99.451 Parlamentarische Initiative Zwangssterilisationen. Entschädigung für Opfer (von Felten) Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 23. Juni 2003

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen gemäss Artikel 21quater Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) den vorliegenden Bericht. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, den beiliegenden Gesetzesentwürfen zuzustimmen.

23. Juni 2003

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Anita Thanei

2003-1504

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Übersicht Nachdem die schwedische Tageszeitung «Dagens Nyheter» im Sommer 1997 berichtet hatte, dass in Schweden zwischen 1935 und 1976 an über 60 000 Personen Sterilisationen aus eugenischen Gründen vorgenommen worden waren, wurde auch in der Schweiz die Debatte um die bei uns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktizierten Sterilisationen ausgelöst. Neuere Nachforschungen haben ergeben, dass in unserem Land seit Ende des 19. bis in die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts zahlreiche Personen, in den meisten Fällen Frauen, sterilisiert wurden. Davon betroffen waren vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus psychiatrisch-medizinischer Sicht abnorme Personen, an denen eine Geistesstörung oder Geistesschwäche diagnostiziert worden war. Dabei wurden hauptsächlich sozialhygienische und wirtschaftlich-soziale Gründe geltend gemacht. Diese Eingriffe wurden häufig gegen den Willen oder unter erzwungener Einwilligung der betroffenen Personen vorgenommen.

Nationalrätin Margrit von Felten reichte am 5. Oktober 1999 eine parlamentarische Initiative ein, die verlangt, mit der Schaffung einer entsprechenden Rechtsgrundlage sicherzustellen, dass Personen, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden oder unter Druck einer Sterilisation zustimmten, Anspruch auf eine angemessene Entschädigung haben. Der Nationalrat hat dieser Initiative am 24. März 2000 Folge gegeben.

Die Kommission für Rechtsfragen hat nicht nur die Frage der Entschädigungen an Opfer von Zwangssterilisationen behandelt, sondern auch geprüft, welche Voraussetzungen und Verfahren einzuhalten sind, damit eine Sterilisation als zulässig gilt.

Eine gegen den Willen oder unter erzwungener Einwilligung der betroffenen Person vorgenommene Sterilisation stellt eine schwere Körperverletzung im Sinne von Artikel 122 des Strafgesetzbuches dar.

Um eine differenzierte politische Beurteilung der beiden Aspekte zu ermöglichen, unterbreitet Ihnen die Kommission einen Bericht mit zwei verschiedenen Vorlagen.

Die Vorlage 1 (Sterilisationsgesetz) regelt neu die Voraussetzungen, unter denen eine Sterilisation in Zukunft als rechtlich zulässig betrachtet wird sowie die dabei zu beachtenden Verfahren. Verboten ist die Sterilisation von Personen unter 16 Jahren sowie von vorübergehend urteilsunfähigen Personen. Ein solcher Eingriff darf nur an
über 16-jährigen, urteilsfähigen Personen mit deren freier und aufgeklärter Einwilligung erfolgen. Die Sterilisation von Personen, die auf die Dauer urteilsunfähig sind, ist nur in Ausnahmefällen und unter strengen Voraussetzungen zulässig; in solchen Fällen bedarf es zudem der Zustimmung der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde.

In der Vorlage 2 (Bundesgesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen) beantragt die Kommission, dass Personen, an denen in der Vergangenheit Zwangssterilisationen oder Zwangskastrationen vorgenommen wurden, als Opfer von Straftaten gemäss Artikel 124 der Bundesverfassung gelten und eine Entschädigung für den erlittenen Schaden sowie eine Genugtuung beantragen können. Zur Festlegung der Voraussetzungen für eine Entschädigung und zur Bemessung des Entschädigungs- und Genugtuungsbetrages verweist der

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Gesetzesentwurf auf das Opferhilfegesetz (OHG). Der Vollzug dieses Gesetzes obliegt den Kantonen. Der Bund hat den Kantonen 50 Prozent ihrer tatsächlichen Ausgaben für die Entschädigung und Genugtuung abzugelten.

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Bericht 1

Ausgangslage

1.1

Parlamentarische Initiative

Die am 5. Oktober 1999 von Nationalrätin Margrit von Felten eingereichte parlamentarische Initiative verlangt, mit der Schaffung einer entsprechenden Rechtsgrundlage sicherzustellen, dass Personen, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden oder unter Druck einer Sterilisation zustimmten, Anspruch auf eine angemessene Entschädigung haben.

Gemäss den Ausführungen der Initiantin lässt sich anhand verschiedener geschichtlicher Quellen nachweisen, dass in der Schweiz bis zu den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts hauptsächlich an Frauen Zwangssterilisationen praktiziert wurden.

In den meisten Fällen war das Erfordernis der freiwilligen Zustimmung der Betroffenen nicht gegeben. Das juristisch erforderliche «Einverständnis» verschafften sich die Behörden entweder durch Überredung oder sie erpressten es durch Zwang oder Drohungen. So wurde beispielsweise Fürsorgeempfängerinnen gedroht, dass man ihnen die Unterstützung entziehe, oder sie wurden vor die Alternative Sterilisation/Anstaltsverwahrung gestellt; Abtreibungen wurden nur bewilligt, wenn die Frauen gleichzeitig einer Sterilisation zustimmten.

1.1.1

Beschluss des Nationalrates

Der Nationalrat schloss sich am 24. März 2000 dem einstimmigen Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen an und sprach sich ohne Gegenstimme dafür aus, der Initiative Folge zu geben. Damit pflichtete er der Initiantin bei, welche fordert, dass die politischen Behörden verpflichtet sind, der Frage der Zwangssterilisationen in der Schweiz nachzugehen, die im Namen des Staates verübten Ungerechtigkeiten einzugestehen und den Opfern eine Entschädigung auszurichten.

Gestützt auf Artikel 21quater Absatz 1 des Geschäftsverkehrsgesetzes beauftragte der Nationalrat seine Kommission für Rechtsfragen mit der Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage. Die Kommission hat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement gemäss Artikel 21quater Absatz 2 GVG zur Mitwirkung bei der Vorberatung beigezogen.

1.2

Kommissionsarbeiten

Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates beauftragte eine Subkommission, eine Gesetzesvorlage im Sinne der parlamentarischen Initiative auszuarbeiten und die Zweckmässigkeit einer bundesrechtlichen Regelung der Sterilisation von Minderjährigen, Entmündigten und Urteilsunfähigen zu prüfen. Die siebenköpfige Subkommission (Dorle Vallender, Präsidentin; Regina Aeppli Wartmann; JacquesSimon Eggly; Jean-Paul Glasson; Jost Gross; Doris Leuthard; Hans-Ulrich Mathys) hat in den Jahren 2000 und 2001 insgesamt zehnmal getagt.

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Bei Expertenanhörungen wurde die Sterilisationsproblematik unter dem Gesichtspunkt der Psychiatrie, des Rechts und der Ethik sowohl aus heutiger Sicht als auch im historischen Zusammenhang untersucht.

Am 6. November 2001 verabschiedete die Kommission einen zweiteiligen Vorentwurf. Der erste Teil regelte die Voraussetzungen, unter denen eine Sterilisation inskünftig zulässig ist, sowie die dabei zu beachtenden Verfahren. Der zweite Teil sah vor, dass Personen, die in der Vergangenheit Opfer von Zwangssterilisationen und -kastrationen geworden sind, als Opfer von Straftaten gemäss Artikel 124 der Bundesverfassung (BV) betrachtet werden und eine Entschädigung für den erlittenen Schaden sowie eine Genugtuung beantragen können. Der Vorentwurf ging von Ende März bis Ende Juni 2002 in die Vernehmlassung. Darauf gestaltete die Kommission ihre Vorlage um. Sie verabschiedete einstimmig am 31. März 2003 das Sterilisationsgesetz (Vorlage 1) und am 23. Juni 2003 das Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und -kastrationen (Vorlage 2).

1.3

Die Sterilisation im heutigen Recht

Die Sterilisationsfrage ist im heutigen Bundesrecht nicht ausdrücklich geregelt.

Gemäss Professor Jörg Paul Müller von der Universität Bern gehören die Möglichkeit und der Wunsch, Kinder zu haben, das Recht auf Sexualleben sowie das Recht, auf die eigene Fortpflanzungsfähigkeit zu verzichten, zu den persönlichen Freiheiten. Missbräuchliche Sterilisationseingriffe verstossen gegen verschiedene verfassungsmässige Grundrechte: gegen die Bestimmungen, wonach die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist (Art. 7 BV), niemand wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung diskriminiert werden darf (Art. 8 Abs. 2 BV), jeder Mensch das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit hat (Art. 10 Abs. 2 BV) und Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit haben (Art. 11 BV). Die Lehre erachtet die Sterilisation als eine schwere Körperverletzung im Sinne von Artikel 122 des Strafgesetzbuches (s. Ziff. 2.1).

Bis in die Achtzigerjahre hatte einzig der Kanton Waadt eine Gesetzgebung auf diesem Gebiet (vgl. Ziff. 1.4). Heute haben auch die Kantone Aargau (Gesetz vom 10.11.1987), Freiburg (16.11.1999) und Neuenburg (6.2.1995) eine solche Rechtsgrundlage. Gemäss diesen Erlassen dürfen erwachsene, urteilsfähige Personen nur sterilisiert werden, wenn diese darum ersucht haben. Auch schreiben diese Erlasse mehr oder weniger ausführlich vor, unter welchen Voraussetzungen die Sterilisation minderjähriger, entmündigter oder urteilsunfähiger Personen zulässig ist.

Die Schweizerische Akademie für medizinische Wissenschaften (SAMW) hat im November 1981 medizinisch-ethische Richtlinien zur Sterilisation herausgegeben.

Diese sehen vor, dass geistig gesunde, urteilsfähige Personen sich frei für eine Sterilisation entscheiden können. Auch eine geistig behinderte Person kann sich für einen solchen Eingriff entscheiden, sofern sie dessen Tragweite erfassen kann. Als unzulässig wird hingegen eine Sterilisation erklärt, wenn sie an einer urteilsunfähigen Person ausgeführt wird. 1999 hat die SAMW einen Entwurf für neue medizinisch-ethische Richtlinien zur Sterilisation geistig Behinderter in die Vernehmlassung gegeben. Darin wurde die Sterilisation urteilsunfähiger Personen nicht mehr a priori unzulässig erklärt. Angesichts der Einwände, die in der Vernehmlassung 6315

vorgebracht wurden, und der auf Bundesebene laufenden Gesetzgebungsarbeit hat die SAMW die Revision ihrer Richtlinien ausgesetzt. Im Juni 2001 hat sie ergänzende Empfehlungen erlassen, in denen am Grundsatz festgehalten wird, wonach die Sterilisation als «Ultima Ratio» zu verstehen ist, die der ausdrücklichen Einwilligung der betroffenen Person bedarf. Für geistig behinderte, urteilsunfähige Personen bleibt ein solcher Eingriff ausgeschlossen.

1.4

Sterilisationen und Kastrationen in der Schweiz: Historische Daten

Im Sommer 1997 wurde in der Schweiz die Debatte um die bei uns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktizierten Sterilisationen ausgelöst, nachdem die schwedische Tageszeitung «Dagens Nyheter» berichtet hatte, dass in Schweden zwischen 1935 und 1976 an über 60 000 Personen Sterilisationen aus eugenischen Gründen vorgenommen worden waren. Ähnliche Pressemeldungen erschienen im Sommer 1997 auch über Finnland und Frankreich.

In den letzten Jahren wurden verschiedene Studien über die Zwangssterilisationen in der Schweiz des letzten Jahrhunderts durchgeführt.

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Eine Studie über den Kanton Waadt1 untersucht das kantonale Gesetz über die Geisteskranken, in das im Jahre 1928 eine Bestimmung aufgenommen wurde, wonach Geisteskranke zwangssterilisiert werden durften. Diese Bestimmung blieb bis 1985 in Kraft und besagte konkret, dass «an einer geisteskranken oder geistesschwachen Person medizinische Eingriffe zur Kindsverhütung vorgenommen werden können, wenn diese Person anerkanntermassen unheilbar ist und aller Voraussicht nach nur ungesunden Nachwuchs hervorbringen kann». Gestützt auf dieses Gesetz wurden insgesamt 378 Sterilisationsgesuche gestellt; 324 davon betrafen Frauen. 187 Eingriffe wurden bewilligt (der letzte datiert von 1977). Rund 100 Personen, in den meisten Fällen Frauen, wurden gestützt auf dieses Gesetz sterilisiert (vgl. Bericht S. 63).

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Laut Anna Gossenreiter2 wurden 1926 in der psychiatrischen Poliklinik in Zürich 67 Frauen sterilisiert, 1927 waren es 122. Die Amtsvormundschaft des Kantons Zürich verzeichnet für die Zeit von 1908 bis 1934 60 Sterilisationen, davon 51 an Frauen. In der Basler Frauenklinik wurden zwischen 1920 und 1933 960 Frauen sterilisiert. Zwischen 1960 und 1987 wurden in

Gilles Jeanmonod, Jacques Gasser, Geneviève Haller, «La stérilisation légale des malades et infirmes mentaux dans le canton de Vaud entre 1928 et 1985», Bericht des Institut romand d'Histoire de la Médecine et de la Santé, Juni 1998.

Gilles Jeanmonod, Jacques Gasser, Geneviève Haller, «Déficience mentale et sexualité.

La stérilisation légale dans le canton de Vaud entre 1928 et 1985» in Schweizerische Ärztezeitung 2001; 82; Nr 3.

Anna Gossenreiter, «Die Sterilisation in den 1920er und 1930er Jahren als Sozialpolitik und medizinisches Mittel», Féminin ­ masculin Rapports sociaux de sexes en Suisse: législation, discours, pratiques, Zürich 1995.

