vorentwurf an die RK zur Stellungnahme und Ergänzung (betreffend die von der RK zusätzlich beabsichtigte und von der SPK nicht vorberatene neue Definition der relativen Immunität) und an das ebenfalls betroffene Büro des Nationalrates zur Stellungnahme.

Die SPK hat an ihrer Sitzung vom 19. August 2010 von den Stellungnahmen und den Anträgen der RK und des Büros Kenntnis genommen und diese weitgehend in den vorliegenden definitiven Bericht und in die Erlassentwürfe übernommen, wobei sie teilweise auch Minderheitsanträgen der RK gefolgt ist. In der Gesamtabstimmung wurde die Vorlage mit 14 zu 0 Stimmen bei 8 Enthaltungen angenommen.

1.2

Immunität

1.2.1

Geltendes Recht und neuere Praxis

1.2.1.1

Tragweite der parlamentarischen Immunität

Die Ratsmitglieder können neben der hier nicht zur Diskussion stehenden sogenannten absoluten Immunität (keine Ahndung wegen Äusserungen in den Räten und in deren Organen; Art. 162 Abs. 1 BV und Art. 16 ParlG) auch die sogenannte relative (d.h. aufhebbare) Immunität geltend machen: «Gegen ein Ratsmitglied kann ein Strafverfahren wegen einer strafbaren Handlung, die in Zusammenhang mit seiner amtlichen Stellung oder Tätigkeit steht, nur mit der Ermächtigung der Bundesversammlung eingeleitet werden.» (Art. 17 Abs. 1 ParlG). Handelt es sich bei den Anschuldigungen um «Verbrechen oder Vergehen, welche nicht im Zusammenhang mit seiner amtlichen Stellung oder Tätigkeit stehen», geniesst das Ratsmitglied nur Schutz, um seine Sessionsteilnahme zu garantieren (Art. 20 ParlG). Ist die Sessionsteilnahme des Ratsmitglieds nicht gefährdet und stehen die Anschuldigungen nicht «im Zusammenhang mit seiner amtlichen Stellung oder Tätigkeit», so geniesst das Ratsmitglied keinen Schutz und kann wie eine beliebige Privatperson strafrechtlich verfolgt werden. Werden die eidgenössischen Räte unter solchen Umständen um die Aufhebung der Immunität ersucht, stellen sie fest, dass es sich um keinen Immunitätsfall handelt und treten nicht auf das Gesuch ein.

Das Kriterium des Zusammenhangs mit der amtlichen Stellung oder Tätigkeit und somit die Tragweite der relativen Immunität wurden unlängst im Rahmen der beiden Immunitätsfälle 06.088 (Schlüer) und 07.034 (Mörgeli) eingehend diskutiert.

Im ersten Fall ging es um einen Kommentar von Nationalrat Ulrich Schlüer mit dem Titel «Der Denunziant». Dieser war am 10. Februar 2006 in der Zeitung «Schweizerzeit» erschienen, von der Ulrich Schlüer seit vielen Jahren Chefredaktor ist. In seinem Artikel beschrieb er, wie ein Berner Anwalt, der ein Strafverfahren gegen ihn als Chefredaktor angestrebt hatte, vorgegangen war. Der Nationalrat folgte dem Antrag der Mehrheit seiner Kommission und sah den Zusammenhang mit seinem parlamentarischen Mandat als gegeben an, weshalb er auf das Gesuch um Aufhebung der Immunität eintrat. Er lehnte es jedoch ab, diese aufzuheben (AB 2007 N 564 ff.). Die RK des Ständerates beantragte hingegen Nichteintreten: Ihrer Meinung nach hatte sich Ulrich Schlüer nicht in seiner Eigenschaft als Nationalrat geäussert, 7352

sondern als Privatperson bzw. Chefredaktor dieser Zeitung, eine Funktion, die er länger als das Nationalratsmandat innehat. Sie betonte, dass die Gleichbehandlung von allen Medienschaffenden gewährleistet werden muss und jene nicht privilegiert werden dürfen, die gleichzeitig noch Ratsmitglied sind. Der Ständerat folgte dem Antrag seiner Kommission und lehnte es mit 20 zu 7 Stimmen ab, auf das Gesuch einzutreten (AB 2007 S 653 ff.). Der Nationalrat schloss sich daraufhin mit 91 zu 75 dem Ständerat an (AB 2007 N 1376 ff.). Das Strafverfahren konnte somit fortgesetzt werden.

Im zweiten Fall ging es um eine Kolumne von Nationalrat Christoph Mörgeli, die im Wochenmagazin «Die Weltwoche» vom 6. April 2006 erschienen war. Darin behauptete Nationalrat Mörgeli u.a., dass Frank A. Meyer in seinen regelmässigen «antikapitalistischen Manifesten» sich des «Nazi-Vokabulars» bediene. Er verglich die von Frank A. Meyer verwendeten Worte des «globalisierten Managers», der «keine Wurzeln schlage und nur hinter dem Geld her sei» mit dem seinerzeitigen «Kleinbürgerhass» der Deutschen auf das «Weltjudentum». Die RK des Nationalrates beantragte ihrem Rat mit 11 zu 6 Stimmen bei 2 Enthaltungen, auf das Gesuch um Aufhebung der Immunität einzutreten. Die Kommissionsmehrheit war der Ansicht, dass ein Zusammenhang zwischen den Aussagen von Nationalrat Mörgeli und seinem parlamentarischen Mandat besteht: Am Schluss des in der «Weltwoche» publizierten Textes stand der Vermerk, dass Christoph Mörgeli Nationalrat sei. Die Mehrheit war der Meinung, dass er in diesem Wochenmagazin nicht schreiben würde, wenn er nicht Mitglied des Parlaments wäre. Auch seien die angesprochenen Themen, u.a. die Spitzenverdienste in der Wirtschaft, von allgemeinem Interesse und politischer Natur. Jegliche restriktivere Praxis würde die notwendige Freiheit der Ratsmitglieder einschränken, sich über solche Themen zu äussern. Die Kommissionsminderheit war hingegen der Auffassung, die Aussagen von Nationalrat Mörgeli stünden in keinem Zusammenhang mit seinem Parlamentsmandat. Unter diesen Umständen sei die Immunität ein ungenügend gerechtfertigtes Privileg. Sie betonte, dass Nationalrat Mörgeli mit der Argumentation der Kommissionsmehrheit durch die Immunität geschützt und damit anders behandelt würde als die anderen Kolumnenschreiberinnen und -schreiber
der «Weltwoche» ­ darunter auch ein alt Nationalrat und ehemaliger Parteipräsident ­, die keinen Schutz geniessen. Da Frank A. Meyer seine Klage kurz nach der Kommissionssitzung zurückzog, wurde das Gesuch um Aufhebung der Immunität gegenstandslos und die Angelegenheit kam nicht mehr in das Plenum des Nationalrates (für weitere Informationen siehe Medienmitteilung der RK des Nationalrates vom 27. April 2007).

1.2.1.2

Zuständigkeit

Mit Ausnahme von offensichtlich unhaltbaren Gesuchen, welche der Präsident oder die Präsidentin der RK direkt erledigen kann (Art. 21 Abs. 3 in fine GRN und Art. 17 Abs. 4 in fine GRS), beschliesst das Plenum der beiden Räte über Gesuche um Aufhebung der Immunität. Die Zuständigkeit der RK beschränkt sich auf die Vorberatung der Gesuche; diskutiert wird in den Kommissionen nur darüber, was sie dem Rat beantragen wollen.

Bei der Behandlung des Immunitätsfalles Brunner (08.052) fand im Nationalrat eine hitzige Debatte mit teils heftigen Wortgefechten statt (AB 2008 N 1447 ff.; 2009 N 422 ff.; vgl. auch AB 2008 N 1385 ff.). In dieser unruhigen Stimmung war 7353

es für die RK zuweilen schwierig, ihre Position geltend zu machen. Sie wurde sogar mehrmals unter Beschuss genommen, was deren Präsidentin bewog, ausnahmsweise das Wort zu ergreifen, um die Arbeit der Kommission in Schutz zu nehmen (AB 2008 N 1452).

1.2.2

Überprüfung der Immunitätsvorschriften durch die Kommission für Rechtsfragen (RK)

Die RK setzte am 1. Juni 2007 eine Subkommission ein mit dem Auftrag, die verschiedenen Formen der parlamentarischen Immunität einer Gesamtüberprüfung zu unterziehen und nötigenfalls Anträge zu stellen. Die Subkommission führte eine Reihe von Anhörungen durch und holte verschiedene Informationen ein, um sich einen Überblick zu verschaffen (kantonale und ausländische Gesetzesregelungen, Praxis der Bundesversammlung, Rechtsprechung über die Zulässigkeit der parlamentarischen Immunität des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte1, frühere Bestrebungen zur Änderung der Immunitätsvorschriften). Nachdem die Subkommission verschiedene Varianten geprüft hatte, sprach sie sich am 25. August 2008 für folgende zwei Massnahmen aus: Zum einen soll ­ in Fortführung der Praxis im Zusammenhang mit dem Fall Schlüer ­ die Tragweite der relativen Immunität dahingehend eingeschränkt werden, dass der Straftatbestand in eindeutigem Zusammenhang mit der Parlamentstätigkeit stehen muss; zum andern sollen die Gesuche um Aufhebung der Immunität nicht mehr auf Plenums-, sondern nur noch auf Kommissionsebene geprüft werden. Dabei sprach sie sich für die Schaffung einer gemeinsamen Kommission für beide Räte aus.

Die RK übernahm die Anträge ihrer Subkommission und beschloss am 17. Oktober 2008, eine parlamentarische Initiative mit folgendem Wortlaut einzureichen: «(1) Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der vorgeworfenen strafbaren Handlung und der amtlichen Stellung oder Tätigkeit des Abgeordneten muss verlangt werden.

(2) Immunitätsgeschäfte werden nicht mehr im Plenum der Räte behandelt; diese Geschäfte werden entweder durch eine (neu zu schaffende) gemeinsame Kommission beider Räte oder durch zwei (bereits existierende oder neu zu schaffende) getrennt tagende Kommissionen definitiv behandelt» (08.497). Die RK des Ständerates stimmte dieser Initiative am 7. April 2009 zu.

