zu 99.451 Parlamentarische Initiative Zwangssterilisationen. Entschädigung für Opfer (von Felten) Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats vom 23. Juni 2003 Stellungnahme des Bundesrates vom 3. September 2003

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen gemäss Artikel 21quater Absatz 4 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) die Stellungnahme des Bundesrates zum Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 23. Juni 2003 betreffend die Entschädigung für Opfer von Zwangssterilisationen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

3. September 2003

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Pascal Couchepin Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2003-1620

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 5. Oktober 1999 reichte Nationalrätin Margrith von Felten eine parlamentarische Initiative ein, mit der die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden sollten, damit Personen, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden oder unter Zwang einer Sterilisation zustimmten, Anspruch auf eine angemessene Entschädigung erhalten. Auf einstimmigen Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen (RK-N) beschloss der Nationalrat am 24. März 2000, der Initiative Folge zu geben.

Die RK-N beauftragte eine Subkommission, einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten.

Die Subkommission zog die Verwaltung zu ihren Arbeiten hinzu. Am 6. November 2001 verabschiedete die RK-N einen zweiteiligen Vorentwurf. Der erste Teil regelt die Voraussetzungen, unter denen eine Sterilisation inskünftig zulässig ist, sowie die dabei zu beachtenden Verfahren. Der zweite Teil befasst sich mit denjenigen Personen, die in der Vergangenheit Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen geworden sind. Die RK-N ersuchte den Bundesrat, diesen Vorentwurf in die Vernehmlassung zu geben. Die Vernehmlassung dauerte von Ende März bis Ende Juni 2002. Danach teilte die RK-N ihren Vorentwurf in zwei separate Vorlagen, einen Entwurf für ein Sterilisationsgesetz sowie einen Entwurf über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen, auf. Am 23. Juni 2003 hiess sie ihren Bericht und die beiden Gesetzesentwürfe einstimmig gut.

2

Grundsätzliche Beurteilung

Der Bundesrat begrüsst die wichtige Arbeit der RK-N. Ihrem Bericht kommt das Verdienst zu, Zwangseingriffe gegenüber behinderten oder gesellschaftlich an den Rand gedrängten Personen aufzugreifen. Solche Eingriffe wurden teils aus Gründen der Eugenik, teils mit sozialhygienischer oder sozio-ökonomischer Zielsetzung, manchmal auch im vermuteten Interesse der betroffenen Personen vorgenommen.

Die parlamentarische Initiative ist Teil verstärkter Bemühungen, gewisse dunkle Seiten unserer jüngeren Geschichte kritisch zu hinterfragen (man denke auch an die Rehabilitation von Personen, die im Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge retteten, oder an die Aufarbeitung der Aktion «Kinder der Landstrasse»). Die Initiative ist verdienstvoll, soweit sie ermöglicht, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und Lösungen für die Zukunft zu entwickeln. Insbesondere befürwortet der Bundesrat eine Regelung der Sterilisation für die Zukunft im Sinne des Entwurfs der Rechtskommission des Nationalrats, macht aber verschiedene Änderungsanträge.

Vergangenes zu beurteilen erfordert viel Fingerspitzengefühl. Der Blick aus der Gegenwart zurück muss von den damals geltenden Umständen ausgehen, mithin dem sozialen und wirtschaftlichen Umfeld, der Gesellschaftsstruktur sowie den wissenschaftlichen Erkenntnissen der betreffenden Zeit Rechnung tragen. So führten die Erfindung der Antibabypille in den fünfziger Jahren und die danach einsetzende Liberalisierung der Sitten in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zweifellos zu einer gewissen Öffnung hinsichtlich der sexuellen Bedürfnisse 6356

geistig behinderter Personen, etwas, das einige Jahrzehnte vorher kaum vorstellbar gewesen wäre. Auch hat sich das Verständnis der Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt: Die Autorität und der Freiraum, über den die psychiatrischen Anstalten und die Ärzte früher verfügten, führten dazu, dass ihre therapeutischen Methoden lange Zeit hindurch diskussionslos akzeptiert wurden und manchmal heute noch werden. Erst seit Beginn der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts enthält das Bundesrecht wirksame Garantien im Bereich der fürsorgerischen Freiheitsentziehung, womit eine erhebliche Zahl missbräuchlicher Internierungen vermieden werden konnte. Wir können heute auch überblicken, in welch extreme Abgründe eugenische Theorien führen können, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlichen Kreisen sehr populär waren. Im Verlaufe eines Jahrhunderts hat sich auch die Qualität der Fürsorge für sozial benachteiligte Personen erheblich verbessert, bei gleichzeitig steigendem Lebensstandard der Gesamtbevölkerung.