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der psychiatrischen Klinik in Basel noch fünf geistig behinderte Männer kastriert; entsprechend behandelt wurde auch eine geistig behinderte Frau3.

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Eine Studie zum Sterilisationsdiskurs und zur Sterilisationspraxis in der Deutschschweiz von Ende des 19. Jahrhunderts bis 19454 zeigt auf, dass in der psychiatrischen Klinik Königsfelden im Kanton Aargau zwischen 1919 und 1945 80 Sterilisationen vorgenommen wurden; davon waren 70 % Zwangssterilisationen ohne freiwillige Zustimmung der betroffenen Personen.

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In einer vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützten umfangreichen Studie5 wird die im 20.

Jahrhundert in der Westschweiz ausgeübte Sterilisationspraxis einer komparativen Analyse unterzogen. Sie zeigt grosse Abweichungen zwischen den Kantonen. Während in den reformierten Kantonen bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert unfreiwillige Sterilisationen vorgenommen wurden, setzte diese Praxis in den katholischen Kantonen erst ab 1980 ein. Abgesehen vom Kanton Waadt wurde die Sterilisation der Frauen im Kanton Bern über ein Kreisschreiben des Fürsorgeamtes von 1931 geregelt. Nach dieser Richtlinie (die offenbar nie offiziell aufgehoben worden ist) ist die Einwilligung der betroffenen Person unerlässlich. Zulässig waren medizinische, soziale und eugenische Gründe; ausgeschlossen waren hingegen rein wirtschaftliche Gründe (Heft 12, S. 14ff.). Im Kanton Neuenburg gingen dem Gesetz von 1995 Richtlinien des Service cantonal de la santé publique vom 25. August 1980 voraus; diese schienen nicht auszuschliessen, dass eine geistig behinderte Person ohne deren Einwilligung sterilisiert werden könne (Heft 17, S.

36ff.). Aus den statistischen Untersuchungen geht hervor, in welchem Ausmass diese Praxis ausgeübt wurde: Waadt: 187 Sterilisationen zwischen 1928 und 1985; Neuenburg: 58 zwischen 1978 und 1999; Genf: 60 allein im Jahre 1961; Bern: 181 zwischen 1939 und 1949 sowie 50 zwischen 1962 und 1966. In den Kantonen, in denen die Sterilisation offiziell geregelt war, liessen sich die bewilligungspflichtigen Sterilisationen beziffern; andernorts konnten sie nur anhand von Umfragen ermittelt werden (Bd I, S. IV). Freiburg und Wallis lehnten ­ unter dem Einfluss der päpstlichen Enzyklika «Casti connubii» ­ Abtreibung, Verhütung und Sterilisation gleichermassen ab. Auch die Eugenik wurde bekämpft. Nach Gustave Clément, Arzt und Präsident des Freiburger Grossen Rates in den 1920er Jahren, fördere die Gegenwart Gebrechlicher in der Gesellschaft die christliche Nächstenliebe (Heft 18, S. 29). Ab den 1970er-Jahren wurden jedoch seltene Sterilisationsfälle auch in diesen Kantonen dokumentiert (Hefte 19 und 20).

­

Eine im Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich durchgeführte Studie über die Sterilisation und andere Zwangsmassnahmen der Stadt Zü-

Alex Schwank, «Der rassenhygienische (bzw. eugenische) Diskurs in der schweizerischen Medizin des 20. Jahrhunderts», in Zürcher Hochschulforum Bd 23 (1996).

Roswitha Dubach, «Die Sterilisation als Mittel zur Verhütung minderwertiger Nachkommen (Ende 19. Jh. bis 1945)», in Schweizerische Ärztezeitung 2001; 82; Nr. 3.

Gilles Jeanmonod, Geneviève Haller, Jean-François Dumoulin, Jacques Gasser, «Eugénisme et stérilisation non volontaire en Suisse romande durant le 20e siècle».

Rapport de l'institut suisse de la médecine, novembre 2001.

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rich im 20. Jahrhundert6 weist auf den Einfluss der rassenhygienischen Thesen in den Jahren 1920­1930 hin und untersucht an Fallbeispielen die Gründe und Bedingungen unfreiwilliger Sterilisationen. So war Paul Pflünger, Theologe und Zürcher Stadtrat, der Meinung, die Sterilisation «sozial, geistig und moralisch minderwertiger Menschen» sei ein gutes Mittel zur Vorbeugung gegen die gesellschaftlichen Übel der Trunksucht, der Wohnungsnot und der Verwahrlosung der Jugend (vgl. Bericht S. 17).

Die Eugenik ­ von Francis Galton definiert als «Wissenschaft zur Aufbesserung der menschlichen Rasse, die sich keineswegs auf die Frage sinnvoller Eheschliessungen beschränkt, sondern sich mit allen Faktoren befasst, die dazu beitragen, dass die besseren Menschenrassen sich gegen die schlechteren durchsetzen können»7 ­ übte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Einfluss auf die Psychiatrie aus. Diese Theorie wurde in der Schweiz insbesondere von Auguste Forel vertreten, der von 1879 bis 1898 Direktor der psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich war8. Aus den oben erwähnten Studien geht hervor, dass die Sterilisationen mehrheitlich an jungen Frauen aus der Unterschicht vorgenommen wurden, an denen zumeist irgend eine Form von «Geistesstörung» diagnostiziert worden war (gemäss der Studie über den Kanton Waadt bei 79 % aller Eingriffe), wobei Diagnosen wie «angeborene Charakterschwäche», «Schwachsinn» oder «mangelnde Intelligenz» nicht selten waren. Mögliche Kriterien für eine Sterilisation waren aussereheliche Schwangerschaften und wechselnde Männerbeziehungen oder die Unfähigkeit, einen Haushalt zu führen (weil eine «geistig abnorme» Frau unfähig sei, einen Haushalt zu führen, deute die Unfähigkeit, einen Haushalt zu führen, auf geistige Abnormität hin). Die Sterilisation wurde mithin als Therapie «zur Abschwächung der Sexualität» angewandt9. Den Ausschlag gaben oft auch sozialhygienische Überlegungen (vor allem zwischen 1932 und 1941) und gesellschaftlich-wirtschaftliche Gründe10. Schliesslich geht aus dem Studium verschiedener Krankengeschichten hervor, dass zahlreiche Personen ohne deren freiwillige ­ d. h. nach vorheriger Aufklärung gegebene ­ Zustimmung sterilisiert worden waren. Das wichtigste Druckmittel, um solche Zwangseingriffe durchzusetzen, war die Androhung eines Eheverbotes oder
einer Internierung beziehungsweise weiteren Anstaltsverwahrung.11 Professor Jakob Tanner wies bei den Anhörungen darauf hin, dass bei der Sterilisation geistig Behinderter, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz und in anderen Ländern praktiziert wurde, neben finanziellen und sozialen auch eugenische Argumente eine Rolle spielten. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bewertung der psychiatrischen Einrichtungen stark verändert: Während diese noch weit ins 20. Jahrhundert als fortschrittliche Einrichtungen galten, werden sie heute in der Psychiatriegeschichte als Verwahrungseinrichtungen mit starken Zwangselementen 6

7 8 9 10 11

Thomas Huonker, «Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen»; Fürsorge, Zwangsmassnahmen, Eugenik und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970, Sozialberichterstattung 02.

Gilles Jeanmonod, Jacques Gasser, Geneviève Haller, «La stérilisation légale des malades et infirmes mentaux dans le canton de Vaud entre 1928 et 1985», S. 47.

Willi Wottreng, Hirnriss, Weltwoche-ABC-Verlag, Zürich 1999; Gossenreiter, a. a. O., S. 223ff.

Gilles Jeanmonod, Jacques Gasser, Geneviève Haller, a. a. O., S. 74f.

Anna Gossenreiter, a. a. O., S 239f.

Dubach, a. a. O.

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und Kontrollfunktionen dargestellt. Auch die schwierigen Lebensverhältnisse der langfristig internierten Patientinnen und Patienten werden aufgezeigt. Auffallend ist, wie leicht es vor der Krise der Anstaltspsychiatrie der 1980er Jahre war, psychisch Kranke unabhängig von deren Willen in Anstalten einzuweisen und sie Zwangsmassnahmen zu unterziehen. Die fachliche Autorität und das soziale Prestige der Ärzte hatten zur Folge, dass Behandlungsmethoden meist fraglos akzeptiert wurden.

Eine einheitliche Definition der Unzurechnungsfähigkeit wurde erst mit dem schweizerischen Strafgesetzbuch von 1942 vorgenommen. Weil das Bundesrecht die Frage der Sterilisation geistig Behinderter nicht regelt (und nur einige Kantone voneinander abweichende Bestimmungen erlassen haben), verfügte und verfügt die Psychiatrie über einen erheblichen Handlungsspielraum.

1.5

Notwendigkeit einer Bundesregelung der Sterilisationsfrage

Die Informationen, die der Kommission über die Vergangenheit der Schweiz in Sachen Sterilisation vorliegen, weisen darauf hin, dass auf diesem Gebiet Missbräuche begangen wurden. In Zukunft soll eine bundesrechtliche Regelung solche Missbräuche verhindern. Die Anhörungen haben bestätigt, dass sich im Zusammenhang mit der Sterilisation von urteilsunfähigen Personen äusserst heikle und komplexe Fragen stellen. In den letzten Jahrzehnten hat sich das gesellschaftliche Verständnis von geistig Behinderten geändert: Diese werden heute nicht mehr nach Geschlechtern getrennt betreut, und man billigt ihnen Sexualität als Teil ihrer persönlichen Entfaltung zu. Somit stellt sich die Frage der Verhütung, wenn die betroffenen Personen nicht imstande sind, mit reversiblen Verhütungsmitteln umzugehen und im Allgemeinen nicht fähig wären, die Verantwortung für die Erziehung eines Kindes zu übernehmen, so dass ihnen höchstwahrscheinlich das Kind weggenommen werden müsste. Die jüngsten Gesetzgebungen der Kantone Aargau, Neuenburg und Freiburg regeln diese Problematik auf unterschiedliche Weise, was den Bedarf nach einer einheitlichen Regelung zusätzlich bestätigt.

Im Zusammenhang mit Sterilisationen hat die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde entscheidende Aufgaben im Dienst des Persönlichkeitsschutzes der Betroffenen. Das kantonale Recht bestimmt diese Behörde mit Rücksicht auf Artikel 361 ZGB. Wo zwei Aufsichtsinstanzen bestehen, ist eine Wahl zu treffen. In singulären Fällen können die Kantone vorsehen, dass eine bestehende Spezialbehörde die Aufsichtsfunktion innehat. Es versteht sich aber von selbst, dass sie geeignet sein muss; andernfalls würde die Verwirklichung des materiellen Bundesrechts verhindert.

Praktische Bedeutung hat die Möglichkeit einer spezifischen kantonalen Regelung deshalb nur in Bezug auf die Freiburger Kommission für die Aufsicht über die Berufe des Gesundheitswesens und die Wahrung der Patientenrechte. Im Übrigen ist die Zuständigkeit der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden mit der daraus folgenden Vielgestaltigkeit der kantonalen Regelungen nur eine vorübergehende Lösung, wird die gegenwärtige Gesamtrevision des Vormundschaftsrechts doch kaum ohne Einfluss auf die Behördenorganisation des Erwachsenenschutzes bleiben.

Die Kommission hat beschlossen, die Anträge des Bundesrates im Rahmen der Totalrevision des Vormundschaftsrechts nicht abzuwarten, da es sehr wahrschein-

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lich noch einige Jahre dauern dürfte, bis der Bundesrat diese umfassende Vorlage dem Parlament im Rahmen einer Botschaft vorlegt. Das Instrument der parlamentarischen Initiative ermöglicht es, die eng begrenzte Sterilisationsfrage innert nützlicher Frist zu regeln. Die Kommission hat auf eine Koordination mit den bisherigen Arbeiten des Bundesamtes für Justiz geachtet.

1.6

Rechtsvergleich

Schweden erliess 1999 ein Gesetz über die Entschädigung von Personen, die gestützt auf das Gesetz von 1934 über die Sterilisation bestimmter Geisteskranker oder auf das Sterilisationsgesetz von 1941 sterilisiert wurden, sowie über die Entschädigung von Personen, an denen vor 1976 ohne Berufung auf ein Gesetz ein solcher Eingriff vorgenommen wurde.

In Österreich ist eine Sterilisation nicht rechtswidrig, wenn sie von einem Arzt mit der Einwilligung der betroffenen Person vorgenommen wird und wenn diese Person entweder 25-jährig ist oder der Eingriff aus anderen Gründen nicht gegen die guten Sitten verstösst. Bei urteilsunfähigen Personen liegt der Entscheid beim gesetzlichen Vertreter; dieser kann seine Zustimmung nur geben, wenn wegen eines dauerhaften körperlichen Leidens eine ernste Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der behinderten Person besteht (§ 282 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches).

In Deutschland geht die Rechtsprechung davon aus, dass eine freiwillige Sterilisation keine tatbestandsmässige Körperverletzung ist und deshalb nur einer Einwilligung der betroffenen Person bedarf (BGHSt 20, 81ff; OLG Köln JMBl NRW 1986, 273); in der Praxis ist diese Meinung allgemein anerkannt (Schrönke/Schröder-Eser, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, § 223 Rn. 62). Die Sterilisation Minderjähriger ist verboten (§ 1631c des Bürgerlichen Gesetzbuches [BGB]). Bei volljährigen, urteilsunfähigen Personen darf der gesetzliche Vertreter einer Sterilisation unter ähnlichen Voraussetzungen zustimmen, wie sie die Kommission in ihrer Vorlage vorschlägt (§ 1905 BGB). Schliesslich erliess Deutschland 1969 das Kastrationsgesetz, welches freiwillige Kastrationen und andere gegen die Auswirkungen eines abnormen Geschlechtstriebes gerichtete Behandlungsmethoden regelt.

