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Kreisschreiben des

Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen, betreffend Aufhebung der Choleraschutzmassnahmen Berichterstattung über deren Durchführung im Jahre 1893 und Einreichung daherig Entschädigungsforderungen.

(Vom 19. Dezember 1893.)

Getreue, liebe Eidgenossen!

Die Cholera ist in Europa in starkem Rückgange begriffen.

In England, Schweden, den Niederlanden und Belgien ist dieselbe ganz, in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Bulgarien und Rumänien fast ganz erloschen und in Österreich-Ungarn (Galizien, Ungarn, Bosnien und Herzegowina), Rußland und der Türkei hat sie an In- und Extensität ganz erheblich abgenommen. Da der Verkehr zwischen den noch verseuchten Gegenden und der Schweiz, namentlich bei der jetzigen Jahreszeit, ein minimaler ist und überdies die durch die internationale Sanitätskonvention von Dresden vorgeschriebenen Maßregeln zur Verhinderung der Ausfuhr infizierter Gegenstände von Österreich-Ungarn und Rußland in befriedigender Weise durchgeführt werden, so haben wir die durch unser Kreisschreiben vom 1. August und unsere Beschlüsse vom 22. August 1. J. angeordneten Maßnahmen zum Schütze gegen die Cholera auf den 15. Dezember hin wieder aufgehoben.

Die epidemiologische Erfahrung und der bisherige Verlauf der jetzigen Cholerapandemie, die im Frühjahr 1892 ihren Anfang genommen hat, sprechen aber dafür, daß Europa wahrscheinlich noch mehrere Jahre hindurch, während der warmen Jahreszeit, mit dieser Seuche zu kämpfen haben wird. Und wenn unser Land auch in

812 diesem Jahre wiederum glücklich verschont geblieben ist, so dürfem wir doch keineswegs mit Sicherheit darauf zählen, daß es in Zukunft immer so gehen werde. Die Jahre 1836, 1849, 1854/55 und 1867 haben uns deutlich genug gezeigt, daß die Schweiz durchaus nicht choleraimmun ist, und unsere sanitarischen Zustände und hygieinischen Einrichtungen haben sich seither nicht in dem Gradeverbessert, daß die Seuche bei uns keinen Boden mehr fände und wir dieselbe deshalb nicht mehr zu fürchten hätten.

Die internationale Sanitälskonvention von Dresden hat in richtiger Würdigung der gemachten Erfahrungen mit dem alten System der Quarantänen und sonstigen Verkehrsbeschräukungen an der Landesgrenze gründlich aufgeräumt und den Schwerpunkt der Choleraprophylaxis ins Innere des Landes verlegt, in eine geordnete öffentliche Gesundheitspflege und eine aufmerksame und leistungsfähige Seuchenpolizei. Auch unser Epidemiengesetz vom 2. Juli 1886 hat dies bereits gethan. Nur bedarf der Art. 2 dieses Gesetzes einer etwas strengeren Auslegung, wenn die durch denselben vorgeschriebene Kontrolle des Wassers, der Lebensmittel und der Wohnungen (vgl. Ziff. l--3 unseres Kreisschreibens betreffend Maßnahmen zum Schütze gegen die Cholera, vom 1. August 1893 [Bundesbl. III, 931]) eine wirksame prophylaktische Maßregel darstellen soll : diese Kontrolle muß nicht nur ,,beim Herannahen einer gemeingefährlichen Epidemie*, sondern j e d e r z e i t gehandhabt werden. Nur durch beständige gewissenhafte Aufsicht, durch Belehrung und Ermahnung, und, wenn nötig, durch Anwendung von Zwaiigsmaßregeln, können die zahlreichen noch bestehenden sanitarisehen Übelstände gehoben und hygieinisch befriedigende Zustände geschaffen und erhalten werden. Diejenigen Behörden, welche erst beim Herannahen einer Gefahr anfangen, sich um diese Sachen zu kümmern, kommen regelmäßig zu spät und richten mit allen Anstrengungen und den größten Opfern doch nur wenig oder gar nichts aus. Sie müssen sich daher den schweren Vorwurf gefallen lassen, daß sie ihre Aufgabe nicht richtig erfaßt und ihrer Pflicht nicht genügt haben.

Ähnlich verhält es sich mit der vom Gesetz geforderten Bereithaltung von Absonderungsliäusern und Transportmitteln und mit der Fürsorge für geeignete Desinfektionseinrichtungen. Nur diejenigen Gemeinden dürfen sich rühmen, in dieser
Beziehung vollständig auf der Höhe zu sein, welche ein zweckmäßiges ständiges Absonderungshaus*) mit einem Krankenwagen und einem leistungs*) N o r m a l i e n f ü r d e n B a u u n d d i e E i n r i c h t u n g v o n K r a n k e n a s y l e n nnd eine dazu gehörige S a m m l u n g von P l a n s k i z z e n können vom eidgenössischen Departement des Innern, Abteilung Sanitätswesen, hezogen werden.

813 fähigen Desinfektionsapparat (vide Anleitung zur Desinfektion, vom 28. Juli 1893, Abschnitt I, Nr. 6 [A. S. n. F. XIII, 585]) besitzen.

Es ist durchaus notwendig, daß die bedeutenderen und exponierteren Gemeinden, vor allem die als Krankenübergabestationen für cholerakrauke oder choiera- verdächtige Reisende bezeichneten Ortschaften, in der angegebenen Weise ausgerüstet werden, und wir dürfen nicht ruhen, bis diese Forderung erfüllt ist.