Die Kommission konnte sich bei ihren Arbeiten, wie sie selber einräumt, nicht auf sichere und vollständige Daten stützen. Eine Beurteilung der Tragweite der Problematik bleibt deshalb schwierig, ebenso die Einschätzung des Alters, des Gesundheitszustandes und der sozialen Situation der Opfer aus heutiger Sicht. Wir erachten es als problematisch, eine spezielle Entschädigungsregelung zu schaffen, ohne über die Situation der Zielpersonen, die Umstände der Eingriffe und die aktuellen Bedürfnisse der betroffenen Personen besser Bescheid zu wissen. Dem Kommissionsbericht lässt sich entnehmen, dass den Sterilisationen, die ohne freie und aufgeklärte Einwilligung der Betroffenen vorgenommen wurden, je nach Kanton, Arzt und Anstalt ganz unterschiedliche gesellschaftliche Situationen und Praktiken zugrunde lagen. Die Grenze zwischen offensichtlich mit unzulässigem Zwang verbundenen Eingriffen und solchen, deren Legitimität auch heute noch kontrovers beurteilt wird, ist fliessend.

Angesichts dieser ganz verschiedenen Konstellationen erachtet es der Bundesrat für wichtig, sofern dies a posteriori überhaupt möglich ist, wirkliche Zwangseingriffe von anderen Eingriffen zu unterscheiden, die zwar umstritten sind, jedoch auch heute noch Gegenstand einer ethischen Debatte
bilden. Auch wenn das europäische Recht den Grundsatz aufstellt, wonach ein Eingriff an einer einwilligungsunfähigen Person nur dann vorgenommen werden darf, wenn er zu ihrem unmittelbaren Nutzen erfolgt (vgl. Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin1, das die Schweiz am 7. Mai 1999 unterzeichnet hat), so ist ­ wie auch die Kommission festhält ­ doch zu konstatieren, dass die Sterilisation urteilsunfähiger Personen selbst heute noch sehr heikle und komplexe Fragen aufwirft, obwohl wir nun über reversible Verhütungsmittel verfügen, die viel effizienter sind als früher.

Es scheint uns demnach problematisch, jeden an einer urteilsunfähigen Person vorgenommenen Eingriff, der nicht in deren ausschliesslichem Interesse erfolgte, als Zwangssterilisation zu betrachten, die zu einem Entschädigungsanspruch führen kann (Art. 3 Abs. 3 des Entwurfs für ein Bundesgesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen). Es ist übrigens auch nicht auszuschliessen, dass selbst Sterilisationen, die im Einklang mit neueren kantonalen Gesetzen vorgenommen werden, Anspruch auf eine Entschädigung geben könnten, wenn die Voraussetzungen des eidgenössischen Gesetzesentwurfes 1

Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin, ETS Nr. 164.

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denjenigen des kantonalen Rechts nicht vollständig entsprechen. So nennt beispielsweise das neue, aus dem Jahr 1999 stammende Gesetz des Kantons Freiburg als eine der Voraussetzungen für die Sterilisation einer urteilsunfähigen Person auch den Umstand, dass diese nicht in der Lage ist, ihren elterlichen Pflichten nachzukommen. Diese Voraussetzung, die sich unserer Ansicht nach im Rahmen des zulässigen Ermessensspielraums des kantonalen Gesetzgebers bewegt, wäre gemäss Artikel 3 Absatz 3 des Entwurfs für ein Bundesgesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen zweifellos als Zwangseingriff zu betrachten, was zu einer Entschädigungspflicht führen könnte. Man würde Gefahr laufen, einen Präzedenzfall zu schaffen, der immer dann, wenn der Bund seine Gesetzgebung revidiert oder über das bisherige kantonale Recht hinausgehende, strengere Voraussetzungen festsetzt, finanzielle Entschädigungen zur Folge haben könnte.

Wir haben auch Vorbehalte gegenüber einer speziellen Entschädigungsregelung, die zwar vom Bundesgesetz über die Opferhilfe vom 4. Oktober 1991 (OHG, SR 312.5) inspiriert ist, sich aber doch davon unterscheidet, indem sie eine Entschädigung auch für Fälle vorsieht, die von jenem Erlass nicht abgedeckt werden, weil sie entweder Ereignisse betreffen, die vor dem Inkrafttreten des OHG eingetreten sind, oder weil sie nach Artikel 32 des Strafgesetzbuchs gerechtfertigt sind und deshalb nicht als Straftat gelten können oder aber weil die Ansprüche verjährt sind. Es ist daran zu erinnern, dass das OHG für Ereignisse vor seinem Inkrafttreten weder Schadenersatz noch Genugtuung vorsieht, dass eine Beeinträchtigung durch eine Straftat, mithin ein rechtswidriges Verhalten, vorausgesetzt wird und dass die Verwirkungsfrist zwei Jahre beträgt. Eine unterschiedliche Behandlung von Opfern einer Zwangssterilisation gegenüber anderen Opferkategorien (wie etwa Opfer von Straftaten im Medizinalbereich, die vor Inkrafttreten des OHG verübt wurden) liesse sich kaum rechtfertigen. Es sind denn auch andere Fälle unsachgemässer medizinischer Behandlung bekannt, welche die Zeugungsunfähigkeit der Betroffenen oder ihrer Nachkommen zur Folge hatten (so beispielsweise die Verschreibung des Hormonpräparats Distilbène in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts).

