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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend das Begnadigungsgesuch des Joh. Gribi, gew. Stationsvorstandes in Münchenbuchsee (Bern).

(Vom 11. Dezember 1893.)

Tit.

Bei Anlaß der vom 14. bis 17. August 1891 in Bern stattgefundenen Feier der 700jährigen Gründung der Stadt Bern veranstaltete die Jura-Simplon-Bahngesellschaft eine große Zahl von Extrazügen nach und von Bern. Einer dieser Extrazüge, Nr. 2246, der zur Fahrt von Chaux-de-Fonds nach Bern bestimmt war, langte am Morgen des 17. August bei der Station Zollikofen statt um 6 Uhr 32 Min., wie im Fahrplan vorgesehen war, um 7 Uhr 3 Min.

an und mußte vor dieser Station noch einige Minuten warten, da unmittelbar vorher der von Ölten herkommende S. C. B.-Zug 308 in die Station eingefahren war. Als für Zug 2246 das Einfahrtssignal geöffnet wurde, vermochte derselbe, da er überlastet war und sieh auf einer Steigung von 10°/oo befand, nicht sofort einzufahren ; nachdem er zweimal eine Rückwärtsbewegung gemacht hatte, um einen Anlauf zu nehmen, gelang es ihm endlich, sich nach vorn in Bewegung zu setzen. In diesem Momente aber -- es war 7 Uhr 8 Min. oder 7 Uhr 9 Min. -- brauste der mit zwei Lokomotiven bespannte Pariser Schnellzug 240, an welchen in Biel gemäß der für die Festtage herausgegebenen Fahrordnung der Pruntruter-Zug 2166 angehängt worden war, von hinten heran und stieß auf Zug 2246 in so heftigem Anprall, daß die drei hintersten, mit Reisenden sehr stark besetzten Wagen desselben größtenteils zertrümmert wurden. 18 Personen verloren infolge des Zusammenstoßes ihr Leben und eine große Anzahl wurde mehr oder weniger schwer verletzt. Der an Material entstandene Schaden war sehr bedeutend.

710 Nach Durchführung der Voruntersuchung durch die bernischen Behörden, sowie der Administrativuntersuchung seitens des schweizerischen Eisenbahndepartements haben wir diesen Fall mit Beschluß vom 4. November 1891, in Anwendung von Art. 74 des Bundesstrafrechtes vom 4. Februar 1853, zur weiteren Untersuchung und zur Beurteilung den Gerichten des Kantons Bern delegiert. Unterm 8. Dezember 1892 überwies daraufhin die Anklagekammer des Kantons Bern sechs Eisenbahnangestellte dem Amtsgerichte Fraubrunnen zur Beurteilung wegen leichtsinniger oder fahrlässiger Beschädigung und Gefährdung von Eisenbahnzügen. Dieses Gericht faßte am 22. Februar 1892 seinen Entscheid in der Sache, welcher dahin ging, es seien die sämtlichen Angeklagten von der gegen sie erhobenen Anschuldigung freigesprochen.

Gegen dieses Urteil erklärte die kantonale Staatsanwaltschaft die Appellation, und wir haben uns derselben in dem Sinne angeschlossen, daß wir die erfolgte gänzliche Freisprechung des angeklagten Johann Gribi, gew. Stationsvorstandes in Münchenbuchsee, des Zugführers Charles Freléchoux und der Barrierenwärterin Marie Häuser-Keller, in Ansehung der thatsächlichen Verhältnisse nicht als gerechtfertigt erachten.

Am 19. August 1893 kam die Angelegenheit vor der Polizeikammer des Kantons Bern als Appellationsinstanz zur Verhandlung und am 21. gleichen Monats fällte dieses Gericht seinen Urteilsspruch, wonach einzig der schon genannte J o h a n n G r i b i von Langnau, geboren 1832, gewesener Stationsvorstand zu Münchenbuchsee, der fahrlässigen Beschädigung und Gefährdung von Eisenbahnzügen schuldig erklärt wurde, begangen dadurch, daß er fahrlässigerweise durch Nichterfüllung einer ihm obliegenden Dienstpflicht am 17. August 1891 den Zusammenstoß zweier Züge der Jura-Simplon-Bahngesellschaft herbeigeführt hat, wobei mehrere Personen getötet und andere verletzt worden sind und wobei überdies ein beträchtlicher Materialschaden entstanden ist.

In Anwendung der Art. G7 b, 8 und 31 a des Bundesgesetzes über das Bundesstrafrecht vom 4. Februar 1853, 50 O.-R., 365 und 368 St.-V. wurde Gribi verurteilt: 1. Korrektionen zu 60 Tagen Gefängnis; 2. polizeilich zu Fr. 100 Geldbuße; 3. zum Grundsatz der Entschädigung gegenüber der Jura-SimplonBahngesellschaft ; 4. zu sämtlichen Interventionskosten der genannten Bahngesellschaft, welche bestimmt sind auf Fr. 400;

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5. zu Ve der im ganzen Fr. 4018. 75 betragenden erstinstanzlichen Kosten der Untersuchung.; 6. zu den Rekurskosten des Staates, bestimmt auf Fr. 30.

