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Bericht des

schweizerischen Bundesgerichtes an die Bundesversammlung Über seine Geschäftsführung im Jahre 1892.

(Vom 13. März 1893.)

Herr Präsident l Hochgeehrte Herren l Wir haben die Ehre, nach Vorschrift des Art. 24 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege Ihnen über unsere Geschäftsführung im Jahre 1892 in ihren verschiedenen Richtungen Bericht zu erstatten.

A. Allgemeines.

Zu unserm lebhaften Bedauern verstarb am 18. Mai 1892 Herr Bundesrichter Gaudenz Olgiati aus Puschlav, Kantons Graubünden, welcher dem Bundesgerichte von Anfang an als Mitglied und in den Jahren 1885 und 1886 als Präsident angehört hatte. An seiner Stelle wählte die Bundesversammlung am 17. Juni v. J. den Herrn Agostino Soldati von Neggio, Kantons Tessin, zum Mitgliede des Bundesgerichts. Derselbe hat sein Amt am 16. September v. J.

angetreten und wurde vom Bundesgerichte an Stelle des Herrn Olgiati auch in die Kriminalkammer gewählt. Im übrigen waren die Kammern des Bundesgerichts im Berichtsjahre durch die gleichen Mitglieder und Ersatzmänner besetzt, wie im Jahre 1891.

Die B u n d e s g e r i c h t s k a n z l e i hat während des Berichtsjahres keine Änderung in ihrem Personalbestande erfahren. Indes ist Herr Dr. Nicola, welcher für die Zeit vom Oktober bis Dezember 1891 die infolge Demission des zum Staatsrate des Kantons Tessin erwählten Herrn Dr. Colombi frei gewordene Stelle eines Kanzleis e k r e t ä r s provisorisch bekleidet hatte, am 8. Januar v. J. für den Rest der Amtsdauer, nämlich das Jahr 1892, definitiv an diese Stelle gewählt worden.

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Das Bundesgencht hielt im Berichtsjahre 87 Sitzungen, iu welchen in der Eegel sowohl Civilsachen als staatsrechtliche Streitigkeiten behandelt wurden. Ausnahmsweise wurden ausschließlich nur Civilsachen oder nur staatsrechtliche Streitigkeiten erledigt, wenn die erstem sehr umfangreich oder infolge RUckzugs oder Vergleichs dahingefallen waren.

Das K a s s a t i o n s g e r i c h t hielt zur Erledigung der weiter unten aufgeführten Geschäfte 2 Sitzungen. Die K r i m i n a l k a m m e r und die A n k l a g e k a m m e r hatten im Berichtsjahre keine Geschäfte zu erledigen.

Bemerkungen und Anregungen betreffend das Justizwesen, zu welchen uns die im Berichtsjahre gemachten Erfahrungen Veranlassung gehen, werden wir im speciellen Teil an den geeigneten Stellen anbringen.

B. Specieller Teil.

I. Civilrechtspflege.

Die Civilsachen, welche irn Berichtsjahre beim Bundesgerichte in Behandlung waren und im Laufe desselben erledigt worden sind, ergeben sich aus folgender Tabelle :

ÎJI -U _ s U liï il l i il 1. Erst- und Jetztinstanzlich zu beurteilende Civilsachen . .

25 2. Kekurse gegen Entscheide eidg. Schatzungskommissionen 158 3. Berufungen gegen Urteile kantonaler Gerichte . . .

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Ad Ì. Die 69 vom Bundesgerichte e r s t - und l e t z t i n s t a n z l i c h zu beurteilenden Civilsachen zerfallen i n : 4 Prozesse gegen den Bund als Beklagten ; l Prozeß zwischen dem Bund und einem Kanton ; l Prozeß zwischen Kantonen ; 31 Prozesse zwischen Kantonen einerseits und Privaten oder Korporationen anderseits, in welchem eine Partei die Beurteilung durch das Bundesgericht verlangt hatte ; l Heimatlosenstreitigkeit ; 3 Bürgerrechtsstreitigkeiten zwischen Gemeinden verschiedener Kantone ; Bundesblatt. 45. Jahrg. Bd. II.

22

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2 Prozesse zwischen Eisenbahngesellschaften aus Art. 33, Abs. 4r des Bundesgesetzes über Bau und Betrieb der Eisenbahnen vom 23. Christmonat 1872; 22 Prozesse betreffend Einsprachen gegen Verpfändungen von Eisenbahnen ; l Prozeß gegen Emissionsbanken auf Bezahlung des Gegenwertes von teilweise durch Brand zerstörten Banknoten und 3 Prozesse, in denen das Bundesgericht als vereinbarter Gerichtsstand angerufen wurde.

Über die Art der E r l e d i g u n g dieser Civilsachen, soweit sie am Ende des Berichtsjahres nicht pendent geblieben sind, giebt folgende Tabelle Aufschluß: Urteil 'S *> -o s, g 5* 60 -a o

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1. Prozesse von Privaten gegen den Bund als Beklagten . .