Frankreich verfolgte im 20. Jahrhundert eine Geburtenförderungspolitik. Bis 1994 verboten die allgemeinen Grundsätze der Rechtsprechung die Sterilisation zu Verhütungszwecken. Artikel 16-3 des Zivilgesetzbuches von 1994 bestätigte dieses Verbot, denn nach dieser Bestimmung waren Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität nur zu Heilzwecken zugelassen. Inzwischen hat sich das Verständnis von der Sterilisation zu Verhütungszwecken gewandelt: Seit Juli 2001 kann ein solcher Eingriff an einer volljährigen Person vorgenommen werden, wenn diese
freiwillig und bewusst darin eingewilligt hat. Die betroffene Person muss klar über die Auswirkungen des Eingriffs informiert worden sein. Der Eingriff darf nur in einem Spital und nach ärztlicher Konsultation, einer Bedenkfrist und einer schriftlichen Bestätigung durch die betroffene Person vorgenommen werden (Art. 2123-1 des Code de la santé publique). Die Sterilisation Minderjähriger ist verboten. An einer geistig behinderten, bevormundeten und volljährigen Person kann sie nur vorgenommen werden, wenn laut medizinischer Indikation Verhütungsmethoden absolut unmöglich sind oder wenn diese nicht wirksam angewandt werden können. Dem 6320

Eingriff muss ein Entscheid des Vormundschaftsrichters vorausgehen, welcher zu diesem Zweck die betroffene Person, ihre Angehörigen und einen Sachverständigenausschuss anhört. Ist die besagte Person fähig, ihren Willen zu äussern, so muss ihre Einwilligung eingeholt und berücksichtigt werden. Ihre Ablehnung oder der Widerruf ihrer Einwilligung darf nicht übergangen werden (Art. 2123-2 des Code de la santé publique).

Italien hat weder ein besonderes Gesetz noch eine besondere Bestimmung über die Sterilisation. Artikel 552 des Zivilgesetzbuches, welcher jegliche Handlung verbot, die unmittelbar auf die Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit ausgerichtet ist, wurde 1978 ausser Kraft gesetzt. Nach heutiger Lehre und Rechtsprechung scheint die Sterilisation in Italien grundsätzlich zulässig. Voraussetzung ist, dass die betroffene Person einwilligt, die Zulässigkeitsbedingungen hingegen sind noch vage.

1.7

Ergebnisse der Vernehmlassung

Sämtliche Kantone, 9 politische Parteien, 23 Organisationen sowie das Bundesgericht und das Eidgenössische Versicherungsgericht haben an der Vernehmlassung teilgenommen. Der Vorentwurf mit seinen beiden Hauptzielsetzungen (eidgenössische Regelung der Voraussetzungen, unter denen Sterilisationen künftig bewilligt werden können, und Entschädigung für Opfer der in der Vergangenheit praktizierten Zwangskastrationen und Zwangssterilisationen) wird von der grossen Mehrheit der konsultierten Kreise (22 Kantone, 4 Parteien, 19 Organisationen) grundsätzlich begrüsst. Der Schutz der Menschenwürde, die Notwendigkeit einer Entschädigung für alle Opfer von Straftaten, welche die körperliche, psychische oder sexuelle Unversehrtheit einer Person beeinträchtigen (Art. 124 BV), sowie die Grundsätze von Moral, Ethik und Gerechtigkeit sind die wichtigsten Argumente, die zu Gunsten des Vorentwurfs ins Feld geführt wurden. Über dieses grundsätzliche Einverständnis hinaus haben die Vernehmlasser zahlreiche Detailbemerkungen formuliert. Die Auffassungen bezüglich der Modalitäten, unter denen es künftig möglich sein soll, eine Sterilisation zu bewilligen, sind geteilt: Manche der konsultierten Kreise finden, die vorgeschlagene Regelung für die Sterilisation dauernd urteilsunfähiger Personen trage den Interessen von deren Angehörigen nicht genügend Rechnung.

Gewisse Vernehmlasser sprechen sich dagegen aus, dass den Opfern der in der Vergangenheit praktizierten Zwangskastrationen und Zwangssterilisationen eine Entschädigung ausgerichtet werden soll. Sie berufen sich dabei namentlich auf den Verjährungsgrundsatz und halten es für fragwürdig, Meinungen, Geschehnisse sowie rechtliche und gesellschaftliche Vorstellungen vergangener Zeiten nach heutigen Massstäben zu beurteilen12.

12

Der Bericht über die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens ist auf dem Internet zugänglich (www.ofj.admin.ch, «Rechtsetzung», Rubrik «Mensch & Gesellschaft», Stichwort «Sterilisationen»).

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2

Grundzüge des Entwurfs

2.1

Sterilisation und Kastration: Begriffsdefinitionen

Unter chirurgischer Sterilisation versteht man die Blockierung der Eileiter bei der Frau bzw. der Samenleiter beim Mann mit dem Ziel, die Fortpflanzungsfähigkeit aufzuheben. Da zu diesem Zwecke bekanntlich auch Kastrationen vorgenommen wurden, hat die Kommission beschlossen, für die Opfer beider Eingriffe Entschädigungen vorzusehen. Die chirurgische Kastration ­ die operative Entfernung der Keimdrüsen (Eierstöcke, Hoden) ­ wie auch die hormonale (medikamentöse) Kastration stellen einen radikaleren Eingriff dar und führen zu Persönlichkeitsveränderungen. Die Kastration darf keinesfalls als Methode zur Beseitigung der Fortpflanzungsfähigkeit zugelassen werden.

Die Lehre erachtet die Sterilisation als eine schwere Körperverletzung im Sinne von Artikel 122 des Strafgesetzbuches. Die Einwilligung des Patienten bzw. der Patientin hebt die Rechtswidrigkeit einer Sterilisation auf. Im Rahmen einer Behandlung, deren Ziel nicht eine Heilung ist, die aber ­ wie die Sterilisation ­ eine erhebliche Bedeutung für den Patienten oder die Patientin hat, ist die Zustimmung besonders wichtig.

2.2

Zustimmung der betroffenen Person

Die Meinungen in der Lehre über die Art der Zustimmung gehen jedoch auseinander. Die Zustimmung muss auf einer ernsthaften und freien Willensäusserung beruhen, die sich ihrerseits auf eine hinreichende Aufklärung nicht nur über die Art des Eingriffes, sondern auch über dessen Risiken stützt13. Für eine chirurgische Sterilisation ist die schriftliche Zustimmung der urteilsfähigen Person erforderlich14. Eine unter Zwang, Drohung, Täuschung oder Irreführung erhaltene Zustimmung bleibt ohne Wirkungen15. Im Falle einer Sterilisation oder einer Kastration muss der Eingriff zudem aus wichtigen Gründen gerechtfertigt sein16.

Ist die Person nicht urteilsfähig, ist es umstritten, unter welchen Bedingungen eine Sterilisation als rechtmässig betrachtet werden kann. Nach Rehberg (a. a. O., § 21, S. 176) kann der gesetzliche Vertreter oder die gesetzliche Vertreterin an Stelle der urteilsunfähigen Person die Zustimmung zum Eingriff geben, jedoch nur, wenn der Eingriff im Interesse des Patienten bzw. der Patientin ist. Nach Trechsel (a. a. O., § 27) kann die Einwilligung von der gesetzlichen Vertretung erteilt werden, wenn sie ausschliesslich im Interesse des Patienten oder der Patientin erfolgt und kein rechtlich geschütztes höchstpersönliches Gut wie die Selbstbestimmung in sexuellen Angelegenheiten angetastet wird. Laut Hurtado Pozo (a. a. O., § 403), welcher seine Auffassung allerdings auf die Weisungen der SAMW von 1981 stützt, ist die Sterili13 14 15

16

José Hurtado Pozo, «Droit pénal, Partie spéciale, Infractions contre la vie, l'intégrité corporelle et le patrimoine», Zürich 1997, § 403.

Hurtado Pozo, ebd., § 403.

Jörg Rehberg, «Strafrecht 1», 6., ergänzte und verbesserte Auflage, Zürich 1996, § 21, S. 176; Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 4., neu bearbeitete Auflage, 1994, § 27.

Franz Riklin, «Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, Verbrechenslehre», Zürich 1997, § 14, n° 62.

6322

sation nicht zulässig bei urteilsunfähigen Personen, weil es um ein höchstpersönliches Recht geht, das nicht von einem Vertreter oder einer Vertreterin ausgeübt werden kann. Hegnauer hält dafür, dass die Zustimmung der gesetzlichen Vertretung die Willensäusserung der betroffenen Person ersetzt, wenn diese sich nicht äussern kann, dass die Sterilisation jedoch ausgeschlossen ist, wenn die betroffene Person den Willen ausdrückt, sich dem Eingriff zu widersetzen17.

Die Begriffe der geistigen Behinderung und der Urteilsfähigkeit sind schwer zu definieren. Aus der Sicht der Psychiatrie handelt es sich bei der geistigen Behinderung um die dauernde und meist früh im Leben aufgetretene Minderung der kognitiven Fähigkeiten, besonders der Intelligenz. Unter Intelligenz ist ein ganzes Bündel von Fähigkeiten zu verstehen, zu denen beispielsweise auch die motorische Geschicklichkeit zählt. Auch Behinderte entwickeln sich im Laufe des Lebens je nach Förderung und sozialem Umfeld, doch weisen sie stets ein gewisses Manko gegenüber den Normalintelligenten auf. Der Intelligenzmangel wirkt sich allerdings nicht auf die emotionalen Fähigkeiten aus. Urteilsfähigkeit ihrerseits ist psychiatrisch dann gegeben, wenn eine Person das Wesen, den Zweck, die Art und die Konsequenzen eines Rechtsgeschäftes oder einer Einwilligung kognitiv verstehen kann und sich gefühlsmässig adäquat und ohne überflutet zu werden entscheiden kann.

2.3

Von der Kommission gewählte Kriterien

Im Falle von urteilsfähigen Personen gilt für die Kommission der Grundsatz, dass die betroffene Person ihre freie und aufgeklärte Einwilligung gegeben haben muss.

Dies gilt sowohl für die Regelung von früheren Fällen als auch für die De-legeferenda-Regelung. Ein solches Einverständnis liegt nicht vor, wenn es unter Druckausübung erreicht wurde oder wenn die Willensfreiheit der Betroffenen mit einem Willensmangel behaftet war.

Im Falle von urteilsunfähigen Personen, schlägt die Kommission vor, die Voraussetzungen, unter denen eine Sterilisation zulässig ist, unterschiedlich zu regeln je nachdem, ob es sich dabei um frühere oder um zukünftige ­ d.h. nach Inkrafttreten des Sterilisationsgesetzes vorgenommene ­ Eingriffe handelt. Das in den letzten Jahrzehnten veränderte gesellschaftliche Verständnis der Grund- und Menschenrechte, die veränderte Haltung der Gesellschaft gegenüber geistig Behinderten sowie die heutigen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung rechtfertigen es, dass die heutigen Sterilisationen nach viel strengeren Kriterien beurteilt werden als die in der Vergangenheit vorgenommenen Eingriffe.

Sterilisationen, die in der Vergangenheit ­ im Allgemeinen ohne jegliche Gesetzesgrundlage ­ vorgenommen wurden, gelten als nicht missbräuchlich, wenn der gesetzliche Vertreter der betroffenen Person der Sterilisation zugestimmt hatte und wenn der Eingriff im ausschliesslichen Interesse der betroffenen Person vorgenommen wurde. Nicht im Interesse der betroffenen Person sind insbesondere eugenische Überlegungen oder die Befürchtung, dass sie und ihre Nachkommen der Sozialhilfe zur Last fallen würden. Die für künftige Fälle vorgeschlagene Regelung enthält klare Vorschriften, die es ermöglichen, die Willensäusserungen der betroffenen Personen 17

Cyril Hegnauer, «Sterilisation geistig Behinderter», in: Zeitschrift für Vormundschaftswesen, 2000, S. 25­27.

6323

strikter zu berücksichtigen. So muss insbesondere jeglichen Anzeichen einer Ablehnung (durch Worte, Zeichen oder Gebärden) Rechnung getragen werden. Vorliegend geht es um den «natürlichen (ablehnenden) Willen», im Gegensatz zum rechtsgeschäftlichen Willen, der von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit getragen werden muss. Ausserdem müssen verschiedene Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein und soll die Sterilisation zu Verhütungszwecken als «Ultima Ratio» verstanden werden.

2.4

Die Frage der Altersgrenze

Der Vernehmlassungsentwurf sah ein kategorisches Verbot der Sterilisation von Personen unter 18 Jahren vor (Art. 3). Zulässig ­ ausser bei vorübergehend Urteilsunfähigen (Art. 4) ­ war der Eingriff indes bei über 18-jährigen Personen, wobei die Voraussetzungen und das Verfahren nach Massgabe der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen verschärft wurden (Art. 5: Handlungsfähige; Art. 6: Entmündigte; Art. 7­9: dauernd Urteilsunfähige).

Unter Berücksichtigung der bei der Vernehmlassung angebrachten Einwände schlägt die Mehrheit der Kommission vor, die Altersgrenze auf 16 Jahre zu senken, zum Ausgleich aber die Sterilisationsvoraussetzungen zu verschärfen, und zwar durch die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters und eine obligatorische ärztliche Zweitmeinung bei urteilsfähigen Personen zwischen 16 und 18 Jahren und durch die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters wie der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde bei Entmündigten. Eine Minderheit der Kommission schlägt vor, entsprechend dem Vorentwurf an der Altersgrenze von 18 Jahren festzuhalten.