Am 3. März 2009 ersuchte die SPK die RK, zum Vorentwurf zur Umsetzung ihrer Initiative 08.447(«Schutz der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen») Stellung zu nehmen. Bei der Ausarbeitung dieses Vorentwurfs, bei dem es um die Behandlung von Disziplinarfällen ging, wurde dem Anliegen der RK, die Gesuche um Aufhebung der Immunität nicht mehr im Plenum der beiden Räte zu behandeln, Rechnung getragen.

Die RK favorisierte anfänglich die Schaffung
einer paritätisch zusammengesetzten gemeinsamen Kommission für beide Räte, welche für die Behandlung von Disziplinar- und Immunitätsfällen zuständig ist. Die Kommission sah in diesem Modell zwei in ihren Augen entscheidende Vorteile: Zum einen hätte es sich um ein effizientes 1

Vgl. u.a. Urteile vom 17. Dezember 2002 in der Sache A. v. Grossbritannien (35373/97), vom 30. Januar 2003 in der Sache Cordova Nr. 1 (40877/98) und Nr. 2 (45649/99), vom 3. Juni 2004 in der Sache De Jorio (73936/01) sowie vom 6. Dezember 2005 in der Sache Ielo (23053/02).

7354

Verfahren mit rascher Beschlussfassung gehandelt; zum andern hätte es vor allem eine einheitliche Praxis ermöglicht, da damit widersprüchliche Entscheide der beiden Räte weggefallen wären, was für die heiklen Bereiche der Disziplinarverfahren und der Immunität sehr vorteilhaft gewesen wäre.

Da die SPK sich der Schaffung einer gemeinsamen Kommission für beide Räte weiterhin widersetzte (siehe Begründung in Ziff. 2.5), kam die RK am 29. Oktober 2009 auf ihren Beschluss zurück und entschied sich für das Modell der SPK, wonach jeder Rat eine getrennt tagende Kommission stellt, und beauftragte ihre Subkommission, den Vorentwurf der SPK zu prüfen und allfällige Änderungsanträge zu formulieren. Am 25. Februar 2010 übernahm die RK die ihr von der Subkommission unterbreiteten Anträge.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen

Artikel 47 ParlG lautet: Die Beratungen der Kommissionen sind vertraulich; insbesondere wird nicht bekannt gegeben, wie die einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer Stellung genommen oder abgestimmt haben.

1

2 Die Kommissionen können beschliessen, Anhörungen öffentlich durchzuführen.

Die Beratungen der Kommissionen sind somit generell vertraulich; einzige Ausnahme bildet die Möglichkeit, Anhörungen öffentlich durchzuführen. Aufgrund der Öffentlichkeit der Sitzungen der Räte sind hingegen die Anträge einer Kommission an den Rat öffentlich; darauf gründet die Praxis, die Namen derjenigen Kommissionsmitglieder zu veröffentlichen, welche einen Minderheitsantrag unterstützen.

Einsicht in die Kommissionsprotokolle und ­unterlagen kann erst nach Abschluss der Behandlung eines Beratungsgegenstandes, nur zu bestimmten Zwecken (Rechtsanwendung, Wissenschaft) und nur unter Wahrung bestimmter Auflagen (keine wörtlichen Zitate und keine namentliche Wiedergabe der Stellungnahmen einzelner Sitzungsteilnehmenden) gewährt werden (zu den Einzelheiten vgl. Art. 7 Parlamentsverwaltungsverordnung, SR 171.115).

Die SPK möchte am Grundsatz der Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen gemäss geltendem Recht festhalten. Sie lehnt auch eine teilweise Lockerung der Vertraulichkeit ab. Wenn z.B. bestimmte Teile der Kommissionsberatungen öffentlich werden, so würden sich kaum lösbare Abgrenzungsprobleme stellen. Vor allem aber gilt das wichtigste Argument für die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen grundsätzlich für alle, auch für die auf den ersten Blick weniger «heiklen» Beratungen: Die Kommissionen haben verfassungsmässigen Anspruch auf alle diejenigen Informationen, die sie zur Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben benötigen (Art. 153 Abs. 4 BV). Dabei kann es grundsätzlich immer auch um Informationen gehen, welche nicht öffentlich gemacht werden dürfen. Gemäss dem Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ, SR 152.3) wird der öffentliche Zugang zu amtlichen Dokumenten in vielen Fällen eingeschränkt, z.B. wenn dieser Zugang die freie Meinungs- und Willensbildung einer Behörde, die aussenpolitischen Interessen oder die internationalen Beziehungen der Schweiz oder die Privatsphäre Dritter beeinträchtigen 7355

kann (Art. 7 BGÖ, der zahlreiche weitere Ausnahmen vom Öffentlichkeitsprinzip aufzählt). Den Kommissionen können heute derartige Informationen nicht mit einem blossen Hinweis auf das Amtsgeheimnis vorenthalten werden, weil die Kommissionsmitglieder selbst dem Amtsgeheimnis unterstehen. Falls hingegen Kommissionsprotokolle oder -unterlagen ganz oder teilweise öffentlich werden, so verlieren die Kommissionen den Anspruch auf Zugang zu allen diesen Informationen und können ihre Aufgaben nur noch eingeschränkt wahrnehmen.

Die Vertraulichkeit der Kommissionssitzungen trägt wesentlich dazu bei, dass die Bundesversammlung eine zentrale Stellung im politischen Entscheidungsprozess einnehmen kann, wie dies ihrer verfassungsmässigen Stellung entspricht. In den Kommissionen werden mehrheitsfähige Lösungen erarbeitet, was einen gewissen Handlungsspielraum der Sitzungsteilnehmer und -teilnehmerinnen voraussetzt.

Häufig können tragfähige Kompromisse erst auf parlamentarischer Ebene in den Kommissionen gefunden werden, indem nicht mehrheitsfähige Vorlagen des Bundesrates umgestaltet werden oder indem die Kommissionen mit dem Instrument der parlamentarischen Initiative selber Lösungen erarbeiten.

Würden nun aber Kommissionsberatungen öffentlich, dann ist davon auszugehen, dass die Fraktionen ihren Mitgliedern in den Kommissionen weniger Spielraum lassen. Es bleibt nur noch wenig Raum für die Kompromissfindung. Will die Bundesversammlung weiterhin ein gestaltendes Parlament bleiben, muss sie über Organe verfügen, in denen auch noch nicht zu Ende gedachte Lösungsansätze diskutiert und weiterentwickelt werden können. Ansonsten verlagert sich die Entscheidungsfindung auf die vorparlamentarische Ebene und findet zwischen Bundesrat, Fraktionsspitzen und Interessengruppen statt. Wichtige Weichenstellungen würden zunehmend in vorparlamentarischen, nicht öffentlichen Gremien vorgenommen, welche anders als die Kommissionen nicht repräsentativ zusammengesetzt sind und nicht nach demokratischen Regeln funktionieren.

Von besonderer Bedeutung ist die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen für die Ausübung der parlamentarischen Oberaufsicht. Die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) haben dazu in ihrem Geschäftsbericht für das Jahr 2005 festgehalten: «Die Vertraulichkeit der Arbeiten der GPKs rechtfertigt sich dadurch,
dass die Kommissionen oft heikle Informationen zu bearbeiten haben, welche die Regierungs- oder Justiztätigkeit berühren oder welche Berufs- oder Geschäftsgeheimnisse oder gar persönliche Daten enthalten. (...)

Schliesslich soll die Vertraulichkeit der Arbeiten der GPKs den angehörten Personen auch erlauben, sich vor den Kommissionen frei und unabhängig zu äussern und die Informationen, die sie besitzen, mitzuteilen.

Die Vertraulichkeit der Arbeiten der GPKs ist kein Selbstzweck, sondern verfolgt das Ziel, ein unparteiisches, von externem Druck unberührtes Verfahren zu garantieren. Insofern bildet die Vertraulichkeit einen Schlüssel zum Erfolg der parlamentarischen Oberaufsicht und gleichzeitig eine Gewähr für Effizienz» (BBl 2006 4311).

Im Übrigen ist die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen kein Hindernis für die Information der Öffentlichkeit über die Ergebnisse der Kommissionsarbeit, wozu Artikel 5 Absatz 1 ParlG verpflichtet: 1 Die Räte und ihre Organe informieren rechtzeitig und umfassend über ihre Tätigkeit, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen.

7356

Artikel 20 GRN und Artikel 15 GRS präzisieren diese Informationspflicht der Kommissionen dahingehend, dass die Präsidentin oder der Präsident oder von der Kommission beauftragte Mitglieder die Medien schriftlich oder mündlich über die wesentlichen Ergebnisse der Kommissionsberatungen unterrichten. Informiert wird über die wesentlichen Beschlüsse mit dem Stimmenverhältnis sowie über die hauptsächlichen, in den Beratungen vertretenen Argumente.

2.2

Parlamentarisches Disziplinarrecht

«Disziplinarische Massnahmen sind administrative Sanktionen und damit grundsätzlich keine Strafen im Rechtssinne. Sie dienen der Aufrechterhaltung der Ordnung sowie der Wahrung des Ansehens und der Vertrauenswürdigkeit der Verwaltungsbehörden. Sie sollen bewirken, dass diejenigen Personen, die unter der Disziplinargewalt stehen, ihre Pflichten erfüllen» (Ulrich Häfelin/Georg Müller, Allgemeine Verwaltungslehre, 4. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2002, S. 50).

Ein Parlament unterscheidet sich allerdings grundlegend von einer Verwaltungsbehörde: Mitglieder von Verwaltungsbehörden sind in eine Hierarchie eingebunden und ihren vorgesetzten Personen oder Organen verantwortlich; die Ratsmitglieder hingegen sind gleichgestellt und allein ihren Wählerinnen und Wählern gegenüber verantwortlich. Das parlamentarische Disziplinarrecht muss dieser Repräsentationsfunktion des Parlamentes und seiner einzelnen Mitglieder Rechnung tragen.