2. Prozesse zwischen dem Bund und einem Kanton . . . .

3. Prozesse zwischen Kantonen einerseits und Privaten oder Korporationen anderseits . .

4. Heimalosenstreitigkeiten . . .

5. Biirgerrechtsstreitigkeiten zwischen Gemeinden verschiedener Kantone G. Einsprachen gegen Verpfändung von Eisenbahnen 7. Prozesse, in denen das Bundesgericht als Forum prorogatum angerufen wurde Total

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Der durch Urteil erledigte Prozeß gegen den Bund betraf die Klage eines Ausstellers an der Weltausstellung in Paris wegen Beschädigung des Ausstellungsobjektes auf dem Transport. In einem andern Falle, in welchem ein Nachbar der Thuner Allmend Klage wegen Beeinträchtigung seiner Liegenschaft durch Schießübungen erhoben hatte, mußte das Bundesgericht einen Kompetenzentscheid *) Das weibliche Streitobjekt hatte sich während des Prozesses verehelicht, wodurch der Prozeß gegenstandslos wurde.

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erlassen, indem der Bund seine Kompetenz bestritten hatte. Das die Kompetenz des Bundesgerichts bejahende Urteil ist abgedruckt in Bd. XVIII, S. 417 ff., der Amtlichen Sammlung der bundesgerichtlichen Entscheidungen und vom Bundesrate anerkannt worden. Dagegen hat in dem bekannten, im vorjährigen Geschäftsberichte berührten Kompetenzkonflikt zwischen Bundesrat und Bundesgericht die Bundesversammlung am 15. Dezember v. J. zu gunsten der Kompetenz des Bundesrates entschieden und letztere Behörde zur Beurteilung der von der Grotthardbahn und Nordostbahn gegen den Bundesfiskus geltend gemachten Ansprüche auf Kiickzahlung bezahlter Konzessionsgebühren u. s. w. zuständig erklärt. Damit sind alle hierorts im Berichtsjahre gegen den Bund anhängig gewesenen Prozesse bis auf einen dahingefallen ; die formelle Erledigung der beiden letztern konnte aber erst im laufenden Jahre stattfinden.

Von den erledigten Prozessen zwischen K a n t o n e n einerseits und Privaten oder K o r p o r a t i o n e n andererseits beschlugen 2 die Auslegung eines Testamentes, wobei der kantonale Fiskus als Erbe auftrat; l Prozeß betraf eine nach kantonalem Keclit durchgeführte Expropriation, l ein Fischereirecht, 2 Schadensersatzforderungen wegen ungesetzlicher Verhaftungen (von welchen eine prinzipiell gutgeheißen, die andere durch Vergleich erledigt wurde), l eine Schadensersatzforderung gegen einen Kanton als Geschäftsherrn nach Art. 62 0. R. wegen fahrlässiger Tötung durch einen kantonalen Angestellten bei Bauarbeiten, l die Herausgabe einer in Strafsachen geleisteten Kaution, l einen Werkverdingungsvertrag. Die Urteile sind, soweit sie ein allgemeines Interesse bieten, ebenfalls in der Amtlichen Sammlung abgedruckt.

Ad 2. Die R e k u r s e g e g e n E n t s c h e i d u n g e n e i d g e n ö s s i s c h e r S c h a t z u n g s k o m m i s s i o n e n beschlagen ausschließlich Expropriationsstreitigkeiten, und zwar hauptsächlich an den neu erbauten Eisenbahnlinien : Sihlthalbahn, rechtsufrige ZUrichseebahn, Thunerseebahn und Wengernalpbahn. Die verhältnismäßig große Zahl der pendent gebliebenen Fälle erklärt sich teils daraus, daß wegen ungeeigneter Jahreszeit die Augenscheine im Berichtsjahre nicht mehr vorgenommen werden konnten, teils aus der Notwendigkeit schriftlicher, mitunter wiederholter, Expertenbegutachtung und
andauernder Erkrankung von Experten.

Die Art der Erledigung der im Berichtsjahre abgewandelten Expropriationsstreitigkeiten zeigt folgende Tabelle: Bückzug der Beschwerde 15 Vergleich 17 Annahme des Antrages der Instruktionskommission . . . . 128 Urteil 8 Nichtanhandnahme wegen Verspätung u. s. w 19

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Bei diesen Streitigkeiten mag hervorgehoben werden, daß das Bundesgericht eine Vereinbarung der Parteien betreffend Verlängerung der gesetzlich für Beschwerden gegen Entscheide der Schatzungskommissionen bestehenden, dreißigtägigen Rekursfrist als rechtsunwirksam erklärt und die erst nach Ablauf jener Frist eingereichten Beschwerden von der Hand gewiesen hat. (Amtl. Samml. d. bundesgerichtl. Entsch., Bd. XVIII, S. 206.)

Ad B. Die B e r u f u n g e n g e g e n k a n t o n a l e U r t e i l e , gemäß Art. 29 des Bundesgesetzes liber die Organisation der Bundesrechtaprlege, beschlugen, soweit sie überhaupt eidgenössisch geregelte Privatrechtsraaterien betrafen : 15 Ehescheidungen; l Eheeinsprache; l Legitimation eines vorehelichen Kindes; 11 Forderungen aus Eisenbahnhaftpflicht; 13 Forderungen aus Fabrikhaftpflicht; l Forderung aus einem abstrakten Schuldversprechen, welcher die Einrede der Unsittlichkeit entgegengesetzt worden war; 28 Forderungen aus unerlaubten Handlungen (Art. 50 ff. O.-R.); 1 Rückforderung einer bezahlten Nichtscbuld; 2 Eigentumsstreitigkeiten (Art. 199 f. O.-R.) ; 2 Pfandrechtsstreitigkeiten (Art. 210 f. O.-R.); l Retenti on srecht; 16 Kauf; 4 Miete; 1 Pacht; 3 Darleihen ; 4 Dienstmiete; 3 Werkvertrag; 2 Auftrag; 1 Anweisung; 7 Forderungen aus Zeitgeschäften (Differenzgeschäfte) ; 3 Gesellschaft; 3 Wechselrecht; 4 das Versicherungsrecht; 2 Markenrechtsstreitigkeiten ; l das Patentrecht; l das Urheberrecht an Schriftwerken u. s. w. ; l Anfechtungsklage wegen Benachteiligung der Gläubiger.

