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Parlamentarische Initiative Änderung des Strafgesetzbuches betreffend Schwangerschaftsabbruch Stellungnahme des Bundesrates zum Bericht vom 19. März 199S der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 26. August 1998

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen, gestützt auf Artikel 21iaater Absatz 4 des Geschäftsverkehrsgesetzes, unsere Stellungnahme zu Bericht und Anträgen der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 19. März 1998 zur parlamentarischen Initiative «Änderung des Strafgesetzbuches betreffend Schwangerschaftsabbruch».

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

26. August 1998

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Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Cotti Der Bundeskanzler: Couchepin

1998^161

Stellungnahme I l

Àusgangslage

Seit 1971 sind auf dem Gebiet des Schwangerschaftsabbruchs Änderungsbestrebungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen im Gange; sie reichen von der Verhinderung der Liberalisierung bis zur völligen Straflösigkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Alle Vorlagen für eine Neuregelung wurden jedoch von Volk und Ständen bisher abgelehnt.

Am 29. April 1993 reichte Frau Nationalrätin Haering Binder eine parlamentarische Initiative ein mit dem Ziel, den Schwangerschaftsabbruch im Sinne einer Fristenregelung während der ersten Monate der Schwangerschaft für straflos zu erklären. Am 15. Mai 1998 wurde die Volksinitiative «Für Mutter und Kind - für den Schutz des ungeborenen Kindes und für die Hilfe an seine Mutter in Not» lanciert, die sich als «Gegenvorschlag zur Fristenlösung» versteht; die Frist für die Unterschriftensammlung läuft am 2. Dezember 1999 ab.

Nachdem der Nationalrat am 3. Februar 1995 der parlamentarischen Initiative Haering Binder Folge gegeben hatte, erarbeitete seine Kommission für Rechtsfragen einen Revisionsentwurf, der eine Fristenregelung vorsteht. Daneben wurden von verschiedenen Kommissionsminderheiten fünf weitere Anträge für eine Neuordnung des Schwangerschaftsabbruchs gestellt1.

II l 11

Stellungnahme des Bundesrates Bisherige Haltung

Die Vielzahl der Vorstösse seit 1971 ist für den Bundesrat ein deutlicher Hinweis dafür, dass die heutige Regelung nicht mehr zeitgemäss ist. Daran ändert die Ablehnung aller bisherigen Revisionsvorlagen nichts. Es lässt sich daraus allerdings schliessen, dass die Stossrichtung einer Neuordnung umstritten ist. Darauf deutet auch die Vielfalt der Änderungsvorschläge der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates hin. In der Tat sind der Schutz des ungeborenen Lebens auf der einen

Minderheit I: Ersatzlose Aufhebung der Strafbestimmungen im StGB Minderheit II: Indikationenregelung («um von der Frau die Gefahr einer schwerwiegenden köiperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage abzuwenden») Minderheit III: Antrag der Kommissionsmehrheit; die Frau soll aber bei jeglichem Schwangerschaftsabbruch straflos bleiben Minderheit IV: Schutzmodell mit Beratungspflicht Minderheit V: Motion für ergänzende gesetzliche Bestimmungen bei Annahme des Schutzmodells 5377

und das Selbstbestimmungsrecht der Frau auf der anderen Seite nicht ohne weiteres miteinander in Einklang zu bringen.

12 Der Bundesrat war seit jeher offen für eine Erweiterung der Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch. Eine Fristenregelung hat er bisher aber stets abgelehnt2.

Ausschlaggebend war dabei die Überzeugung, dass sich die Fristenregelung mit dem Schutzauftrag des Staates für das ungeborene Leben nicht vereinbaren lässt.

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Der Schwangerschaftsabbruch im Wandel der Zeit

21' Gemäss Artikel 118 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuches ist die Abtreibung strafbar. Die Unterbrechung der Schwangerschaft ist jedoch straflos, wenn sie vorgenommen wird, «um eine nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder grosse Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit von der Schwangeren abzuwenden» (sog. «medizinische Indikation»). Für den Abbruch einer Schwangerschaft bedarf es der schriftlichen Zustimmung der Schwangeren; er muss durch einen patentierten Arzt vorgenommen werden, und es muss vorher das Gutachten eines zweiten patentierten Arztes eingeholt werden. Der Zweitarzt wird durch den zuständigen Kanton bestimmt.