Ein parlamentarisches Disziplinarrecht ist allerdings insofern gerechtfertigt und notwendig, als dadurch die demokratische Repräsentation als Ganzes vor Störungen geschützt wird, welche ihre Funktionen beeinträchtigen können. Damit hat das parlamentarische Disziplinarrecht eine ähnliche Funktion wie das Disziplinarrecht von Verwaltungsbehörden und von Standesorganisationen bestimmter freier Berufe (Anwälte, Notare, Medizinalpersonen). Artikel 13 ParlG dient der Aufrechterhaltung der Ordnung im Ratssaal, der Wahrung des Ansehens der «obersten Gewalt im Bund» (Art. 148 BV) und vor allem auch der Wahrnehmung der verfassungsmässigen Aufgaben des Parlamentes und seiner Organe.

Wie oben (Ziff. 2.1) gezeigt, ist die Wahrung des Amtsgeheimnisses der parlamentarischen Kommissionen essentielle Voraussetzung für die Wahrnehmung der Aufgaben der Kommissionen. Eine Verletzung des Amtsgeheimnisses gefährdet die Aufgabenerfüllung. Wenn keine Gewähr besteht, dass die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen gewahrt wird, so kann dies z.B. konkret zur Folge haben, dass Personen, die im Rahmen der Ausübung der parlamentarischen Oberaufsicht über Bundesrat und Verwaltung von einer Kommission befragt werden, nicht mehr zu umfassenden Auskünften bereit sind.

Die Bedeutung des parlamentarischen Amtsgeheimnisses für die Wahrnehmung der Aufgaben des Parlamentes und damit für die Demokratie rechtfertigt
die Ahndung seiner Verletzung durch Disziplinarmassnahmen, welche für das betroffene Ratsmitglied recht einschneidend sein können, wie dies beim Ausschluss aus den Kommissionen bis zu sechs Monaten der Fall ist. Nicht gerechtfertigt wäre allerdings ein Ausschluss von den Ratssitzungen (abgesehen vom kurzfristigen Ausschluss gemäss Art. 13 Abs. 1 Bst. b), weil damit das höher einzustufende Rechtsgut der demokratischen Repräsentation des Volkes und der Kantone (Art. 149 und 150 BV) verletzt würde.

7357

Eine Disziplinarmassnahme ist keine Strafe im Sinne des Strafrechts. Es sind daher nicht dieselben strengen Anforderungen an das Disziplinarverfahren zu stellen wie an ein Strafverfahren, jedenfalls nicht, wenn die vorgesehenen Sanktionen von verhältnismässig leichter Natur sind, wie das in Artikel 13 ParlG der Fall ist. Die Praxis des Bundesgerichts stellt nur Disziplinarstrafen wie z.B. die Einstellung der Berufsausübung, nicht aber z.B. eine Disziplinarbusse von 300 Franken oder eine mehrtägige Arreststrafe unter den Schutz von Artikel 6 Ziffer 1 («Recht auf ein faires Verfahren») der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (vgl. die Hinweise auf die Praxis des Bundesgerichts in Ulrich Häfelin/Georg Müller, Allgemeine Verwaltungslehre, 4. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2002, S. 250). Angesichts der Bedeutung des Parlamentsbetriebes und der besonderen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für die Ausübung des parlamentarischen Disziplinarrechts erscheinen im parlamentarischen Disziplinarverfahren aber jedenfalls die Anhörung der betroffenen Person und die Einrichtung einer Beschwerdeinstanz als zweckmässig.

Die Verletzung des Amtsgeheimnisses wird auch durch Artikel 320 des Strafgesetzbuches (StGB; SR 311.0) unter Strafe gestellt: 1. Wer ein Geheimnis offenbart, das ihm in seiner Eigenschaft als Mitglied einer Behörde oder als Beamter anvertraut worden ist, oder das er in seiner amtlichen oder dienstlichen Stellung wahrgenommen hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. (...)

Eine Strafklage und -untersuchung wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses kann sich auch gegen ein Mitglied der Bundesversammlung wenden. Weil die strafbare Handlung im Zusammenhang mit der amtlichen Stellung oder Tätigkeit des Ratsmitglieds steht, kann das Strafverfahren gemäss geltendem Recht nur mit der Ermächtigung der Bundesversammlung eingeleitet werden (Art. 17 ParlG, relative Immunität).

Wie das Beispiel der Behandlung des Gesuches um die Aufhebung der Immunität von Nationalrat Brunner zeigt, kann sich die Frage stellen, ob die Immunität aufgehoben werden soll (Beschluss des Nationalrates vom 1. Oktober 2008, AB 2008 N 1447) oder ob eine Disziplinarmassnahme verhängt werden soll (Begründung des Beschlusses des Ständerates vom 10. Dezember 2008, AB 2008 S 944). Es wäre aber durchaus auch
möglich, beide Wege gleichzeitig (oder nacheinander) zu beschreiten, gilt doch im Disziplinarrecht der Grundsatz des «ne bis in idem» nicht: Ein Disziplinarverfahren kann unabhängig von einem wegen desselben deliktischen Verhaltens durchgeführten Strafverfahrens eröffnet werden.

Im Disziplinarrecht gilt das Opportunitätsprinzip: Die zuständige Behörde kann auf die Durchführung eines Disziplinarverfahrens verzichten, «wenn sie zum Schluss kommt, der Zweck des Disziplinarrechts verlange keine Sanktion» (Ulrich Häfelin/ Georg Müller, Allgemeine Verwaltungslehre, 4. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2002, S. 251).

Angesichts der Bedeutung des Schutzes des parlamentarischen Amtsgeheimnisses (vgl. Ziff. 2.1) und angesichts seiner ausdrücklichen Erwähnung in Artikel 13 Absatz 2 ParlG kann man sich allerdings fragen, ob das Opportunitätsprinzip in der Weise ausgelegt werden darf, dass die zuständigen Behörden (bisher die Ratsbüros) gegenüber namentlich bekannt gewordenen Verletzungen des Amtsgeheimnisses weitgehend inaktiv bleiben, wie das bis zur Ankündigung einer entsprechenden Praxisänderung durch das Büro des Nationalrates im Frühling 2007 der Fall war 7358

(vgl. Ziff. 1.1.2). Man kann mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass der Zweck des Disziplinarrechts in diesen Fällen eine Sanktion verlangt. Die Festschreibung einer entsprechenden Offizialmaxime im Gesetz würde allerdings zu weit gehen. Die SPK zieht es vor, durch die Einrichtung eines geeigneten zuständigen Organs und durch ein besseres Verfahren die Voraussetzungen zu schaffen, damit der Zweck des Disziplinarrechts, der insbesondere im Schutz des Amtsgeheimnisses besteht, besser erfüllt werden kann (vgl. Ziff. 2.4).

2.3

Parlamentarische Immunität

Gemäss Artikel 17 Absatz 1 ParlG darf ein Strafverfahren gegen ein Ratsmitglied wegen einer strafbaren Handlung, «die im Zusammenhang mit seiner amtlichen Stellung oder Tätigkeit steht», nur mit der Ermächtigung der Bundesversammlung eingeleitet werden.

Die Mehrheit der SPK folgt mit 12 zu 7 Stimmen einer starken Minderheit der RK (Fluri, Aeschbacher, Huber, Leutenegger Oberholzer, Markwalder Bär, Thanei, Vischer, von Graffenried, Wyss Brigit) und will die relative Immunität (Art. 17 ParlG) abschaffen; damit besteht nur noch die absolute Immunität (Art. 162 Abs. 1 BV; Art. 16 ParlG) für Äusserungen in den Räten und in deren Organen. Damit wird die Ungleichheit beseitigt zwischen den Ratsmitgliedern, die durch die Immunität geschützt sind, und anderen Politikerinnen und Politikern, die es nicht sind. Es muss möglich sein, sich an der politischen Auseinadersetzung zu beteiligen, ohne dabei eine strafbare Handlung zu begehen, insbesondere ohne die Ehre des Gegenübers oder von Drittpersonen zu verletzen. Auch die Mitglieder von Kantonsparlamenten sind nur für Äusserungen im Parlament und in deren Organen durch die Immunität geschützt, was keine grösseren Probleme aufwirft, auch nicht in den grossen Kantonen, wo es fast wie auf Bundesniveau zugeht und die politischen Debatten heftig und das Medieninteresse gross sind.

Eine klare Abgrenzung des Schutzbereichs der relativen Immunität ist nicht möglich und damit sind unfruchtbare Streitigkeiten im Einzelfall unvermeidbar: Durch die Abschaffung der relativen Immunität werden die heute bestehenden Abgrenzungsprobleme gelöst.

Wird die relative Immunität der Ratsmitglieder gegen Strafverfolgungen im Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit abgeschafft, so müssen auch die Sessionsteilnahmegarantie für die Ratsmitglieder und die analogen Formen der relativen Immunität für die Mitglieder anderer Bundesbehörden überprüft werden (siehe dazu Ziff. 3, Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen).

Eine Minderheit I der SPK (Stöckli, Heim, Leuenberger-Genève, Roth-Bernasconi, Schenker Silvia, Tschümperlin, Zisyadis) folgt der Mehrheit der RK und möchte an der relativen Immunität der Ratsmitglieder festhalten, wobei diese Immunität enger definiert werden soll, was die SPK in einer ersten Abstimmung mit 11 zu 10 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen hat. In
gewissen Fällen stehen die Anschuldigungen gegenüber dem Ratsmitglied klar im Zusammenhang mit seiner amtlichen Stellung oder Tätigkeit, beispielsweise bei einem Verstoss gegen die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen (Art. 47 ParlG) oder bei einem Verstoss gegen die Vorschriften über die Abstimmungen im Ratsplenum, z.B. gegen das Verbot der stellvertretenden Stimmabgabe. In anderen Fällen besteht eindeutig kein Zusammen7359

hang zwischen der strafbaren Handlung und der amtlichen Stellung oder Tätigkeit.

