Bundesgesetz über die Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen

Entwurf 2

vom

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf Artikel 124 der Bundesverfassung1, nach Einsicht in den Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 23. Juni 20032 und in die Stellungnahme des Bundesrates vom 3. September 20033, beschliesst:

1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 1

Gegenstand und Geltungsbereich

1

Dieses Gesetz regelt die Entschädigung und die Genugtuung für Personen, die in der Schweiz vor Inkrafttreten dieses Gesetzes Opfer einer Zwangssterilisation oder einer Zwangskastration geworden sind.

2

Es ist nicht anwendbar auf Sterilisationen und Kastrationen, die vorgenommen wurden: a.

um eine ernsthafte Gefahr für die physische oder psychische Gesundheit der betroffenen Person abzuwenden; oder

b.

zur Behandlung von psychisch schwer gestörten Sexualstraftätern, die sich einem solchen Eingriff freiwillig unterzogen haben.

Art. 2

Zwangskastration

Als Zwangskastration gilt jede Kastration im Geltungsbereich dieses Gesetzes.

Art. 3

Zwangssterilisation

1

Als Zwangssterilisation gilt jede Sterilisation einer Person, die im Zeitpunkt des Eingriffs weniger als 16 Jahre alt war.

2

Als Zwangssterilisation gilt die Sterilisation einer über 16-jährigen Person, wenn diese nicht frei und nach umfassender Information zugestimmt hat. Dies ist namentlich der Fall, wenn:

1 2 3

SR 101 BBl 2003 6311 BBl 2003 6355

2003-1507

6349

Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen. BG

a.

die betroffene Person zur Zustimmung gedrängt wurde durch Ausübung von Druck, insbesondere durch Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses; oder

b.

die Willensfreiheit der betroffenen Person mit einem Mangel wie Irrtum, absichtlicher Täuschung oder Furchterregung behaftet war.

3 Nicht als Zwangssterilisation gilt eine Sterilisation, wenn die betroffene Person im Zeitpunkt des Eingriffs urteilsunfähig war und ihr gesetzlicher Vertreter der Sterilisation zugestimmt hat und der Eingriff im ausschliesslichen Interesse der betroffenen Person vorgenommen wurde.

2. Abschnitt: Leistungen und Verfahren Art. 4

Entschädigung und Genugtuung

1

Die betroffene Person kann eine Entschädigung für den erlittenen Schaden verlangen, wenn ihre anrechenbaren Einnahmen nach Artikel 3c des Bundesgesetzes vom 19. März 19654 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG) das Vierfache des massgebenden Höchstbetrages für den allgemeinen Lebensbedarf nach Artikel 3b Absatz 1 Buchstabe a ELG nicht übersteigen.

2 Unabhängig von ihrem Einkommen kann die betroffene Person eine Genugtuung verlangen.

3

Der Anspruch auf Genugtuung ist persönlich; er kann weder vererbt noch abgetreten werden.

4 Stirbt die betroffene Person, bevor das Verfahren abgeschlossen ist, so hat ein Erbe oder ein Angehöriger das Recht, die Widerrechtlichkeit der Sterilisation oder der Kastration feststellen zu lassen.

Art. 5

Gesuchseinreichung

1

Die betroffene Person muss ihr Gesuch auf Entschädigung oder Genugtuung innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieses Gesetzes stellen; sonst verwirkt der Anspruch.

2 Sie kann zur Vorbereitung und Einreichung des Gesuchs unentgeltlich die Hilfe der zuständigen Behörde ihres Wohnsitzkantons oder einer Opferberatungsstelle nach Artikel 3 des Opferhilfegesetzes vom 4. Oktober 19915 (OHG) in Anspruch nehmen.

4 5

SR 831.30 SR 312.5

6350

Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen. BG

Art. 6

Voraussetzungen und Bemessung der Leistungen

1

Für die Zusprechung und Bemessung der Entschädigung und der Genugtuung gelten die Artikel 11­15 OHG6 sowie die dazugehörigen Ausführungsbestimmungen sinngemäss. Die Genugtuung beträgt höchstens 80 000 Franken.

2 Wird eine Entschädigung oder eine Genugtuung nach diesem Gesetz zugesprochen, so kann die betroffene Person aus demselben Grund keine Ansprüche nach Artikel 12 OHG geltend machen. Vorbehalten bleiben die Soforthilfe und die langfristige Hilfe, wie sie von den Opferberatungsstellen gewährt werden.

Art. 7

Zuständige Behörde

1

Die Kantone bestimmen die Behörde, die für die Prüfung der Gesuche der betroffenen Personen und für die Gewährung einer Entschädigung oder einer Genugtuung zuständig ist.