Die Schaffung
einer speziellen Entschädigungsregelung für Opfer von Zwangssterilisationen unabhängig vom Vorliegen eines Straftatbestands wäre ein Präzedenzfall, der auf zahlreiche weitere Grundrechtsverletzungen ausgedehnt werden könnte, beispielsweise auf die Opfer von Zwangsinternierungen in psychiatrischen Anstalten vor dem Inkrafttreten der Bestimmungen des fürsorgerischen Freiheitsentzugs oder auch auf Misshandlungen in Waisenhäusern und Altersheimen. Verschiedene nebeneinander bestehende spezielle Entschädigungsregelungen könnten bestimmte Opferkategorien privilegieren, was dem Gleichbehandlungsgrundsatz und der Kohärenz des Opferhilfesystems zuwiderliefe. Dass diese Risiken nicht bloss theroretischer Natur sind, zeigt ein Vergleich der im Entwurf zum Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen vorgesehenen Leistungen mit den Entschädigungen, die vor einigen Jahren für die Wiedergutmachung von Unrecht gegenüber den Opfern der Aktion «Kinder der Landstrasse» ausbezahlt wurden. Damals handelte es sich um Beträge zwischen 2000 und 20 000 Franken, während man heute den Opfern von Zwangssterilisationen bis zu 80 000 Franken auszahlen will, wenn es sich um besonders schwere Fälle handelt.

Solche Differenzen sind schwer verständlich und könnten bei den Betroffenen den verheerenden Eindruck erwecken, dass gewisse Verletzungen der persönlichen

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Freiheit mehr Anteilnahme hervorrufen als andere, je nachdem, welche Personenkategorien betroffen sind.

Wir möchten die persönlichen Schicksale aufgrund von Praktiken, die man heute als inakzeptabel beurteilen kann, keinesfalls verharmlosen. Die Ereignisse sind aber im Kontext einer sich ständig weiter entwickelnden Gesellschaft zu betrachten, in welcher man aus den Fehlern und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit lernt. Die Anerkennung, welche die Gesellschaft den Opfern von Zwangssterilisationen schuldet, muss nicht unbedingt in Form einer finanziellen Entschädigung erfolgen, zumal diese für einen Teil der Opfer ohnehin zu spät käme. Statt ständig vergangene Ungerechtigkeiten kompensieren zu wollen und damit bei den Betroffenen möglicherweise Wunden zu öffnen, die im Laufe der Zeit verheilt sind, ziehen wir es vor, die vorhandenen Mittel für die Verbesserung der Hilfeleistung gegenüber Personen zu verwenden, die psychisch behindert sind oder mit psychischen oder sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und die eine Betreuung in einer Anstalt oder sonstige institutionelle Hilfe benötigen.

Sollte aber dennoch eine finanzielle Entschädigung geleistet werden, so wären primär diejenigen Gemeinwesen in der Pflicht, die einen Teil der zwar nicht rechtlichen, jedoch politischen oder moralischen Verantwortung für die Vorfälle tragen.

Damit könnte eine klare Trennlinie gezogen werden zwischen einer allgemeinen Opferhilferegelung, die Ausdruck einer Solidaritätsbekundung der Allgemeinheit ist und deshalb für alle gleich ausfallen muss (Hilfe für Opfer von Straftaten), und der Feststellung, dass ein besonders betroffenes Gemeinwesen an schädigenden Verhaltensweisen mitgewirkt hat oder darin verwickelt war. Die kritisch betrachteten Vorfälle, um die es hier geht, betreffen die Fürsorge, die öffentliche Gesundheit und das Vormundschaftswesen. Alle diese Aufgaben fallen seit jeher ganz überwiegend in den Zuständigkeitsbereich der Kantone und der Gemeinden, während der Bund wenig Einfluss hat. Anders als bei der Aktion «Kinder der Landstrasse» steht im vorliegenden Fall gerade nicht fest, dass der Bund Zwangssterilisationen, wie sie gewisse Ärzte und Anstalten praktizierten, moralisch, politisch oder finanziell unterstützte.

Hinzu kommt, dass eine finanzielle Beteiligung des Bundes auch mit Blick auf den
Entwurf für eine Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA, BBl 2002 2291) nicht angezeigt wäre, gilt doch dort das Prinzip, dass das entscheidende Gemeinwesen auch alle Konsequenzen seines Entscheides trägt. Zwar könnte man versucht sein, dem Bund eine Unterlassung vorzuwerfen, weil dieser es versäumt hat, rechtzeitig klare Schranken für Sterilisationen festzulegen. Allerdings würde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, wenn ein Entschädigungsanspruch immer dann zugestanden würde, wenn der Bund seine Rechtsetzungskompetenz nicht sofort in Anspruch nimmt. Aus heutiger Sicht erfordert die gesellschaftliche Entwicklung eine einheitliche Regelung zahlreicher Sachbereiche auf Bundesebene. Früher sah man dies jedoch auch anders.

