03.033 Botschaft über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Waadt vom 30. April 2003

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen hiermit den Entwurf zu einem einfachen Bundesbeschluss über die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Waadt mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

30. April 2003

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Pascal Couchepin Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

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2003-0170

Übersicht Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Die Gewährleistung wird erteilt, wenn die Kantonsverfassung dem Bundesrecht nicht widerspricht. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

Die Stimmberechtigten des Kantons Waadt haben in der Volksabstimmung vom 22. September 2002 die totalrevidierte Kantonsverfassung angenommen. Die neue Verfassung präsentiert sich sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht als ein neuzeitliches Grundgesetz. Sie weist eine klare Systematik auf und der Text ist den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten unserer Zeit angepasst. Die Verfassung zeichnet sich ausserdem durch folgende materielle Neuerungen aus, die dazu beitragen, dass die neue Verfassung mehr als eine Nachführung darstellt: Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre, Schaffung eines Verfassungsgerichts und eines Rechnungshofs, Einführung einer Schuldenbremse, Förderung des Zusammenschlusses von Gemeinden, Reduktion der Zahl der Bezirke, Stimmrecht auf kommunaler Ebene für Ausländerinnen und Ausländer, die sich seit zehn Jahren in der Schweiz und seit drei Jahren im Kanton aufhalten, sowie Anerkennung der Israelitischen Gemeinde als Institution von öffentlichem Interesse.

Schliesslich enthält die neue Verfassung einen sehr detaillierten Grundrechtskatalog und führt eine relativ lange Liste von Aufgaben auf, welche der Staat und die Gemeinden zu erfüllen haben.

Die Prüfung hat ergeben, dass sämtliche Verfassungsartikel die Voraussetzungen für die Gewährleistung erfüllen. In dieser Botschaft wird daher im Einzelnen lediglich auf Bestimmungen eingegangen, die in einem direkten Verhältnis zu bundesrechtlich geregelten Materien stehen.

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Botschaft 1

Geschichtlicher Werdegang der Totalrevision

In der Volksabstimmung vom 7. Juni 1998 beschlossen die Stimmberechtigten des Kantons Waadt, ihre Verfassung vom 1. März 1885 einer Totalrevision zu unterziehen, und beauftragten einen Verfassungsrat mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Am 7. Februar 1999 haben die Stimmberechtigten die 180 Mitglieder des Verfassungsrates gewählt. Von September 1999 bis Juni 2000 haben sechs nach Themenkreisen gebildete Kommissionen mit je 30 Mitgliedern Vorschläge grundsätzlicher Art ausgearbeitet. Nachdem jeder der Vorschläge dieser Kommissionen geprüft worden war, hat der Verfassungsrat einen Vorentwurf ausgearbeitet, der im Sommer 2001 dem Volk zur Vernehmlassung unterbreitet wurde. Ab November 2001 hat der Verfassungsrat an der Ausarbeitung des endgültigen Entwurfs gearbeitet und am 17. Mai 2002 den Entwurf einer neuen Verfassung mit 135 Ja gegen 16 Nein bei 10 Enthaltungen verabschiedet; damit hat er nach drei Jahren Arbeit den vom Volk erteilten Auftrag erfüllt. Der Text der neuen Verfassung wurde schliesslich von den Stimmberechtigten des Kantons Waadt am 22. September 2002 mit 87 099 Ja gegen 68 775 Nein gutgeheissen.

Mit Schreiben vom 11. November 2002 ersucht der Staatsrat des Kantons Waadt um die eidgenössische Gewährleistung.

2

Aufbau und Inhalt der Verfassung

Mit der neuen Verfassung wurde angestrebt, die grundlegenden Prinzipien der Wirkungsweise und der Organisation des Staates sowie die wichtigsten Aufgaben der kantonalen Behörden zu definieren. Den Bedürfnissen der heutigen Zeit angepasst, präzisiert die neue Verfassung in strukturierter Weise und in einer für die Bürgerinnen und Bürger verständlichen Sprache die Grundrechte, die Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Kantons und der Gemeinden sowie die Organisation der staatlichen Institutionen. Im Vergleich zur Verfassung von 1885 stellt das neue Grundgesetz mehr als nur eine formale Verbesserung dar. Die wichtigsten materiellen Neuerungen können wie folgt zusammengefasst werden: ­

Bezüglich des Grossen Rates und des Staatsrates ist darauf hinzuweisen, dass deren Mitglieder künftig für eine Dauer von fünf Jahren gewählt werden (Art. 92 und 113 Abs. 1), die Anzahl der Parlamentsmitglieder von 180 auf 150 reduziert wird (Art. 92), der Staatsrat ebenfalls für fünf Jahre seine Präsidentin oder seinen Präsidenten bestimmt, die oder der für die Kohärenz des Regierungshandelns zu sorgen hat (Art. 115), die Mitglieder des Staatsrates nicht gleichzeitig den eidgenössischen Räten angehören dürfen (Art. 92 Abs. 2) und dass schliesslich der Staatsrat seine Ziele in einem Legislaturprogramm festlegt, das für seine Mitglieder verbindlich ist (Art. 119).

­

Im Bereich der Justizbehörden ist vor allem auf die Einführung eines Verfassungsgerichts hinzuweisen, dem grundsätzlich die Überprüfung der kantonalen Bestimmungen auf Konformität mit übergeordnetem Recht obliegt (Art. 136), ferner auf die Tatsache, dass das gegenwärtige Verwaltungs-

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gericht künftig Teil des Kantonsgerichts sein wird, sowie auf die Möglichkeit für Kantonsrichter, abweichende Meinungen zu Entscheiden zum Ausdruck zu bringen (Art. 134).