Die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs als Teil des Strafgesetzbuches geht zurück auf einen Vorentwurf einer Expertenkommission aus dem Jahre 1918. In der parlamentarischen Beratung war die Strafbefreiung des Eingriffs bei medizinischer Indikation heftig umstritten. Von konservativer Seite wurde deren Streichung verlangt, während sich liberaler eingestellte Parlamentarier - über den Kommissionsentwurf hinausgehend - auch für die eugenische, juristische und soziale Indikation einsetzten3. Die heutige Fassung wurde am 12. Dezember 1937 von den Räten verabschiedet, überstand 1938 ein (nicht zuletzt wegen der medizinischen Indikation ergriffenes) Referendum gegen das Strafgesetzbuch, und am 1. Januar 1942 wurden das Strafgesetzbuch und damit die Regelung über den Schwangerschaftsabbruch in Kraft gesetzt.

22 Artikel 120 des Strafgesetzbuches erlaubt eine Unterbrechung der Schwangerschaft lediglich im Fall der medizinischen Indikation. Diese Norm erweist sich indessen als recht unbestimmt. Dachte der historische Gesetzgeber in erster Linie an somalische Gefahren für Leben und Gesundheit der Schwangeren, so gelangt heute auch im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch vielfach der weite Gesund-

Botschaft vom 30. 9.1974 zum Schwangerschaftsgesetz (BB11974 II 735 ff.); Botschaft vom 19. 5.1976 zur Volksinitiative «Für die Fristenlösung» (BB11976 II 813 ff.); Botschaft vom 28. 2.1983 zur Volksinitiative «Recht auf Leben» (BEI 1983 II25 ff.).

Jakob Locher, Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich. Landesbericht Schweiz 1988, S. 1499 ff.

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heitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Anwendung. Gesundheit in diesem Sinne meint den Zustand völligen (franz.: «complet») körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. -Das aber bedeutet, dass in der Praxis beim Schwangerschaftsabbruch vermehrt die «psychiatrische Indikation» in den Vordergrund tritt. Zudem bestehen in den Fragen, wann eine Gefahr «gross» im Sinne des Gesetzes ist, wann ein Schaden «schwer» wiegt und wie lange er andauern muss, in den Kantonen unterschiedliche Auffassungen. Auch fühlen sich die Ärzte gerade in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs unterschiedlichen Werthaltungen verpflichtet. All dies führt für die Betroffenen zu Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit. Eine engere oder weitere Auslegung des Gesetzes gibt im Einzelfall den Ausschlag, ob ein Schwangerschaftsabbruch zugelassen wird oder nicht. Frauen in Kantonen mit zurückhaltender Praxis haben eingeschränktere Möglichkeiten zur Abtreibung als Frauen in Kantonen, welche die Regelung über den Schwangerschaftsabbruch weit interpretieren. Infolge dieser faktischen Rechtsungleichheit kommt es zu «gynäkologischem Tourismus».

23 Seit dem Erlass der Regelung über den Schwangerschaftsabbruch haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und Werthaltungen gewandelt. Vor allem aber hat sich die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft verändert, anfänglich zwar nur langsam, aber dann doch immer deutlicher. Die Schweizer Bürgerinnen erhielten im Jahre 1971 das Stimm- und Wahlrecht, und der Verfassungsartikel über die Gleichberechtigung von Mann und Frau wurde 1981 von Volk und Ständen angenommen.

Im Familienrecht erfolgte die Gleichstellung etappenweise, und schliesslich wurde im Jahr 1996 das Gleichstellungsgesetz in Kraft gesetzt.

Nach dem zweiten Weltkrieg erlangte zudem die Idee der Autonomie des Individuums eine zunehmend grössere Bedeutung. Aus dem Grundrecht der persönlichen Freiheit wurde in den 80er-Jahren das Recht auf Selbstbestimmung abgeleitet. In diesem Zusammenhang wurde auch der Ruf nach Entscheidungsfreiheit der Frau über ihre Schwangerschaft immer hörbarer. Dazu kamen eine offenere Einstellung zur Sexualität und ein gewisser B edeutungsVerlust der Familie. Das alles hatte zur Folge, dass der Schwangerschaftsabbruch heute vor allem auch als Frage des Selbstbestimmungsrechts der Frau aufgefasst wird.