Aus den genannten Gründen lehnt der Bundesrat den Antrag der RK-N vom 23. Juni 2003 betreffend den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen ab.

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3

Verfassungsmässigkeit des Gesetzesentwurfs über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen

Stützt sich der Gesetzesentwurf über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen auf eine hinreichende verfassungsrechtliche Grundlage? Auf Ersuchen der RK-N untersuchte das Bundesamt für Justiz diese Frage in einem Rechtsgutachten vom 11. September 2000. Es schloss nicht aus, dass Artikel 124 BV eine Verfassungsgrundlage für die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen darstellen könnte, betonte allerdings, dass die in Artikel 124 BV vorgesehene Hilfe nur Opfer von Straftaten gewährt werden kann. Immerhin liessen sich nach Auffassung des Amtes unter die Kategorie «Opfer von Straftaten» ausnahmsweise auch Fälle subsumieren, in denen Personen zwar im Einklang mit dem früher geltenden kantonalen Recht sterilisiert wurden, dieses Recht jedoch heutigen Auffassungen eklatant zuwiderläuft und es dem Gleichbehandlungsgrundsatz widersprechen würde, die Betroffenen nicht wie Opfer von Straftaten zu behandeln. Es bleibt jedoch die Frage, ob man mit dem Gesetzesentwurf über die Entschädigung von Opfern von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen den Begriff «Opfer von Straftaten» nicht unzulässig überdehnt hat, da die Zwangssterilisation sehr weit gefasst wird, indem sie Konstellationen einschliesst, die nicht als Straftat im Sinne des OHG gelten können und unseres Erachtens damit auch nicht gleichgesetzt werden dürfen.

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Weitere Bemerkungen zum Gesetzesentwurf über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen

Wir verweisen im Wesentlichen auf das zuvor Gesagte. Für den Fall, dass unserem Antrag, auf den Entwurf zu verzichten, nicht stattgegeben werden sollte, äussern wir uns nachstehend zu einzelnen Punkten.

4.1

Begriff der Zwangssterilisation (Art. 3)

Wir verweisen auf die Bemerkungen unter Ziffer 1. Artikel 3, insbesondere dessen Absatz 3, ist unseres Erachtens zu weit gefasst, weil damit auch Eingriffe als Zwangssterilisation erfasst werden könnten, die selbst heute noch Gegenstand breit geführter Debatten unter Fachleuten und in der Bevölkerung sind. Zwangssterilisationen könnten somit auch dann vorliegen, wenn sie mit dem geltenden kantonalen Recht im Einklang stünden. Der kantonale Gesetzgeber muss jedoch bei der Wahrnehmung seiner originären Rechtsetzungskompetenz über ein Minimum an Ermessensspielraum verfügen, ohne rückwirkende Sanktionen durch den Bundesgesetzgeber zu riskieren. Sollte am Gesetzesentwurf zur Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen festgehalten werden, so müssen die finanziellen Leistungen auf offensichtliche Fälle von Zwangsausübung beschränkt werden. Bei Eingriffen gegenüber dauernd urteilsunfähigen Personen sollte man aber auch nach den effektiven Nutzniessern der erbrachten Leistungen 6360

fragen. Unter Umständen wären es die Angehörigen der betroffenen Person, die mittelbar von solchen Leistungen profitieren würden, selbst wenn sie vielleicht den umstrittenen Eingriff veranlasst oder das betreffende Vorgehen aktiv unterstützt haben. Wir sind deshalb der Ansicht, dass Entschädigungen nur bei offensichtlichen Zwangseingriffen an Personen, die nicht dauernd urteilsunfähig waren, entrichtet werden sollten.

4.2

Gemäss OHG ausgestaltetes Entschädigungsmodell (Art. 4 ff.)

Wir sind mit dem Gesetzesentwurf aus den oben dargelegten Gründen nicht einverstanden. Wenn am Entwurf festgehalten wird, schlagen wir vor, die Anregung des Kantons Waadt in seiner Vernehmlassungsantwort aufzugreifen und eine Art von Pauschalentschädigung mit vorwiegend symbolischem Charakter einzuführen; diese hätte den Vorteil der administrativen Einfachheit und wäre aus dieser Sicht ohne Zweifel angemessener als eine Entschädigung, die sich am ziemlich komplizierten Modell des OHG orientiert.

4.3

Feststellungsklage der Erben oder der Angehörigen (Art. 4 Abs. 4)

Persönlichkeitsrechte sind nicht übertragbar. Sie gehen nicht auf die Erben über, sondern erlöschen mit dem Tod (Personnes physiques et tutelle, H. Deschenaux/ P.-H. Steinauer, Bern 2001, § 536 ff.; Natürliche Personen und Persönlichkeitsschutz, A. Bucher, 3. Aufl., Basel 1999, § 510). Die Erben können deshalb in der Regel keine Klage einbringen, die die Verletzung von Persönlichkeitsrechten Verstorbener zum Gegenstand hat. Das Bundesgericht hat allerdings zugelassen, dass Erben eine zu Lebzeiten anhängig gemachte Abwehrklage einer verstorbenen Person weiterführen können, wenn die Verletzung der Persönlichkeitsrechte dieser Person die Erben auch in ihren eigenen Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt (BGE 104 II 225 ff.; Bucher, a.a.O., § 562). Eine Feststellungsklage ist ausserdem nur dann zulässig, wenn eine störende Wirkung weiterhin vorhanden ist oder erneut eintreten kann (BGE 120 II 371).