­

Die Mediation wird auf zwei Ebenen anerkannt: auf Verwaltungsebene, wo seit einigen Jahren bereits provisorisch eine Ombudsstelle besteht, wird diese künftig von einer vom Parlament gewählten Ombudsperson geleitet; im privaten Bereich ist vorgesehen, dass der Staat die Mediation fördern kann (Art. 43).

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Es wird ein Rechnungshof geschaffen, der den Auftrag hat, in unabhängiger Weise zu prüfen, ob die öffentlichen Finanzen regulär, effizient und gesetzeskonform geführt werden (Art. 166).

­

Die neue Verfassung führt einen Mechanismus zur Eindämmung der Verschuldung ein, durch den der Staat verpflichtet wird, möglichst immer ein ausgeglichenes Betriebsbudget auszuweisen (Art. 164).

­

Den Gemeinden werden Bestand und Gebiet garantiert (Art. 137 Abs. 2). Sie werden ­ namentlich mit finanziellen Mitteln ­ dazu ermutigt, sich zusammenzuschliessen (Art. 151), wobei der Staat keinen Zusammenschluss ohne die Zustimmung der Stimmberechtigten der betroffenen Gemeinden beschliessen kann (Art. 154).

­

Die neue Verfassung sieht vor, dass innerhalb von zehn Jahren nach ihrem Inkrafttreten die Zahl der Bezirke ­ gegenwärtig 19 ­ auf etwa 8 bis 12 reduziert wird (Übergangsbestimmung zu Art. 158).

­

Auf kommunaler Ebene erhalten Ausländerinnen und Ausländer, die sich seit mindestens 10 Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten und seit mindestens drei Jahren im Kanton wohnhaft sind, das Stimmrecht (Art. 142 Abs. 1 Bst. b).

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Die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern, welche der Staat und die Gemeinden erleichtern müssen, erfolgt künftig in einem schnellen und kostenlosen Verfahren (Art. 69).

­

Innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der neuen Verfassung wird eine Mutterschaftsversicherung eingerichtet, sofern die nach Artikel 116 Absatz 3 BV vorgesehene Mutterschaftsversicherung noch nicht angenommen worden ist (Art. 64 Abs. 1 und Übergangsbestimmung dazu).

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Die Israelitische Gemeinde ist künftig als Institution von öffentlichem Interesse anerkannt (Art. 171).

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Es wird ein kommunaler Finanzausgleich eingeführt, um die Ungleichheiten aus der unterschiedlichen Steuerkraft der Gemeinden zu mildern (Art. 168 Abs. 2).

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Der Staat und die Gemeinden haben künftig die soziale Aufgabe, Massnahmen zu ergreifen, um die Autonomie und die Integration von Menschen mit Behinderungen zu stärken (Art. 61 Abs. 2).

­

Die neue Verfassung garantiert die freie Wahl anderer Lebensformen als der Ehe (Art. 14 Abs. 2).

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Im Gegensatz zur alten enthält die neue Verfassung eine Präambel, welche den Geist der Verfassung zum Ausdruck bringt und eine Leitlinie für die staatliche Tätigkeit darstellt. Die folgenden 180 Artikel sind in 10 Titel unterteilt: Allgemeine Bestimmungen und Grundsätze, Grundrechte, Aufgaben und Verantwortlichkeit des Staates und der Gemeinden, Das Volk, Kantonale Behörden, Gemeinden und Bezirke, Finanzordnung, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Revision der Verfassung sowie Übergangs- und Schlussbestimmungen.

Im ersten Titel (Art. 1­8) werden der Kanton Waadt, seine Form und seine Struktur definiert, das Wappen, die Amtssprache und der Hauptort des Kantons festgelegt, die Ziele und Grundsätze von Staat und Gemeinden umschrieben, die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns festgelegt und der Grundsatz der individuellen Verantwortlichkeit verankert.

Der zweite Titel (Art. 9­38) enthält einen sehr ausführlichen Grundrechtskatalog, der mit einer Bestimmung über die Einschränkung der Grundrechte abgeschlossen wird.

Der dritte Titel (Art. 39­73) ist den Aufgaben und der Verantwortlichkeit des Staates und der Gemeinden gewidmet. Zunächst werden die allgemeinen Grundsätze über die Erfüllung der Aufgaben festgelegt und darauf die verschiedenen öffentlichen Aufgaben in den folgenden Bereichen präzisiert: Justiz, Mediation und Sicherheit; Unterricht und Bildung; Natur- und Kulturerbe, Umwelt, Kultur und Sport; Raumplanung, Energie, Verkehr und Kommunikation; Wirtschaft; Sozialpolitik und Gesundheitswesen; Integration der Ausländerinnen und Ausländer sowie Einbürgerung; Vereinsleben und ehrenamtliche Tätigkeit; humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit; Zukunftsfragen; Verantwortlichkeit des Staates und der Gemeinden.

Der vierte Titel (Art. 74­88) betrifft das Volk und regelt die politischen Rechte. Die Stimmberechtigung auf kantonaler Ebene und die Wahlzuständigkeiten werden festgelegt. Es werden das Initiativ- und Referendumsrecht sowie das diesbezügliche Verfahren geregelt. Die Einsetzung einer Jugendkommission soll für eine bessere Beteiligung der Jugendlichen am öffentlichen Leben sorgen. Die Rolle der politischen Parteien wird anerkannt.