Die übrigen Berufungen bezogen sich entweder überhaupt nicht auf Privatrechtsstreitigkeiten oder dann auf Privatrechtsgegenstände, welche der eidgenössischen Regelung noch harren.

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ganzod.teilw.

begründet erklärt

Anerkeiraun der Klage

Kantone

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Inkompetenz erkl&rnng, re Unzulässigke des Bechtsmit BUckzng de Berufung

,

Jrtei S 1 l

Bttckweisnng an das kantonale Gericht Fendent geblieben

Die Art der E r l e d i g u n g dieser Berufungen, soweit sie nicht pendent geblieben sind, und deren H e r k u n f t ergeben sich aus folgender Tabelle:

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Aargau Appenzell A. -Eh. . . .

Appenzell I.-Eh.

Basel-Land Basel -Stadt Bern (deutscher Teil) . .

Bern (französischer Teil) .

Freiburg j Genf Glarus GraubUnden (deutsch. Teil) Graubünden (ital. Teil) .

Luzern Neuenburg Nidwaiden Obwalden Schaffhausen Schwyz Solothurn St Gallen . .

Tessin i Thurgau 1 Uri Waadt Wallis (deutscher Teil) .

Wallis (französischer Teil) Zug Zürich Total

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*) Die beklagte Partei, welche vor den kantonalen Gerichten obgesiegt hatte, war vor dem bundesgerichtlichen Entscheide in Konkurs geraten und die Fortsetzung des Prozesses von der Gläubiger Versammlung abgelehnt worden.

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Die Unzulässigkeit des Rechtsmittels folgte in 18 Fällen daraus, daß die betreffenden Rechtsstreitigkeiten -- und zwar 8 gestützt auf Art. 882, Abs. l, O.-R. -- nicht nach eidgenössischem Rechte zu entscheiden waren, und in 7 Fällen aus dem Mangel des Streitwertes, durch dessen Vorhandensein das Rechtsmittel bedingt ist; in l Fall war die Berufung verspätet ergriffen worden, in 2 Fällen nicht gegen ein Haupturteil gerichtet, bezw. nicht in einer Privatrechtsstreitigkeit ergriffen.

Von den 29 Fällen, in welchen das Bundesgericht das kantonale gerichtliche Urteil a b g e ä n d e r t oder a u f g e h o b e n hat, beschlugen 17 Streitigkeiten aus Materien, die im eidgenössischen O.-R. geregelt sind, 4 Ehesachen, 5 Streitigkeiten aus den Fabrikhaftpflichtgesetzen, 2 Streitigkeiten aus dem Eisenbahnhaftpflichtgesetze und l einen Prozeß aus dem Bundesgesetz betreffend den Transport auf Eisenbahnen. Aktenvervollständigungen wurden in keinem Falle vorgenommen.

Dieser Teil unserer Geschäfte giebt uns zu folgenden · Bemerkungen Veranlassung: 1. Infolge Inkrafttretens des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs ist der Kreis derjenigen Civilsachen, welche auf dem Wege der Berufung an das Bundesgericht weiter gezogen werden können, erweitert, diese Erweiterung aber im Berichtsjahre noch nicht fühlbar geworden. Das Bundesgericht hat im Jahre 1892 weder Arrestprozesse, noch Anfechtungsklagen, Rangstreitigkeiten und Teilungsstreitigkeiten in Konkursen oder bei der Schuldbetreibung, noch andere aus dem genannten Gesetze herrührende Streitigkeiten zu entscheiden gehabt. Dagegen ist der Versuch gemacht worden, den Entscheid einer kantonalen obern Nachlaßbehörde betreffend Genehmigung eines Nachlaßvertrages an das Bundesgericht weiter zu ziehen. Dieser Versuch konnte aber keinen Erfolg haben, da der Entscheid der Nachlaßbehörde sich nicht als Haupturteil in einer Privatrechtsstreitigkeit darstellt. Das bezügliche Erkenntnis des Bundesgerichts ist abgedruckt in Bd. XVIII, S. 217 f., der Amtlichen Sammlung. Nicht im Berichtsjahre, sondern erst im laufenden Jahre ist auch in 3 Fällen die Berufung gegen R e c h t s ö f f n u n g s b e s c h e i d e kantonaler Gerichtsbehörden ergriffen worden. Auch hierauf konnte das Bundesgericht nicht eintreten. Mit Rücksicht auf das von den eidgenössischen Räten in der
letzten Dezembersitzung angenommene Postulat wollten wir aher nicht unterlassen, diese Vorkommnisse jetzt schon zu signalisieren. Auf eine zweifelhafte Frage betreifend das Verhältnis des eidgenössischen Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes zum Bundesgesetze betreffend Verpfändung und Zwangsliquidation von Eisenbahnen werden wir weiter unten noch zu sprechen kommen.