Artikel 4 Absatz 4 des Entwurfs widerspricht diesen Grundsätzen, indem er nicht nur den Angehörigen, sondern auch den Erben gestattet, die von einer verstorbenen Person eingeleitete Feststellungsklage weiterzuführen, auch wenn kein konkretes Interesse und keine Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte der Erben oder der Angehörigen gegeben sind. Wir fragen uns, ob sich eine solche Abweichung von den geltenden Grundsätzen des Persönlichkeitsrechts rechtfertigen lässt. Wenn man aber dennoch an einem Klagerecht der Angehörigen festhalten möchte, so schiene es uns konsequenter, diesen ein eigenständiges Recht einzuräumen, wie es auch das OHG tut. Einzig diejenigen Angehörigen, die selber eine Beeinträchtigung erlitten haben, namentlich deshalb, weil sie zusammen mit einer von einer Zwangssterilisation betroffenen Person keine Nachkommen haben können, wären dann klageberechtigt. Es wäre ausserdem richtig, auf eine Erwähnung der Erben zu verzichten, denn es ist schlecht ersichtlich, welcher Grund für eine Weiterführung der Feststellungsklage durch Personen sprechen könnte, deren Beziehung zur verstorbenen 6361

Person unter Umständen sehr locker war und deren Interessen ganz anders liegen könnten als diejenigen der Angehörigen.

4.4

Rolle der Opferberatungsstellen des OHG (Art. 5 Abs. 2)

Artikel 5 Absatz 2 des Entwurfs sieht vor, dass sich betroffene Personen an eine Opferberatungsstelle nach Artikel 3 OHG wenden können. Die Beratungsstelle stellt unentgeltlich Hilfe zur Verfügung, um die nötigen Recherchen und Schritte zur Einreichung eines Entschädigungs- oder Genugtuungsbegehrens zu ermöglichen.

Da sich die Anzahl allfälliger künftiger Begehren nicht genau abschätzen lässt, ist es schwierig, den zusätzlichen Arbeitsaufwand, den diese neue Aufgabe für die schon heute oft überlasteten Opferhilfestellen bringen würde, zu beziffern. Es wäre inakzeptabel, wenn die normale Hilfe für Opfer von Straftaten durch diese Zusatzaufgaben in Mitleidenschaft gezogen würde. Unserer Auffassung nach genügt Artikel 8 des Entwurfs vollauf: Danach hat die zuständige Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen und sich zu vergewissern, dass das Gesuch wenigstens kurz begründet ist. Zudem soll bei Bedarf juristische Hilfe gewährt werden. Wir schlagen deshalb vor, Artikel 5 Absatz 2 zu streichen.

4.5

Entschädigungen zu Gunsten der Kantone (Art. 13)

Wir verweisen diesbezüglich auf unsere einleitenden Bemerkungen unter Ziffer 1.

Entschädigungen des Bundes rechtfertigen sich weder gestützt auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen noch mit Blick auf den Entwurf zum NFA.

4.6

Strafrechtliche Bestimmungen (Art. 12)

Gestützt auf den am 13. Dezember 2002 verabschiedeten neuen Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches ist die Erwähnung der Haft als strafrechtliche Sanktion in Artikel 12 zu streichen.

6362

4.7

Übergangsbestimmung (Art. 15)

Wir schlagen folgende Präzisierung von Artikel 15 vor: Art. 15

Übergangsbestimmung

Gesuche um Entschädigung und um Genugtuung, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes auf Grund von Artikel 12 OHG eingereicht wurden und über die bis zu jenem Zeitpunkt noch nicht endgültig entschieden wurde, unterstehen diesem Gesetz, wenn es um einen darin geregelten Sachverhalt geht.

Wurde über ein auf das OHG oder einen anderen Erlass gestütztes Entschädigungsoder Genugtuungsgesuch bereits definitiv entschieden, so könnte die betroffene Person auf der Basis des vorliegenden Gesetzesentwurfs ein neues Gesuch einreichen. Nach Artikel 6 des Entwurfs, der seinerseits auf Artikel 14 OHG verweist, wären in diesem Fall bereits empfangene Beträge von den nach dem vorliegenden Entwurf zu entrichtenden Leistungen abzuziehen.

5

Bemerkungen zum Entwurf des Sterilisationsgesetzes

5.1

Allgemeines

Der Bundesrat unterstützt das Anliegen der Kommission, die Sterilisation im Allgemeinen und die Sterilisation urteilsunfähiger Personen im Besonderen gesetzlich zu regeln. Missbräuche, wie es sie in der Vergangenheit gegeben hat, dürfen nicht mehr vorkommen.