2 Die Gewährung einer Entschädigung oder einer Genugtuung obliegt dem Kanton, dessen Behörde die Zwangssterilisation oder -kastration angeordnet oder bewilligt hat. In den übrigen Fällen ist derjenige Kanton zur Gewährung von Entschädigung und Genugtuung verpflichtet, auf dessen Gebiet der Eingriff stattgefunden hat.

3

Die Kantone bestimmen eine einzige, von der Verwaltung unabhängige Beschwerdeinstanz; diese hat freie Überprüfungsbefugnis.

Art. 8 1

Verfahren

Das Gesuch um Entschädigung oder um Genugtuung muss kurz begründet werden.

2

Die zuständige Behörde stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest. Sie entscheidet in einem einfachen und raschen Verfahren.

3

Das Verfahren ist unentgeltlich, ausgenommen bei offensichtlich mutwilligen Gesuchen.

4

Die Opferberatungsstellen gewähren der betroffenen Person bei Bedarf juristische Hilfe. Artikel 3 Absatz 4 OHG7 gilt sinngemäss.

Art. 9

Geheimhaltungspflicht

Die zuständige Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 sowie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstehen dem Amtsgeheimnis.

Art. 10

Pflicht zur Aufbewahrung von Beweismaterial

Es ist verboten, Material, das der Erhebung des Sachverhalts dienen kann, zu vernichten oder die Einsichtnahme auf andere Weise zu erschweren.

6 7

SR 312.5 SR 312.5

6351

Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen. BG

Art. 11

Recht auf Einsicht in das Beweismaterial

1

Natürliche und juristische Personen, ihre Rechtsnachfolger sowie die Behörden und Verwaltungsstellen sind gehalten, der zuständigen Behörde Zugang zum Beweismaterial zu verschaffen, das dieser bei ihren Nachforschungen dient. Die gleiche Verpflichtung besteht gegenüber der Behörde oder der Beratungsstelle, bei der ein Beistandsgesuch nach Artikel 5 Absatz 2 gestellt worden ist.

2 Die Verpflichtung nach Absatz 1 geht jeder gesetzlichen oder vertraglichen Geheimhaltungspflicht vor.

3 Wer geltend macht, Opfer einer Zwangssterilisation oder -kastration zu sein, ist berechtigt, Einsicht in das ihn betreffende Beweismaterial zu nehmen. Die natürlichen und juristischen Personen sowie die Behörden nach Absatz 1 sind gehalten, der betroffenen Person Zugang zum Beweismaterial zu verschaffen.

3. Abschnitt: Strafbestimmungen Art. 12 1

Mit Haft oder Busse bis zu 50 000 Franken wird bestraft, wer vorsätzlich gegen Artikel 10 oder gegen Artikel 11 Absätze 1 und 2 verstösst. Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Busse bis 10 000 Franken.

2 Die Strafbarkeit von Verletzungen des Amtsgeheimnisses nach Artikel 320 des Strafgesetzbuchs8 bleibt vorbehalten.

3 Auf Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben sind die Artikel 6 und 7 des Bundesgesetzes vom 22. März 19749 über das Verwaltungsstrafrecht anwendbar.

4

Die Kantone sind für die Strafverfolgung zuständig.

4. Abschnitt: Vollzug Art. 13

Abgeltungen an die Kantone

Der Bund entrichtet den Kantonen Abgeltungen in Höhe von 50 Prozent der tatsächlichen Ausgaben für Entschädigung und Genugtuung.

Art. 14 1

8 9

Information der Öffentlichkeit

Der Bund und die Kantone informieren die Bevölkerung über: a.

das Inkrafttreten dieses Gesetzes;

b.

die Frist zur Einreichung eines Gesuchs um Entschädigung oder um Genugtuung.

SR 311.0 SR 313.0

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Entschädigung der Opfer von Zwangssterilisationen und Zwangskastrationen. BG

2

Sie gestalten die Information so, dass diese möglichst alle von Zwangssterilisation oder -kastration Betroffenen erreicht.

5. Abschnitt: Schlussbestimmungen Art. 15

Übergangsbestimmung

Gesuche um Entschädigung und um Genugtuung, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes auf Grund von Artikel 12 OHG10 eingereicht wurden, unterstehen diesem Gesetz, wenn es um einen darin geregelten Sachverhalt geht.

Art. 16 1

Referendum, Inkrafttreten und Geltungsdauer

Dieses Gesetz untersteht dem fakultativen Referendum.

2

Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten. Er hebt dieses Gesetz auf, sobald alle innerhalb der Frist nach Artikel 5 eingereichten Entschädigungs- und Genugtuungsgesuche mit einem rechtskräftigen Entscheid abgeschlossen sind.

10

SR 312.5

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