Der fünfte Titel (Art. 89­136) verankert ausdrücklich den Grundsatz der Gewaltenteilung, legt die Fälle von Unvereinbarkeit fest, regelt Zusammensetzung,
Organisation und Kompetenzen von Parlament (Grosser Rat), Regierung (Staatsrat) und Justizbehörden, namentlich des Kantonsgerichts und dessen neuer Abteilung, des Verfassungsgerichts.

Der sechste Titel (Art. 137­160) enthält die Grundlagen der politischen Organisation der Gemeinden und verankert den Grundsatz ihrer Aufsicht. Er garantiert die Existenz der Gemeinden, deren Autonomie sowie deren Gebiet. Ausserdem enthält dieser Titel allgemeine Bestimmungen über die Fusion von Gemeinden und die Förderung der interkommunalen Zusammenarbeit. Schliesslich ist in diesem Titel die Grundlage der Gebietsaufteilung in Bezirke enthalten.

Der siebte Titel (Art. 161­168) ist dem Finanzwesen gewidmet. Es wird bestimmt, dass jede Ausgabe einer gesetzlichen Grundlage bedarf, die Haushaltsführung sparsam und effizient und das Betriebsbudget ausgeglichen sein muss. Es wird zudem ein Rechnungshof eingeführt, der mit der Kontrolle des öffentlichen Finanzhaushalts

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betraut ist. Im Weiteren werden die Grundlagen der Besteuerung sowie der Grundsatz des interkommunalen Finanzausgleichs verankert.

Im achten Titel (Art. 169­172) werden die evangelisch-reformierte und die römischkatholische Kirche als öffentlich-rechtliche Institutionen anerkannt und ihnen die für die Erfüllung von Aufgaben zu Gunsten der gesamten Bevölkerung notwendigen Mittel zugesichert. Zudem wird die Israelitische Gemeinde als Institution von öffentlichem Interesse anerkannt, ein Status, der auch weiteren Religionsgemeinschaften zuerkannt werden kann.

Der neunte Titel (Art. 173 und 174) enthält die Bestimmungen über Total- und Teilrevision der Verfassung.

Im zehnten Titel (Art. 175­180) sind die Übergangs- und Schlussbestimmungen festgelegt.

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Voraussetzungen für die Gewährleistung

3.1

Allgemeines

Nach Artikel 51 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV) gibt sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung. Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt. Nach Absatz 2 des gleichen Artikels bedürfen die Kantonsverfassungen der Gewährleistung des Bundes. Die Gewährleistung wird erteilt, wenn die Kantonsverfassung dem Bundesrecht nicht widerspricht. Erfüllt eine kantonale Verfassung diese Anforderungen, so ist die Gewährleistung zu erteilen; erfüllt eine kantonale Verfassungsnorm eine dieser Voraussetzungen nicht, so ist die Gewährleistung zu verweigern.

3.2

Annahme durch das Volk

Die neue Verfassung wurde dem Volk am 22. September 2002 zur Abstimmung unterbreitet. Die Stimmberechtigten des Kantons Waadt haben sie mit grosser Mehrheit (vgl. Ziff. 1) angenommen.

Artikel 51 Absatz 1 BV, der die Zustimmung des Volkes zur Kantonsverfassung verlangt, ist daher erfüllt.

3.3

Revidierbarkeit

Die Artikel 173 und 174 in Verbindung mit Artikel 74 sowie mit den Artikeln 78­ 82 der neuen Verfassung regeln das Verfahren der Verfassungsrevision. Die Totalrevision oder die Teilrevision der Kantonsverfassung kann sowohl vom Grossen Rat als auch vom Volk verlangt werden (Art. 173 Abs. 1 und 174 Abs. 1). Nach Artikel 79 Absatz 2 kann eine bestimmte Anzahl von Stimmberechtigten eine Revision der Verfassung verlangen: 18 000 eine Totalrevision und 12 000 eine Teilrevision. Die freie Revidierbarkeit der Verfassung im Sinne von Artikel 51 Absatz 1 BV ist damit gesichert.

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3.4

Demokratische Verfassung

Eine kantonale Verfassung genügt den Anforderungen an die demokratische Ausgestaltung, wenn sie ein gewähltes Parlament vorsieht und den Grundsatz der Gewaltenteilung beachtet (BBl 1997 I 218). Nach Artikel 39 Absatz 1 BV fällt die Regelung der Ausübung der politischen Rechte auf kantonaler Ebene in die Kompetenz der Kantone. Bei der Ausübung dieser Kompetenz sind die Kantone jedoch verpflichtet, gewisse materielle bundesrechtliche Regelungen zu beachten, so namentlich den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 8 BV und den Grundsatz des allgemeinen und gleichen Stimm- und Wahlrechts (BBl 2001 2489; Ulrich Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Auflage, Zürich 2001, Rz. 1016). Bei der Verwirklichung des Grundsatzes der Gewaltenteilung besteht ein grosser Gestaltungsspielraum; die Art und Weise, wie die Kantone diesen Grundsatz in ihrem Verfassungsrecht verwirklichen, fällt denn auch in ihre Kompetenz (BBl 1995 I 977).