Mit Eingabe vom 23. September 1893 stellt nun namens des Johann Gribi der bevollmächtigte Anwalt desselben, Fürsprecher K. D. F. von Fischer in Bern, das Gesuch an die hohe Bundesversammlung, es möchte dem Johann Gribi die von der Polizeikammer des Kantons Bern über ihn verhängte Strafe und die Bezahlung der ihm auferlegten Untersuchungskosten auf dem Gnadenwege erlassen werden.

Zur Begründung des Gesuches wird im wesentlichen folgendes angeführt: Bei den erstinstanzlichen Verhandlungen sei in unwiderlegbarer Weise an Hand der Akten der Nachweis erbracht worden, daß die Katastrophe von Zollikofen nie sich hätte ereignen können, wenn nicht eine ganze Reihe von Fehlern, verfehlten Einrichtungen und unglücklichen Verumständungen zusammengewirkt hätte, und daß die angebliche Verletzung von Reglementsvorschriften seitens Gribis niemals den Zusammenstoß hätte zur Folge haben können, wenn nicht von höheren Beamten in ganz unverantwortlicher Weise gefehlt worden wäre. Es lasse sich daher nicht rechtfertigen, daß da, wo eine ganze Reihe moralisch Schuldiger vorhanden sei, einer allein büßen solle, weil für ihn allein die Maschen der Reglementsnetze eng genug gewesen seien, um ihn nicht durchzulassen, während sie für die ändern alle weit genug gewesen, um sie durchschlüpfen und der strafrechtlichen Haftbarkeit entrinnen zu lassen. Denn daß Gribi wirklich der einzig Schuldige sei, glaube niemand, und die Thatsachen sprächen auch klar und bestimmt dagegen. Deshalb solle aber auch er nicht allein büßen. Die öffentliche Meinung habe es auf den ersten Blick richtig herausgefunden, welch großes materielles Unrecht in dem Urteil der bernischen Polizeikammer liege, und wäre dasselbe formell noch so unanfechtbar; sie verlange, daß das Unrecht, welches durch strengen Formalismus herbeigeführt worden, von der Volksvertretung wieder gut gemacht werde durch das ihr verfassungsgemäß eingeräumte heilige Recht der Begnadigung.

Nun ist richtig, daß durch die von dem administrativen Inspeklorate des Eisenbahndepartementes geführte Untersuchung -- wir verweisen speciell auf dessen Bericht vom 2. September 1891 -- sowie auch durch die gerichtlichen Verhandlungen sich unzweifelhaft
dargethan hat, daß die am 17. August 1891 bei Zollikofen vorgekommene Eisenbahnkatastrophe nicht die Folge des dienstlichen Vergehens einer einzelnen Person gewesen ist, sondern daß sie dem Zusammenwirken einer Anzahl ungünstiger Faktoren, sowie fehlerhaften und unzureichenden Anordnungen, kleineren und

712 größeren Nachlässigkeiten in der Dienstabwicklung seitens höherer und niederer Organe der Bahnverwaltung zuzuschreiben ist. Es hat dies auch das schweizerische Bundesgericht in seinem Urteil vom 25. Oktober 1893 konstatiert, womit es in einem aus diesem Eisenbahnunglück herrührenden Haftpflichlprozesse in Sachen des Fräulein Flora Hirt gegen die Jura-Simplonbahngesellschaft entschieden hat.

Wenn nun schließlich einzig Johann Gribi, dessen Vergehen hauptsächlich darin bestand, daß er Zug 2166/240 in Münchenbuchsee nicht angehalten hat, gerichtlich bestraft worden ist, weil nach dem Ermessen der urteilenden bernischen Behörde diese seine Handlung, beziehungsweise Unterlassung, allein in direktem kausalem Zusammenhange mit der Katastrophe gestanden, so dürften die ihm auferlegten Strafen zu hart und zu strenge erscheinen.

Denn es ist kaum zu leugnen, daß die verschiedenen Fehler und Nachlässigkeiten anderer Personen, wenn auch vielleicht in mehr indirekter Weise, doch zum Vorkommen des Unfalls beigetragen haben und daß ohne deren Vorhandensein der Verurteilte kaum in die Lage gekommen wäre, den ihm zur Last fallenden Fehler zu begehen, oder daß möglicherweise der Eintritt der Katastrophe hätte verhütet werden können.

Mit Rücksicht auf diese Umstände und in Anbetracht, daß der Petent während 28 Jahren mit Treue und Gewissenhaftigkeit im Bahndienste gestanden hat, möchten wir beantragen, daß dem Begnadigungsgesuche in seinem gaozen Umfange entsprochen und dem Johann Gribi die im Erkenntnis der bernischen Polizeikammer unter Ziffer l, 2 und 5 auferlegten Strafen und Kosten erlassen werden.

Wir benutzen auch diesen Anlaß, um Sie, Tit., unserer vollkommenen Hochachtung zu versichern.

B e r n , den 11. Dezember

1893.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:.

Schenk.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend das Begnadigungsgesuch des Joh. Gribi, gew. Stationsvorstandes in Münchenbuchsee (Bern). (Vom 11. Dezember 1893.)

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20.12.1893

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