Die Mehrheit begründet die Herabsetzung der Altersgrenze von 18 auf 16 Jahre im Wesentlichen wie folgt: ­

Sexuelle Aktivitäten beginnen bei vielen Menschen schon vor 18 Jahren. Es gilt, der Realität ein Stück weit entgegenzukommen.

­

Die Urteilsfähigkeit in Bezug auf die Frage der Sterilisation ist in der Regel bereits mit 16 und nicht erst mit 18 Jahren gegeben.

­

Auch das Strafgesetzbuch sieht eine Schutzgrenze von 16 Jahren vor.

­

Das Zustimmungserfordernis bei urteilsfähigen Personen zwischen 16 und 18 Jahren bedeutet eine Verschärfung des Rechtsschutzes, ist doch davon auszugehen, dass die gesetzlichen Vertreter, d.h. die Eltern, die Sterilisation ablehnen werden.

­

Die Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen für Urteilsfähige und Urteilsunfähige ist unzulässig, haben doch alle Menschen den gleichen Anspruch auf Schutz.

­

Namentlich bei urteilsunfähigen Heimbewohnern und Heimbewohnerinnen sind sexuelle Aktivitäten schon vor 18 Jahren möglich. Nachdem der Schwangerschaftsabbruch schon mit 16 Jahren zulässig ist, wäre das Verbot einer Sterilisation ein Ausdruck von Doppelmoral.

6324

­

Eine Altersgrenze von 18 Jahren für Sterilisationen stünde in einem gewissen Widerspruch zu anderen medizinischen Eingriffen mit schweren Folgen, die ebenfalls irreversibel sind, z.B. Geschlechtsumwandlung, Organspende oder Schönheitsoperationen.

Die Minderheit führt im Wesentlichen aus: ­

Die verständliche Sorge von Eltern mit geistig behinderten Kindern, die sich insbesondere vor einer Schwangerschaft ihrer Tochter fürchten, darf nicht zu einer allgemeinen Herabsetzung der Altersgrenze für Sterilisationen führen.

­

Die Herabsetzung der Altersgrenze auf 16 Jahre ist bedenklich, weil Jugendliche in diesem Alter sehr von ihnen nahe stehenden Personen abhängig und somit Beeinflussungen ausgesetzt sind.

­

In Fällen, in denen die Eltern eine Sterilisation der minderjährigen betroffenen Person befürworten, ist das Zustimmungserfordernis des gesetzlichen Vertreters kein erhöhter Schutz, sondern ein zusätzliches Risiko.

­

Sexuelle Aktivitäten beginnen zum Teil vor 16 Jahren, so dass diese Altersgrenze in Bezug auf die Sterilisation willkürlich ist.

2.5

Besondere Aspekte der Regelung über die Opferentschädigung

2.5.1

Konsequenzen kantonaler Gesetzgebungen

Das Gesetz des Kantons Waadt, das von 1928 bis 1985 in Kraft war, erlaubte Sterilisationen unter Bedingungen, die heute kaum noch akzeptiert werden (eugenische Gründe). Laut Artikel 32 des Strafgesetzbuches liegt aber keine Straftat vor, wenn eine Handlung in einem Gesetz vorgeschrieben ist oder soweit ein Gesetz eine Handlung als erlaubt oder als straflos erklärt. In solchen Fällen ist es nach streng wörtlicher Auslegung nicht möglich, die betroffenen Personen unter Berufung auf Artikel 124 BV zu entschädigen. Andererseits muss eine kohärente Lösung gesucht werden, die allen Opfern die gleiche Behandlung gewährleistet, unabhängig davon, ob der kantonale Gesetzgeber die Frage gesetzlich geregelt hat oder nicht. Wenn man aber Artikel 124 BV im Zusammenhang mit Artikel 8 BV auslegt, so kann man nach Auffassung der Kommission zulassen, dass Artikel 124 auch als verfassungsmässige Grundlage für die Entschädigung von Personen dient, deren Sterilisation insofern nicht widerrechtlich war, als das kantonale Recht sie zuliess, jedoch unter Bedingungen, die nach heutiger Rechtsauffassung nicht mehr zulässig wären (z.B. eindeutig eugenische Gründe) und es deshalb unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung unhaltbar wäre, nicht alle einer Sterilisation unterworfenen Personen den Opfern von Straftaten gleichzustellen.

Die Frage könnte sich allenfalls auch im Zusammenhang mit kantonalen Gesetzgebungen jüngeren Datums, welche die Sterilisation geistig Behinderter unter gewissen Bedingungen zulassen (Aargau, Freiburg, Neuenburg), stellen, dies insbesondere angesichts der veränderten Auffassung von den Menschen- und Grundrechten.

6325

2.5.2

Voraussetzungen für eine Hilfeleistung und eine Entschädigung nach Artikel 124 BV

Die in Artikel 124 BV vorgesehene Hilfe beschränkt sich nicht nur auf finanzielle Leistungen. Die Bestimmung bezweckt auch die Schaffung von Empfangs- und Beratungsstellen für Opfer und will die Stellung des Opfers im polizeilichen Untersuchungsverfahren und im Strafprozess verbessern. Unter «angemessener» Entschädigung versteht man Leistungen, die den Bedürfnissen des Opfers angemessen sind, die jedoch nicht unbedingt den erlittenen Schaden vollständig decken. Die finanzielle Hilfe hat subsidiären Charakter und soll nur Personen zukommen, die nicht selbst in der Lage sind, die wirtschaftlichen Folgen der Straftat zu tragen. Der Staat soll nur eingreifen, wenn das Opfer nicht auf andere Weise entschädigt wird (Botschaft vom 20.11.1996 über eine neue Bundesverfassung; BBl 1997 I 341). Die Massnahmen sollen in jedem Einzelfall nach den tatsächlichen Bedürfnissen des Opfers bestimmt werden; die Hilfe soll auf diejenigen Personen beschränkt bleiben, die sie wirklich benötigen, also diejenigen Personen, die die wirtschaftlichen Folgen einer Straftat nicht selbst tragen können (Botschaft vom 6.7.83 zur Volksinitiative «zur Entschädigung der Opfer von Gewaltverbrechen»; BBl 1983 III 895f.).

Stützt man sich auf den Wortlaut und die Materialien zur Entstehung von Artikel 124 BV, so soll sich die materielle Hilfe nach den Bedürfnissen der Opfer richten und könnte nicht in Form einer pauschalen Abfindung an alle Opfer geleistet werden, ohne dass auf ihre persönlichen Verhältnisse und namentlich auf ihre wirtschaftliche Lage Rücksicht genommen wird.

Die Kommission vertritt die Meinung, dass finanzielle Leistungen auch unter dem im ersten Teil des Verfassungsartikels erwähnten Stichwort «Hilfe» erbracht werden können. Diese Hilfe ist nämlich, anders als die Entschädigung im zweiten Teil des Artikels, nicht abhängig von den finanziellen Mitteln des Opfers, auch wenn hier ebenfalls stillschweigend von der Subsidiarität der staatlichen Hilfe ausgegangen wird. In der Tat gelangte der Bundesrat in seiner Botschaft vom 25. April 1990 zu einem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten zum Schluss, dass der Gesetzgeber eine Geldleistung als Genugtuung vorsehen kann, welche als Hilfe im Sinne von Artikel 124 (alter Art. 64ter) BV verstanden werden kann. Nach Ansicht des Bundesrates bezweckt diese Leistung
nicht die Deckung des materiellen Schadens und fällt nicht unter den Begriff der Entschädigung, die nach dem Verfassungsartikel nur Personen zukommen darf, die als Opfer einer Straftat durch diese in materielle Not geraten sind. Die Genugtuung kann somit unabhängig von der materiellen Situation des Empfängers bzw. der Empfängerin ausgerichtet werden (BBl 1990 II 968).

Diese Auslegung hat sich in Artikel 12 Absatz 2 OHG niedergeschlagen. Danach kann ein Opfer unabhängig von seinem Einkommen eine Genugtuung erhalten, wenn es schwer betroffen ist und besondere Umstände es rechtfertigen (siehe auch BBl 1990 II 990). Es ist jedoch zu erwähnen, dass die Verfassungsmässigkeit dieser Bestimmung vereinzelt in Zweifel gezogen worden ist (vgl. Zweiter Bericht des Bundesamts für Justiz an den Bundesrat über den Vollzug und die Wirksamkeit der Opferhilfe [1993­1996], S. 48).

6326

2.5.3

Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen

Artikel 124 BV überträgt dem Bund eine umfassende Gesetzgebungskompetenz.

Nach dieser Verfassungsbestimmung ist die Opferhilfe eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen. Der Vollzug des Opferhilfegesetzes obliegt heute im Wesentlichen den Kantonen.

Die Kommission beantragt eine Regelung, wonach die Entschädigungskriterien vom Bund zu definieren und die Gesuche von den Kantonen zu behandeln sind. Eine Übernahme der gesamten Entschädigungskosten durch die Kantone liesse sich insofern rechtfertigen, als die missbräuchlichen Sterilisationen in die Zuständigkeit der Fürsorge- und der Gesundheitspolitik und somit zweier Bereiche, die hauptsächlich den Kantonen oblagen, fielen. Die Kommission ist indes der Auffassung, dass der Bund hier eine gewisse moralische Verantwortung trägt, denn er hätte eine Regelung erlassen sollen, um die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen besser zu schützen. Es ist deshalb gerechtfertigt, dass er sich zur Hälfte an den tatsächlichen Ausgaben der Kantone für die Entschädigung der Opfer beteiligt.

2.5.4

Abgrenzung zum Opferhilfegesetz

Das OHG sieht ebenfalls vor, dass die Opfer von Straftaten vom Staat eine Entschädigung und eine Genugtuung erhalten können (Art. 12 OHG). Allerdings ist eine besondere Gesetzgebung für die Opfer missbräuchlicher Sterilisationen und Kastrationen notwendig. Dies darum, weil die OHG-Bestimmungen über die Entschädigung und Genugtuung nur für Straftaten gelten, die nach Inkrafttreten des OHG begangen wurden (Art. 12 Abs. 3 der Opferhilfeverordnung, OHV; SR 312.51).

Zudem verwirken die Ansprüche des Opfers, wenn das Gesuch um Entschädigung und Genugtuung nicht innert zwei Jahren nach der Straftat eingereicht worden ist (Art. 16 Abs. 3 OHG).

Der Sinn der Vorlage besteht darin, alle noch lebenden Personen zu entschädigen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes Opfer einer widerrechtlichen Sterilisation oder Kastration geworden sind. Artikel 124 BV schliesst nicht aus, dass auch Opfern bereits verjährter Straftaten Hilfe gewährt wird. Dies bestätigt Artikel 12 Absatz 1 der Opferhilfeverordnung vom 18. November 1992 (OHV; SR 312.51) der vorsieht, dass alle Opfer von Straftaten unabhängig davon, wann diese begangen wurden, die Hilfe der Opferberatungsstellen beanspruchen können.

Man kann annehmen, dass die Mehrzahl der Zwangssterilisationen keinen Anspruch auf eine Entschädigung oder Genugtuung nach dem Opferhilfegesetz mehr bewirken, weil sie vor 1993 vorgenommen wurden. Man kann allerdings nicht ohne weiteres ausschliessen, dass auch seit 1993 noch ungerechtfertigte Sterilisationen vorgenommen worden sind. In diesem Fall könnte das Opfer nach dem Opferhilfegesetz eine Entschädigung oder Genugtuung geltend machen. Deshalb soll der Anwendungsbereich des neuen Gesetzes, das die Entschädigung von Opfern von Zwangssterilisationen regelt, gegenüber demjenigen des Opferhilfegesetzes abgegrenzt werden. Dem wird in Artikel 6 Absatz 2 des Gesetzesentwurfs über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen Rechnung getragen.

6327

Anlass für Entschädigungen nach dem Gesetzesentwurf bilden einzig Geschehnisse in der Vergangenheit. Eingriffe, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzesentwurfs in Verletzung des Bundesrechts vorgenommen werden, sind als Straftat (Körperverletzung) zu qualifizieren und durch das OHG gedeckt, weshalb eine Sonderregelung für diese Art von Straftaten nicht mehr gerechtfertigt ist.

2.6

Kommentar zu den Gesetzesentwürfen

2.6.1

Entwurf zum Sterilisationsgesetz

2.6.1.1

1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen

Art. 1

Gegenstand

Der Entwurf regelt die Voraussetzungen einer Sterilisation sowie das anwendbare Verfahren. Dabei geht es um Sterilisationen «zu Verhütungszwecken» und nicht um Heileingriffe, deren unvermeidliche Begleiterscheinung die Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit ist (Art. 2 Abs. 2).

Art. 2

Begriff

Die Sterilisation ist nach Absatz 1 ein medizinischer Eingriff, mit dem die Fortpflanzungsfähigkeit einer Person auf Dauer und grundsätzlich endgültig aufgehoben wird. Es handelt sich um einen medizinischen (chirurgischen) Eingriff, bei dem die Ei- bzw. Samenleiter unterbrochen oder funktionsunfähig gemacht werden.

Im Gegensatz zur Kastration werden bei der Sterilisation die Keimdrüsen (Eierstöcke bzw. Hoden) nicht entfernt. In Bezug auf die «Kastration zu Verhütungszwecken» liegt somit ein qualifiziertes Schweigen vor. Ein solcher Eingriff und medikamentöse Verfahren mit entsprechender Zielsetzung, die infolge der Einwirkung auf die Libido zu tiefgreifenden Persönlichkeitsveränderungen führen, sind jedenfalls im vorliegenden Kontext ausgeschlossen, ausser bei streng medizinischer Indikation, d.h. in Fällen, in denen die Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit als Nebenfolge eines Heileingriffs in Kauf genommen wird. Entsprechendes gilt in Bezug auf die Hysterektomie, d.h. die Entfernung der Gebärmutter, die sich nicht in den Dienst der sexuellen Entfaltung stellen lässt.