339 2. Bei Behandlung der einzigen von uns zu beurteilenden Streitigkeit aus dem P a t e n t r e c h t ergab sich, daß der deutsche und der französische Text des Art. 25, Abs. 4, des Bundesgesetzes betreffend die Erfindungspatente vom 29. Juni 1888 nicht miteinander übereinstimmen. Wir haben gefunden, daß der französische Text der richtige sei und denselben unserm Urteil zu Grunde gelegt (siehe Amtl. Samml. d. bundesger. Entsch., Bd. XVIII, S. 569). Gleichzeitig haben wir von dem Widerspruch der beiden Texte auch dem Bundesrate Kenntnis gegeben, welcher bereits eine die betreffende Gesetzesbestimmung abändernde Vorlage an die Bundesversammlung gemacht hat.

3. Mehr als in den frühern Jahren haben wir uns infolge bekannter Ereignisse im Berichtsjahre mit Streitigkeiten zu befassen gehabt, in welchen die Frage streitig war, ob die zwischen den Pateien abgeschlossenen Zeitgeschäfte in Börsenpapieren als klaglose D i f f e r e n z g e s c h ä f t e zu betrachten seien. Wir haben dabei an unserer konstant ausgesprochenen Auffassung festgehalten, daß als klaglose reine Differenzgeschäfte nur solche Zeitgeschäfte zu betrachten seien, bei welchen nach übereinstimmender, ausdrücklich oder stillschweigend erklärter Willenseinigung der Parteien Recht und Pflicht wirklicher Lieferung und Abnahme der gekauften oder verkauften Waren oder Börsenpapiere ausgeschlossen sei, so daß bloß die Kursdifferenz den Gegenstand des Vertrages bilde. Diese Auffassung schloß sich bekanntlich an die Praxis des deutschen Reichsgerichts an. Eine a u s d r ü c k l i c h e Vereinbarung der Parteien, daß Recht und Pflicht wirklicher Lieferung und Abnahme ausgeschlossen sein solle, kommt nun bekanntermaßen selten oder nie vor.

Die Entscheidung hängt daher in den meisten oder allen Fällen davon ab, ob eine hierauf gerichtete s t i l l s c h w e i g e n d e Vereinbarung vorliege, d. h. ob, trotz der gewählten Form von Kauf und Verkauf, reale Erfüllung von keiner Seite gewollt war. Bei dem jetzigen Stande der Gesetzgebung kann daher die Rechtsprechung nur darauf gerichtet sein, die Thatsachen, aus welchen auf den Willen, ein reines Differenzgeschäft einzugehen, geschlossen werden muß, zu erkennen.

Es leuchtet ein, daß es sich hier um eine sehr schwierige Aufgabe handelt. Es läßt sich nicht leugnen, daß mit der Einrede des reinen
Differenzgeschäfts von unglücklichen Spekulanten Unfug getrieben werden kann und wirklich getrieben wird; ja es fehlt bekanntlich nicht an Stimmen, welche mit nicht zu unterschätzenden Gründen das Vorkommen reiner Differenzgeschäfte, insbesondere unter den an der Börse von Bankiers für ihre Kunden abgeschlossenen Zeitgeschäften, überhaupt in Abrede stellen. Das Bundesgericht hat angenommen, daß ein Schluß auf den Willen der Parteien, Recht

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und Pflicht reeller Lieferung und Abnahme auszuschließen, insbesondere dann als zulässig erscheine, wenn es sich um Spekulationen handle, deren Umfang zu den Vermögens- und Erwerbsverhältnissen des Spekulanten in einem derartigen Mißverhältnisse stehen, daß dieser an Eingehung einer Pflicht zu realer Abnahme oder Lieferung vernünftigerweise überhaupt gar nicht denken könne und dies dem Gegenkontrahenten bekannt sei. Bestimmte Thatsachen, aus welchen regelmäßig auf den Willen, ein reines Differenzgeschäft abzuschließen, zu schließen wäre, lassen sich kaum allgemein feststellen, und es ist daher sehr begreiflich, wenn die Judikatur der kantonalen Gerichte bei Beantwortung der Frage, aus welchen Umständen auf eine stillschweigende Vereinbarung eines reinen Differenzgeschäftes zu schließen sei, keine Übereinstimmung zeigt. Die diesfälligen Feststellungen der kantonalen Gerichte sind nun allerdings der Nachprüfung des Bundesgerichtes insoweit nicht entzogen, als sie mit dem Reclitsbegriff des reinen Differenzgeschäfts im Zusammenhange stehen.

Indessen ist doch klar, daß sie auch auf die bundesgerichtliche Kechtsprechung nicht ohne Einfluß sein müssen, sofern sich niimlich bei der Nachprüfung nicht ergiebt, daß das kantonale Gericht den Rechtsbegriff des reinen Differenzgeschäfts unrichtig aufgefaßt hat.

Dabei gilt es für das Bundesgericht namentlich, die lediglich in der Absicht der Differenzspekulation abgeschlossenen Zeitgeschäfte, bei welchen zwar Lieferung und Abnahme nicht ausgeschlossen, immerhin aber nicht beabsichtigt ist, und die sich regelmäßig durch Kompensationen erledigen, von den reinen Differenzgeschäften zu sondern -- eine Aufgabe, welche sich mitunter als sehr schwierig erweist.