Die Artikel 77 Absatz 1 Buchstabe a und 93 Absatz 1 der neuen Verfassung sehen vor, dass die Mitglieder des Grossen Rates vom Volk, d.h. von allen Personen, die nach Artikel 74 stimmberechtigt sind, gewählt werden. Nach Artikel 74 der Waadtländer Verfassung steht das Stimmrecht auf kantonaler Ebene den im Kanton wohnhaften Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind (Abs. 1). Die gleiche Bestimmung verpflichtet den Gesetzgeber zudem, ein Verfahren vorzusehen, das es wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigten Personen erlaubt, ihre Urteilsfähigkeit nachzuweisen und das Stimmrecht zu erlangen bzw. wiederzuerlangen (Abs. 2).

Artikel 74 Absatz 1 der neuen Verfassung entspricht der fast in allen Kantonen geltenden Regelung, die faktisch durch Artikel 39 Absatz 3 BV vorgegeben wird, wonach die Ausübung der politischen Rechte in mehr als einem Kanton untersagt ist.

Indem Artikel 74 Absatz 2 der neuen Verfassung zum Ausdruck bringt, dass eine im Sinne von Artikel 369 ZGB entmündigte Person nicht in jedem Fall unfähig ist, öffentliche Angelegenheiten zu beurteilen, wird eine Regelung getroffen, die mit dem in Artikel 8 Absatz 2 BV festgelegten Diskriminierungsverbot zu vereinbaren ist.

Bei den durch die neue Verfassung den Stimmberechtigten des Kantons Waadt
zugestandenen politischen Rechten sind neben dem Recht, die Mitglieder des Grossen Rates zu wählen (Art. 77 Abs. 1 Bst. a und 93 Abs. 1), das Recht, die Mitglieder des Staatsrates (Art. 77 Abs. 1 Bst. b und 114 Abs. 1) und die Vertretung des Kantons Waadt im Ständerat (Art. 77 Abs. 1 Bst. c) zu wählen, das Recht, eine Verfassungsoder Gesetzesinitiative zu ergreifen (Art. 78 Bst. a und b), sowie das obligatorische (Art. 83) und das fakultative (Art. 84) Referendum zu erwähnen.

Die in den Artikeln 89ff. festgelegte Behördenorganisation des Kantons Waadt (vgl.

dazu auch Ziff. 3.5.5) entspricht in allen Teilen dem Grundsatz der Gewaltenteilung, welcher überdies ausdrücklich verankert wird (Art. 89 Abs. 1).

Artikel 51 Absatz 1 BV, der von den Kantonen eine demokratische Verfassung verlangt, ist damit eingehalten.

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3.5

Bundesrechtmässigkeit

3.5.1

Allgemeines

Bei der Prüfung einer totalrevidierten Kantonsverfassung auf ihre Übereinstimmung mit dem Bundesrecht stellt sich insbesondere das Problem, dass eine kantonale Grundordnung, die im Wesentlichen auf einige Jahrzehnte hinaus konzipiert ist, an der (vor allem auf Gesetzesebene) sich rascher ändernden Gesamtordnung des Bundes gemessen werden muss. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass die neue Kantonsverfassung einzelne Bestimmungen enthält, die durch neues Bundesrecht später in ihrer Bedeutung geschmälert oder gar gegenstandslos gemacht werden können.

Der Kanton kann in Gebieten, die unter eine ausschliessliche Bundeskompetenz fallen, keine Regelungen vornehmen. Er darf dagegen Aufgaben wahrnehmen, die von einer umfassenden, jedoch nicht voll ausgeschöpften Bundeskompetenz erfasst werden. Solche kantonalen Verfassungsnormen haben dann neben dem Bundesrecht eine stärker eingeschränkte Bedeutung, als nach ihrem Wortlaut geschlossen werden könnte; solange sie aber im Rahmen einer bundesrechtskonformen Auslegung eine kantonale Restkompetenz wahrnehmen, müssen sie als bundesrechtmässig gewährleistet werden.

3.5.2

Aufbau und Gliederung des Kantons

Die neue Verfassung nennt als territoriale Einheiten des Kantons die Bezirke und die Gemeinden (Art. 1 Abs. 5, 137 Abs. 2 und 158 Abs. 1 erster Satz). Zwar umschreibt die Verfassung selbst weder das Gebiet der Bezirke und der Gemeinden noch bestimmt sie deren Anzahl (Art. 158 Abs. 1 zweiter Satz), garantiert jedoch ausdrücklich die Existenz der Gemeinden (Art. 137 Abs. 2) und sieht vor, dass innerhalb von 10 Jahren nach Inkrafttreten dieser Verfassung die Zahl der Bezirke auf eine Anzahl von acht bis zwölf zu reduzieren ist (Art. 179 Ziff. 5, Übergangsbestimmung zu Art. 158). Zudem schliesst sie die zwangsweise Fusion von Gemeinden aus (Art. 151 Abs. 4 und 154), sieht aber vor, dass die interkommunale Zusammenarbeit vorgeschrieben werden kann, wenn es für die Erfüllung bestimmter Aufgaben der Gemeinden oder die gerechte Lastenverteilung unter den Gemeinden erforderlich ist (Art. 155 Abs. 3). Die Gemeindeautonomie wird ausdrücklich in der Verfassung verankert (Art. 139); die Aufgaben der Gemeinden sind diejenigen, die ihnen die Verfassung und das Gesetz zuweisen und die sie besser als der Staat erfüllen können (Art. 138). Die Verfassung führt ausserdem einen Finanzausgleich zwischen den Gemeinden ein, welcher die Ungleichheiten der Steuerbelastung, die sich aus der unterschiedlichen Steuerkraft der Gemeinden ergeben, mildern soll (Art. 168 Abs. 2). Sie legt ausserdem die minimalen Anforderungen der demokratischen Organisation der Gemeinden fest (Art. 141 ff.) und sieht dabei namentlich vor, dass die Mitglieder der gesetzgebenden Behörden (Gemeinderat oder Generalrat) und der Gemeindeexekutive von den Stimmberechtigten zu wählen sind (Art. 144 Abs. 1 und 149 Abs. 1). Schliesslich unterstellt die Verfassung die Gemeinden der Aufsicht des Kantons, der darüber zu wachen hat, dass diese ihre Tätigkeiten gesetzeskonform ausüben (Art. 140).

