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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Genehmigung des am 11. Oktober 1924 zwischen der Schweiz und Österreich abgeschlossenen Vergleichsvertrages.

(Vom 4. November 1924.)

Da die Republik Österreich das Genfer Protokoll vom 16. Dezember 1920 betreffend die obligatorische Gerichtsbarkeit des ständigen internationalen Gerichtshofes unterzeichnet und ratifiziert hat, richtete der Bundesrat zu Anfang des Jahres 1924 an die österreichische Regierung die Anfrage, ob sie bereit wäre, mit der Schweiz einen Vertrag abzuschliessen zur Einführung eines Vergleichsverfahrens für diejenigen Streitfälle, die zwischen den beiden Ländern entstehen und nicht auf diplomatischem Wege haben geschlichtet werden können. Die österreichische Begierung nahm unsern Vorschlag günstig auf, und nach Verhandlungen wurde zu Wien am 11. Oktober 1924 zwischen unserm Gesandten in Österreich, Herrn Bourcart, und dem österreichischen Bundesminister für die Auswärtigen Angelegenheiten, Herrn Dr. Grünberger, ein Vergleichsvertrag unterzeichnet.

Dieser Vertrag beruht auf den nämlichen Grundzügen wie unsere Vergleichsverträge mit Schweden und Dänemark *). Nach Artikel l sind alle Streitigkeiten, die zwischen den beiden Ländern entstehen,, vorgängig jedem Verfahren vor einem zwischenstaatlichen Gericht oder einem Schiedsgericht, einem Vergleichsverfahren zu unterwerfen, sofern sie .nicht zu einer der in Artikel 86 des Statuts des ständigen internationalen Gerichtshofes aufgeführten Arten von Streitigkeiten rechtlicher Natur gehören. Wie die dänische und die schwedische gab auch die österreichische Eegierung einer Lösung den Vorzug, derzufolge zwischen die diplomatischen Verhandlungen und die Anrufung des ständigen Gerichtshofes kein besonderes Verfahren eingeschaltet wird. Das Vergleichsverfahren spielt demnach grund*) S. Botschaft des Bundesrates vom 28. Oktober 1924.

701aätzlieh nur für die Streitigkeiten ausser den in Artikel 36 des Statuts des Gerichtshofes vorgesehenen. Die österreichische Regierung stimmte indessen einem Vorschlag unsererseits zu, in den Vertrag eine Bestimmung (Artikel 2) aufzunehmen, wonach es den Parteien unbenommen bleibt, im gemeinsamen Einvernehmen auch Streitfälle einem Vergleichsverfahren zu unterwerfen, für welche die Zuständigkeit des ständigen internationalen Gerichtshofes gegeben ist. Die gleiche Begelung ist auch in unserm Vergleichsvertrage mit Schweden und mit Dänemark getroffen -worden.

Auf Ersuchen der österreichischen Regierung wurde vereinbart, dass der ständige Vergleichsrat nicht aus fünf, sondern nur aus drei Mitgliedern /bestehen solle, wobei zwei Mitglieder von jeder Partei nach freier Wahl zu ernennen sind und einzig der Vorsitzende im gemeinsamen Einverständnis aus den Staatsangehörigen einer dritten Macht zu berufen ist. Durch dieses Vorgehen werden wohl die Kosten für das Vergleichsverfahren einigermassen vermindert; aber diese Einsparung dürfte gewisse Unzukömmlichkeiten im Gefolge haben.

Es steht in der Tat zu befürchten,.dass der Bericht einer Kommission, von der mir ein Mitglied an der Streitsache völlig unbeteiligt ist, nicht dasselbe Gewicht habe wie die Empfehlungen einer Kommission, von der drei Mitglieder ausserhalb jeder Verbindung mit den Parteien stehen. Die Ansicht des Vorsitzenden ist so fast immer entscheidend, und in gewissen Fällen mag es heikel sein, dem Vorsitzenden allein die Verantwortlichkeit für eine wichtige Schlussnahme zu überlassen.

Der Bundesrat gibt somit nach wie vor der Lösung den Vorzug, die für die Zusammensetzung der Vergleichskommission im allgemeinen in unsern andern Vergleichs- und Schiedsverträgen angenommen worden ist. Angesichts des Wunsches der österreichischen Regierung, die Kosten für den Vergleichsrat tunlichst zu beschränken, glaubte er indessen an seiner Ansicht nicht festhalten zu sollen.

Die Bestimmungen betreffend die Ernennung und Ersetzung ·der Ratsmitglieder sowie den Ablauf des Vergleichsverfahrens sind " dem schweizerisch-dänischen Vergleichsvertrage nachgebildet.