Wie schon der Kommissionsbericht darlegt, muss ein zukunftsgerichtetes Gesetz aber auch den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen und der viel offeneren Einstellung gegenüber der Sexualität Rechnung tragen. Während in der Vergangenheit ein Sexualleben von Personen mit einer schweren geistigen Behinderung von der Gesellschaft kaum toleriert wurde und deshalb Wohn- und Pflegeeinrichtungen in der Regel auch getrennt nach Geschlechtern geführt wurden, geniessen diese Menschen heute ein eigenständigeres und freieres Leben, auch in sexueller Hinsicht.

Wohn- und Arbeitseinrichtungen werden in der Regel nicht mehr nach Geschlechtern getrennt; sexuelle Kontakte unter den Bewohnern, wenn diese auf dem freien Willen der beteiligten Personen beruhen, werden toleriert. Die Frage nach den geeigneten Verhütungsmitteln wird damit zentral. Heute steht eine Vielzahl verschiedener Verhütungsmittel zur Verfügung, die alle ihre Vor- und Nachteile haben.

Indessen ist nicht ausgeschlossen, dass diese nicht verlässlich genug zum Einsatz kommen können oder dass etwa das periodische Injizieren der Dreimonatsspritze für die betroffene Person zu einer grossen Belastung wird. Die Folgen von Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft für die urteilsunfähige Person und einer Beschneidung der Freiheit zwecks Verhinderung von Kontakten mit dem anderen Geschlecht sind deshalb mitzuberücksichtigen. Somit muss jede Sterilisationsregelung, aber auch der konkrete Sterilisationsentscheid die auf dem Spiel stehenden höchstpersönlichen Rechte der dauernd urteilsunfähigen Person sorgfältig gegeneinander abwägen.

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Mit der Kommission ist der Bundesrat der Auffassung, dass die Sterilisation einer vorübergehend urteilsunfähigen Person ausgeschlossen ist und diejenige einer dauernd urteilsunfähigen Person nur unter strengen Voraussetzungen und nur als ultima ratio zugelassen werden darf. Der Bundesrat erachtet aber ­ insbesondere auch in Berücksichtigung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens ­ folgende Punkte des Kommissionsentwurfs als kritisch:

5.2

Begriff (Art. 2 Abs. 1)

Artikel 2 Absatz 1 des Entwurfs definiert die Sterilisation als medizinischen Eingriff, mit dem die Fortpflanzungsfähigkeit einer Person auf Dauer und grundsätzlich endgültig aufgehoben wird. Dank mikrochirurgischer Operationstechnik darf eine Sterilisation aber nicht mehr als endgültig angesehen werden. Insbesondere was die operative Rekonstruktion von nicht durch eine Infektion vorgeschädigten Eileitern, z.B. nach einer Tubensterilisation, anbelangt, sind Erfolge (d.h. Schwangerschaften mit lebendem Kind) von 80­90 Prozent heute realistisch, falls nicht weitere behindernde Faktoren (Alter über 40 Jahre; zu kurze Eileiter; männliche Subfertilität) hinzukommen. Die mikrochirurgische Refertilisierung des Mannes ist vergleichbar erfolgreich, allerdings ist die Reversibilität umso schlechter, je länger die Sterilisation zurückliegt. Die Begriffsbestimmung sollte der medizinischen Entwicklung Rechnung tragen. Zudem ist zu fordern, dass im Fall der Sterilisation dauernd Urteilsunfähiger (Art. 7) stets die Methode gewählt wird, bei der die grösste Refertilisierungsaussicht besteht.

5.3

Frage der Altersgrenze (Art. 3­5 und 7 Abs. 1)

Der Vernehmlassungsentwurf sah eine Altersgrenze von 18 Jahren für die Sterilisation vor. Die Kommissionsmehrheit will diese Grenze auf 16 Jahre senken. Der Bundesrat schlägt vor, bei den Artikeln 3­5 des Entwurfs mit der Minderheit an der Altersgrenze von 18 Jahren festzuhalten. Deren Begründung verdient Zustimmung (vgl. Ziff. 2.4 des Berichts der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats).

Zudem ist zu bedenken, dass selbst jungen Volljährigen vielfach die Reife fehlt, um den Sterilisationseingriff in seiner vollen Tragweite zu erfassen und in Bezug auf die Elternschaft eine Lebensplanung auf Dauer vorzunehmen. Die Volljährigkeitsgrenze muss deswegen eine Mindestvoraussetzung der Einwilligungsfähigkeit darstellen. Zwar ist es zivilrechtlich nicht ausgeschlossen, die Gültigkeit eines von der beschränkt handlungsunfähigen Person vorzunehmenden höchstpersönlichen Geschäfts an die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zu knüpfen. Eine allfällige Zustimmung stösst mit Blick auf das Kindeswohl aber an die Grenze der elterlichen Sorge. Dagegen stimmt der Bundesrat bei Artikel 7 Absatz 1 des Entwurfs der Kommissionsmehrheit zu. Die Situation einer Person mit einer schweren geistigen Behinderung, die keine Aussicht hat, jemals die Urteilsfähigkeit zu erlangen, ist mit der Situation einer jungen Person, die sich im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung befindet, nicht gleichzusetzen.