Alle diese Bestimmungen liegen im Bereich der kantonalen Organisationskompetenz und enthalten nichts, was dem Bundesrecht zuwiderläuft.

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3.5.3

Grundrechte

Nach Lehre und Rechtsprechung haben die Grundrechte der Kantone so weit selbständige Bedeutung, als sie einen über das Bundesrecht hinausgehenden Schutz gewähren (Andreas Auer/Giorgio Malinverni/Michel Hottelier, Droit constitutionnel suisse, vol. II: Les droits fondamentaux, Bern 2000, S. 40 ff.; Vincent Martenet, L'autonomie constitutionnelle des cantons, Basel 1999, S. 420 ff.; BGE 121 I 267, 269; 119 I 53, 55). Das bedeutet, dass die Kantone die gleichen Rechte wie der Bund garantieren oder auch darüber hinausgehen können. Es bedeutet aber auch, dass die Gewährleistung dort nicht erteilt werden darf, wo der Kanton mit ausdrücklicher und zwingender Vorschrift einen geringeren Schutzumfang festlegt, als dies der Bund mit seinen Grundrechten tut.

Der Grundrechtskatalog der neuen Verfassung des Kantons Waadt geht in einigen Punkten über den vom Bundesrecht gewährleisteten Umfang hinaus. Er bleibt dagegen für kein Grundrecht hinter dem Bundesrecht zurück. Dazu ist zu bemerken, dass Artikel 27 Absatz 3 der neuen Verfassung, in dem nur der Rechtsbeistand erwähnt wird, so zu verstehen ist, dass diese Bestimmung es nicht ausschliesst, im gegebenen Fall darunter den kostenlosen Rechtsbeistand zu verstehen; somit verankert Artikel 27 Absatz 3 eine Garantie, die identisch ist mit derjenigen von Artikel 29 Absatz 3 BV. Einer Gewährleistung steht daher nichts entgegen.

Die meisten der in den Artikeln 9 ff. verankerten Grundrechte haben ihre Entsprechung in der Bundesverfassung, an der sie sich weitgehend orientieren; die Änderungen im Vergleich zur Bundesverfassung sind oft lediglich redaktioneller Art.

Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellt Artikel 15 Absatz 2 dar, da die darin garantierten Rechte dem entsprechen, was das Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (SR 235.1) vorsieht, ferner Artikel 27 Absatz 2, da das Recht jeder Partei, in einem Verfahren einen begründeten Entscheid zu erhalten, sich aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ergibt, nach welcher dieses Recht aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör abzuleiten ist (vgl. BGE 124 II 149, 122 IV 14). Schliesslich gehen folgende Bestimmungen über das hinaus, was das Bundesrecht garantiert:

1

­

Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe c verankert das Recht, Einsicht in amtliche Akten zu verlangen, ohne ein berechtigtes Interesse geltend machen zu müssen, soweit kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegensteht (Einsichtsrecht)1.

­

Artikel 27 Absatz 2 gesteht jeder Person in einem Verfahren das Recht zu, Entscheide zu erhalten, die mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen sind.

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 98 Ib 337) ergibt sich dieser Anspruch nicht aus dem Bundesverfassungsrecht.

­

Artikel 30 Absatz 3 legt fest, dass jede Person, die in Haft genommen wird, Anspruch darauf hat, innerhalb von 24 Stunden einer Gerichtsbehörde vorgeführt zu werden. Das Bundesrecht legt keinen konkreten Zeitraum fest, innerhalb dessen eine Person einem Gericht vorgeführt werden muss (vgl.

Hiezu ist zu bemerken, dass geplant ist, auf Bundesebene ein entsprechendes Einsichtsrecht vorzusehen (vgl. dazu den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Öffentlichkeit der Verwaltung, BBl 2003 1963).

3598

dazu Art. 31 Abs. 3 erster Satz BV, der sich darauf beschränkt, zu verlangen, dass die Vorführung vor das Gericht unverzüglich zu erfolgen hat, und BGE 119 Ia 232 ff., wo das Bundesgericht festhält, dass das Recht des Verhafteten, unverzüglich einem Gericht vorgeführt zu werden, gewahrt ist, wenn dieser nach 22 Stunden von einem Untersuchungsrichter angehört wird, und wo das Bundesgericht es nicht ausschliesst, dass eine Dauer von mehr als 24 Stunden ebenfalls als rechtmässig angesehen werden könnte).