Absatz 2 betrifft Fälle, in denen die Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit als Nebenfolge, d.h. als unvermeidliche Begleiterscheinung eines Heileingriffs in Kauf genommen wird, etwa bei Gebärmutterkrebs. Solche Eingriffe fallen nicht in den Anwendungsbereich des Entwurfs, unter Vorbehalt der Meldepflicht nach Artikel 10 Absatz 1.

6328

2.6.1.2 Art. 3 und 4

2. Abschnitt: Voraussetzungen und Verfahren Verbotene Sterilisationen

Die Artikel 3 und 4 halten fest, dass zum einen die Sterilisation einer Person unter 16 Jahren, zum andern die Sterilisation einer über 16-jährigen, vorübergehend urteilsunfähigen Person verboten ist. Diese Verbote gelten ohne Ausnahme.

Das Verbot der Sterilisation einer Person unter 16 Jahren bedeutet eine Begrenzung der elterlichen Sorge oder der Kompetenz des Vormunds, falls sich die betroffene Person nicht unter elterlicher Sorge befindet. Ein solcher Eingriff soll bei (behinderten) Kindern nicht «vorsorglich» durchgeführt werden, weil sich bis zum 16. Altersjahr die Erforderlichkeit und die Auswirkungen der Sterilisation besonders schwer beurteilen lassen. Zur Wahrung des generellen Verbots kann die Sterilisation auch nicht aufgrund einer eigenen Einwilligung der betroffenen Person durchgeführt werden.

Auch bei voraussichtlich nur vorübergehend urteilsunfähigen Personen über 16 Jahren ist die Sterilisation nicht zu rechtfertigen. Es gilt zu verhindern, dass bei solchen Betroffenen während dieses zeitweiligen Zustands der in der Regel irreversible Eingriff vorgenommen wird. Erforderlich ist im vorliegenden Zusammenhang eine Prognose, welche die Wiedererlangung der Einwilligungsfähigkeit zwar nicht völlig ausschliessen muss, die jedoch davon ausgeht, dass nach ärztlicher Voraussicht die Urteilsunfähigkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestehen bleibt.

Eine Minderheit der Kommission möchte entsprechend dem Vernehmlassungsentwurf an der Altersgrenze von 18 Jahren festhalten (vgl. Ziff. 2.4).

Art. 5

Sterilisation Urteilsfähiger

Absatz 1 folgt dem allgemeinen arztrechtlichen Prinzip, wonach ein medizinischer Eingriff der freien und aufgeklärten Einwilligung der urteilsfähigen betroffenen Person bedarf: Die Sterilisation einer über 16-jährigen urteilsfähigen Person darf nur vorgenommen werden, wenn diese über den Eingriff umfassend informiert worden ist und diesem frei zugestimmt hat. Das zusätzliche Erfordernis einer schriftlichen Einwilligung folgt aus der Schwere des Eingriffs, der die Fortpflanzungsfähigkeit grundsätzlich endgültig beseitigt. Die Form stellt sicher, dass die betroffene Person umfassend aufgeklärt wurde und in Kenntnis aller Umstände entscheidet.

Absatz 2 sucht einen Ausgleich, gilt es doch zu verhindern, dass der Arzt oder die Ärztin die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person unsorgfältig prüft. Einerseits birgt ein Verzicht auf die Umschreibung von Voraussetzungen die Gefahr in sich, dass die Urteilsfähigkeit zwecks Umgehung des Zustimmungsverfahrens leichtfertig angenommen wird. Andererseits wäre im Fall einer strengen Regelung in jedem Fall ein psychiatrisches Gutachten über die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person einzuholen. Der Arzt oder die Ärztin, der oder die den Eingriff durchführt, muss deswegen nach der vorgeschlagenen Regelung in der Krankengeschichte festhalten, auf Grund welcher Feststellung er auf die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person in Bezug auf die Sterilisation geschlossen hat. Damit wird zum einen die ärztliche Verantwortung bei der Abklärung der Urteilsfähigkeit geschärft, zum andern die Aufzeichnung der Beurteilungselemente im Hinblick auf eine allfällige künftige 6329

Bestreitung gefördert. Um die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person abzuklären, kann sich der operierende Arzt oder die operierende Ärztin auch auf Feststellungen vorbehandelnder Arztpersonen abstützen. Oft wird es sich beispielsweise um den Hausarzt handeln, der die Krankengeschichte über viele Jahre miterlebt hat.

Die Sterilisation urteilsfähiger Personen zwischen 16 und 18 Jahren ist unter folgenden Voraussetzungen zulässig: Die schriftlich erteilte, freie und aufgeklärte Einwilligung der betroffenen Person nach Absatz 1 erster Satz versteht sich von selbst. Als zusätzliche, besondere Schutzmassnahmen für diese Personenkategorie sind zum einen die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters ­ der Eltern oder des Vormunds ­ erforderlich (Abs. 1 zweiter Satz); zum andern muss die Person, die den Eingriff durchführt, eine ärztliche Zweitmeinung über die Urteilsfähigkeit der minderjährigen Person einholen (Abs. 2 zweiter Satz).

Auch hier möchte die Minderheit der Kommission an der Altersgrenze von 18 Jahren festhalten (vgl. Ziff. 2.4) Art. 6

Sterilisation Entmündigter

Die vorliegende Bestimmung regelt die Voraussetzungen der Sterilisation über 18-jähriger, urteilsfähiger und entmündigter Personen. 16- und 17-Jährige stehen zwar unter Vormundschaft wegen Unmündigkeit, sofern sie sich nicht unter elterlicher Sorge befinden (Art. 368 Abs. 1 ZGB); die Anordnung einer Vormundschaft über eine unmündige Person ist jedoch keine Entmündigung im Sinne eines generellen Entzugs der Handlungsfähigkeit durch behördlichen Akt. Die Bevormundung wird, wenn sie wegen Unmündigkeit (und Fehlens elterlicher Sorge) eintritt, ohne vorausgehende Entmündigung angeordnet. Urteilsfähige 16- und 17-Jährige unter Vormundschaft werden somit nach Artikel 5 geschützt.

Absatz 1 fordert die schriftlich erteilte, freie und aufgeklärte Einwilligung ­ eine Voraussetzung, die bereits Artikel 5 Absatz 1 erster Satz für die Sterilisation Urteilsfähiger festhält. Dementsprechend findet die Regelung nach Absatz 2 Buchstabe a, wonach die Feststellungen in Bezug auf die Urteilsfähigkeit in der Krankengeschichte festzuhalten sind, ihre Parallele in Artikel 5 Absatz 2 erster Satz.

Volljährige Personen, die ­ wiewohl urteilsfähig ­ unter Vormundschaft stehen, bedürfen eines besonderen Schutzes, weil sie wegen eines Schwächezustands im persönlichen Bereich ihre Interessen oft nicht selbst wahren können. Folglich hat der Arzt oder die Ärztin vor der Sterilisation zum einen die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters (Abs. 1 zweiter Satz), zum andern die Zustimmung der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde einzuholen (Abs. 2 Bst. b). Diese beiden Zustimmungen sollen die entmündigte Person zusätzlich schützen.

In Bezug auf die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person verlangt Absatz 3 stets ­ nicht nur bei Zweifeln ­ eine ärztliche Äusserung, die von einer anderen als der in Absatz 2 genannten operierenden Person stammt. Demnach muss die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde eine ärztliche Zweitmeinung einholen (Abs. 3 erster Satz). Erscheint ihr dies nicht genügend, so darf sie ein psychiatrisches Gutachten anordnen (Abs. 3 zweiter Satz). Für die betroffene Person ist eine psychiatrische Begutachtung belastend; die Massnahme ist somit nur gerechtfertigt, wenn trotz ergänzenden Abklärungen erhebliche Zweifel an der Urteilsfähigkeit fortbestehen.

In den meisten Fällen wird die Meinung eines anderen Arztes oder einer anderen Ärztin ausreichen, um Bedenken der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde zu 6330

entkräften. Jedenfalls darf ein psychiatrisches Gutachten keinesfalls systematisch angeordnet werden, nur weil die betroffene Person unter Vormundschaft steht. Ist eine solche Person nach Feststellung der Behörde aber urteilsunfähig, so leitet diese das Verfahren nach Artikel 7 betreffend die Sterilisation dauernd Urteilsunfähiger ein.

Art. 7

Sterilisation dauernd Urteilsunfähiger

Diese Bestimmung regelt die Sterilisation über 16-jähriger dauernd Urteilsunfähiger (bzw. über 18-Jähriger gemäss Kommissionsminderheit; vgl. Ziff 2.4). Der Eingriff ist grundsätzlich verboten (Abs. 1), weil diese Personen die entsprechende Entscheidung gar nicht selber treffen können. Ausnahmsweise ist die Sterilisation indes zulässig, wenn gewisse rechtliche Voraussetzungen erfüllt sind (Abs. 2 Einleitungssatz). Erst die Summe aller Voraussetzungen erlaubt den Eingriff.

Vorerst ist die Sterilisation bloss im ausschliesslichen Interesse der betroffenen Person zulässig (Abs. 2 Bst. a). Nur ihre Interessen und ihr Wohl fallen ins Gewicht; die Belange Dritter sind unerheblich. Zudem ist der Eingriff unzulässig, wenn die betroffene Person Ablehnung gegen den Eingriff geäussert hat (Abs. 2 Bst. a). Damit ist die so genannte «Zwangssterilisation» ohne Wenn und Aber verboten. Es genügt jede Art der Ablehnung (Widerspruch mit Worten oder durch Zeichen, körperliche Gegenwehr). Vorliegend geht es um den «natürlichen (ablehnenden) Willen», im Gegensatz zum so genannten rechtsgeschäftlichen Willen, der von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit getragen sein muss. Wem in Bezug auf die Sterilisation die rechtserhebliche Fähigkeit zur Bildung eines eigenen vernunftgemässen Willens mangelt, dessen ablehnender natürlicher Wille ist allemal zu berücksichtigen und zu respektieren. Äussert die betroffene urteilsunfähige Person Ablehnung gegen den medizinischen Eingriff, aus welchen Gründen auch immer, so ist dieser Wille verbindlich. Für die Beachtlichkeit der geäusserten Ablehnung kommt es somit nicht darauf an, aus welchen Motiven die betroffene Person widerspricht; auch eine unbestimmte Angst, die zur Ablehnung des ärztlichen Eingriffs führt, ist ein rechtswirksamer Widerspruch. Der Arzt oder die Ärztin kann die betroffene Person in einem klärenden Gespräch jedoch dabei unterstützen, Befürchtungen in Bezug auf den vorzunehmenden Eingriff als solchen zu überwinden. Dabei geht es nicht darum, den natürlichen entgegenstehenden Willen zu umgehen oder gegen ihren Willen tätig zu werden, sondern um eine blosse Erleichterung der Operation. Das Erfordernis der mangelnden Ablehnung setzt voraus, dass die betroffene Person zur Sterilisation im Rahmen des Möglichen Stellung nehmen kann. Erforderlich ist deshalb eine sorgsame
Aufklärung entsprechend ihrem Verständnishorizont. Die Voraussetzungen der Sterilisation müssen im Zeitpunkt des Eingriffs rechtswirksam vorliegen.

Selbst wenn die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde nach Artikel 8 zugestimmt hat, darf der Eingriff somit nicht manu militari oder sonst gegen den Willen der betroffenen Person durchgeführt werden, wenn sie ablehnt, und sei dies nur kurz vor der Operation. Die Rechtmässigkeit der Sterilisation ist auch ausgeschlossen, wenn die betroffene Person zunächst zustimmt, aber später, u.U. erst unmittelbar vor dem Eingriff, einen Sinneswandel vollzieht. Die Selbstbestimmung ist bis zum letztmöglichen Zeitpunkt zu achten. Nach dem Gesagten obliegt es der betroffenen Person, sich gegen die Sterilisation zu wehren. Wird keine Ablehnung ­ verbal oder nichtverbal ­ geäussert, so kann die Behörde dem Eingriff zustimmen.

6331

Buchstabe b regelt den Vorrang anderer Verhütungsmittel; die Sterilisation ist subsidiär. Der Eingriff setzt voraus, dass die Zeugung und die Geburt eines Kindes nicht durch geeignete Verhütungsmethoden verhindert werden können. Nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip ist immer zuerst die Methode anzuwenden, die den kleinsten Eingriff darstellt. In erster Linie sollen reversible Verhütungsmethoden eingesetzt werden; irreversible Mittel wie eine Sterilisation kommen erst als letzte Möglichkeit in Betracht. Keine zumutbaren Mittel der Vermeidung von Schwangerschaften sind Unterbringungsmassnahmen mit dem Ziel, Sexualkontakte zu unterbinden. Vorliegend geht es im Wesentlichen um die Verhinderung einer Schwangerschaft, womit eine Abtreibung niemals als vorrangige Alternative anzusehen ist. Als solche (gemeint ist die Alternative) fällt in erster Linie die freiwillige Sterilisation des urteilsfähigen Partners oder der urteilsfähigen Partnerin in Betracht. Denkbar sind zudem nicht nur die üblichen chemischen und mechanischen Empfängnisverhütungsmittel, sondern auch sexualpädagogische Massnahmen zur Erziehung der betroffenen Urteilsunfähigen. Es gibt verschiedene wirkungsvolle reversible Verhütungsmethoden, deren Vor- und Nachteile im Einzelfall zu ermitteln sind; abklärungsbedürftig erscheinen insbesondere ihre indirekten körperlichen und seelischen Auswirkungen sowie die Wahrscheinlichkeit ihrer tatsächlichen Anwendung. Im Übrigen sind manchmal auch sexualpädagogische Massnahmen geeignet, eine Schwangerschaft zu verhindern.