Zwischen diesen beiden Extremen sind zahlreiche Fälle möglich, in denen es nicht von Anfang an klar ist, ob die Anschuldigungen im Zusammenhang mit der amtlichen Stellung oder Tätigkeit des Ratsmitglieds stehen. In unserem politischen Umfeld handelt es sich bei solchen Fällen grösstenteils um Meinungsäusserungsdelikte (Ehrverletzungen, Rassendiskriminierung, unlauterer Wettbewerb usw.), welche von Personen begangen werden, die ­ unabhängig von ihrer Parlamentszugehörigkeit ­ von Berufs wegen Gelegenheit haben, in der Öffentlichkeit ihre Meinung über Themen kundzutun, die auf die eine oder andere Weise mit dem Gesellschaftsleben zusammenhängen (Journalisten, Professoren oder Lehrer, Wissenschaftler, Rechtsvertreter usw.). Das Parlament musste sich mit solchen Abgrenzungsproblemen vor allem in den Fällen Ziegler (90.003), Schlüer (06.088) und Mörgeli (07.034) befassen (vgl. Ziff. 1.2.1.1). Die Mehrheit der RK und die Minderheit I der SPK möchten die parlamentarische Immunität nur so weit fassen, wie unbedingt erforderlich ist, damit ein Ratsmitglied seine Tätigkeit korrekt und ohne jeglichen Druck ausüben kann. Mit dieser Einschränkung der Immunität soll vermieden werden, dass gewisse Ratsmitglieder gegenüber Nichtparlamentariern, die im gleichen Beruf (z.B. als Journalist, Professor, Lehrer) tätig sind, auf ungerechte Weise privilegiert werden.

Die Formulierung «unmittelbarer Zusammenhang» ist von einem älteren Revisionsentwurf übernommen worden2. Wann ein solcher «unmittelbarer Zusammenhang mit der amtlichen Stellung oder Tätigkeit des Ratsmitglieds» besteht, wäre von Fall zu Fall zu beurteilen sein im Bewusstsein, dass der Gesetzgeber hier eine restriktive Praxis anstrebte.

Eine Minderheit II der SPK (Joder, Bugnon, Fehr Hans, Geissbühler, Rutschmann, Scherer Marcel, Wobmann) ist zusammen mit einer Minderheit der RK (Stamm, Freysinger, Geissbühler, Heer, Kaufmann, Nidegger, Reimann Lukas, Schwander) auch gegen die von der Minderheit I und der Mehrheit der RK vorgeschlagene Immunitätseinschränkung. Sie ist der Auffassung, dass die gewählte Formulierung ungenau ist und nicht zur gewünschten Klärung beiträgt. Es verbleibe ohnehin eine Grauzone, innerhalb welcher der Zusammenhang mit der amtlichen Stellung oder Tätigkeit
nicht eindeutig feststellbar sei. Sie befürchtet zudem, dass mit der Einschränkung der relativen Immunität die Diskussion auf die Abgrenzung zwischen relativer und absoluter Immunität verlagert wird, was letztlich nur zu einer Gefährdung der absoluten Immunität führen würde.

2

99.435 n Pa. Iv. RK-S. Revision der Gesetzesbestimmungen über die parlamentarische Immunität (Bericht der RK-S vom 13. August 1999, BBl 2000 646). In der in Erfüllung dieser Initiative unterbreiteten Vorlage wurde der Begriff «Stellung» nicht mehr erwähnt, sondern nur noch jener der «amtlichen Tätigkeit». ­ Im Bericht zur parlamentarischen Initiative 91.424 n Rüesch Ernst (Revision der Gesetzesbestimmungen über die parlamentarische Immunität) wiederum war von «Handlungen, die sich zur Hauptsache auf ihre amtliche Tätigkeit oder Stellung beziehen» die Rede. Die Absicht war allerdings die gleiche (vgl. Bericht der RK-S vom 20. Januar 1994, BBl 1994 II 848). Der Bundesrat hielt diese Formulierungen für zu unklar und schlug deshalb vor, von «engem Zusammenhang» (BBl 1994 III 1429 f.) zu sprechen.

7360

2.4

Kompetenzdelegation an parlamentarische Kommissionen

Entscheide über Disziplinarmassnahmen gegen Ratsmitglieder und Entscheide über Gesuche für die Aufhebung der parlamentarischen Immunität kann das Parlament nicht an parlamentsfremde Organe delegieren; das Parlament muss diese Entscheide in seiner eigenen Mitte treffen. Dadurch entsteht das Problem, dass eine in der Regel nach politischen Kriterien entscheidende Behörde ausnahmsweise Beschlüsse fassen muss, welche in erster Linie bestimmten juristischen Anforderungen genügen sollten. Das Entscheidungsorgan sollte die relevanten Sachverhalte feststellen, den Beschuldigten Gelegenheit zur Stellungnahme geben, die sich stellenden Rechtsfragen aufwerfen, abwägen und beantworten, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachten, für eine über den Einzelfall hinausgehende kohärente Praxis besorgt sein, usw. Parteipolitische Kriterien, Loyalitäten und Animositäten werden zwar bei parlamentarischen Entscheiden immer auch eine Rolle spielen, sollten aber gegenüber den juristischen Kriterien so weit wie möglich in den Hintergrund treten.

Die Schwierigkeiten, den genannten juristischen Anforderungen gerecht zu werden, zeigten sich beispielhaft an der Sitzung des Nationalrates vom 20. März 2008, an welcher die Einsprachen der betroffenen Ratsmitglieder gegen die vom Büro ausgesprochenen Verweise wegen Verletzung der Vertraulichkeit von Kommissionsberatungen behandelt wurden. Nach einer kurzen, auf Erwägungen verzichtenden Sachverhaltsfeststellung durch den Präsidenten des Nationalrates erhielten vier Ratsmitglieder, gegen welche ein Verweis ausgesprochen worden war, das Wort zur Begründung ihrer Einsprache. Sie benutzten die Gelegenheit vorwiegend dazu, um die von ihnen begangene Indiskretion vor dem Rat und damit vor der Öffentlichkeit erneut ausführlich zu wiederholen und damit ein Mitglied des Bundesrates anzugreifen. Das Büro verzichtete seinerseits auf eine Entgegnung und Begründung seiner Disziplinarmassnahme. Der Rat entschied ohne weitere Diskussion.

Bei diesem Verfahren kann von einer seriösen Prüfung nach rechtlichen Kriterien durch das Ratsplenum nicht die Rede sein. Angesichts des Umstandes, dass Mitglieder mehrerer Fraktionen betroffen waren, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass die Fraktionen zum Schutz ihrer eigenen Mitglieder die Einsprache aller betroffenen Ratsmitglieder
gutgeheissen haben.

Das Verfahren vor dem Ratsplenum kann auch den Effekt haben, dass ein Ratsmitglied, welches Anlass zu einer Disziplinarmassnahme oder zu einem Gesuch um Aufhebung seiner Immunität gegeben hat, dafür noch in der Weise belohnt wird, dass es ein attraktives öffentliches Forum zur Darlegung seiner Position erhält. Es kann damit ein kontraproduktiver Anreiz zu Verstössen geschaffen werden.

Artikel 153 Absatz 3 BV sieht vor, dass das Gesetz «einzelne Befugnisse [der Bundesversammlung], die nicht rechtsetzender Natur sind, an Kommissionen übertragen» kann. Die Zuständigkeiten für die Entscheide über Disziplinarmassnahmen und über Gesuche für die Aufhebung der parlamentarischen Immunität sind in besonderem Ausmass geeignet, um von den Ratsplena an Kommissionen übertragen werden zu können. Diese Entscheide sind nicht rechtsetzender Natur. Eine Kommission kann die oben formulierten juristischen Anforderungen besser erfüllen als das Ratsplenum. Zudem handelt es sich um Einzelfallentscheide, welche zwar für das Parlament selbst durchaus wichtig sein können, welche aber in nur sehr beschränktem Ausmass die Interessen einer weiteren Öffentlichkeit unmittelbar betreffen. Dieser Umstand erlaubt die mit der Kompetenzdelegation von den Räten an Kommissionen 7361

notwendigerweise verbundene Einschränkung der Öffentlichkeit der Beratungen.

Auch und gerade für diese Kommissionen gilt allerdings die Pflicht zur Information über die Ergebnisse ihrer Beratungen und über die hauptsächlichen, in den Beratungen vertretenen Argumente (vgl. Ziff. 2.1 in fine).

2.5

Zuständige Organe der Bundesversammlung

Ein für die Prüfung von Disziplinarmassnahmen und von Gesuchen um die Aufhebung der Immunität zuständiges parlamentarisches Organ sollte folgende Anforderungen erfüllen: a.

Die Zahl der Mitglieder sollte klein sein, damit die (juristische) Sachlichkeit und die Vertraulichkeit der Beratungen gefördert wird.

b.

Die Mitglieder sollten zumindest zum grösseren Teil über mehrjährige parlamentarische Erfahrung und über juristische Berufserfahrung verfügen.

c.

Dem Organ sollten nicht vorwiegend andersgeartete Aufgaben zugewiesen sein, damit es den spezifischen Anforderungen dieser juristischen Aufgaben die nötige Aufmerksamkeit widmen kann.

Im Lichte dieses Anforderungsprofils erscheinen die bestehenden ständigen Kommissionen des Nationalrates aufgrund ihrer grossen Mitgliederzahl, der in der Regel (mit Ausnahme der RK) nur kleinen Zahl von Mitgliedern mit juristischer Berufserfahrung und des Übergewichtes ihrer politisch-gesetzgeberischen Aufgaben weniger geeignet. Das Büro des Nationalrates setzt sich zur Mehrheit aus den anderweitig sehr stark belasteten Fraktionspräsidien und Mitgliedern des Ratspräsidiums zusammen und steht bei der Erfüllung seiner hauptsächlichen Aufgaben in der Regel unter sehr grossem Zeit- und Geschäftsdruck. Daher erscheint das Büro als erste Instanz zur Beurteilung von Disziplinarfällen weniger geeignet.

Dem Anforderungsprofil am besten gerecht wird im Nationalrat die Bildung einer neuen ständigen «Immunitäts- und Disziplinarkommission» (IDK) (zu den Einzelheiten vgl. Ziff. 3).