Allerdings sind wir noch weit von diesem Ziele entfernt. Von den 111 Krankenübergabestationen besaßen im Jahre 1892 nur 25 (= 22,5 %) ein ständiges Absonderungshaus, und bloß 15 (= 13,5 °/o) einen Dampf-Desinfektionsapparat. Bis Anfang Winter dieses Jahres haben sich die Verhältnisse insofern gebessert, als nunmehr 32 Krankenübergabestationen (= 28,8 °/o) über ein ständiges Isolierspital und 26 (= 23,4 °/o) über einen oder mehrere Desinfektionsapparate verfügen. Noch erheblieh schlechter ausgerüstet sind in dieser Hinsicht die größern Ortschaften und Gemeinden, welche nicht als Krankenübergabestaüonen figurieren.

Es bleibt uns also noch viel zu thun übrig, bis das erwähnte Ziel erreicht ist. Mit Hülfe der erheblichen Beiträge, welche deiBua d an die Bau- und Einrichtungskosten von Absonderungshäusern und die Anschaffungskosten von Desinfektionsapparaten leistet, sollten jedoch die Hindernisse, die sich der Erreichung dieses Zieles entgegenstellen, von den Kantonen und Gemeinden leicht überwunden werden. Die Entscheidung über die Frage, in welcher Weise die restierenden Kosten zwischen Kanton und Gemeinde repartiert werden sollen, ist nach Art. 8, Alinea 3, des Epidemiengesetzes der kantonalen Gesetzgebung überlassen. Daß aber beide sich an der Tragung der Kosten beteiligen, daß namentlich der Kanton einen Teil derselben übernimmt und nicht die ganze Last auf die Schultern der Gemeinde ladet, erscheint uns nur als recht und billig, denn die Erstellung von laolierspitälern und Desinfektionsanlagen liegt nicht nur im Interesse der betreffenden Gemeinde, sondern ganz gewiß auch in demjenigen des Kantons, ja des ganzen Landes.

Wir hegen die zuversichtliche Erwartung, daß Sie Ihr möglichstes thun werden, um die öffentliche Gesundheitspflege in Ihrem Kanton immer mehr zu vervollkommnen und derselben immer weitern Eingang zu verschaffen. Sie entziehen damit n i c
h t n u r der C h o l e r a , s o n d e r n a u c h a l l e n ä n d e r n V o l k s s e u c h e n nach und nach den Boden zu ihrer Entwicklung und arbeiten so in nachhaltigster Weise für Hebung der Volksgesundheit und Volkswohlfahrt. Krankheiten verhüten ist nicht nur leichter, sondern auch besser und billiger, als Krankheiten heilen ! Allerdings

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werden wir, namentlich im Hinblick auf den immer zunehmenden Verkehr und die. dadurch gesteigerte Gefahr der Einschleppung, wohl noch für lange Zeit mit der Möglichkeit des Auftretens gemeingefährlicher Epidemien zu rechnen haben, und damit diese rationell bekämpft und wo möglich im Keime erstickt werden können, müssen eben Absonderungshäuser und Desinfektionseinrichtungen zur Hand sein. Übrigens dienen letztere gleichzeitig zur Bekämpfung aller übrigen Infektionskrankheiten, und in den Zeiten, wo keine gemeingefährlichen Epidemien herrschen, können die Absonderungshäuser .zur Isolierung und Pflege sonstiger ansteckender Kranken oder nuch als gewöhnliche Krankenhäuser oder Notfallspitäler benutzt werden.

Schließlich laden wir Sie ein, bis spätestens Ende Januar 1894 an das eidgenössische Departement des Innern, Abteilung Sanitätswesen, einzusenden : 1. einen summarischen Bericht über die Art und Weise, wie die angeordneten Choleraschutzmaßregeln in Ihrem Kanton durchgeführt worden sind. Es sollen bei der Berichterstattung namentlich diejenigen Punkte hervorgehoben werden, in welchen die Choleraprophylaxis des Jahres 1893 gegenüber, dem Stand derselben im Vorjahre eine Verbesserung erfahren hat; 2. die Entschädigungsforderungen an den Bund, welche aus der Durchführung der Choleraschutzmaßnahmen herrühren, insoweit sich dieselben auf den Art. 8 des Epidemiengesetzes vom 2. Juli 1886, beziehungsweise auf das Reglement betreffend die Ausrichtung von Bundesbeiträgen an Kaatoue und Gemeinden zur Bekämpfung gemeingefährlicher Epidemien, vom 4. November 1887, und auf Ziffer 10, letztes Alinea, unseres Kreisschreibens, betreffend Maßnahmen zum Schütze gegen die Cholera, vom 1. August 1893, stutzen können.

Diese Entschädigungsforderungen sind von den Gemeindebehörden , nach Hauptrubrik^n ausgeschieden (siehe Kreisschreiben vom 16. September 1890, betreffend Ausführung des Epidemiengesetzes und des bezüglichen Reglements, III. Rechnungsstellung [Bundeshl. 1890, IV, 132]) und mit den Belegen für die gemachten Auslagen versehen, samt einem Berichte über die bezügliche Thätigkeit der Behörde der Kantonsregierung einzureichen ; diese prüft die Forderungen auf Grundlage der gesetzlichen Vorschriften und übermittelt sie mit ihrem Gutachten der Bundesbehörde.

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Im übrigen benutzen wir diesen Anlaß, um Sie, getreue, liebe ·Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 19. Dezember 1893.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Kreisschreiben des Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen, betreffend Aufhebung der Choleraschutzmassnahmen Berichterstattung über deren Durchführung im Jahre 1893 und Einreichung daheriger Entschädigungsforderungen. (Vom 19. Dezember 1893.)

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27.12.1893

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