Die Voraussetzung nach Buchstabe c ist nicht erfüllt, wenn nur abstrakt mit der Zeugung und der Geburt eines Kindes zu rechnen ist; es wäre nicht gerechtfertigt, etwa eine sexuell inaktive Frau vorsorglich, z.B. für den Fall einer Vergewaltigung, zu sterilisieren. Unzureichend wäre auch die allgemeine Erwartung, dass eines Tages Partnerschaften eingegangen und sexuelle Kontakte stattfinden werden. Vielmehr muss die Zeugung und die Geburt eines Kindes tatsächlich eine wahrscheinliche Möglichkeit darstellen; erforderlich ist eine konkrete und ernstliche Annahme, dass ohne Sterilisation eine solche Entwicklung zu erwarten wäre. Dies ist anzunehmen, wenn die betreffende Person einen Sexualpartner hat oder sexuelle Kontakte mit mehreren Partnern pflegt und die Zeugung und die Geburt eines
Kindes nicht aus anderen Gründen unwahrscheinlich sind. Ob das in Frage stehende sexuelle Verhalten schwangerschaftsrelevant ist, setzt stets eine Einzelfallprüfung voraus. Der Begriff «Zeugung» bedeutet, dass die Sterilisationsregelung auch auf urteilsunfähige Männer zutreffen kann. Nach der Voraussetzung, es sei mit der Zeugung zu rechnen, genügt nämlich auch die Annahme, dass die Partnerin des zu sterilisierenden Mannes schwanger wird. Liegen z.B. bei einer Partnerschaft eines behinderten Mannes mit einer (behinderten) Frau die Voraussetzungen einer Sterilisation vor, so wäre es kaum einzusehen, dass nur die Frau zur Verhinderung einer eigenen Schwangerschaft, nicht aber der Mann zur Verhinderung einer Schwangerschaft seiner Partnerin sterilisiert werden soll.

Voraussetzung ist zudem, dass die körperliche oder seelische Gesundheit der betroffenen Person ernsthaft gefährdet wäre, und zwar durch eine der drei Ursachen, die Buchstabe d erwähnt: Eine Schwangerschaft, die Elternschaft oder die unvermeidliche Trennung vom Kind. Die Schwangerschaft kann in gewissen Fällen eine negative Wirkung auf die körperliche oder seelische Gesundheit der Mutter haben, weil sie z.B. eine schwere Depression bei der überforderten Frau auslöst. Die Indikation der Elternschaft beruht auf dem Umstand, dass gewisse Personen der Aussicht, Elternstellung übernehmen zu müssen, nicht gewachsen sind. Die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person bezieht sich allemal auf die Frage der Sterilisation 6332

und nicht auf die Fähigkeit, ein Kind zu erziehen. Somit ist für die Zulässigkeit der Sterilisation die Elternschaftsunfähigkeit nicht ausreichend; verlangt wird ausserdem, dass dieses Unvermögen die körperliche oder seelische Gesundheit der betroffenen Person ernsthaft gefährdet. Schliesslich gibt es Fälle, in denen ohne Zweifel eine Trennung vom Kind anzuordnen wäre, weil der Elternteil nicht für dieses sorgen kann. Falls die unvermeidliche Massnahme die körperliche oder seelische Gesundheit der betroffenen Elternperson ernsthaft gefährden würde, kann eine Sterilisation rechtens sein. Folglich ist ein Eingriff zwecks Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit unzulässig, wenn die unvermeidliche Trennung vom Kind die körperliche oder seelische Gesundheit des betroffenen Elternteils ­ etwa wegen pathologischer Indifferenz ­ nicht (ernsthaft) gefährdet. Aus medizinischer Sicht ist die Entscheidung schwierig, ob eine Schwangerschaft, die Elternschaft oder die unvermeidliche Trennung vom Kind die körperliche oder seelische Gesundheit der betroffenen Person ernsthaft gefährden wird. Wesentlich ist indes, dass der blosse Umstand, dass die betroffene Person sich um das Kind nicht kümmern kann und somit von ihm getrennt werden muss, die Sterilisation nicht zu rechtfertigen vermag.

Die sorgerechtliche Indikation der unvermeidlichen Trennung vom Kind betrifft somit im Wesentlichen Fälle, in denen im Sinne einer Kindesschutzmassnahme eine Aufhebung der elterlichen Obhut anzuordnen sein wird (Art. 310 Abs. 1 ZGB) oder in denen von vornherein die elterliche Sorge nicht gegeben ist.

Schliesslich ist die Sterilisation nach Buchstabe e nur zulässig, wenn die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde im Voraus zugestimmt hat. Die Zuständigkeit muss bei einer neutralen, auf dem Gebiet des Erwachsenenschutzes spezialisierten Instanz liegen, die mit den Problemen im Zusammenhang mit dauernder Urteilsunfähigkeit vertraut ist. Die Sterilisationsfrage soll der Prüfung durch eine Stelle unterliegen, die nicht direkt mit der Betreuung der urteilsunfähigen Person befasst ist.

Art. 8

Zustimmung der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde zur Sterilisation dauernd Urteilsunfähiger

Absatz 1 nennt die Personen, welche die Zustimmung der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde beantragen können. Berechtigt ist vorerst die betroffene Person selbst, die ­ wiewohl urteilsunfähig ­ einen Sterilisationswillen äussern und somit um die Zustimmung der Behörde ersuchen kann. Legitimiert sind auch der Vormund oder die Vormundschaftsbehörde sowie nahestehende Personen.

Nahestehende Person kann der Ehegatte oder die Ehegattin, der Partner oder die Partnerin, eine verwandte Person oder ein Freund oder eine Freundin sein. Nach dem Bundesgericht (BGE 101 II 177) sind dabei nicht starre Regeln anwendbar; massgeblich ist vielmehr die Stärke der Verbundenheit, d.h. die Nähe der tatsächlichen Beziehung. Jedenfalls sind weder der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin noch die Institution, die sich gegebenenfalls um die urteilsunfähige Person kümmert, antragsberechtigt. Selbstverständlich kann jedermann der Behörde mitteilen, eine Person sei wegen einer Gefährdung ihrer Interessen schutzbedürftig. Diesfalls hat die Behörde von Amtes wegen zu prüfen, ob sie tätig werden muss.

Absatz 2 nennt die dem Entscheid der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde vorausgehenden Instruktionshandlungen.

6333

Gestützt auf Buchstabe a hört die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde sowohl die betroffene Person als auch die dieser nahe stehenden Personen getrennt als Gesamtbehörde an. Wegen der Bedeutung des Eingriffs ist dies unerlässlich. Alle Mitglieder der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde haben sich einen unmittelbaren Eindruck von der betroffenen Person zu verschaffen. Die Anhörung hat aber angemessen zu erfolgen, d.h. mit Rücksicht auf die Fähigkeiten und die Persönlichkeit der betroffenen Person; es ist möglichst schonend vorzugehen, kann der Vorgang für sie psychologisch doch sehr belastend sein. Im Gegensatz zum Vorentwurf kann die Anhörung der Nahestehenden nicht an einzelne Mitglieder der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde delegiert werden. Damit soll der Meinung der Nahestehenden ein besonderes Gewicht gegeben werden. Die genannten Personen, etwa der Vormund, das Pflegepersonal oder die Eltern, werden aber auch im Rahmen des Sozialberichts (Bst. b) angehört. Die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde wird im Lichte dieses Berichts und weiterer Informationen den Kreis der Nahestehenden umschreiben und die anzuhörenden Personen bestimmen. Es ist wichtig, den Nahestehenden der betroffenen Person eine Gelegenheit zur unmittelbaren Meinungsäusserung einzuräumen und sie in die Entscheidungsfindung einzubinden, werden sie doch in gewisser Hinsicht die Folgen mittragen. Die Behörde ist aber nicht verpflichtet, alle denkbaren «nahestehenden Personen» anzuhören, sondern diejenigen, die zur betroffenen Person eine tatsächliche Verbindung haben. Die betroffene Person und die nahestehenden Personen sollen nicht gemeinsam angehört werden. Dies könnte Druck erzeugen, womit die Freiheit der Meinungsäusserung nicht gewährleistet wäre. Die Anhörung in corpore hat deshalb getrennt zu erfolgen.

Buchstabe b verlangt einen Bericht über die sozialen und die persönlichen Verhältnisse der betroffenen Person. Dieses Gutachten dient etwa dazu, das Vorhandensein sexueller Beziehungen und den Stand der Aufklärung darzulegen oder zu erkunden, mit welchen Verhütungsmethoden bereits Erfahrungen gemacht wurden. Einzubeziehen ist zudem das soziale Umfeld; dazu gehört auch die Erziehungsfähigkeit ­ nicht nur der betroffenen Person, sondern auch ihres Partners oder ihrer Partnerin.

Es liegt an der Behörde, im Einzelfall die
Fragestellung an die Sachverständigen zu formulieren. Der Bericht muss von einer Fachperson stammen, die sich beruflich der Pflege von Menschen mit Gebrechen entsprechend denjenigen der betroffenen Person widmet und die folglich eine gewisse einschlägige Erfahrung hat. Vorausgesetzt ist eine lange Beobachtung der urteilsunfähigen Person, insbesondere um eine Prognose über ihre Entwicklung machen zu können. Erforderlich sind Informationen von Dritten, etwa seitens des Heimpersonals, der Angehörigen, des Vormunds oder des Arztes oder der Ärztin der betroffenen Person.

Schliesslich holt die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde nach Buchstabe c über die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person und die Dauer dieses Zustands ein Gutachten eines Facharztes oder einer Fachärztin für Psychiatrie ein. Bei diesem Gutachten geht es auch um eine Prognose in Bezug auf die Fähigkeit, sich um das Kind zu kümmern und um die Abklärung, inwiefern eine eventuelle Trennung von diesem Kind eine psychische Belastung darstellt. Das besagte Facharzterfordernis bedeutet auch, dass sachverständige und ausführende Ärztinnen oder Ärzte nicht die gleichen Personen sein dürfen.

Nach Absatz 3 darf die Sterilisation nur vorgenommen werden, wenn die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde mit der Mehrheit ihrer Mitglieder zugestimmt hat. Sie ist nur beschlussfähig, wenn sie ordentlich besetzt ist und in dieser Besetzung die 6334

Voraussetzungen nach Absatz 2 geprüft hat. Selbstverständlich kommt das Erfordernis eines Mehrheitsentscheids nicht zum Tragen, wenn ein Kanton als Aufsichtsbehörde z.B. den Regierungsstatthalter bezeichnet.

Art. 9

Gerichtliche Beurteilung des Entscheids der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde

Diese Bestimmung unterscheidet bei der Legitimation zur gerichtlichen Beurteilung danach, ob die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde die Zustimmung zur Sterilisation verweigert oder erteilt hat. Letztere Entscheidung bewirkt eine grundsätzlich irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Integrität; deshalb soll nach Absatz 1 ein verhältnismässig weiter Kreis zur Beschwerde legitimiert sein, nämlich die betroffene Person, eine ihr nahestehende Person oder ihr Vormund.

Demgegenüber hat die Verweigerung der Zustimmung zur Sterilisation eine Bewahrung der körperlichen Integrität zur Folge, weshalb nach Absatz 2 bloss die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter anfechtungsberechtigt sind.

«Gesetzlicher Vertreter» sind im Falle 16- und 17-Jähriger die Eltern oder ­ sofern sich Unmündige nicht unter elterlicher Sorge befinden ­ der Vormund (Art. 368 Abs. 1 ZGB) im Falle über 18-Jähriger der Vormund oder ­ bei erstreckter elterlicher Sorge über Entmündigte (Art. 385 Abs. 3 ZGB) ­ die Eltern.

Die Kantone bestimmen die vormundschaftlichen Behörden und sehen mindestens eine, höchstens zwei Aufsichtsbehörden vor. Sie haben zum Teil Verwaltungsbehörden, zum Teil richterliche Behörden eingesetzt. Das kantonale Organisationsrecht hat zu regeln, welches Gericht gegen Entscheide der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde (erster Instanz) angerufen werden kann. Es kann sich um die Aufsichtsbehörde zweiter Instanz oder um ein anderes Gericht handeln.

Nach Absatz 3 muss das Gericht die betroffene Person persönlich, d.h. als Gesamtbehörde, anhören, während es die Anhörung Nahestehender gegebenenfalls an einzelne Behördenmitglieder delegieren kann. Das Gericht hat selber zu entscheiden, ob und gegebenenfalls welche nahestehende Personen es anhören will. Zudem gilt das Mehrheitserfordernis für einen zustimmenden Sterilisationsentscheid auch in der zweiten Instanz (analog Art. 8 Abs. 3).

Der Sterilisationsentscheid ist als nicht vermögensrechtliche Zivilsache berufungsfähig (Art. 44 OG); er unterliegt somit der Zivilrechtspflege nach den Artikeln 43ff. OG, was der Entwurf im Sinne einer Klarstellung festhält (Abs. 1 zweiter Satz). Nach dem Entwurf des Bundesgerichtsgesetzes ist die Beschwerde in Zivilsachen möglich (Art. 68 E-BGG). Dabei wird der Begriff der «Zivilsache» gleich verstanden wie im geltenden
Recht; er umfasst insbesondere die Zivilrechtsstreitigkeiten nicht vermögensrechtlicher Natur (Botschaft vom 28. Febr. 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4306).

Art. 10

Berichterstattung

Die Bestimmung schafft eine gesetzliche Grundlage, um in der Schweiz langfristig eine statistische Erfassung der Sterilisation Entmündigter und dauernd Urteilsunfähiger zu sichern.