Im Ständerat könnte die Situation anders beurteilt werden. Es hat sich im Ständerat bisher noch gar nie die Frage gestellt, ob ein Disziplinarverfahren gegen ein Ratsmitglied eingeleitet werden soll. Die Schaffung einer neuen ständigen Kommission, die sich in der Praxis voraussichtlich nur mit Immunitätsfällen zu beschäftigen hätte, erscheint voraussichtlich kaum als zweckmässig. Die Lösung im Ständerat könnte darin bestehen, dass sich die Kommission für Rechtsfragen, die nur halb so viele Mitglieder hat wie die analoge Kommission des Nationalrates, wie bisher mit dem Immunitätsfällen beschäftigt.

Indem das Parlamentsgesetz die Bezeichnung der zuständigen Kommissionen an die Geschäftsreglemente der einzelnen Räte delegiert, kann jeder Rat die seinen Verhältnissen gerecht werdende Lösung finden.

Während die fachlichen Anforderungen für die Beurteilung von Disziplinar- und Immunitätsfällen ähnlich sind, sind für die beiden Fallkategorien zwei Unterschiede im Verfahren zu berücksichtigen:

7362

1.

Eine Disziplinarmassnahme ist eine abschliessende, rechtskräftige Sanktion, so dass als rechtsstaatliche Verfahrensgarantie die Möglichkeit einer Beschwerde offen stehen muss. Es liegt nahe, als Beschwerdeinstanz das Büro des Rates zu bezeichnen; es ist das Leitungsorgan des Rates und in ihm sind alle Fraktionen vertreten. Der Entscheid über die Aufhebung der Immunität ist hingegen ein Verfahrensentscheid und keine Sanktion; er ermöglicht die Eröffnung einer Strafuntersuchung, deren Resultat offen bleibt. Ein Beschwerdeverfahren ist nicht notwendig.

2.

Eine Disziplinarmassnahme ist ein ratseigenes Geschäft; folglich ist die Kommission desjenigen Rates allein zuständig, dem das zu disziplinierende Ratsmitglied angehört. Für die Beschlussfassung über Gesuche für die Aufhebung der Immunität sind hingegen die Kommissionen beider Räte zuständig, da in diesen Fällen die Bundesversammlung als Organ des Bundes in Beziehung steht zu nicht parlamentarischen Behörden des Bundes oder der Kantone.

Der Wortlaut der parlamentarischen Initiative der RK hatte zwei Varianten der Kompetenzdelegation an Kommissionen erwähnt: einerseits die hier vorgeschlagene Delegation an getrennt tagende Kommissionen beider Räte, andererseits eine Delegation an eine gemeinsame Kommission beider Räte. Diese zweite Lösung hätte einerseits den praktischen Nachteil, dass eine derartige Kommission beider Räte sich nicht auch mit Disziplinarmassnahmen befassen könnte, weil es sich bei letzteren in der Regel um die Angelegenheit bloss eines Rates handelt. Andererseits wäre die Schaffung einer derartigen gemeinsamen Kommission beider Räte auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht problematisch. Man muss sich folgende, kaum akzeptable, aber mögliche konkrete Folge der Einrichtung einer derartigen gemeinsamen Kommission beider Räte vor Augen halten: Die gemeinsame Abstimmung über ein Gesuch für die Aufhebung der Immunität eines Ratsmitglieds könnte dazu führen, dass z.B. die Immunität eines Mitglieds des Ständerates entgegen dem Willen der Mehrheit der ständerätlichen Delegation mit der grösseren Mehrheit der nationalrätlichen Delegation aufgehoben würde.

Artikel 153 BV ermöglicht zwar in Absatz 2 die Schaffung gemeinsamer Kommissionen und in Absatz 3 eine Kompetenzdelegation an Kommissionen. Artikel 153 BV darf aber nicht isoliert, sondern muss im Kontext von Artikel 156 BV gesehen werden, welcher die Grundsätze des Zweikammersystems aufstellt: National- und Ständerat verhandeln getrennt und für Beschlüsse der Bundesversammlung ist eine Übereinstimmung beider Räte erforderlich. Diese Grundsätze sind für den schweizerischen Bundesstaat von zentraler Bedeutung. Wenn der Gesetzgeber eine bisher von beiden Räten in getrennter Beratung und Beschlussfassung wahrgenommene Zuständigkeit an Kommissionen delegiert, so gelten die Grundsätze der getrennten Beratung und Beschlussfassung weiterhin auch für die Kommissionen beider Räte.

Die Entstehungsgeschichte von Artikel 153 Absatz 2 BV bestätigt diese Auslegung.

Diese Bestimmung wurde geschaffen, um insbesondere den bereits bestehenden gemeinsamen Kommissionen im Bereich der Oberaufsicht (Geschäftsprüfungsdelegation, Finanzdelegation, Parlamentarische Untersuchungskommission) eine verfassungsmässige Grundlage zu geben (vgl. BBl 1995 I 1156, BBl 1997 III 267).

Die Oberaufsicht wird
in der Regel nicht mit Beschlüssen der Bundesversammlung, sondern durch die Empfehlungen und Berichte der Kommissionen und Delegationen ausgeübt. Oberaufsicht findet im Gespräch zwischen diesen Kommissionen und dem 7363

Bundesrat statt. Es liegt im Interesse sowohl des Parlamentes als auch der Regierung, dass das Parlament hier mit einer Stimme spricht. Die unterschiedliche Repräsentation des Volkes durch den Nationalrat und der Stände durch den Ständerat und die damit verbundene Intraorgankontrolle (gegenseitige Überprüfung der Beschlüsse beider Räte) spielt hier keine oder nur eine untergeordnete Rolle, ganz anders als bei den meisten übrigen Parlamentsfunktionen. Gerade wenn die Prüfung der Gesuche um Aufhebung der Immunität in die abschliessende Zuständigkeit von Kommissionen gelegt wird, gewinnt das mit dem Zweikammersysteme verbundene Element der Intraorgankontrolle noch zusätzlich an Bedeutung: Die Kommissionen sollen beraten und entscheiden können, ohne sich unmittelbar zu beeinflussen. Diese Entscheide können für die Betroffenen (Beschuldigte und Untersuchungsbehörden) von erheblicher Bedeutung sein, was jedenfalls eine Überprüfung des Entscheides der erstberatenden Kommission durch die unabhängig tagende Kommission des Zweitrates nicht nur rechtfertigt, sondern auch verlangt.

Als zuständige Kommission nicht in Frage kommen kann eine Kommission der Vereinigten Bundesversammlung, sei es eine bestehende (Begnadigungskommission, Gerichtskommission) oder neue Kommission, weil Artikel 157 Absatz 1 BV die Zuständigkeiten der Vereinigten Bundesversammlung abschliessend aufzählt.

3

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

3.1

A. Änderung des Parlamentsgesetzes

Art. 13

Disziplinarverfahren während einer Ratssitzung

Das Disziplinarverfahren gemäss dem bisherigen Artikel 13 Absatz 2 wird detaillierter geregelt. Diese Regelung wird daher in einen neuen Artikel 13a ausgegliedert.

Damit kann klar unterschieden werden zwischen Verstössen, welche unmittelbar während einer Ratssitzung sanktioniert werden müssen, und übrigen Vorfällen, bei welchen diese Form der Sanktionierung nicht möglich ist.

Bei einem Wortentzug (Abs. 1 Bst. a) soll der Entscheid der Ratspräsidentin oder des Ratspräsidenten anders als im geltenden Recht nicht mehr anfechtbar sein. Die Zuständigkeit der Präsidentin oder des Präsidenten zur Leitung der Verhandlungen würde durch eine derartige Einsprache in zu starkem Ausmass in Frage gestellt. Die Massnahme des Sitzungsausschlusses (Abs. 1 Bst. b) ist von erheblich schwerwiegenderer Natur, da dadurch die Repräsentation der Wählerschaft verändert wird.

Daher soll gegen diese Massnahme nach wie vor Einsprache erhoben werden dürfen.

Art. 13a (neu)

Disziplinarverfahren ausserhalb einer Ratssitzung

Mit Artikel 13a werden die Ratsbüros von ihrer Zuständigkeit für Disziplinarmassnahmen, die nicht gemäss Artikel 13 Absatz 1 während einer laufenden Ratssitzung verhängt werden können, entlastet (vgl. die Begründung in Ziff. 2.5). Weil die Verhältnisse in den beiden Räten sehr unterschiedlich sind und nach verschiedenen Lösungen verlangen, wird die Bezeichnung des zuständigen erstinstanzlichen Organs (Abs. 2) und der Beschwerdeinstanz (Abs. 5) an die Ratsreglemente delegiert. Zur Begründung der Delegation der Zuständigkeit für den Entscheid über eine Einsprache vom Rat an ein Ratsorgan, vgl. Ziffer 2.4.

7364

Absatz 1 nennt die beiden möglichen Disziplinarmassnahmen und entspricht dem bisherigen Artikel 13 Absatz 2.

In Absatz 2 wird präzisiert, dass das Organ desjenigen Rates für die Disziplinarmassnahme zuständig ist, dem das betroffene Ratsmitglied angehört. Damit wird die bisher ungeklärte Frage beantwortet, wer zuständig ist, wenn der Verstoss in der Vereinigten Bundesversammlung begangen wird oder wenn die Mitwirkung eines Ratsmitglieds in einer Kommission des anderen Rates (wie sie insb. bei der Behandlung von parlamentarischen Initiativen vorkommt) Anlass zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens gibt.

Die Absätze 2 und 3 stellen neu ein notwendiges Minimum an Verfahrensgrundsätzen auf (zum nötigen Ausmass rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien im Disziplinarverfahren vgl. Ziff. 2.2.). Voraussetzung für die Einleitung eines Verfahrens ist ein Antrag eines Ratsmitglieds oder Ratsorgans. Das bedeutet nicht, dass das zuständige Organ nicht auch von sich aus aktiv werden kann; seine Präsidentin oder sein Präsident und seine Mitglieder sind ebenfalls antragsberechtigte Ratsmitglieder.

