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Bericht der

Herren Fazn und Andereg über die von Appenzell A.-Rh. gegen die Anwendung des Bundesgefezes, vom 27. August 1851, über die Straf-

rechtspflege für die eidgenössischen Truppen erhobene Reklamation.

(Vom 9. August 1852.)

Tit.

Die von Jhnen zur Untersuchung der Reklamation

von Appenzell A.-Rh. gegen die Art. 1, 292--297 des Bundesgesezes vom 27. August 1851 ernannte Kommifsion hat sich unter den anwesenden vier Mitgliedern, welche an der Serathung Theil genommen, in ihrer Meinung in zwei gleiche Hälften getheilt.

Die zwei Kommifsionsmitglieder, welche der Ansicht sind, die Reklamation von Appenzell A.-Rh. günstig aufzunehmen, übermachen Jhnen hier ihren Bericht.

Jhre Aufgabe fand sich durch das von Landammann und Rath des hohen Standes Appenzell A.-Rh. an die .Bundesverfammlung gerichtete Schreiben fehr erleichtert.

Jn der That scheint es uns unmöglich, die Evidenz nicht anzuerkennen, die aus verschiedenen, in diesem Schreiben zitirten Artikeln der Bundesverfassung hervorgeht, und von denen nicht einer der Kantonalfouveränetät, bezüglich der Strafrechtspfle in den Kantonen, so wie in Bezug auf die Truppen im Kantonaldienste, und hinsichtlich der Bürger in ihren gewöhnlichen Verhältnissen, förmlich eine

Schranke zieht.

174 Die Strafrechtspflege ist ein zu wesentlicher Theil der Kantonalsouveränetät, als daß es möglich sein könnte, einen Eingriff in dieselbe aus andere Weise zu machen, als durch eine förmliche, in bestimmten Worten formulirte und in die Bundesverfassung aufgenommene Derogation! Sonst würde eine solche Ungewißheit ans die wirklichen Gränzen der Kantonalfonveränetät geworfen, daß wir ans dem Znstande einer E i d g e n o f s e n s c h a f t in denjenigen eines Einheitsstaates uns verfejt sähen.

Nichts von dem, was die Kantonalsouveränetät berührt, kann der bloßen Jnterprätation überlassen werden, und es ist augenscheinlich, daß in der Frage, welche uns beschästigt, man nur durch eine gezwungene Jnterprätation des Sinnes des Artikels 20 der Bundesverfassung dabin gelangen konnte, die Milizen im Kantonaldienste der Ge« richtsbarkeit ihrer eigenen Kantone entziehen zn wollen.

Es ist klar, daß durch die Worte: "Ein Bundesgefez bestimmt die allgemeine Organisation des Bundesheeres," wohlverstanden einzig nur die Rede von der Armee ist, welche im eidgenössischen Dienste steht, denn im Art. 19, wo bestimmt wird, was die gewöhnliche eidg. Armee sei, hat man beigesügt: ,,Jn Zeiten der Gefahr kann der

Bund auch über die übrigen Streitkräfte (die Landwehr) eines jeden Kantons verfügen." Durch die Worte: ,,die ü b r i g e n S t r e i t k r ä f t e der K a n t o n e " ist wohl verstanden, daß außer der Bundesarmee noch Kantonaltrup"pen bestehen, welche 'offenbar unter den Gesezen stehen müssen, die in den Bereich der Kantonalsouveränetät gehören, sowohl in Beziehung auf ihren Kantonalmilitärdienst, als auf alle andern bürgerlichen Verhältnisse.

Jn §. 4 des 20. Artikels wird gefagt: ,,Die MilitärVerordnungen der Kantone dürfen nichts enthalten, was

175 der eidgenössischen Militärorganisation und der den Kantonen obliegenden bundesmäßigen Verpflichtungen entgegen ist, und müssen zu dießfälliger Prüfung dem Bundesrathe vorgelegt werden."

Was will diefer Artikel anderes fagen, als daß selbst in der Militärorganisation dieKantone ein Souveränetätsrecht bewahrt haben, das keine andere Beschränkung hat, als daß es mit der allgemeinen Organisation der Armee nicht im W iderspruch sein darf; man kann aber unter der einen oder andern Form exerziren und sie mehr oder weniger ausdehnen. Und wenn man glaubte, sich so ausfprechen zu müssen und felbst in rein Regimentarischem nicht weiter zu gehen, so darf man annehmen, daß, wenn die Truppen im Kantonaldienste der Strafrechtspflege ihrer Kantone hätten entzogen werden wollen, dieses förmlich in der Bundesverfassung ausgesprochen worden wäre. Diefes nicht zu denken, ist unmöglich.