­

Nach Artikel 30 Absatz 5 hat jede Person, die auf Grund eines ungerechtfertigten Freiheitsentzugs einen Nachteil erleidet, Anspruch auf volle Entschädigung. In einem Entscheid vom 12. November 1997 (publiziert in SJ 1998, S. 333 ff.) hat das Bundesgericht jedoch ausgeführt, dass die Entschädigung für einen ungerechtfertigten Freiheitsentzug allenfalls eines Tages Gegenstand eines ungeschriebenen Rechts der Bundesverfassung werden könnte (vgl. SJ 1998, S. 340 f., E. 5).

­

Artikel 31 Absatz 2 anerkennt, dass jede Person, die eine Petition an eine gesetzgebende oder eine vollziehende Behörde richtet, Anspruch darauf hat, dass diese Behörden die Petition prüfen und sie beantworten. Artikel 33 Absatz 2 BV beschränkt sich darauf, die Behörden zur Kenntnisnahme von Petitionen zu verpflichten, und verpflichtet sie nicht zu einer Antwort.

­

Artikel 33 sieht ausdrücklich vor, dass jede Person in Not das Recht auf eine angemessene Notwohnung hat. Diese Bestimmung weitet den Anspruch nach Artikel 12 BV, der ein Recht auf Hilfe in Notlagen festlegt, aus. Artikel 12 BV beschränkt sich darauf, einen Mindeststandard für die gesamte Schweiz zu garantieren, während die Bestimmung der neuen Verfassung des Kantons Waadt weitergehende Bedeutung hat; sie gibt einen Anspruch auf eine materielle Leistung des Staates in Form einer «angemessenen Notwohnung» und nicht nur auf ein Dach über dem Kopf oder auf eine Unterkunft.

­

Artikel 35 garantiert jeder Frau den Anspruch auf materielle Sicherheit vor und nach der Niederkunft. In gewissen Situationen kann diese Bestimmung über die Leistungen hinausgehen, die sich aus Artikel 116 Absatz 3 BV ergeben, namentlich was die Zeit vor der Niederkunft betrifft.

­

Artikel 36 Absatz 2 anerkennt ein Recht auf eine Erziehung und einen Unterricht, welche die Entfaltung der Fähigkeiten und die soziale Integration der Kinder fördern. Diese Bestimmung verankert einen Rechtsanspruch auf eine staatliche Leistung, welcher über den Anspruch auf Grundschulunterricht nach Absatz 1 und auch nach Artikel 62 Absatz 2 BV hinausgeht. Unter Vorbehalt der Justiziabilität gewährt diese neue Bestimmung daher ein generelles Recht auf Erziehung und Unterricht.

­

Artikel 37 sieht vor, dass jede Person, die nicht über die entsprechenden persönlichen oder familiären Ressourcen verfügt, Anspruch auf die staatliche Hilfe hat, die für eine anerkannte erste Berufsbildung notwendig ist.

Im Weiteren bedürfen die Artikel 14 Absatz 2, 34 Absatz 2 und 36 Absatz 3 einer kurzen Erläuterung hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Bundesrecht. Artikel 14 Absatz 2 garantiert neben dem Recht auf Ehe und Familie das Recht, eine andere Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu wählen. Das Verbot, eine Person wegen ihrer Lebensform zu diskriminieren, ergibt sich direkt aus Artikel 8 Absatz 2 BV. Da der Bund gemäss Artikel 122 Absatz 1 BV für die Gesetzgebung auf dem 3599

Gebiet des Zivilrechts zuständig ist, kann die genannte Bestimmung der neuen Verfassung keine Wirkungen auf die zivilrechtliche Beziehung von Nichtehepaaren entfalten, indem beispielsweise die Wirkungen der Ehe auf Konkubinatspaare oder auf gleichgeschlechtliche Paare ausgedehnt würden. Es sind aber durchaus Fälle denkbar, in denen die Bestimmung Auswirkungen entfalten kann, so etwa bei der Ausübung persönlichkeitsnaher Rechte (Jörg Paul Müller in: Walter Kälin/Urs Bolz [Hrsg.], Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Bern 1995, S. 39 f.) oder im Bereich der Erbschaftssteuern (Bernhard Pulver, L'union libre, Droit actuel et réformes nécessaires, Lausanne 1999, S. 210).

Artikel 36 Absatz 3, welcher die freie Wahl des Unterrichts2 anerkennt, bezieht sich auf die freie Wahl, das eigene Kind an eine öffentliche Schule oder an eine private Schule zu schicken. Auf Grund von Artikel 62 Absatz 2 BV kann sich diese Wahl nur auf diejenigen Privatschulen beziehen, deren Grundschulunterricht unter kantonaler Aufsicht steht (BBl 1997 I 277). Durch die ausdrückliche Verankerung dieser Wahl legt Artikel 36 Absatz 3 zudem fest, dass der Kanton Waadt kein Monopol im Bereich des Grundschulunterrichts errichten könnte, ohne die Verfassung zu ändern (BBl 2002 1877). Im Übrigen kann man aus dieser Bestimmung gestützt auf die systematische Stellung in der Kantonsverfassung keine Anerkennung der Unterrichtsfreiheit zugunsten von Schuleinrichtungen, Lehrkräften an Schulen oder Schülerinnen und Schülern ableiten. Die Unterrichtsfreiheit wird in Artikel 19 garantiert und ist nur für die wissenschaftliche Forschung und Lehre vorgesehen; der Artikel hat den gleichen Gehalt wie Artikel 20 BV (Christoph Meyer/Felix Hafner, in: Ehrenzeller, St. Galler Kommentar zu Art. 20 BV, Rz. 3).