Denn sind auch jene erstem Geschäfte von den letztern juristisch verschieden, so sind sie doch vom sittlichen und wirtschaftlichen Standpunkte aus gleichwertig, und es ist nicht ausgeschlossen, daß bei der Judikatur kantonaler Gerichte dieser Umstand unbewußt und ohne daß es aus dem Urteile ersichtlich ist, zu gunsten der unglücklichen, dem Privatpublikum angehörigen Spekulanten sich geltend macht; namentlich in Fällen, wo dasselbe von Bankiers oder Angestellten derselben zu den Spekulationen verleitet worden ist und sich, wie fast regelmäßig, als der wirtschaftlich schwächere Teil darstellt. Da auch bei uns
die Frage in den eidgenössischen Eäten aufgeworfen worden ist, ob nicht auf dem Wege der Gesetzgebung, welche allein hierzu die Macht besitzt, gegen die Überhandnähme der Spekulation, besonders des Privatpublikums, durch Zeitgeschäfte Abhülfe zu schaffen sei, so hielten wir obige Bemerkungen an diesem Orte für angezeigt.

:J4i II. Strafrechtspflege.

Wie bereits oben bemerkt, hatte sich im Berichtsjahre nur das Kassationsgericht mit Strafrechtssachen und zwar ausschließlich mit Kassationsrekursen gegen Entscheide kantonaler Gerichte betreffend Übertretungen fiskalischer und polizeilicher Bundesgesotze zu befassen. Dieselben waren 6 an der Zahl, wovon 4 auf Übertretungen des Bundesgesetzes betreffend g e b r a n n t e W a s s e r (Alkoliolgesetz) und 2 auf Übertretungen des Z o l l g e s e t z e s sich bezogen, und 2 von den Beklagten, 4 von der Bundesverwaltung ergri:Ten worden waren. Davon sind 4 im Berichtsjahre erledigt und zwar sämtlich abgewiesen worden. Zwei, Übertretungen des Alkoholgesetzes beschlagend, mußten ins folgende Jahr übertragen werden.

Bei Beurteilung der erledigten Fälle hat sich neuerdings herausgestellt, daß Abschnitt III des noch unverändert in Kraft bestellenden Bundesgesetzes, betreffend das Verfahren bei Übertretungen fiskalischer und polizeilicher Bundesgesetze vom 30. Juni 1849, mangelhaft redigiert ist und es namentlich sehr wünschhar wäre, daß über die Anhängigmachung derartiger Strafsachen, in welchen der angeklagte die gerichtliche Beurteilung verlangt, bei den kantonalen Gerichten, über die Vertretung der Bundesverwaltung und die Kochte ihrer Vertreter vor diesen Gerichten einheitliche, bezw. klarere Vorschriften als die gegenwärtig in Kraft bestehenden erlassen würi.en. Auch bezüglich der Kassationsgründe läßt das Gesetz nicht nur an Zweckmäßigkeit, sondern auch an Klarheit sehr zu wünschen übrig, so daß sich, trotz seines mehr als 40jährigen Bestehens, keine feste Praxis über seine Auslegung und Anwendung hat bilden können.

III. Staatsrechtspflege.

Die S t a a t s re c h t l i e b e n ' S t r e i t i gk ei t e n , welc.ie hu Berichtsjahre beim Bundesgerichte in Behandlung waren, bestanden in :

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1. Kompetenzkonflikte zwischen Bundesbehörden und kantonalen Behörden l 2. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen . . . .

l 3. Auslieferungen -- 4. Beschwerden von Privaten und Korporationen : a. wegenVerletzung der Bundesverfassung, von Bundesgesetzen u.Kantonsverfassungen 30 b. wegen Verletzung von Konkordaten -- c. wegen Verletzung von Staatsverträgen l 33

Ad i. Der Kompetenzkonflikt besteht zwischen dem Bund und dem Kanton Tessin; er betrifft die Großratswahlen vom Jahre 1889 und ist auf Begehren des Klägers sistiert worden.

Ad 2. Diese staatsrechtlichen Streitigkeiten bestanden zwischen den Kantonen Graubünden und Tessin und zwischen den Kantonen Aargau und Solothurn. Die erstere betraf eine Grenzstreitigkeit, die zweite die Besteuerung von Wasserrechten an interkantonalen Gewässern.

Ad 3. Die Auslieferungen wurden verlangt: 5 von Deutschland, l von Frankreich und 4 von Italien. Davon wurden 9 bewilligt, welche die in den betreffenden Verträgen vorgesehenen Verbrechen des Betrugs, der Brandstiftung, der Unzucht mit minderjährigen Kindern, der Entführung, der Urkundenfälschung und des Mordes betrafen. Verweigert wurde die von Italien wegen Teilnahme an einer Verbrecherverbindung verlangte Auslieferung des Maur.

Maraccini, und zwar aus den gleichen Griinden, aus welchen im Vorjahre die Auslieferung des Malatesta nicht bewilligt worden ist.

Im Mai 1892 ist bekanntlieh das Bundesgesetz betreffend die Auslieferung gegenüber dein Auslande vom 22. Januar 1892 in Kraft getreten. Über die zwischen dem Bundesrate und dem Bnndesgerichte betreffend das Verfahren stattgefundene Vereinbarung verweisen wir auf den Geschäftsbericht des eidg. Justizdepartements, ebenso bezüg-

348

lieh der seither kraft Art. l des citierten Bundesgeset^es zwischen dem Bundesrate und auswärtigen Staaten abgegebenen Keciprocitätserklärungen.

Ad 4 a. Von den Beschwerden der Privaten oder Korporationen machten 28 lediglich die Verletzung von Bestimmungen der k a n t o n a l e n , V e r f a s s u n g , 118 lediglich die Verletzung der B u n d e s v e r f a s s u n g geltend. In 34 Fällen wurde wegen Verletzung sowohl der Bundes- als einer Kanton al Verfassung Beschwerde geführt.