Wir brauchen sie daher nicht mehr in den Einzelheiten zu erörtern und können uns darauf beschränken, in dieser Hinsicht auf die Ausführungen unserer Botschaft vom 28. Oktober 1924 zu verweisen.
Der Vertrag, den wir Ihnen zur Genehmigung zu empfehlen die Ehre haben, ist dazu angetan, alle Streitigkeiten, die zwischen den beiden Nachbarstaaten entstehen können, sozusagen zwangsläufig einer Erledigung zuzuführen, bevor es ihnen möglich war, den Geist gegenseitiger herzlicher Freundschaft zu trüben, in dem

702 die zwischen der Schweiz und Österreich bestehenden ausgezeichneten Beziehungen sich ständig entwickelt haben. Wir bitten Sie demnach, dem Entwarf eines Bundesbeschlusses Ihre Genehmigung zu erteilen.

Bern, den 4. November 1924.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Chuard.

Der Bundeskanzler:

Steiger.

(Entwurf.)

Bundesbeschluss betreffend

die Genehmigung des am 11. Oktober 1924 zwischen der Schweiz und Österreich abgeschlossenen Vergleichsvertrages.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 4. November 1924, beschliesst: 1. Der am 11. Oktober 1924 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bepublik Österreich abgeschlossene Vergleichsvertrag sowie das Schlussprotokoll vom gleichen Tage werden, genehmigt.

2. Der Bundesrat wird mit dem Vollzuge dieses Beschlusses, beauftragt.

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Vergleichstertrag zwischen

der Schweiz und Österreich.

Der Schweizerische Bundesrat und

Der Bundespräsident der Republik Österreich, von dem Wunsche geleitet, die zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bepublik Österreich bestehenden freundschaftlichen Beziehungen zu festigen und das Ihre dazu beizutragen, im Dienste des Friedensgedankens das Vergleichsverfahren zur Schlichtung zwischenstaatlicher Streitigkeiten zu fördern, haben beschlossen, zu diesem Zwecke einen Vertrag abzuschließen und haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt: Der Schweizerische Bandesrat:

Herrn Charles Daniel Bourcart, ausserordentlichen. Gesandten und bevollmächtigten Minister der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Wien; Der Bundespräsident der Republik Österreich:

Herrn Dr. A l f r e d G r ü n b e r g e r , Bundesminister für die Auswärtigen Angelegenheiten, die, nachdem sie sich ihre Vollmachten mitgeteilt und sie in guter und gehöriger Form befunden haben, über folgende Bestimmungen übereingekommen sind: Artikel 1.

Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, alle Streitigkeiten irgendwelcher Art, die zwischen ihnen entstehen und nicht auf diplomatischem Wege geschlichtet werden können, vorgängig jedem Verfahren vor einem zwischenstaatlichen Gerichte oder Schiedsgerichte dem in den folgenden Artikeln geregelten Vergleichsverfahren zu unterwerfen, sofern nicht, gemäss Artikel 86 des Statutes des

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ständigen internationalen Gerichtshofes, die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes zur Entscheidung des Streitfalles gegeben ist.

Es steht jeder Partei zu, darüber zu befinden, von welchem Zeitpunkte an das Vergleichsverfahren an die Stelle der diplomatischen Verhandlungen zu treten hat.

Artikel 2.

Auch wenn, gemäss Artikel 36 des Statutes des ständigen internationalen Gerichtshofes, die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes zur Entscheidung eines Streitfalles gegeben ist, bleibt es den vertragschliessenden Teilen unbenommen, im gemeinsamen Einvernehmen den Streitfall zuvor dem Vergleichsverfahren zu unterwerfen.

Artikel 3.

Die vertragschliessenden Teile bilden für das Vergleichsverfahren einen ständigen Vergleichsrat von drei Mitgliedern.

Sie ernennen, jeder für sich,.nach freier Wahl je ein Mitglied und berufen den Vorsitzenden im gemeinsamen Einverständnis.

Der Vorsitzende soll nicht Angehöriger eines der vertragschliessenden Staaten sein, noch soll er auf deren Gebiet seinen Wohnsitz haben oder in deren Diensten stehen.

Der Vergleichsrat wird im Laufe von sechs Monaten nach Austausch der Eatifikationsurkunden des vorliegenden Vertrages gebildet.

Jedem vertragschliessenden Teile steht das Eecht zu, sofern nicht ein Verfahren im Gange ist, das von ihm ernannte Mitglied abzuberufen und dessen Nachfolger zu bezeichnen, sowie die Zustimmung zur Berufung des Vorsitzenden zurückzuziehen. In diesem Palle muss unverzüglich zur Ersetzung der ausscheidenden Mitglieder geschritten werden.

Ausscheidende Mitglieder werden gemäss dem für die erstmalige Wahl massgebenden Verfahren ersetzt.

Wenn die Berufung des Vorsitzenden nicht innerhalb von sechs Monaten nach dem Austausche der Eatifikationsurkunden oder, im Falle einer Ergänzungswahl, nicht innerhalb von drei Monaten nach Ausscheiden des Mitgliedes stattgefunden hat, so erfolgen die Wahlen gemäss den Bestimmungen des Artikels 45 des Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 18. Oktober 1907.