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5.4

Sterilisation dauernd Urteilsunfähiger (Art. 7)

Nach dem Kommissionsentwurf ist die Sterilisation dauernd Urteilsunfähiger ausnahmsweise zulässig, wenn sie «im ausschliesslichen Interesse der betroffenen Person vorgenommen wird» (Art. 7 Abs. 2 Bst. a). Unter anderem auch vor dem Hintergrund von missbräuchlichen Sterilisationen in der Vergangenheit (vgl.

Ziff. 1.4 des Berichts der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats) erscheint es dem Bundesrat richtig zu verlangen, dass die Sterilisation einer dauernd urteilsunfähigen Person nach den gesamten Umständen in deren Interesse liegen muss. In der Tat dürfen etwa gesellschaftspolitische Erwägungen nie einen Sterilisationsentscheid beeinflussen. Wie im Vernehmlassungsverfahren aber in verschiedenen Stellungnahmen hervorgehoben worden ist, geht es zu weit, die Interessen Dritter wie diejenigen der Angehörigen explizit als völlig unerheblich zu erklären. Der Bundesrat beantragt deshalb, das Wort «ausschliesslich» zu streichen.

Die Sterilisation ist ferner unzulässig, wenn die betroffene Person «Ablehnung gegen den Eingriff geäussert hat» (Art. 7 Abs. 2 Bst. a). Nach den Erläuterungen der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats geht es nicht einfach um die Ablehnung der Sterilisation als solcher, für deren Rechtsverbindlichkeit ohnehin ein geringes Mass an Urteilsfähigkeit genügen muss, sondern eine unbestimmte Angst, die zur Ablehnung des ärztlichen Eingriffs führt, ist bereits ein rechtswirksamer Widerspruch; der Arzt oder die Ärztin kann die betroffene Person bloss in einem klärenden Gespräch dabei unterstützen, Befürchtungen in Bezug auf den vorzunehmenden Eingriff als solchen zu überwinden (Ziff. 2.6.1.2 zu Art. 7). Dieses Konzept eines «natürlichen (ablehnenden) Willens» einer urteilsunfähigen Person überzeugt nicht, wie im Vernehmlassungsverfahren von verschiedener Seite betont worden ist.

Würde man es in der Praxis ernst nehmen, so würde es in der Regel faktisch zu einem Sterilisationsverbot führen, denn viele Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung haben unverhältnismässig grosse Angst vor medizinischen Untersuchungen und Massnahmen und insbesondere vor Spritzen, was sich beispielsweise auch bei zahnärztlichen Behandlungen manifestiert. Die Folgen einer negativen Entscheidung wegen Angst vor einem medizinischen Eingriff könnten aber Schwangerschaft, Geburt oder unter
bestimmten Voraussetzungen Abtreibung sein, die für eine urteilsunfähige Frau noch belastender sein dürften, denn nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe b setzt der Sterilisationsentscheid voraus, dass keine anderen geeigneten Verhütungsmethoden zur Verfügung stehen. Das Unterbinden von sexuellen Kontakten dürfte ja auch nicht im Interesse der urteilsunfähigen Person liegen.

Die Sterilisation ist nur zulässig, wenn «mit der Zeugung und der Geburt eines Kindes zu rechnen ist» (Art. 7 Abs. 2 Bst. c). Der Bundesrat unterstützt diese Voraussetzung. Die vorsorgliche Sterilisation einer sexuell inaktiven Frau im Hinblick auf die abstrakte Gefahr einer Vergewaltigung ist nicht zulässig. Der Bundesrat möchte aber in der Interpretation von Buchstabe c nicht so weit gehen wie die Kommission. Unzureichend ist nämlich laut Kommissionsbericht die allgemeine Erwartung in Bezug auf eine urteilsunfähige Person, die sich sexuell interessiert zeigt, dass eines Tages eine Partnerschaft eingegangen wird und sexuelle Kontakte stattfinden werden. Erforderlich sei vielmehr eine konkrete und ernstliche Annahme einer Schwangerschaft und einer Geburt aufgrund des Umstands, dass die betroffene Person einen Sexualpartner hat oder sexuelle Kontakte mit mehreren Partnern pflegt 6365

(Ziff. 2.6.1.2 zu Art. 7). Dieses Erfordernis ist praxisuntauglich, denn es hätte die bedenkliche Auswirkung, dass eine dauernd urteilsunfähige Frau erst ungeschützten sexuellen Kontakt pflegen muss, um die Sterilisationsvoraussetzung zu erfüllen. Da heute Heime, Wohngruppen usw. für geistig behinderte Personen kaum mehr nach Geschlechtern getrennt geführt werden, ist ein rechtzeitiger Schutz vor ungewollter Schwangerschaft unabdingbar, können Betreuungspersonen doch kaum voraussehen, wann genau Beziehungen intimen Charakter annehmen.