Von den 118 wegen Verletzung der Bundesverfassung erhobenen Beschwerden stützten sich 77 auf Artikel 4 der Bundesverfassung (Rechtsverweigerung), 9 auf Art. 46 (Verbot der Doppelbesteuerung), 1 auf Art. 55 (Preßfreiheit), 26 auf Art. 58 und 59, Abs. l und 2 (Garantie des verfassungsmäßigen Eiehters bezw. des Richters des Wohnorts für persönliche Ansprachen), 2 auf Art. 59, Abs. 3 (Schuldverhaft), 3 auf Art. 61 B.-V. (Vollziehung rechtskräftiger Civilurteile).

Auf Verletzung von B u n d e s g e s e t z e n bezogen sich 40 Beschwerden, und zwar 8 des Bundesgesetzes betreffend Civilstand und Ehe; 13 des Bundesgesetzes betreffend die persönliche Handlurgsfähigkeit; 4 des Bundesgesetzes betreffend Verzicht auf das Schweizerbürger recht; 3 des Bundesgesetzes betreffend die civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen ; l des Bundesgesetzes betreffend die Fabrikhaftpflicht; l des Bundesgesetzes betreffend den Bau und Betrieb der Eisenbahnen (Art. 8, Gerichtsstand) ; l des Bundesgesetzes Über Schuldbetreibung und Konkurs ; l des Bundesgesetzes betreuend den Schutz der Warenzeichen; l des Bundesgesetzes betreffend das Rechnungswesen der Eisenbahnen ; 4 des Bundesgesetzes betreffend das Obligationenreclit ; l des Bundesgesetzes betreffend das Münzwesen; l des Bundesgesetzes über die Militärorganisation, und l des Bundesgesetzes betreffend die Organisation der Buridesreohtspflege.

Ferner 7 Revisionsbegehren gegen bundesgerichtliche Entscheide.

Ad 46. Zwei Beschwerden betrafen die Konkordate über das Konkursrecht und zwei das Erbrechtskonkordat.

Ad 4c. Von diesen Beschwerden bezogen sich 6 auf den Gerichtsstandsvertrag mit Frankreich; l auf den Niederlassungsvertrag mit Italien und

344

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Aargau Appenzell A. -Eh. .

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Basel-Land Basel-Stadt Bern (deutscher Teil) .

Freiburg Genf Glarus Graubünden (deutsch. Teil) Graubünden (ital. Teil) .

Luzern Neuenburg Nidwaiden Obwalden Schaffhausen . . . .

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Abgewiesen



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Bückweisnng j an kantonale { OberbehBrden i

Kantone

Nichteintreten 1 wegen Verspätung,; Unverständlich- II keit u. dgl. |.

l auf den Staatsvertrag zwischen dem Kanton Aargau und dem Großherzogtum Baden betreffend die gegenseitige Vollziehung von Civilurteilen.

Über die A r t de r E r l e d i g u n g der staatsrechtlichen Streitigkeiten -- mit Ausnahme der bereits oben behandelten staatsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Kantonen und der Auslieferungen -- soweit dieselbe im Jahre .1892 erfolgt ist, sowie über deren H e r k u n f t nach Kantonen giebt folgende Tabelle Aufschluß:

--

V*",:. Hierzu kommen noch 7 Revisionsbegehren gegen bundesgerichtliche Entscheide aus den Kantonen Aargau, Luzern, ZUrich und St. Gallen, die sämtlich abgewiesen wurden. Ein anderer Fall, in welchem der Bund gegen eine Eisenbahngesellschaft betreffend ihre Bilanzaufstellung Klage führte, wurde durch Anerkennung der Klage erledigt.

Von d e n ' 2 4 ganz oder teilweise b e g r ü n d e t erklärten Beschwerden waren 10 gegen Entscheide von Administrativbehijrden, 14 gegen Entscheide von Gerichtsbehörden gerichtet und betrafen 4 Rechtsverweigerung | 4 Doppelbesteuerung : Verletzungen der Bundesverfassung; 7 Gerichtsstandsfragen j 3 Verletzung von Bestimmungen von Kantonsverf'assuugen ; 3 Verletzung des Bundesgesetzes über die persönliche Handlungsfähigkeit ; l das Bundesgesetz betreffend den Schutz der Warenzeichen ; l das Bundesgesetz betreffend Haftpflicht aus Fabrikbetrieb; l das Bundesgesetz betreffend Bau und Betrieb der Eisenbahnen (Gerichtsstandsfrage nach Art. 8 ib.).

Rückweisung an kantonale Oberbehörden, insbesondere die Großen Räte, erfolgte nur in Fällen, wo die Verletzung kantonaler Verfassungsbestimmungen in Frage stand, und auch in solchen Fällen nur ausnahmsweise, wenn es für das Bundesgericht wttnschbar erschien, auch die Anschauung der obersten kantonalen Behörde zu kennen.