Im Einzelnen ist in Bezug auf die Vollzugsmeldung zu unterscheiden:

6335

Absatz 1 sieht in Bezug auf die Heileingriffe, bei denen die Aufhebung der Reproduktionsfähigkeit die unvermeidliche Begleiterscheinung ist (Art. 2 Abs. 2), bei urteilsunfähigen Personen eine Meldepflicht vor. Die Pflicht ist erfüllt, wenn der Arzt oder die Ärztin den Eingriff innerhalb von zehn Tagen meldet. Die Empfängerin der Meldung ist die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde. Diese Meldepflicht soll unkontrollierte Sterilisationen zu Verhütungszwecken an geistig Behinderten unter dem Vorwand medizinisch indizierter Heileingriffe verhindern. Die Regelung wirkt somit präventiv, weil die Ärztin oder der Arzt im Wissen um die nachträgliche Kontrolle von einem widerrechtlichen Eingriff absehen wird.

Nach Absatz 2 meldet die durchführende Ärztin oder der durchführende Arzt den vorgenommenen Eingriff nach den Artikeln 6 (Sterilisation Entmündigter) und 7 (Sterilisation dauernd Urteilsunfähiger) innerhalb von 30 Tagen dem für das Gesundheitswesen zuständigen Departement des Kantons; die Kantone können mit Rücksicht auf ihre Organisationsautonomie auch eine andere Stelle bezeichnen.

Diese Meldungen beziehen sich auf Sterilisationen zu Verhütungszwecken (Art. 2 Abs. 1).

Absatz 3 dient dem Persönlichkeitsschutz der betroffenen Personen. Die Daten sind nur in allgemeiner Form zu übermitteln; sie dürfen keine Angaben enthalten, die auf bestimmte Personen schliessen lassen.

2.6.2

Entwurf für ein Bundesgesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen

2.6.2.1

1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen

Art. 1

Gegenstand und Geltungsbereich

Das vorgeschlagene Gesetz findet Anwendung auf alle Opfer einer Zwangssterilisation oder Zwangskastration. Artikel 3 präzisiert, was unter einer Zwangssterilisation zu verstehen ist. Der Begriff der Zwangssterilisation ist weiter gefasst als derjenige der unrechtmässigen Sterilisation und erlaubt es, Situationen Rechnung zu tragen, in denen die kantonale Gesetzgebung eine Sterilisation unter Umständen erlaubte, die uns heute schockieren. Als Zwangskastration gilt jede Kastration unter Vorbehalt der in Artikel 1 Absatz 2 vorgesehenen Ausnahmen (vgl. Art. 2 des Entwurfs).

Das vorgeschlagene Gesetz ist anwendbar auf alle in der Schweiz vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vorgenommenen Zwangssterilisationen oder Zwangskastrationen. Bildet die Sterilisation eine Straftat und ist sie nach dem 1. Januar 1993 erfolgt, so wäre zugleich das Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (SR 312.5; Opferhilfegesetz, OHG) anwendbar. Artikel 6 Absatz 2 des Entwurfs schliesst eine Überentschädigung aus. Für die Opfer ist der vorliegende Gesetzesentwurf vorteilhafter als das Opferhilfegesetz, weil der Begriff der Zwangssterilisation oder Zwangskastration weiter gefasst ist als der Begriff der Straftat im Opferhilfegesetz und die Möglichkeiten zur Einsicht in das Beweismaterial nach dem Entwurf umfassender sind. Die Entschädigung von Personen, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzesentwurfs Opfer von widerrechtlichen Eingriffen geworden sind, richtet sich nicht mehr nach diesem Gesetz, sondern nach dem OHG.

6336

Da das Bundesrecht nach dem vorgeschlagenen Entwurf für ein Sterilisationsgesetz die Voraussetzungen für Sterilisationen klar regelt, ist eine Sonderregelung für Straftaten mit dieser Art von Folgen nicht mehr nötig.

Art. 2

Zwangskastration

Jede Kastration ist grundsätzlich missbräuchlich. Vorbehalten sind einzig die Fälle nach Artikel 1 Absatz 2. Die Kastration bildet einen massiveren Eingriff als die Sterilisation und ist deshalb noch anfechtbarer als diese (vgl. Ziff. 2.1). Andrerseits sind medizinische Eingriffe zur Abwendung einer ernsthaften Gefahr für die physische oder psychische Gesundheit der betroffenen Person vom Anwendungsbereich des Gesetzes nach Artikel 1 Absatz 2 klar ausgenommen und führen nicht zu Entschädigungen. Desgleichen löst die chemische Kastration eines Sexualstraftäters mit schweren psychischen Störungen keine Entschädigung aus.

Art. 3

Zwangssterilisation

Artikel 3 bestimmt im Grundsatz, was unter einer Zwangssterilisation zu verstehen ist. Als Zwangssterilisation gilt jede Sterilisation einer weniger als 16 Jahre alten Person (Abs. 1). Die Einwilligung der gesetzlichen Vertretung in die Sterilisation der weniger als 16 Jahre alten Person ist damit ungültig. Vorbehalten bleibt der Fall einer Sterilisation, die zur Abwendung einer ernsthaften gesundheitlichen Gefahr vorgenommen worden ist (Art. 1 Abs. 2). Die Kommission hat die Altersgrenze auf 16 Jahre festgelegt, um Kohärenz mit dem Entwurf für ein Sterilisationsgesetz herzustellen.

In den andern Fällen macht das Fehlen einer Einwilligung eine Sterilisation prinzipiell unrechtmässig. Um gültig zu sein, muss die Einwilligung frei und aufgeklärt erfolgt und persönlich erteilt worden sein. Das Prinzip der freien und aufgeklärten Einwilligung gilt sowohl für die Regelung de lege ferenda (Art. 5 und 6 des Entwurfs für ein Sterilisationsgesetz) als auch für die Regelung der Fälle aus der Vergangenheit. Man kann annehmen, dass die Einwilligung nicht frei erteilt worden ist, wenn die Willensfreiheit der betroffenen Person mit einem Willensmangel behaftet war (Art. 3 Abs. 2 Bst. b) oder wenn Druck auf sie ausgeübt worden ist, insbesondere unter Ausnützung eines Abhängigkeitsverhältnisses (Art. 3 Abs. 2 Bst. a). Diese Beispiele sind nicht abschliessend aufgezählt und belassen der Behörde einen gewissen Spielraum, so dass auch andere Formen von Beschränkungen der Willensfreiheit berücksichtigt werden können. Der Begriff «Willensmangel» orientiert sich an den Artikeln 23ff. des Obligationenrechts und erfasst auch falsche Behauptungen oder Informationen, die zu einer absichtlichen Täuschung oder zu einem Irrtum führen, sowie Drohungen. Besonderes Augenmerk wird den Fällen gewidmet, wo der Druck durch Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses erzeugt wird: Es genügt nicht, dass ein Abhängigkeitsverhältnis allein vorliegt oder dass Druck auf das Opfer ausgeübt worden ist; nötig ist vielmehr, dass ein Arzt bzw. eine Ärztin oder ein Mitglied der Institutsdirektion die hierarchische Position gegenüber dem Opfer missbraucht und in unzulässiger Weise dessen Einwilligung erwirkt hat, beispielsweise durch Gewährung von Vorteilen, die dem Opfer auch unabhängig von der Einwilligung hätten zugestanden werden müssen.
Die Voraussetzungen, unter welchen die Sterilisation einer urteilsunfähigen Person von mehr als 16 Jahren vorgenommen werden darf, sind in den Artikeln 7 und 8 des 6337

Entwurfs für ein Sterilisationsgesetz geregelt. Artikel 3 Absatz 3 des Entwurfs für ein Bundesgesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen bestimmt unter welchen Voraussetzungen die Sterilisationen aus der Vergangenheit als erlaubt betrachtet werden können. Es ist notwendig, dass ein gesetzlicher Vertreter bzw. eine gesetzliche Vertreterin dem Eingriff zugestimmt hat und dieser ausschliesslich im Interesse des Opfers erfolgt. Die Entschädigungsbehörde wird zu prüfen haben, ob die Sterilisation angesichts der Situation des Opfers und der verfügbaren Verhütungsmittel einen verhältnismässigen Eingriff im Interesse des Opfers darstellte. Wie unter Ziffer 2.3 dargelegt, sind die Voraussetzungen der Zulässigkeit der Sterilisation einer über 16-jährigen urteilsunfähigen Person weniger streng für die Vergangenheit als für Zukunft.

Die Zwangssterilisation bzw. -kastration einer urteilsunfähigen Person könnte rückblickend dann als legitim angesehen werden, wenn sie mit dem Ziel durchgeführt worden ist, eine Traumatisierung zu vermeiden, die sich aus einer Entbindung, aus einer Abtreibung oder aus einer Trennung vom Kind ergeben könnte. Es ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 7 Absatz 2 Buchstaben c und d des Sterilisationsgesetzes auch diesen Situationen Rechnung trägt. Andererseits sind Überlegungen eugenischer Natur oder die Tatsache, dass eine Frau bereits zahlreiche Kinder hat und dass sie sich nur wenig oder schlecht um die Betreuung kümmern könnte, keine Legitimation für eine Zwangssterilisation bzw. -kastration, da die Gefahr besteht, das Grundrecht auf Ehe und Familie zu beeinträchtigen.

Artikel 1 Absatz 2 schliesst eine Entschädigung oder Genugtuung für Eingriffe aus, die der Beseitigung einer ernsthaften Gefahr für die physische oder psychische Gesundheit dienen.

2.6.2.2 Art. 4­6

2. Abschnitt: Leistungen und Verfahren Entschädigung und Genugtuung

Die betroffene Person kann eine Entschädigung und eine Genugtuung verlangen. Es handelt sich dabei um einen Anspruch. Die Entschädigung ist einkommensmässigen Voraussetzungen unterworfen (Art. 4 Abs. 1), während die Genugtuung unabhängig vom Einkommen ausgerichtet wird (Art. 4 Abs. 2). Der Gesetzesentwurf verweist für die Voraussetzungen und die Berechnung der Ansprüche auf die Artikel 11­15 des Opferhilfegesetzes (Art. 6 Abs. 1) und auf die Ausführungsbestimmungen dazu (insbes. Art. 2­4 OHV).

Die Höhe der Genugtuung wird nach der Schwere der Umstände bemessen (Art. 6 Abs. 1, der auf Art. 12 Abs. 2 OHG verweist). So kann beispielsweise der Art und der Schwere des ausgeübten Drucks oder Zwangs Rechnung getragen werden.

Anders als das Opferhilfegesetz, das keine Obergrenze kennt, legt der Gesetzesentwurf für die Genugtuung einen Höchstbetrag von 80 000 Franken fest (Art. 6 Abs. 1). Dieser Betrag ergibt sich bei einem Vergleich mit Genugtuungsleistungen nach Artikel 49 OR in vergleichbaren Fällen. In einem Entscheid aus dem Jahre 1986 (BGE 112 II 220) hat das Bundesgericht dem Ehemann einer nach einem Unfall schwer invaliden Frau eine Genugtuung von 40 000 Franken zugesprochen und dabei der Invalidität, aber auch dem Umstand Rechnung getragen, dass das Paar keine Kinder mehr bekommen konnte. 1994 hat ein Basler Gericht einer schwange6338

ren Frau für den Verlust des einen von zwei erwarteten Zwillingen eine Genugtuung von 20 000 Franken zugesprochen (siehe Klaus Hütte/Petra Ducksch, Die Genugtuung, eine tabellarische Übersicht der Gerichtsentscheide, Febr. 1999, Fall Nr. 18a VIII/22 1995­1997). Eine Genugtuung von 40 000 Franken wurde 1975 einer Frau zugesprochen, die auf Grund eines Unfalls einen Abort hatte und in der Folge keine Kinder mehr bekommen konnte (JT 1975 I 454). In zwei Fällen der Übertragung des HIV-Virus haben die Opfer 60 000, bzw. 80 000 Franken Genugtuung erhalten (vgl. Hütte/Ducksch, Fall Nr. 22a VIII/31 1995­1997 und Nr. 18 VIII/8 1998ff.; vgl. BGE 125 III 412). Schliesslich sieht der Bundesbeschluss vom 14. Dezember 1990 über Leistungen des Bundes an HIV-infizierte Hämophile und Bluttransfusionsempfänger und deren HIV-infizierte Ehegatten und Kinder (AS 1991 954) vor, infizierten Personen 100 000 Franken zuzusprechen. Die Summe von 80 000 Franken erscheint unter diesen Umständen als ein Maximum, das nur in besonders schweren Fällen zugesprochen werden sollte.

Der Anspruch auf Genugtuung ist persönlich. Wenn die betroffene Person stirbt, geht er nicht auf die Erben über. Auch kann er nicht Gegenstand einer Abtretung sein (Art. 4 Abs. 3). Dagegen können die Erben oder die Angehörigen die Widerrechtlichkeit der Sterilisation feststellen lassen, wenn ein Entschädigungsverfahren hängig ist und die betroffene Person vor dessen Ende stirbt (Art. 4 Abs. 4). Persönlichkeitsrechte gehen grundsätzlich nicht auf die Erben ihres Trägers über und erlöschen mit dessen Tod (BGE 104 II 225ff., 109 II 353ff.). Die Erben können nur dann ein vom Verstorbenen in die Wege geleitetes Verfahren weiterführen, wenn sie damit ein eigenes Recht wahrnehmen, das sich inhaltlich mit dem des Verstorbenen deckt (vgl. Andreas Bucher, Personnes physiques et protection de la personnalité, 4. Auflage, Basel/Genf/München 1999, Nr. 510 und 561). Die hier vorgesehene Bestimmung bewegt sich ausserhalb des durch die Rechtsprechung zu Artikel 28a Absatz 1 Ziffer 3 ZGB vorgegebenen Rahmens. Nach der genannten Bestimmung ist eine Feststellungsklage nur zulässig, um die Widerrechtlichkeit einer Verletzung festzustellen, die sich noch konkret störend auswirkt oder die sich von neuem störend auswirken könnte (BGE 120 II 371). Dies trifft in den durch den
vorliegenden Artikel 4 Absatz 4 betroffenen Fällen nicht zu. Es geht hier um die Anerkennung des von den Angehörigen wegen eines heute als widerrechtlich betrachteten Eingriffs mitgetragenen Leides. Da sich die Erbberechtigung auf Grund von Artikel 460 ZGB bis auf den Stamm der Grosseltern und ihre Nachkommen erstreckt, wird das Recht, eine widerrechtliche Sterilisation oder Kastration feststellen zu lassen, auf einen verhältnismässig grossen Personenkreis übertragen. Was den Begriff der Angehörigen betrifft, so ist er im Licht von Artikel 2 Absatz 2 OHG zu verstehen. Er schliesst damit Konkubinatspartnerinnen oder Konkubinatspartner sowie enge Freundinnen oder Freunde ein.