Artikel 34 Absatz 2 schliesslich verankert das Recht, in Würde zu sterben. Dieses Recht, welches unter anderem erlaubt, auf den Zeitpunkt seines Todes selber Einfluss zu nehmen, bildet Bestandteil der persönlichen Freiheit, enthält aber kein Recht auf aktive Sterbehilfe; für diese gelten die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuches.

3.5.4

Öffentliche Aufgaben

Nach den Artikeln 3 und 43 BV haben die Kantone alle Kompetenzen, die nicht durch die Bundesverfassung dem Bund übertragen werden. Das Bundesrecht verlangt für die kantonale Gesetzgebung keine ausdrückliche Grundlage in der Kantonsverfassung. Die Mehrheit der Kantone verzichtet denn auch auf eine abschliessende Verankerung der staatlichen Aufgaben und der entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen in der Kantonsverfassung. Die Verfassung des Kantons Waadt folgt in dieser Hinsicht dem Beispiel der Kantone Bern, Uri, Solothurn und Glarus (SR 131.21, 131.214, 131.221 und 131.217), welche aus Gründen der Klarheit, Rechtssicherheit und zur Kompetenzaufteilung zwischen Staat und Gemeinden einen detaillierten Katalog von Aufgaben enthalten, die der Staat und die Gemeinden zu erfüllen haben. Dieser Aufgabenkatalog richtet sich an den Gesetzgeber, der diese Aufgaben im Gesetz unter Beachtung der bundesrechtlichen Bestimmungen zu konkretisieren hat. Im Wesentlichen zählt dieser Katalog zunächst die grundlegen-

2

Im Bundesrecht wird diese freie Wahl aus dem Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV abgeleitet.

3600

den Bereiche staatlicher Intervention auf: Justiz, Mediation und Sicherheit, Unterricht und Bildung, Natur- und Kulturerbe, Umwelt, Kultur und Sport, Raumplanung (Art. 42­55). Danach umschreibt er die öffentliche Politik in verschiedenen Bereichen: Energie, Verkehr und Kommunikation, Wirtschaft, Sozial- und Gesundheitspolitik (Art. 56­67). In diesem Zusammenhang ist auf die Einführung einer kantonalen Mutterschaftsversicherung hinzuweisen, welche spätestens drei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Verfassung geschaffen werden soll, sofern die in Artikel 116 Absatz 3 BV vorgesehene Mutterschaftsversicherung bis dahin nicht in Kraft getreten ist (Art. 64 Abs. 1 und entsprechende Übergangsbestimmung). Erwähnenswert ist auch die grundsätzlich nicht rückzahlbare Sozialhilfe (Art. 60 Bst. b). Der Katalog schreibt im Weiteren Massnahmen zur Integration von Ausländerinnen und Ausländern vor, ferner die Stärkung des Vereinslebens sowie die Unterstützung der humanitären Hilfe (Art. 68-71).

Die Regelungen im dritten Titel der Verfassung des Kantons Waadt enthalten keine bundesrechtswidrigen Bestimmungen, auch wenn mehrere der aufgeführten Aufgabenbereiche sich mit Bundeskompetenzen überschneiden, wie beispielsweise im Bereich der Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung (Art. 48), des Umweltschutzes (Art. 52), der Förderung des Sports (Art. 54) oder des Konsumentenschutzes (Art. 66). Auch in Bereichen, in denen der Bund legiferiert hat, verbleiben den Kantonen wichtige Vollzugsaufgaben und Restkompetenzen; die Erwähnung dieser Aufgaben lässt sich daher auch mit der Informationsfunktion begründen. Was die kantonalen Kompetenzen betrifft, so hat sich der Verfassungsgeber entschieden, auf Verfassungsebene einige Aufgaben festzulegen, beispielsweise die Betreuung im Vorschulalter und die schulergänzende Betreuung von Kindern (Art. 63 Abs. 2), die Beschaffung von angemessenen Wohnungen zu tragbaren Bedingungen (Art. 67 Abs. 1), die Erleichterung von ehrenamtlichen Tätigkeiten und die Ausbildung von ehrenamtlich tätigen Personen (Art. 70 Abs. 4).

Die Verfassung des Kantons Waadt enthält im Weiteren eine Bestimmung über die Staatsziele (Art. 6), in welcher unterschiedliche Anliegen erfasst werden wie die Erhaltung der physischen Lebensgrundlagen und die nachhaltige Bewahrung der natürlichen Ressourcen (Abs. 1
Bst. c), der Schutz der Interessen der kommenden Generationen (Abs. 1 Bst. d), die Anerkennung der Familie als Grundbaustein der Gesellschaft (Abs. 2 Bst. d) oder die ausgewogene Vertretung von Frauen und Männern in den Behörden (Abs. 2 Bst. e). Eine solche Bestimmung beschränkt sich darauf, dem Kanton Leitlinien bei der Ausgestaltung der politischen Tätigkeit zu geben.

Die Prüfung der Bundesrechtmässigkeit dieser Bestimmungen ­ welche nach den gleichen Regeln erfolgt wie die Überprüfung der kantonalen Grundrechte (vgl.

Ziff. 3.5.3) ­ hat ergeben, dass diese bundesrechtskonform sind.