Im Übrigen giebt uns die Staatsrechtspflcge zu folgenden besondern Bemerkungen Veranlassung : 1. Auch dieser Teil unseres Geschäftskreises hat im Berichtsjahre eine Erweiterung erfahren, indem das Bundesgesetz über die civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen gewisse Streitigkeiten aus diesem Gebiete dem Bundesgerichte zum Entscheide zuweist. Es ist indes im Berichtsjahre lediglich e i n e Beschwerde, die wirklich unter die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes fiel, beim Bundesgerichte anhängig gemacht worden, indem ein Gemeinderat des Kantons Luzern gegen einen Gemeinderat des Kantons Zürich bei uns das Begehren stellte, daß der letztere angehalten werde, ein der betreffenden luzernischen Gemeinde angehöriges Kind in der katholischen Konfession zu erziehen. Da aber die oberste zuständige; Behörde des Niederlassungskantons -- welcher von dem ihm bundesgesetzlich eingeräumten Rechte, das Bundesgericht fili- solche Streitigkeiten als einzige Instanz zu bezeichnen, keinen Gebrauch gemacht hatte -- vom heimatlichen Gemeinderate des Kindes noch nicht angerufen worden war, so verwiesen wir den letztern, gestutzt auf Art. 1(1

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des citierten Bundesgesetzes, vorerst an jene Behörde. Dabei sprachen wir uns jedoch dahin aus, daß die Heimatbehörde des minderjährigen Kindes gegen die Niederlassungsgemeinde nicht das oben bezeichnete Begehren stellen, sondern nur Übergabe der Vorraumlschaft verlangen könne.

2. Es ist im Berichtsjahre der Versuch gemacht worden, Arrestv e r f ü g u n g e n und K e c h t s ö f f n u n g s b e s c h e i d e der zuständigen kantonalen Behörden mittelst des staatsrechtlichen Rekurses wegen Verletzung der Bestimmungen des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes an das Bundesgericht zu ziehen. Wir haben aber gefunden, daß liberall da, wo das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs eine Beschwerde an eine eidgenössische Behörde nicht ausdrücklich vorsehe, dieselbe ausgeschlossen sei und speciell dem Bundesgerichte, soweit es sich lediglich um die G e s e t z e s a n w e n d u n g und nicht um Verfassungsverletzung oder Verletzung von S t a a t s v e r t r ä g e n handle, andere Befugnisse nicht haben vorbehalten werden wollen, als diejenigen, welche sich aus seiner Stell u n g in C i v i l s a c h e n (Art. 29 f. Organisationsgesetz) ergeben.

Demgemäß haben wir gegen Arrest b e w i l l i g u n g e n den staatsrechtlichen Rekurs zugelassen, wenn Verletzung des Art. 59 B.-Yoder des französisch-schweizerischen Gerichtsstandsvertrages behauptet wurde, und zwar ohne vorher den Arrestbeklagten auf den Weg des Arrestprozesses zu verweisen; dagegen alle solche Beschwerden, in welchen nur Verletzung der Vorschriften des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes gerügt wurde, abgewiesen.

3. Mehrere kantonale Gesetzgebungen bestimmen, daß Militärpflichtersatzpflichtige, welche den Militärpflichtersatz nicht bezahlen, an dessen Stelle Arbeit für den Staat zu leisten und, sofern sie auch diese Pflicht nicht erfüllen, eine gewisse Freiheitsstrafe zu verbüßen haben. Zwei Ersatzpflichtige haben hierin eine Verletzung des Art. 59, Abs. 3, B.-V. erblickt. Die bezüglichen Beschwerden sind noch im Berichtsjahre eingereicht, jedoch erst in diesem Jahre zu gunsten der Rekurrenteri erledigt worden. Die bezüglichen Entscheide werden in der amtlichen Sammlung unserer Entscheidungen veröffentlicht werden.

IV. Freiwillige Gerichtsbarkeit.

Unter dieser Überschrift pflegen die Beschwerden über das Verfahren der eidgenössischen Schatzungskommissionen, Begehren um deren Einberufung u. dergl., sowie Begehren betreffend Zwangsliquidation von Eisenbahnen aufgeführt zu werden. Im Berichtsjahre sind 5 Beschwerden Über Schatzungskommissionen, l Begehren um

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Einberufung einer Schatzungskommission und 3 Liquidationsbegehren gegen Eisenbahngesellschaften (Bergbahnen) eingereicht worden. Die letztern wurden wieder zurückgezogen, die erstem, sowie eine Eingabe einer Eisenbahngesellschaft, worin dem Bundesgerichte über deren finanzielle Lage, jedoch ohne Abgabe der Insolvenzerklärung, Auskunft erteilt wurde, sämtlich im Berichtsjahre durch Entscheid erledigt.

Unter diesem Abschnitt sehen wir uns zu einer Bemerkung betreffend das Verhältnis des eidg. Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes zu dem Bundesgesetze über die V e r p f ä n d u n g und Z w a n g s l i q u i d a t i o n der Eisenbahnen vom 24. Juni 1874 veranlaßt. Es wurde in einem Falle von einer Eisenbahngesellschaft die Frage aufgeworfen, ob nicht auch solche Gesellschaften einen Nachlaßvertrag im Sinne des Art. 293 ff. des eidg. Schuldbetreibungsund Konkursgesetzes abschließen können. Es ist wohl nicht zweifelhaft, daß der Bejahung dieser Frage der Umstand nicht entgegensteht, daß eine Eisenbahngesellschaft eine Aktiengesellschaft ist. " Denn das citierte Bundesgesetz schließt, gleich wie die deutsche Konkursordnung, den NachlalSvertrag für Aktiengesellschaften nicht aus. Es kann sich vielmehr nur um die Anwendung des Art. 30 des Bundesgesetzes betreifend Schuldbetreibung und Konkurs handeln, wonach dieses Gesetz u. a. nicht Anwendung findet auf ,,die Zwangsliquidation der Eisenbahnen, soweit hierüber besondere eidgenössische Vorschriften bestehen". Die Frage ist also die, ob die Bestimmungen des Bundesgesetzes betreffend die Zwangsliquidation von Eisenbahnen der Anwendung des Art. 293 ff. des erstem Gesetzes entgegenstehen.