Wird dem Antrag stattgegeben, so hat dass betroffene Ratsmitglied Anspruch darauf, persönlich angehört zu werden. Der Ausdruck «rechtliches Gehör» wird aber vermieden, um eine Auslegung in Form einer unangemessenen Formalisierung des Verfahrens zu vermeiden. Weiter wird präzisiert, dass sich ein betroffenes Ratsmitglied nicht durch eine Anwältin oder einen Anwalt (oder ein anderes Ratsmitglied) begleiten oder vertreten lassen darf, wie dies bei den Disziplinarmassnahmen im Frühjahr 2008 teilweise gefordert worden war. Ein Anspruch auf Teilnahme von Drittpersonen an irgendwelchen parlamentarischen Verhandlungen ist dem Parlamentsrecht grundsätzlich fremd; einzig die gewählten Volksvertreterinnen und -vertreter und die von diesen gewählten Magistratspersonen haben legitimen Anspruch darauf, parlamentarische Entscheide durch Wortmeldungen beeinflussen zu dürfen.

Absatz 4: Die Information der Öffentlichkeit über die wesentlichen Ergebnisse der Kommissionsberatungen ist von besonderer Bedeutung. Weil keine öffentlichen Ratsverhandlungen mehr stattfinden, ist dies die einzige öffentliche Information.

Diese Information erfolgt gemäss Artikel 5 ParlG und den entsprechenden Ausführungsbestimmungen in den Ratsreglementen
(Art. 20 GRN, Art. 15 GRS). Die Ratsmitglieder dürften ein besonderes Interesse an dieser Information haben; sie werden daher schriftlich informiert (dies kann in Form einer Übermittlung der entsprechenden Medienmitteilung geschehen), was auch einen gewissen präventiven Effekt haben dürfte.

Die Absätze 5­7 regeln das Beschwerdeverfahren. Es gelten die analogen Grundsätze wie im Verfahren vor der ersten Instanz. Die RK hat in ihrer Stellungnahme vorgeschlagen, dass das Beschwerdeorgan dem erstinstanzlichen Organ Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme gibt und auf eine direkte Anhörung verzichtet.

Die SPK hat diesen Antrag nicht übernommen: Sie zieht eine unmittelbare, effiziente Anhörung einem naturgemäss aufwendigeren und schwerfälligeren Schriftenwechsel vor.

Absatz 8: Disziplinar- und Immunitätsentscheide dürfen aufgrund ihrer Bedeutung nur getroffen werden, wenn die Mehrheit der Mitglieder des zuständigen Organs anwesend ist. Diese Bestimmung lehnt sich an Artikel 92 Absatz 1 ParlG über die Einigungskonferenz. Die in Artikel 13a Absatz 8 vorgeschlagene neue Bestimmung gilt für Disziplinarfälle (erstinstanzliches Organ und Beschwerdeorgan); für die 7365

Behandlung von Immunitätsfällen findet sich eine entsprechende Bestimmung in Artikel 17a Absatz 3 ParlG (relative Immunität der Ratsmitglieder gemäss Kommissionsminderheit) und Artikel 14 Absatz 4 VG (relative Immunität der Mitglieder des Bundesrates und des Bundesgerichts). Diese Parallelregelung ist notwendig, denn die Beschlussfähigkeitsregel muss allgemein gelten, weil bestimmte Handlungen ­ beispielsweise der Verstoss gegen die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen ­ für ein Ratsmitglied sowohl eine Disziplinarstrafe als auch die Immunitätsaufhebung nach sich ziehen können und vorgesehen ist, dass dasselbe Organ für beide Bereiche zuständig ist.

Absatz 9: Das Parlamentsrecht kennt bisher nur die Pflicht, dass Ratsmitglieder, «die durch einen Beratungsgegenstand in ihren Interessen unmittelbar betroffen sind», auf diesen Umstand hinweisen, wenn sie sich im Rat oder in einer Kommission äussern (Art. 11 Abs. 3 ParlG). Falls sich ein Disziplinarverfahren gegen ein Mitglied der für die Durchführung des Verfahrens zuständigen Kommission oder gegen ein Mitglied der Beschwerdeinstanz richtet, so soll für dieses Mitglied eine Ausstandspflicht gelten. Dieses Mitglied kann sich in der Kommission gemäss den für den jeweiligen Rat geltenden Regeln vertreten lassen (Art. 18 GRN, Art. 14 GRS).

Art. 17

Relative Immunität; Begriff und Zuständigkeiten

Zum Antrag der Mehrheit für Aufhebung von Artikel 17, siehe Ziffer 2.3.

Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich auf den Antrag der Minderheit I: Weil Artikel 17 aufgrund der vorgeschlagenen Änderungen neu elf Absätze umfassen würde, wird er aufgeteilt, indem die Verfahrensbestimmungen in einen neuen Artikel 17a ausgelagert werden.

Absatz 1: Zum Begriff der relativen Immunität, siehe Ziffer 2.3. Die Zuständigkeit für den Entscheid über ein Gesuch für die Aufhebung der Immunität eines Ratsmitglieds wird von beiden Räten an Kommissionen beider Räte übertragen (vgl. die Begründung in Ziff. 2.4 und 2.5).

Absatz 2: Gemäss Justizreform ist nicht mehr das Bundesgericht, sondern das Bundesstrafgericht dasjenige richterliche Organ des Bundes, das für Strafverfahren zuständig ist, welche sich gegen Mitglieder von Behörden des Bundes richten (BBl 2001 4525). Mit dem Parlamentsgesetz wurden die Bestimmungen über die Ratsmitglieder aus dem VG ins ParlG überführt, ohne dass die mit der Justizreform beabsichtigte Änderung auch im ParlG vorgenommen worden ist. Allerdings ist hier über diese Korrektur hinauszugehen und klarer auszudrücken, dass es hier darum geht, eine normalerweise der kantonalen Gerichtsbarkeit unterstehende Handlung den Strafbehörden des Bundes zur Untersuchung und Beurteilung übertragen zu können. Der Wortlaut der geltenden Bestimmung vermittelt zu Unrecht den Eindruck, der Beschluss, den die Bundesversammlung fassen kann, sei eine Art Anklageerhebung mit Überweisung an das Bundesstrafgericht.

Absatz 3: Die Bundesanwaltschaft hat in den letzten Jahren eine bedeutende Entwicklung durchgemacht. Diese Entwicklung ist noch immer im Gange, denn das neue Bundesgesetz über die Organisation der Strafbehörden des Bundes (08.066; BBl 2010 2031) verändert die Stellung der Bundesanwaltschaft erheblich und verleiht ihr noch mehr Unabhängigkeit. Es ist davon auszugehen, dass sie durchaus in der Lage ist, eine Untersuchung gegen ein Ratsmitglied zu führen. Die Bezeichnung einer ausserordentlichen Bundesanwältin oder eines aussergewöhnlichen Bundes7366

anwalts soll daher nicht mehr die Regel (geltender Abs. 4), sondern lediglich eine Möglichkeit für besondere Situationen sein (vgl. Eingangsformulierung von Abs. 4: «Wo es nach den Umständen des Falls gerechtfertigt erscheint»). Die Bestimmung gilt allgemein, unabhängig davon, ob eine strafbare Handlung der Bundesgerichtsbarkeit untersteht, beispielsweise in Anwendung von Artikel 336 StGB, oder ob die Untersuchung und die Beurteilung gemäss Absatz 4 den Strafbehörden des Bundes übertragen werden. Vgl. auch die Erläuterungen zu Artikel 14 Absatz 3 und Artikel 6 VG.

Absatz 4: Die analoge Bestimmung steht bisher in identischer Form in den beiden Ratsreglementen (Art. 21 Abs. 3 GRN und Art. 17 Abs. 4 GRS). Eine derartige Kompetenzdelegation braucht eine gesetzliche Grundlage (vgl. die ähnliche Kompetenzdelegation an die Kommissionspräsidenten betreffend die Erledigung von z.B. «offensichtlich abwegigen» Petitionen in Art 126 Abs. 4 ParlG).

Art. 17a (neu)

Relative Immunität; Verfahren

Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich auf den Antrag der Minderheit I: Absatz 2: Für den Fall, dass die Beschlüsse der Kommissionen nicht übereinstimmen, wird die bisher zwischen den Räten angewendete «Differenzregelung für besondere Fälle» (Art. 95 ParlG) in Analogie übernommen.

Absatz 3: Vgl. oben zu Artikel 13a Absatz 8.

Absätze 4­7: Es gelten dieselben Verfahrensgrundsätze wie im Disziplinarverfahren (vgl. Erläuterungen zu Art. 13a, Abs. 3, 4 und 9) mit dem Unterschied, dass es nach dem ersten Entscheid zwar keine Einsprachemöglichkeit bei einem weiteren Organ desselben Rates, dafür aber eine zweite Behandlung durch das zuständige Organ des anderen Rates gibt.

Art. 18 Abs. 2, 3 und 4 Die Aufhebung der relativen Immunität hat zur Folge, dass auch die generelle Pflicht zum Einholen einer Ermächtigung durch die Ratspräsidien für die Aufnahme von Ermittlungsmassnahmen aufgehoben werden muss. Hingegen ist daran festzuhalten, dass eine Ermächtigung zur Aufhebung des Post- und Fernmeldegeheimnisses erforderlich ist (Art. 18 Abs. 1). Ein Ratsmitglied kann davon auch betroffen sein, wenn sich die Strafverfolgung nicht gegen das Ratsmitglied selbst, sondern gegen eine Drittperson richtet. Ein konkreter derartiger Fall war anfangs der 1970erJahre Anlass zur Aufnahme dieser gesetzlichen Bestimmung. Ein Ratsmitglied muss, um seine Aufgaben wahrnehmen zu können, mit Dritten (Wählern, Informanten, usw.) in Kontakt treten können, ohne damit rechnen zu müssen, gegebenenfalls abgehört zu werden.

Art. 20 Die Kommission beantragt auch die Aufhebung der Sessionsteilnahmegarantie.