Und wenn man auf die Gebräuche zurük kommt, die vor der Einführung der Bundesperfassung bestanden haben, fo wird man finden, daß auch damals ein eidg. Strafgefezbuch existirte, welches auf die Truppen im eidg.

Dienste angewendet wurde, während die Truppen im Kantonaldienst nur den Strafgesezen ihrer Kantone unterwerfen waren. Wenn man das Kantonalsouveränetät.?recht in diesem Punkte hätte abschaffen wollen, hätte man es dann nicht sörmlich aussprechen müssen? Es würde in dem gleichen Artikel 20, da wo die Organisation der eiDg. Armee mit Präzision behandelt wird, nur einiger Worte gekostet haben, um auszusprechen, daß in Zukunft das Militärstrafgesezbuch auf alle Soldaten angewenfeet werden soll, feien sie im kantonalen oder im eidgenössischen Dienste. Daß man es nicht gethan hat, beweist, man

Bundesblatt. Iahra.. IV. Bd. III.

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176 habe es nicht so gewollt, und folglich ist es klar, daß der Kantonalsouveränetät keine Schranken gesezt worden sind.

Mithin besteht in dieser Beziehung die Garantie der Kantonalsouveränetät vollständig mtd die Reklamation von Appenzell A.=Rh. scheint uns begründet.

Aber, sagt man, die beiden Räthe haben das Gesez vom 27. August 1851 votirt, wie wäre nun dutfelbe abzuschaffen? Da die Bundesversammlung aus der Verei-

nigung beider Räthe zusammen gesezt ist, wird sich in derselben die gleiche Mehrheit wieder finden; jedenfalls liegt es nicht in den Befugnissen der Bundesversammlung oder der vereinigten beiden Räthe, ein Gesez zu machen und dafür ein neues zu votiren. Es würde selbst in diesem Verfahren eine Gefahr liegen, daß nämlich durch dieses Mittel die beiden Räthe dahin .geführt werden könnten, durch vereinte Abstimmung die Garantien zu zerstören, welche aus ihren gesonderten Abstimmungen sich ergeben haben.

Diese Einwürfe könnten gerecht sein, wenn es sich hier in der That um Gesezgebung handelte. Aber in dieser Frage sind die beiden Räthe in der Eigenschaft als Richter und nicht als G e s e z g e b e r zur Bundesversammlung berufen worden.

Kraft des Art. 74, §. 17, Litt. a. der Bundesverfassung sind wir berufen, einen Kompetenzstreit zu ent-

scheiden, welcher sich zwischen dem Stande Appenzell A.-Rh.

und der Eidgenossenschaft erhoben hat. Es ist eine Berufung gegen ein Bundesgefez, in welchem, wie es dem Kanton Appenzell fcheint, die Eidgenossenschaft ihre Befugniß überschritten hat. Es handelt sich hier nicht mehr um Gesezgebung, sondern um die Ausfälluna eines Urtheils, und so können die Mitglieder, welche das Gesez votirt

177 haben, recht gut erkennen, ob durch dasfelbe ein wirklicher Eingriff in die Kantonalsouveränetät gemacht worden sei, und zwar allerdings in guter Absicht und in der Hoffnung, daß alle Kantone es annehmen würden; aber sobald ein einziger sich gegen eine solche Entscheidung erhebt, so muß darüber abgesprochen werden, und die Frage dars alsdann nur noch aus dem Gesichtspunkte des Bundesrechts betrachtet werden.

Ans diesem Gesichtspunkte muß alles entfernt werden, was man in feiner eigenen Meinung Günstiges für die Sache finden könnte, sei es in Zentralisationsideen oder in der Jbee für allgemeine Wohlfahrt; man kann die Sache einzig nur aus dem Standpunkte des Staatsrechts betrachten, und fobald man sich so auf denselben stellt, hört man auf, der Gefezgeber zu fein, welcher sich vielleicht verleiten ließ/ die Kantonalsouveränetät in einem eidgenöfsischen Interesse ein wenig zu verlezen; man darf nichts mehr sehen als den bestimmten Text der Verfassung.