Für die Verneinung dieser Frage dürfte angeführt werden, daß nach unserm Gesetze der Nachlaßvertrag nicht bloß ein Konkursbeendigungsgrund ist, sondern auch angestrebt werden kann, wenn gegen den Schuldner weder eine Betreibung noch der Konkurs verlangt worden ist, und daß sich nicht leicht ein durchschlagender Grund dafür denken läßt, warum den Eisenbahngesellschaften -- wir haben dabei namentlich die vielen kleinem Eisenbahnunternehmungen im Auge -- diese Eechtswohlthat versagt sein soll.

Dagegen kann für die Bejahung angeführt werden, daß in Art. 293 ff. für den Nachlaßvertrag der Eisenbahngesellschaften keine besondere Nachlaßbehörde aufgestellt, resp. nicht das
Bundesgericht als solche bezeichnet worden ist, während allerdings die Meinung des Gesetzgebers kaum dahin gegangen sein kann, die kantonale Nachlaßbehörde auch für Eisenbahngesellschaften zuständig zu erklären. Auch ließe sich vielleicht sagen, daß die Art. 17--19 des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1874 der Anwendung der Bestimmungen des Schuldbetreibungsgesetzes über den Nachlaßvertrag insofern ent-

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gegenstehen, als dieselben den Gläubigern unter bestimmten Voraussetzungen die unbedingte Berechtigung auf Eröffnung der Zwangsliquidation geben, beziehungsweise dem Bundesgerichte die entsprechende Verpflichtung auflegen, und daß vor Inkrafttreten des eidg.

Schuldbetreibungsgesetzes von Anwendung der k a n t o n a l e n Bestimmungen über den Zwangsnachlaßvertrag auf Eisenbahngesellschaften auch keine Rede habe sein können, indem das Bundesgesetz vom 24. Juni 1874 der Beendigung der Zwangsliquidation durch Nachlaßvertrag überall nicht erwähnt, sondern nur die Durchführung derselben kennt.

Das Bundesgericht hat bisher noch keine Veranlassung gehabt, sich über diese Präge schlüssig zu machen ; wir hielten es aber doch ftir angezeigt, Sie auf dieselbe aufmerksam zu machen, damit Sie gntfindenden Falls, bei der nicht völligen Zweifellosigkeit der Frage, eine diesen Zweifel hebende Äußerung in geeigneter Form thun können.

V. Rekapitulation und mittlere Dauer der Streitsachen.

Aus der vorstehenden Darstellung ergiebt sich, daß beim Bundesgerichte im Berichtsjahre anhängig waren 69 Civilsachen, welche das Bundesgericht als einzige Instanz zu erledigen hatte; 276 Expropriationsstreitigkeiten ; 146 Berufungen gegen kantonalgerichtliche Urteile; 252 staatsrechtliche Streitigkeiten; 6 Strafrechtsfälle und 10 Geschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

Summa 759 Geschäfte, also 127 mehr als im Vorjahre.

Davon wurden erledigt: 20 erst- und letztinstanzlich zu beurteilende Civilsachen ; 187 Expropriationen; 124 Berufungen; 224 staatsrechtliche Eekurse; 4 Straffälle und 10 Geschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit. · Summa 569 -- 165 mehr als im Vorjahre -- während 190 Geschäfte pendent blieben.

Von de« a n h ä n g i g gewesenen und bezw. e r l e d i g t e n Geschäften fallen 594 resp. 433 auf den d e u t s c h , 141 resp. 117 auf den f r a n z ö s i s c h und 24 resp. 19 auf den i t a l i e n i s c h sprechenden Teil der Schweiz.

349 Die durchschnittliche Dauer der erledigten Geschäfte betrug: Monate Tage

1. Der erst- und letztinstanzlich zu beurteilenden Civilsachen : a. Vom Eingang der Klage bis zum Urteil . . 12 4 b. Von Ausfällung des Urteils bis zur schriftlichen Zustellung desselben -- 23 2. Der Expropriationen: a. Vom Eingang der Beschwerde bis zur Erledigung 6 29 b. Von Ausfällung des Entscheides bis zu dessen schriftlicher Zustellung -- 16 3. Der Berufungen: a. Vom Eingang bis zum Urteil l 24 b. Vom Urteil bis zu dessen schriftlicher Zustellung -- 28 Va 4. Der staatsrechtlichen Streitigkeiten, der Straffälle und der Geschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit : a. Vom Eingang bis zum Entscheid 2 l b. Vom Entscheid bis zu dessen schriftlicher Zustellung -- 282/s Die etwelche Verlängerung einzelner Durchschnittsdauern gegenüber dem Vorjahre erklärt sich durch die namhafte Vermehrung der Geschäfte, worunter sich zudem einige sehr umfangreiche Civilsachen befanden, welche Vermehrung übrigens in den beiden ersten Monaten des l a u f e n d e n Jahres sich gegenüber dem Berichtsjahre noch wesentlich gesteigert hat.

Am Schlüsse unseres Berichtes angelangt, benutzen wir diesen Anlaß, Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, neuerdings unserer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern.

L a u s a n n e , den 13. März 1893.

Im Namen des Schweiz. Bundesgerichts, Der P r ä s i d e n t :

Hafner.

Der Gerichtsschreiber : Rott.

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Bnndesblatt. 45. Jahrg. Bd. II.

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Bericht des schweizerischen Bundesgerichtes an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1892. (Vom 13. März 1893.)

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