Diese stellt ebenfalls eine Form der relativen, d.h. aufhebbaren Immunität dar. Eine Strafverfolgung gegen ein Ratsmitglied wegen eines Delikts, das nicht im Zusammenhang mit seiner amtlichen Tätigkeit steht, kann während einer Session nur mit seiner Zustimmung oder mit Ermächtigung des zuständigen parlamentarischen Organs eingeleitet oder weitergeführt werden. Die Frage der Beibehaltung oder 7367

Abschaffung kann für die relative Immunität gemäss Artikel 17 einerseits und für die Sessionsteilnahmegarantie gemäss Artikel 20 andererseits durchaus unterschiedlich beantwortet werden. Die relative Immunität gemäss Artikel 17 hat in der Praxis durchaus eine gewisse Bedeutung. Demgegenüber hat ein Ermächtigungsverfahren vor dem Parlament gemäss Artikel 20 seit langer Zeit nie stattgefunden. Es darf angenommen werden, dass eine beschuldigte Person von sich aus ihre Zustimmung zur Strafverfolgung erteilt, weil sie kein Interesse an einem öffentlichen Verfahren hat. Die eigentliche Funktion der Sessionsteilnahmegarantie bestand darin, die Ratsmitglieder und damit die Aufgabenerfüllung des Parlamentes vor willkürlichen, politisch motivierten Strafverfolgungen unter dem Vorwand angeblich begangener «gemeiner» Delikte zu schützen. In der Gründungszeit des Bundesstaates unmittelbar nach 1848, als diese Bestimmung eingeführt wurde, mögen derartige Befürchtungen gegenüber den kantonalen, dem jungen Bundesstaat feindlich gegenüberstehenden Strafverfolgungsbehörden noch begründet gewesen sein; heute ist dies nicht mehr der Fall.

Die Antiquiertheit der Sessionsteilnahmegarantie zeigt sich auch darin, dass diese Regelung noch von Ratsmitgliedern ausgeht, die nur während der Sessionen eine wichtige Funktion ausüben und folglich nur dann vor Strafverfolgung geschützt werden müssen. So funktionierte das Parlament in der Gründungszeit des Bundesstaates; die heutige Realität eines «Halbberufsparlaments», dessen Funktionen zu einem grossen Teil durch die während des ganzen Jahres tagenden Kommissionen wahrgenommen werden, sieht gänzlich anders aus. Indem die analoge relative Immunität der von der Bundesversammlung gewählten Mitglieder von Bundesbehörden diese nicht nur zeitweise, sondern generell vor Strafverfolgung schützt (vgl. Art. 61a RVOG, Art. 11 BGG, Art. 12 VGG, Art. 16 PatGG, Art. 50 StBOG), ergibt sich eine Ungleichbehandlung der Ratsmitglieder einerseits und der weiteren Behördemitglieder andererseits. Diese schwer zu rechtfertigende Ungleichbehandlung soll durch generelle Abschaffung dieser nicht mehr zeitgemässen Form der Immunität behoben werden.

Die Minderheit I geht davon aus, dass dieselben Gründe wie für die Beibehaltung der relativen Immunität auch für die Wahrung der Sessionsteilnahmegarantie
gelten.

Auch hier sollen nicht mehr die Räte, sondern Kommissionen der Räte für den Entscheid zuständig sein. Zur Beifügung des «unmittelbaren Zusammenhangs» in Absatz 1 siehe Ziffer 2.3.

Art. 95 Bst. i Vgl. Artikel 17a Absatz 2.

Änderung weiterer Gesetze 1. Verantwortlichkeitsgesetz (VG), Ingress, Art. 14, 14bis Abs. 2 und 4, 14ter und 15 Gemäss Praxis der Redaktionskommission wird die Teilrevision eines vor Inkrafttreten der BV von 1999 erlassenen Gesetzes zum Anlass genommen, seinen Ingress in der Weise zu ändern, dass das Gesetz sich nicht mehr auf die BV von 1874, sondern auf die BV von 1999 stützt.

Artikel 14, 14bis und 14ter VG regeln in Analogie zu Artikel 17­19 und 21 ParlG die relative Immunität der von der Bundesversammlung gewählten Magistratspersonen 7368

wegen strafbarer Handlungen, die sich auf ihre amtliche Tätigkeit beziehen, sowie die Aufhebung des Post- und Fernmeldegeheimnisses und die Einleitung weiterer Ermittlungsmassnahmen gegen Magistratspersonen.

Die Kommission schlägt eine differenzierte Regelung für die analoge relative Immunität der von der Bundesversammlung gewählten Mitglieder von Bundesbehörden vor. Die Wahrung der Funktionsfähigkeit der obersten Bundesbehörden rechtfertigt es, dass die Mitglieder des Bundesrates, die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler und die Mitglieder des Bundesgerichts aufgrund ihrer besonders exponierten Stellung vor einer Strafverfolgung wegen Delikten im Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit geschützt bleiben. Die Beibehaltung dieser relativen Immunität ist zudem auch Voraussetzung dafür, dass die Bundesversammlung zusammen mit einer Ermächtigung zur Strafverfolgung gegebenenfalls gemäss Artikel 14 Absatz 7 VG auch «über die vorläufige Einstellung im Amte» beschliessen können ­ eine Massnahme, die sich aus politischen Gründen als notwendig erweisen kann. Für die Mitglieder der unteren Bundesgerichte, den Bundesanwalt und die Stellvertretenden Bundesanwälte liegen diese Gründe für eine Beibehaltung der relativen Immunität nicht vor.

Während die Kommissionsmehrheit in Artikel 14 VG die Einzelheiten des Verfahrens regeln muss, kann die Minderheit I auf die analogen Regelungen in Artikel 17 und 17a ParlG verweisen: ­

Definition der relativen Immunität, Zuständigkeiten (Abs. 1): Siehe Ziffer 2.3 und 2.4.

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Bestimmung des Erstrates (Abs. 2): Da die betroffene Person kein Ratsmitglied ist, ist die Erstbehandlung nicht durch die Ratszugehörigkeit dieser Person gegeben; dies erfordert eine besondere Bestimmung.

­

Differenzbereinigung (Abs. 3): Siehe die Erläuterungen zu Artikel 17a Absatz 2 ParlG in der Fassung der Minderheit I.

­

Beschlussfähigkeit (Abs. 4): Siehe die Erläuterungen zu Artikel 13a Absatz 8 ParlG.

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Recht auf Anhörung (Abs. 5): Diese dem geltenden Recht entnommene Formulierung («Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben») lautet anders als in Artikel 13a Absatz 3 und (gemäss Minderheit I) in Artikel 17a Absatz 4 ParlG («anhören»). Die betroffene Magistratsperson wird vom zuständigen Organ nicht unbedingt angehört. Je nach Umständen, besonders wenn eine Immunitätsaufhebung unwahrscheinlich scheint, weil im Dossier klare Hinweise auf die Begehung einer Straftat fehlen, kann die Magistratsperson von einer mündlichen Stellungnahme vor der Kommission absehen; vor allem kann sie eine schriftliche Stellungnahme vorziehen. Im Gegensatz zu Artikel 13a Absatz 3 und Artikel 17a Absatz 4 ParlG verbietet Artikel 14 Absatz 5 VG der anzuhörenden Person nicht, sich von einer Drittperson vertreten oder begleiten zu lassen. Damit kann der in solchen Fällen üblichen Praxis der Kommissionen für Rechtsfragen Rechnung getragen werden. So hat bei der Behandlung des Immunitätsfalles 09.035, von dem mehrere Bundesratsmitglieder betroffen waren, der Bundesrat entschieden, die betroffenen Magistratspersonen von der Vorsteherin des Eidgenössischen Justizund Polizeidepartementes vertreten zu lassen. Im Fall 09.034 betreffend die Aussagen der Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige 7369

Angelegenheiten im Vorfeld der Volksabstimmung vom 8. Februar 2009 (Weiterführung der Personenfreizügigkeit und deren Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien) liess sich die Bundesrätin vom Chef des Integrationsbüros und einer weiteren Kaderperson begleiten.

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Orientierung über den Entscheid und Information der Öffentlichkeit (Abs. 6): Siehe die Erläuterungen zu Artikel 13a Absatz 4 ParlG.

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Vorläufige Einstellung im Amt (Abs. 7): Gemäss geltendem Artikel 14 Absatz 4 VG können die Räte zusammen mit der Ermächtigung zur Strafverfolgung «über die vorläufige Einstellung im Amte» beschliessen. Sollte diese Bestimmung je zur Anwendung gelangen ­ was bisher noch nie geschehen ist ­ , so wäre dieser Beschluss von derartiger Bedeutung, dass er nicht an Kommissionen delegiert werden soll. Die Zuständigkeit für einen derartigen Entscheid sollte aber auch nicht wie bisher bei den getrennt tagenden Räten liegen, sondern bei der Vereinigten Bundesversammlung als Wahlorgan der Magistratspersonen. Eine Kommission muss das Geschäft zuhanden der Vereinigten Bundesversammlung vorberaten und Antrag stellen. Demzufolge vereinigen sich die zuständigen Kommissionen beider Räte zu einer Kommission der Vereinigten Bundesversammlung. Weil die Mitgliederzahl der zuständigen Kommissionen wahrscheinlich nicht dem üblichen Kräfteverhältnis zwischen der nationalrätlichen und der ständerätlichen Delegation (Art. 39 Abs. 4 ParlG: 12 Mitglieder des Nationalrates, 5 Mitglieder des Ständerates) in einer Kommission der Vereinigten Bundesversammlung entspricht, müssen die Büros die zuständigen Kommissionen zu diesem Zweck entsprechend verkleinern oder vergrössern.

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Übertragung der Untersuchung und Beurteilung an die Strafbehörden des Bundes (Abs. 8): Siehe die Erläuterungen zu Artikel 17 Absatz 2 ParlG in der Fassung der Minderheit I.

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Bestimmung eines ausserordentlichen Bundesanwalts oder einer ausserordentlichen Bundesanwältin (Abs. 9): Die Erläuterungen zu Artikel 17 Absatz 3 ParlG in der Fassung der Minderheit I gelten auch, wenn die vom Gesuch um Aufhebung der Immunität betroffene Person eine von der Bundesversammlung gewählte Magistratsperson ist, beispielsweise ein Bundesrat wie in den Fällen 09.034 und 09.035: Die Bundesanwaltschaft kann einen Fall nicht abtreten und sich nicht damit begnügen, die Klage oder Anzeige dem Parlament zu überweisen. Selbst wenn es sich beim Angeschuldigten um ein Mitglied des Bundesrats und somit des Gremiums handelt, das bis zum Inkrafttreten des neuen Bundesgesetzes über die Organisation der Strafbehörden des Bundes Wahlbehörde des Bundesanwalts und seiner Stellvertreter ist, muss die Bundesanwaltschaft eine erste Abklärung zur Feststellung der Strafrechtsrelevanz der Anschuldigungen vornehmen.