Um eine mehrfache Entschädigung zu vermeiden, ist dafür zu sorgen, dass der betroffenen Person keine Entschädigung oder Genugtuung nach Artikel 12 des Opferhilfegesetzes zugesprochen wird, wenn diese eine Entschädigung oder Genugtuung nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Zwangssterilisationen oder Zwangskastrationen erhält (Art. 6 Abs. 2). Wenn die anspruchsberechtigte Person jedoch die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, kann sie eine Hilfeleistung im Sinn von Artikel 3 des Opferhilfegesetzes erhalten. Die Hilfe der Beratungsstellen kann jederzeit in Anspruch genommen werden (Art. 13 Abs. 1 OHV).

6339

Artikel 5 Absatz 1 legt die Frist fest, während deren Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche angemeldet werden müssen. Andernfalls verwirkt der Anspruch und die betroffene Person kann keinerlei Ansprüche mehr geltend machen. Die Wirkungen des Gesetzes sollen in zeitlicher Hinsicht nicht unnötig erstreckt werden, und die Opfer von Zwangssterilisationen bzw. -kastrationen sollen schnell entschädigt werden. Die Frist von drei Jahren ist etwas länger als die in Artikel 16 Absatz 3 OHG vorgesehene (zwei Jahre). Artikel 14 bringt eine gewisse Milderung der strengen Frist, da eine öffentliche Informationskampagne vorgesehen ist.

Indem ausdrücklich auf Artikel 15 des Opferhilfegesetzes verwiesen wird (Art. 6 Abs. 1), behält der Gesetzesentwurf der betroffenen Person die Möglichkeit vor, einen Vorschuss zu erhalten, falls sie dringend finanzielle Hilfe braucht.

Der Gesetzesentwurf verweist auch auf Artikel 14 des Opferhilfegesetzes (Art. 6 Abs. 1). Der Staat behält sich so die Möglichkeit vor, gegen den Urheber einer allfälligen Verletzung (oder gegen Dritte, z.B. Versicherungen) Regress zu nehmen, soweit dies noch möglich ist.

Art. 7

Zuständige Behörde

Wie auch im Fall des Opferhilfegesetzes wird der Vollzug des Gesetzes hauptsächlich den Kantonen obliegen, die eine für die Behandlung der Gesuche um Entschädigung oder Genugtuung zuständige Behörde bestimmen müssen (Abs. 1). Es ist Aufgabe desjenigen Kantons, dessen Behörden die Sterilisation oder die Kastration angeordnet oder bewilligt haben, das Gesuch zu behandeln und Leistungen auszurichten. Andernfalls ist derjenige Kanton dazu verpflichtet, auf dessen Gebiet der Eingriff erfolgt ist. Der Entwurf trägt dem Umstand Rechnung, dass es für das Opfer schwierig sein kann zu bestimmen, welcher Kanton zuständig ist und dass es zögern könnte, sich an andere Behörden als diejenigen seines Wohnsitzkantons zu wenden.

Aus diesem Grund kann das Opfer immer bei der Behörde an seinem Wohnsitz oder bei einer Beratungsstelle nach dem Opferhilfegesetz entsprechende Unterstützung beanspruchen (Art. 5 Abs. 2).

Wie Artikel 17 OHG schreibt der Entwurf den Kantonen vor, eine einzige Beschwerdeinstanz zu bestimmen, die von der Verwaltung unabhängig ist und freie Überprüfungsbefugnis hat.

Art. 8

Verfahren

Die zuständige Behörde muss den Sachverhalt von Amtes wegen erheben und ein einfaches und rasches Verfahren vorsehen (Abs. 2). Damit die Behörde die Untersuchung eröffnen kann, muss das Gesuch kurz begründet werden (Abs. 1). An die Begründung dürfen keine hohen Anforderungen gestellt werden. Der Begründungspflicht wird Genüge getan, wenn einige, auch ungenaue Angaben zum fraglichen Ort und zur fraglichen Zeitspanne gemacht werden, so dass die Behörde über einen Ausgangspunkt für ihre Nachforschungen verfügt. Das Verfahren ist unentgeltlich, ausser wenn das Gesuch offensichtlich mutwillig ist (Abs. 3). Diese Bestimmung orientiert sich an Artikel 16 Absätze 1 und 2 OHG.

Der betroffenen Person kann nötigenfalls unentgeltliche juristische Hilfe gewährt werden (Abs. 4). Artikel 3 Absatz 4 OHG ist in Bezug auf die Übernahme von Anwaltskosten sinngemäss anwendbar. Danach sind Anwaltskosten der betroffenen 6340

Person zu übernehmen, «soweit dies aufgrund der persönlichen Verhältnisse angezeigt ist». Wie in der Opferhilfe ist auf die finanzielle Situation der betroffenen Person abzustellen; zusätzlich ist zu prüfen, ob und inwiefern sie ihre Rechte selber wahren kann (vgl. BGE 122 II 315 E. 4c). Anwaltskosten werden auch dann übernommen, wenn die betroffene Person über mehr als das Existenzminimum verfügt.

In dieser Hinsicht geht die Hilfe nach Artikel 3 Absatz 4 OHG weiter als die unentgeltliche Rechtspflege nach Artikel 29 Absatz 3 BV. Schliesslich darf das Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheinen.

Art. 9

Geheimhaltungspflicht

Artikel 9 nimmt Bezug auf das Amtsgeheimnis, das für die Behörde und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gilt. Diese Bestimmung orientiert sich an Artikel 3 des Bundesbeschlusses vom 13. Dezember 1996 betreffend die historische und rechtliche Untersuchung des Schicksals der infolge der nationalsozialistischen Herrschaft in die Schweiz gelangten Vermögenswerte (AS 1996 3487; vgl. auch Art. 4 OHG)18.

Für die gemäss Artikel 5 Absatz 2 handelnden Beratungsstellen nach OHG gilt Artikel 4 OHG, der eine strengere Schweigepflicht vorsieht und somit den betroffenen Personen ermöglicht, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Stellen ganz persönliche Angelegenheiten anzuvertrauen.

Art. 10 und 11 Beweismaterial: Pflicht zur Aufbewahrung und Einsichtsrecht Diese Bestimmungen orientieren sich an den Artikeln 4 und 5 des Bundesbeschlusses vom 13. Dezember 1996 betreffend die historische und rechtliche Untersuchung des Schicksals der infolge der nationalsozialistischen Herrschaft in die Schweiz gelangten Vermögenswerte.

2.6.2.3

3. Abschnitt: Strafbestimmungen

Art. 12 Dieser Artikel orientiert sich an Artikel 9 des Bundesbeschlusses vom 13. Dezember 1996 betreffend die historische und rechtliche Untersuchung des Schicksals der infolge der nationalsozialistischen Herrschaft in die Schweiz gelangten Vermögenswerte.

2.6.2.4 Art. 13

4. Abschnitt: Vollzug Abgeltungen an die Kantone

Artikel 13 bestimmt, dass der Bund 50 Prozent der tatsächlichen Entschädigungsund Genugtuungskosten deckt. Zu diesem Zweck wird der Bund den Kantonen Abgeltungen nach Artikel 3 des Bundesgesetzes vom 5. Oktober 1990 über Finanz18

Entscheidend für die Unterstellung unter das Amtsgeheimnis ist nicht die Natur des Arbeitsverhältnisses zum Staat, sondern die Erfüllung einer staatlichen Aufgaben (BBl 1996 IV 1177).

6341

hilfen und Abgeltungen (Subventionsgesetz, SuG; SR 616.1) gewähren. Die Kantone richten den betroffenen Personen die Leistungen aus und unterbreiten dem Bund eine Kostenabrechnung, worauf der Bund den Abgeltungsbetrag berechnet. Diese Lösung ist einfacher als die Schaffung eines Fonds.

Art. 14

Information der Öffentlichkeit

Die Information der Bevölkerung ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen. Die Kantone werden durch die lokalen Medien und die amtlichen Publikationsorgane informieren, während der Bund sich um die Information durch die übrigen Medien kümmert.

2.6.2.5 Art. 15

5. Abschnitt: Schlussbestimmungen Übergangsbestimmung

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes Entschädigungs- und Genugtuungsgesuche nach OHG eingereicht wurden. Gesuche, die dann hängig sind, wenn der vorliegende Gesetzesentwurf in Kraft tritt, unterstehen diesem Gesetz.

Art. 16

Referendum, Inkrafttreten und Geltungsdauer

Das Gesetz über die Entschädigung der Opfer von in der Vergangenheit vorgenommenen Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen wird zwangsläufig nach einigen Jahren obsolet werden. Deshalb schlägt die Kommission vor, den Bundesrat zu ermächtigen, es abzuschaffen, sobald alle innert der Frist gemäss Artikel 5 Absatz 1 eingereichten Entschädigungs- und Genugtuungsgesuche zu einem rechtskräftigen Entscheid geführt haben.

3

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Der Teil, welcher die Voraussetzungen für künftige Sterilisationen und die dabei zu beachtenden Verfahren regelt (Vorlage 1), hat für den Bund weder finanzielle noch personelle Auswirkungen.

Da verlässliche Erhebungen fehlen und die geschichtlichen Nachforschungen zu wenig umfassend sind, ist es relativ schwierig, die Zahl der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen zu schätzen. Im Rahmen der Expertenanhörungen war von einigen Hundert die Rede. Diese Eingriffe wurden vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgenommen. Viele dieser Opfer sind vermutlich heute nicht mehr am Leben. Es ist daher nicht möglich, die finanziellen Auswirkungen dieser Vorlage, die je zur Hälfte auf den Bund und auf die Kantone entfielen, genau zu beziffern. Im Übrigen ist vor Augen zu halten, dass es sich bei der Genugtuungssumme von 80 000 Franken um einen Höchstbetrag handelt, der nicht in allen Fällen ausbezahlt würde.

6342

4

Verhältnis zum europäischen Recht

Die Schweiz hat das Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin am 7. Mai 1999 unterzeichnet. In seiner Botschaft vom 12. September 2001 (01.056; BBl 2002 271) beantragte der Bundesrat dem Parlament, das Übereinkommen zu genehmigen und ihn zur Ratifikation zu ermächtigen. Im Jahre 2002 beschlossen beide Räte, mit der Prüfung des Übereinkommens bis zur Verabschiedung des Transplantationsgesetzes abzuwarten19. Gemäss diesem Übereinkommen darf ein Eingriff im Gesundheitsbereich erst erfolgen, nachdem die betroffene Person darüber aufgeklärt worden ist und frei eingewilligt hat (Art. 5); bei einer einwilligungsunfähigen Person darf der Eingriff in der Regel nur zu ihrem unmittelbaren Nutzen erfolgen (Art. 6). Das Übereinkommen sieht besondere Bestimmungen zum Schutz einwilligungsunfähiger Personen (Art. 6) sowie für Personen mit psychischen Störungen (Art. 7) vor.

5

Verfassungsmässigkeit

Gemäss Artikel 122 der Bundesverfassung (BV) ist die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts Sache des Bundes.

Was die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen betrifft, so stützt sich die Kommission auf Artikel 124 BV der Bundesverfassung, demzufolge der Bund und die Kantone dafür zu sorgen haben, «dass Personen, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Unversehrtheit beeinträchtigt worden sind, Hilfe erhalten und angemessen entschädigt werden, wenn sie durch die Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten». Dieser Artikel gibt dem Bund eine umfassende, nicht bloss auf Grundsätze beschränkte Kompetenz zur Gesetzgebung.

Gleichzeitig überträgt er den Kantonen eine eigenständige Aufgabe und nicht nur die Beteiligung an der Erfüllung einer Bundesaufgabe. Die Opferhilfe ist demnach eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Kantonen (BBl 1997 I 341, siehe ebenfalls Botschaft vom 6. Juli 1983 zur Volksinitiative «zur Entschädigung von Opfern von Gewaltverbrechen»; BBl 1983 III 895).

Damit eine Person Opferhilfe nach Artikel 124 BV erhalten kann, muss sie Opfer einer Straftat geworden sein, welche die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität der Person beeinträchtigt hat. Wie der Bundesrat in seiner Botschaft ausführt, kann die Opferhilfe auch dann gewährt werden, wenn nicht alle Elemente einer Straftat vorliegen (z.B. auch bei Zurechnungsunfähigkeit des Täters oder der Täterin). Die Hilfe hängt nicht davon ab, dass der Täter oder die Täterin verhaftet oder verurteilt worden ist. Belanglos ist auch, ob die Straftat vorsätzlich oder fahrlässig verübt worden ist (BBl 1997 I 341).

19

AB-N 13.6.2003; AB-S 23.9.2002.

6343

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