Voraussetzung ist schliesslich nach dem Kommissionsentwurf, dass eine Schwangerschaft, die Elternschaft oder die unvermeidliche Trennung vom Kind die körperliche oder seelische Gesundheit der betroffenen Frau oder des betroffenen Mannes ernsthaft gefährden würde (Art. 7 Abs. 2 Bst. d). Daraus folgt nach dem erläuternden Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats die Unzulässigkeit der Sterilisation, wenn die unvermeidliche Trennung vom Kind die körperliche oder seelische Gesundheit des betroffenen Elternteils ­ etwa wegen pathologischer Indifferenz ­ nicht (ernsthaft) gefährdet. Der blosse Umstand, dass die betroffene Person sich um das Kind nicht kümmern könne und somit von ihm getrennt werden müsse, vermöge die Sterilisation nicht zu rechtfertigen (Ziff. 2.6.1.2 zu Art. 7). Das heisst mit anderen Worten, dass eine urteilsunfähige Person, die in der Lage ist, emotional eine Beziehung zu einem Kind aufzubauen, sterilisiert werden darf, während für eine Person, die wegen ihrer schweren geistigen Behinderung emotional indifferent ist, ein Sterilisationsverbot bestünde. Das überzeugt nicht. Hinzu kommt, dass die Belastung durch die Schwangerschaft und der grosse Schmerz durch die spätere Trennung vom Kind wohl viel eher bei der Frau als beim Mann zum Tragen kommen, so dass die Gefahr besteht, dass die Voraussetzungen einer Sterilisation bei der Frau bedeutend rascher als erfüllt angesehen werden als beim Mann. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die Gefährdung der körperlichen oder seelischen Gesundheit der betroffenen Person durch Schwangerschaft, Elternschaft oder die unvermeidliche Trennung vom Kind ohnehin kaum verlässlich diagnostizierbar und prognostizierbar ist. Der Bundesrat schlägt deshalb vor, den Buchstaben c objektiver zu fassen und die
sorgerechtliche Indikation der unvermeidlichen Trennung vom Kind selbstständig auszugestalten. Diese schliesst das Leid, das durch die Trennung für die Mutter oder den Vater entstehen kann, implizit ein. Daneben muss auch der Fall berücksichtigt werden, dass die Schwangerschaft die Gesundheit der betroffenen Frau erheblich gefährden würde.

Als Letztes ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff der dauernden Urteilsunfähigkeit nicht besonders klar ist. Der Bundesrat würde es deshalb begrüssen, wenn in einem weiteren Buchstaben präzisiert würde, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die betroffene Person keine Aussicht hat, jemals die Urteilsfähigkeit zu erlangen.

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6

Anträge des Bundesrates zum Entwurf des Sterilisationsgesetzes

Gestützt auf die voranstehenden Ausführungen beantragt der Bundesrat, die Artikel 2 Absatz 1, 3 und 7 wie folgt zu formulieren (Änderungen kursiv): Art. 2 Abs. 1 1

Die Sterilisation ist ein medizinischer Eingriff, mit dem die Fortpflanzungsfähigkeit einer Person auf Dauer aufgehoben wird.

Art. 3

Sterilisation von Personen unter 18 Jahren

Die Sterilisation einer Person unter 18 Jahren ist verboten. Artikel 7 bleibt vorbehalten.

Art. 7

Sterilisation dauernd Urteilsunfähiger

1

Die Sterilisation einer über 16-jährigen, dauernd urteilsunfähigen Person ist unter Vorbehalt von Absatz 2 ausgeschlossen.

2

Sie ist ausnahmsweise zulässig, wenn: a.

sie nach den gesamten Umständen im Interesse der betroffenen Person vorgenommen wird (Rest streichen);

b.

die Zeugung und die Geburt eines Kindes nicht durch geeignete andere Verhütungsmethoden oder durch die freiwillige Sterilisation des urteilsfähigen Partners oder der urteilsfähigen Partnerin verhindert werden können;

c.

mit der Zeugung und der Geburt eines Kindes zu rechnen ist;

d.

nach der Geburt die Trennung vom Kind unvermeidlich wäre, weil die Elternverantwortung nicht wahrgenommen werden kann, oder die Schwangerschaft die Gesundheit der betroffenen Frau erheblich gefährden würde;

e.

keine Aussicht besteht, dass die betroffene Person jemals die Urteilsfähigkeit erlangt;

f.

die Operationsmethode mit der grössten Refertilisierungsaussicht gewählt wird;

g.

die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde nach Artikel 8 zugestimmt hat.

6367

7

Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat lehnt den Antrag vom 23. Juni 2003 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats betreffend den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen ab.

Dagegen stimmt er dem Entwurf eines Sterilisationsgesetzes grundsätzlich zu. Bei den Artikeln 3­5 schliesst sich der Bundesrat der Kommissionsminderheit an. Die Anträge zu den Artikeln 2 Absatz 1, 3 und 7 finden sich unter Ziffer 6.

6368