Wenn die Mitglieder der Bundesversammlung als Richter über die Kompetenzstreitigkeitcn zwischen den Kantonen und dem Bunde nur ihrer Stellung als Gesezgeber in den beiden Räthen, in welchen sie in dieser Eigenschast gesessen haben, gedenken wollten, so gäbe es sur die Kantone keine verfassungsmäßigen Garantien mehr gegen die Mißgriffe des Bundes. Die beiden Räthe würden eine. Art parlamentarischer Omnipotenz bilden, und als Folge davon gäbe es dann keine Konflikte, keine Berufungen gegen Versehen oder Eingriffe mehr und die Kantonalfouveränetät würde sehr schnell verschwinden» Die Bundesverfassung hat aber dieses nicht beabsich* tigt, als sie die Bundesversammlung zum Richter über die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Kantonen und

178 dem Bunde einsezte; sie hat wohl begriffen, daß wir Richter sein werden, die vergessen könnten, daß sie auch zugleich Partei seien; denn am Ende stellen doch wir die Eidgenossenschaft dar. Aber indem sie dieses alles eingesehen, hat sie dennoch in den Charakter des Richters, den wir jedesmal annehmen, so oft ein Kompetenzstreit vor uns gebracht wird, Vertrauen gesezt, obgleich sie recht gut wußte, d.iß wir in Fragen dieser Art sehr oft auch Partei sein werden. Ohne dieses Vertrauen wäre der §. 17, Litt. a. des Art. 74 nichts als ein todter Buchstabe, unwürdig der Rechtlichkeit, welche das Schweizervolk auszeichnet, und die Verfassung mußte auf die Unparteilichfeit der Bundesversammlung (der vereinigten beiden Räthe) rechnen, selbst in der eigenen Sache der beiden gesonderten

Räthe.

Dieß beseitigt vollständig den Schluß auf Abweisung (celte fin de non-recevoir), welchen man der Reklamation von Appenzell A.-Rh. entgegenhält, und durch welchen man behauptet, daß die Sache schon erledigt sei, weil die Majorität der beiden Räthe das Gesez sanktionirt habe.

Dieß ist jedoch nicht der Fall, weil wir nicht mehr als G e s e z g e b e r , sondern vielmehr als Richter hier find, welche über die Giltigkeit unserer eigenen Beschlüsse zu sprechen haben und in dieser Eigenschaft mit um so größerer Gewissenhaftigkeit richten müssen, als es sich darum handelt, für oder g e g e n uns selbst zu sprechen.

Da wir die Versammlung als ein hohes ...tribunal betrachten, legen wir für die Lösung der Frage einen Entttwrs vor, welcher, wenn auch der Reklamation von Appenzell beipflichtend, zwar nicht gerade derjenige ist, welchen die Regierung von Appenzell in ihrer Zuschrift an die Bundesversammlung verlangt.

179 Die Regierung verlangt nämlich: die Versammlung

möge erklären, daß das eidg. Militärstrafgesez nur sakultative Anwendung auf Truppen im Kantonaldienste finde.

Unter dieser Form schiene die Versammlung einen gefezgeberischen Beschluß zu fassen. Wir halten aber da* für, dieß sei ihre Aufgabe nicht; sondern sie habe einfach

den Kompetenzkonflikt zwifchen Appenzell A.-Rh. und der Eidgenossenfchaft dahin zu entscheiden, ob die leztere kompetent gewefen sei, den Kantonen das Militärstrafgesez für'ihre Kantonaltruppen aufzulegen.

Wir glauben auch, daß wenn die Bundesversammlung an ihrem Charakter als Richter über einen Konflikt sestbält, und nicht denjenigen eines Gesezgebers annimmt, die Entscheidung zu Gunsten Appenzells ausfallen muß.

Diefes wird hinreichen, um das Recht festzustellen, und die Kantone werden die Freiheit behalten, das Gefez vom 27. August 1851 fakultativ auf die Truppen im Kantonaldienste anzuwenden.

Jndem wir uns auf die in diesem Berichte entwikelten Grundsäze berufen, empfehlen wir Jhnen den Antrag, den wir unter Sie haben austheilen lassen.

B e r n , den 9. August 1852.

James &«W.

J. ©. Anderegg.

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Bericht der Herren Fazn und Andereg über die von Appenzell A.-Rh. gegen die Anwendung des Bundesgesezes, vom 27. August 1851, über die Strafrechtspflege für die eidgenössischen Truppen erhobene Reklamation. (Vom 9. August 1852.)

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02.10.1852

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