3.5.5

Behördenorganisation und Verfahren

Die Bestimmungen über die Zusammensetzung, die Zuständigkeiten und die Organisation der kantonalen und kommunalen Behörden sowie die für ihre Tätigkeit vorgesehenen Verfahren tragen den Erfordernissen des Bundesrechts ausreichend Rechnung.

Die allgemeinen Wählbarkeitsvoraussetzungen sind nicht in der Verfassung des Kantons Waadt selber festgelegt, sondern werden dem Gesetzgeber zur Regelung 3601

überlassen (Art. 75 und 76 Abs. 1). Im Bereich des öffentlichen Lebens sieht Artikel 86 Absatz 3 vor, dass die Parteien auf die Umsetzung des Grundsatzes der ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern achten. Diese Bestimmung konkretisiert das in Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe e genannte Ziel. Sie auferlegt den Parteien eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, welche auf kantonaler Gesetzesstufe zu konkretisieren sein wird. Je nach Ausgestaltung kann eine solche Verpflichtung, welche die Verwirklichung der Chancengleichheit zum Ziel hat (Art. 8 Abs. 3 zweiter Satz BV), auch eine Beschränkung der Stimm- und Wahlfreiheit und der Vereinigungsfreiheit, auf die sich die Parteien berufen können (Art. 23 Abs. 1 BV), bewirken ­ beispielsweise wenn Listen mit ausschliesslich männlichen Kandidaten untersagt sind; ebenso kann dadurch die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau beeinträchtigt werden. Dieser Konflikt zwischen einem Gesetzgebungsauftrag und verschiedenen Grundrechten wird durch den kantonalen Gesetzgeber nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz oder der harmonisierenden Auslegung der Bundesverfassung durch eine Abwägung der Interessen unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes zu lösen sein3.

Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist in Artikel 89 Absatz 1 ausdrücklich verankert und wird durch die Bestimmungen über die Unvereinbarkeit (Art. 90) sowie durch die Kompetenzaufteilung zwischen Grossem Rat, Staatsrat und richterlichen Behörden (Art. 91 ff., 112 ff. und 126 ff.) verwirklicht.

Die neue Verfassung des Kantons Waadt führt verschiedene Bestimmungen zur Stärkung der Stellung des Grossen Rates und zur Verbesserung des Ratsbetriebs ein: Die Anzahl der Mitglieder wird von 180 auf 150 reduziert und die Legislaturperiode wird von vier auf fünf Jahre verlängert (Art. 92), eine Massnahme, die im Übrigen auch für den Staatsrat vorgesehen ist (Art. 113 Abs. 1). Die neue Verfassung führt zudem verschiedene Massnahmen ein, welche die Kohärenz der Tätigkeit des Staatsrates verbessern sollen: so wird aus den Mitgliedern des Staatsrates eine Präsidentin oder ein Präsident für die Dauer der Legislatur gewählt (Art. 115) und die Ziele des Staatsrates sind in einem Legislaturprogramm festzulegen, welches für die Mitglieder des Staatsrates verbindlich ist (Art. 119). Im Bereich der Gerichtsordnung
sieht die neue Verfassung schliesslich zwei bedeutende Neuerungen vor: einerseits wird ein Verfassungsgericht als Abteilung des Kantonsgerichts geschaffen, welches in erster Linie die Aufgabe hat, kantonale Bestimmungen auf ihre Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht, also mit kantonalem Verfassungsrecht und Bundesrecht, zu überprüfen (Art. 136), andrerseits wird das Kantonsgericht mit dem Verwaltungsgericht zusammengelegt.

Das Gesetzgebungsverfahren, das dem Grossen Rat unter Vorbehalt des fakultativen (Art. 84) und des obligatorischen Referendums (Art. 83) die Befugnis zum Erlass der Gesetze und Dekrete sowie zum Abschluss internationaler und interkantonaler Verträge, die nicht in die ausschliessliche Kompetenz des Staatsrates fallen (Art.

103 und 121), erteilt, genügt den in Artikel 51 Absatz 1 erster Satz BV festgelegten Anforderungen an eine demokratische Ausgestaltung. Bezüglich der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Legislative und Exekutive ist festzuhalten, dass der Grosse Rat die generell-abstrakten unbefristeten Bestimmungen in Form des Gesetzes erlässt und die anderen Erlasse in Form von Dekreten (Art. 110 Abs. 1), während der 3

Vgl. dazu Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 27. Aug. 1998, Parlamentarische Initiative. Frauenmindestquoten für Nationalratslisten, BBl 1998 4759, 4765 sowie BGE 123 I 157.

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Staatsrat nur rechtsetzende Bestimmungen erlassen kann, soweit die Verfassung oder ein Gesetz ihn dazu ermächtigen oder der Erlass der Bestimmungen für den Vollzug von Gesetzen oder Dekreten notwendig ist (Art. 120 Abs. 2).

Die Organisationsbestimmungen der Verfassung des Kantons Waadt liegen im Rahmen der kantonalen Organisationskompetenz (Art. 3 und 39 Abs. 1 BV) und verletzen keine Bestimmungen des Bundesrechts.

3.6

Zusammenfassung

Die Verfassung des Kantons Waadt vom 14. April 2003 erfüllt die Anforderungen von Artikel 51 Absatz 2 zweiter Satz BV; es ist ihr deshalb die Gewährleistung zu erteilen.

4

Verfassungsmässigkeit

Die Bundesversammlung ist nach den Artikeln 51 und 172 Absatz 2 BV zuständig, die Kantonsverfassungen zu gewährleisten.

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