Gegebenenfalls muss sie selbst beim Parlament die Ermächtigung für die Massnahmen einholen, welche «für eine erste Abklärung des Sachverhalts oder zur Beweissicherung» notwendig sind (Art. 14bis Abs. 4 VG). Zur Wahl eines ausserordentlichen Bundesanwalts geschritten werden soll nur in Ausnahmefällen und wenn besondere Umstände ­ und nicht die «blosse» Magistrateneigenschaft der betroffenen Person ­ dies als notwendig erscheinen lassen.

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Direkte Erledigung offensichtlich unhaltbarer Gesuche (Abs. 10): Siehe die Erläuterungen zu Artikel 17 Absatz 4 ParlG in der Fassung der Minderheit I.

Artikel 14bis Absatz 2 VG stammt noch aus der Zeit vor 2000, als es in jedem Rat nur eine Vizepräsidentin oder einen Vizepräsidenten gab. Seit 2000 gibt es eine zweite Vizepräsidentin oder einen zweiten Vizepräsidenten. Das nötige Quorum für die Zustimmung zur Ermächtigung soll bei Gelegenheit von drei auf fünf Mitglieder erhöht werden, analog der Regelung in Artikel 19 ParlG. Damit wird ausgeschlossen, dass die Ermächtigung entgegen dem Willen einer Mehrheit des Präsidiums eines Rates erteilt werden kann, was unter dem Gesichtspunkt der Grundsätze des Zweikammersystems fragwürdig wäre.

Artikel 15 VG regelt die Ermächtigung zur Strafverfolgung von Bundesbediensteten.

Gemäss Artikel 2 Absatz 1 VG gelten die «Bestimmungen über die Beamten» für den ganzen Geltungsbereich des VG, z.B. auch für die Mitglieder der eidgenössischen Gerichte, wenn es für diese keine «besonderen Vorschriften» mehr gibt.

Wenn gemäss Antrag der Kommission zu Artikel 14 Absatz 1 VG die relative Immunität für die Mitglieder des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesstrafgerichts, des Bundespatentgerichts sowie für den Bundesanwalt und die Stellvertretenden Bundesanwälte nicht mehr besteht, so könnte sich die Frage stellen, ob für eine Ermächtigung zur Strafverfolgung gemäss Artikel 15 Absatz 1 i.V.m. Artikel 2 Absatz 1 VG das EJPD zuständig sei, was mit der von der neueren Gesetzgebung gewollten Unabhängigkeit der Strafverfolgungsbehörden von der Exekutive nicht vereinbar wäre. Die einfache Lösung für dieses Problem besteht darin, Artikel 15 VG ganz aufzuheben. Diese Bestimmung kann als «alter Zopf» von sehr beschränkter praktischer Tragweite (siehe Art. 15 Abs. 3) betrachtet werden; die Regelung ist mit der heute geltenden Konzeption des Bundespersonalrechts nur schwer vereinbar.

Das Bundesgericht (Schreiben vom 7. Juli 2010), das Bundesstrafgericht (12. Juli 2010) und das Bundesverwaltungsgericht (16. Juli 2010) wenden sich in ihren Stellungnahmen gegen die Aufhebung von Artikel 15 VG. Es komme nicht selten vor, dass unzufriedene Adressaten von Gerichtsurteilen Anklagen gegen Gerichtsschreiber erheben, z.B. wegen angeblichem Amtsmissbrauch. Die Gerichte führen aber nicht weiter aus, inwiefern die Amtsausübung ihrer Gerichtsschreiber durch derartige in aller Regel völlig haltlose Anzeigen ernsthaft beeinträchtigt werden
könnte. Für die Kommission erscheint es zudem nicht logisch, die relative Immunität der Mitglieder z.B. des Bundesverwaltungsgerichts und Bundesstrafgerichts aufzuheben ­ was von den eidgenössischen Gerichten in ihren Stellungnahmen nicht bestritten wird ­ , die Ermächtigung zur Strafverfolgung gegen Angestellte dieser Gerichte jedoch beizubehalten.

2. Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (RVOG), Art. 61a 3. Bundesgerichtsgesetz (BGG), Art. 11 4. Verwaltungsgerichtsgesetz (VGG), Art. 12 5. Patentgerichtsgesetz (PatGG), Art. 16 6. Strafbehördenorganisationsgesetz (StBOG), Art. 50 Die von der Kommission dargelegten Gründe für die Aufhebung der Sessionsteilnahmegarantie der Ratsmitglieder gelten auch für die Aufhebung der relativen Immunität der von der Bundesversammlung gewählten Mitglieder von Bundes7371

behörden gegenüber Strafverfolgungen, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit deren amtlicher Tätigkeit stehen (vgl. die Erläuterungen zu Art. 20 ParlG).

3.2

B. Änderung des Geschäftsreglements des Nationalrats

Art. 10 Ziff. 13, Art. 13a Die Schaffung einer neuen ständigen Kommission zur Behandlung von Immunitätsund Disziplinarfällen wird oben unter Ziffer 2.5 begründet.

Absatz 1: Die Zahl der Mitglieder sollte erheblich kleiner sein als dies bei den übrigen ständigen Kommissionen der Fall ist; die Zahl von neun Mitgliedern erscheint zweckmässig.

Eine Minderheit I der Kommission (Joder, Bugnon, Fehr Hans, Geissbühler, Rutschmann, Scherer Marcel, Wobmann) übernimmt den Antrag einer Minderheit der RK (Stamm, Geissbühler, Heer, Kaufmann, Nidegger, Reimann Lukas, Schwander), die eine gewichtigere Kommission von der Grösse der meisten ständigen Kommissionen des Nationalrates (25 Mitglieder ­ die heutige Mitgliederzahl [26] ist eine Übergangslösung) einsetzen möchte. Ihrer Meinung nach müssen Disziplinarstrafen und Gesuche um Immunitätsaufhebungen von einem politisch repräsentativen Organ breit diskutiert werden; sie will damit vermeiden, dass die neue Kommission richterliche Züge annimmt.

Absatz 2: Die speziellen Anforderungen an diese Kommission, insb. auch die Wünschbarkeit einer möglichst kohärenten Praxis, lassen es angezeigt erscheinen, dass die Zusammensetzung der Kommission möglichst konstant bleibt. Die gemäss der allgemeinen Regelung der Stellvertretung in Artikel 18 GRN bestehende Möglichkeit der Vertretung eines Kommissionsmitglieds an einer einzelnen Sitzung durch irgendein anderes Ratsmitglied widerspricht dieser Anforderung. Um eine Stellvertretung doch zu ermöglichen, werden ständige Stellvertreterinnen oder ständige Stellvertreter vorgesehen. Nur diese können ein Kommissionsmitglied an einer Sitzung ersetzen.

Im Übrigen sind die allgemeinen Regeln anwendbar, die auch für die übrigen Kommissionen gelten. Zum Beispiel erfolgt die Wahl der Präsidentin oder des Präsidenten, der Vizepräsidentin oder des Vizepräsidenten und der Mitglieder durch das Büro auf Vorschlag der Fraktionen (Art. 9 Abs. 1 Bst. g GRN) und die Kommissionssitze werden gemäss Artikel 43 Absatz 3 ParlG und Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe abis GRN auf die Fraktionen verteilt.

Absatz 3: Die Minderheit II möchte das oben unter Ziff. 2.5. formulierte Anforderungsprofil an die Mitglieder dieser Kommission auf die Weise umsetzen, dass eine mindestens vierjährige Mitgliedschaft im Rat Voraussetzung für die Wahl in diese Kommission
ist. Die Mehrheit lehnt diese Regelung als zu wenig flexibel ab; sie vertraut darauf, dass die Fraktionen dem Anforderungsprofil an die Mitglieder dieser Kommission Rechnung tragen werden, wenn sie dem Büro ihre Wahlvorschläge unterbreiten.

Beim Vorschlag der Minderheit II stellt sich die Frage, wie vorzugehen wäre, wenn eine anspruchsberechtigte Fraktion nicht über genügend Mitglieder verfügt, welche diese Wahlvoraussetzung erfüllen. Es darf erwartet werden, dass eine derartige 7372

Situation höchst unwahrscheinlich ist. Sollte sie dennoch eintreten, so geht der Anspruch der Fraktion vor, da er auf höherrangigem Gesetzesrecht (Art. 43 Abs. 3 ParlG) beruht.

Art. 21 Abs. 3 Die Übertragung der Zuständigkeit zur Behandlung von Gesuchen für die Aufhebung der Immunität von der Kommission für Rechtsfragen an die neue Immunitätsund Disziplinarkommission wird oben unter Ziffer 2.5 begründet.

Art. 33cter Siehe die Erläuterungen unter Ziff. 2.4 und 2.5.

Art. 33cquater Artikel 33cquater GRN entspricht dem bisherigen Artikel 21 Absatz 3 GRN, mit dem Unterschied, dass die Zuständigkeit von der Kommission für Rechtsfragen an die neu zu schaffende Immunitäts- und Disziplinarkommission (vgl. dazu Ziff. 2.5) übergeht und dass diese Kommission nicht mehr zuhanden des Rates vorberät, sondern abschliessend entscheidet (vgl. dazu Ziff. 2.4).

4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Diese Änderungen des Parlamentsgesetzes und des Geschäftsreglements des Nationalrates haben keine unmittelbaren finanziellen oder personellen Auswirkungen.

Leichten Einsparungen im Ratsbetrieb dürften ebenfalls geringfügige Mehraufwendungen im Kommissionsbetrieb gegenüberstehen.

5

Rechtliche Grundlagen

Das Parlamentsgesetz und dessen hier vorgeschlagene Änderungen stützen sich auf Artikel 164 Absatz 1 Buchstabe g BV, wonach die grundlegenden Bestimmungen über die Organisation und das Verfahren der Bundesbehörden in einem Bundesgesetz erlassen werden müssen.

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