Während der tatsächlichen Dauer des Verfahrens erhält der Vorsitzende des Vergleichsrates eine Entschädigung, deren Höhe von

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den vertragschliessenden Teilen zu vemnbaren und die von ihnen zu gleichen Teilen zu tragen ist.

. . .

Dagegen bestimmt und übernimmt jede Partei selbst die Entschädigung des von ihr ernannten Mitgliedes des Vergleichsrates.

Artikel 4.

Die Anrufung des ständigen Vergleichsrates erfolgt durch ein dahinzielendes Begehren, das von der einen Partei an den Vorsitzenden gerichtet wird.

Dieses Begehren wird von der Partei, welche die Eröffnung des Vergleichsverfahrens verlangt, gleichzeitig der andern Partei zur Kenntnis gebracht, f Artikel 5.

Unter Vorbehalt anderweitiger Vereinbarung tritt der ständige Vergleichsrat an dem vom Vorsitzenden bezeichneten Orte zusammen.

Artikel 6.

Der ständige Vergleichsrat hat die Aufgabe, die Sehlichtung der Streitigkeit zu erleichtern, indem er in unparteiischer und gewissenhafter Prüfung den Sachverhalt untersucht und Vorschläge für die Beilegung der Streitigkeit macht.

Der Bericht des ständigen Vergleichsrates ist innerhalb von sechs Monaten von dein Tage an zu erstatten, an dem ihm die Streitigkeit unterbreitet worden ist, es sei denn, dass die vertragschliessenden Parteien diese Frist im gemeinsamen Einverständnisse verkürzen oder verlängern. Jeder Partei wird eine Ausfertigung des Berichtes ausgehändigt.

Der Bericht hat weder in bezug auf die Tatsachen noch hinsichtlich der rechtlichen Ausführungen die Bedeutung einer bindenden Entscheidung.

Artikel 7.

Die vertragschliessenden Teile verpflichten sich, die Arbeiten des ständigen Vergleichsrates nach bestem Wissen und Vermögen zu fördern und insbesondere alle nach ihrer Gesetzgebung ihnen zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden, um es dem Vergleichsrate zu ermöglichen, auf ihrem Gebiete Zeugen und Sachverständige vorzuladen und zu vernehmen, sowie Augenscheine durchzuführen.

- Artikel 8.

Unter Vorbehalt anderweitiger Vereinbarung ist für das Vergleichsverfahren das Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vorn 18. Oktober 1907 massgebend.

Bundesblatt. 76, Jahrg. Bd. III.

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Artikel 9.

Der ständige Vergleichsrat setzt die Frist fest, innerhalb deren die Parteien zu seinem Vorschlage Stellung zu nehmen haben. Diese Frist darf indessen die Zeit von drei Monaten nicht überschreiten.

Artikel 10.

Jede Partei kommt für ihre eigenen Kosten auf. Die Kosten für das Vergleichsverfahren werden von den Parteien zu gleichen Teilen getragen.

Artikel 11.

Während der Dauer des Vergleichsverfahrens enthalten sich die vertragschliessenden Teile jeder Massnahme, die auf die Annahme der Vorschläge des ständigen Vergleichsrates nachteilig zurückwirken könnte.

Artikel 12.

Der vorliegende Vertrag soll ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen sobald als möglich in Bern ausgetauscht werden.

Der Vertrag gilt für die Dauer von zehn Jahren, gerechnet vom Austausche der Eatifikationsurkunden an. Wird er nicht sechs Monate vor Ablauf dieses Zeitraumes gekündigt, so bleibt er für einen weitern Zeitraum von fünf Jahren in Kraft und so fort für je einen Zeitraum von fünf Jahren.!

Zu Urkund dessen hahen die Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet und ihm ihre Siegel beigedrückt.

Ausgefertigt, in doppelter Urschrift, zu Wien, am elften Oktober 1924.

L. 8. (gez.) C. D. Bourcart.

L. 8. (gez.) Dr. A. Grünbergeiv

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Schlussprotokoll zum schweizerisch-Österreichischen Vergleichsvertrage.

Die zu diesem Zwecke gehörig bevollmächtigten Unterzeichneten erklären in dem Augenblicke, wo sie zur Unterzeichnung des am heutigen Tage abgeschlossenen Vergleichsvertrages schreiten, dass darüber Einverständnis besteht, dass die vertragschliessenden Teile unter sich bis zum Ablaufe des Vergleichsvertrages durch die Bestimmungen des Artikels 86 des Statutes des ständigen internationalen Gerichtshofes gebunden bleiben, auch für den Fall, dass die Verpflichtung, die sie durch den Beitritt zur fakultativen Bestimmung des genannten Statutes übernommen haben, in der Zwischenzeit für einen von ihnen zu gelten aufhören sollte.

Wien, am 11. Oktober 1924.

L. S. (gez.) C. D. Bourcart

L. 8. (gez.) Dr. A. Grünberger.

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1924

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46

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1905

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12.11.1924

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