Seit 1980 ergingen gestützt auf die Artikel 118 ff. des Strafgesetzbuches wegen Abtreibung nur noch vereinzelte, seit 1988 überhaupt keine Urteile mehr. Es fehlt in der heutigen Gesellschaft offensichtlich der Wille, die geltende Strafbestimmung gegen unerlaubte Abtreibungen durchzusetzen. Anderseits scheint aber auch die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche erheblich zurückgegangen zu sein4.

Aus all diesen Gründen ist nach Auffassung des Bundesrates eine Änderung der Strafbestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch angezeigt.

Gemäss den Ergebnissen einer in der Schweizerischen Ärztezeitung 1996 publizierten Untersuchung ist die Zahl der legalen Schwangerschaftsabbrüche kontinuierlich am Sinken, von rund 17 000 im Jahr 1966 auf rund 12 000 im Jahr 1994; vgl. dazu den Bericht der Kommission für Rechtsfragen vom 19. März 1998, Ziff. 22.

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24 Bei einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches kann nach Auffassung des Bundesrats indes nicht allein das Selbstbestimmungsrecht der Frau wegleitend sein.

Die Ehrfurcht vor dem Leben bleibt auch in einer Gesellschaft, in welcher die Autonomie des Einzelnen einen immer höheren Stellenwert einnimmt, unverzichtbar.

Auch ungeborenes Leben darf nicht zur völlig freien Disposition stehen, nicht einmal der Schwangeren selbst. Die allem Leben - auch dem ungeborenen, behinderten und kranken - zukommende Menschenwürde als einem Grundprinzip unserer Verfassung verlangt, dass jegliche Form menschlichen Lebens vom Staat geschützt wird. Diese staatliche Verantwortung erhält vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklungen in der Gentechnologie und in der Fortpflanzungsmedizin, aber auch angesichts der Diskussion um die Sterbehilfe5 zusätzliche Aktualität. Sie ist in Bezug auf das werdende Leben unabdingbar, ist dieses doch besonders verletzungsanfallig und völlig wehrlos. Die generelle Schutzpflicht des Staates muss mit Blick auf all diese Entwicklungen im allgemeinen Bewusstsein erhalten bleiben.

Wie weit die Schutzpflicht in Bezug auf ungeborenes Leben im einzelnen geht, ist der Verfassung allerdings nicht zu entnehmen6. Es ist deshalb Sache der Gesetzgebung, den Schutz für das werdende Kind näher auszugestalten. Dabei darf wohl davon ausgegangen werden, dass der Mutter in dieser Beziehung eine primäre Verantwortung zukommt; sie muss zuallererst das werdende Kind behüten. Der Staat seinerseits soll mit geeigneten Massnahmen darauf hinwirken, dass im konkreten Fall eine sorgfältige Güterabwägung zwischen den Rechten der Frau und dem Schutz des ungeborenen Lebens stattfindet. Die Güterabwägung sollte nach Auffassung des Bundesrates ein Stück weit institutionalisiert werden, weil nur so das ungeborene, sprachlose und handlungsunfähige Kind einen angemessenen Schutz findet.

3

Zu den Änderungsvorschlägen der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates Die Fristenregelung

31.

Der Entwurf in der Fassung der Mehrheit der Kommission hält grundsätzlich am Verbot des Schwangerschaftsabbruchs fest. Er sieht die Fristenregelung als Ausnahme von diesem Verbot vor. Danach ist ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten vierzehn Wochen seit Beginn der letzten Periode straflos; nach Ablauf der Frist soll er nur noch ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen straflos sein.

Auf Beizug und Gutachten eines zweiten Arztes wird verzichtet. Der grossie Vorteil dieses Vorschlages liegt darin, dass er klare Verhältnisse schafft und die bestehende 5 6

Vgl. Postulat Ruffy, Sterbehilfe, Ergänzung des Strafgesetzbuches AB 1996 N 362 ff.

Vgl. Botschaft über eine neue Bundesverfassung, BEI 1997 I 146; Walter Haller in Kommentar BV, Persönliche Freiheit, Rz. 48. Zwar ging der Bundesrat in seiner Botschaft zur Volksinitiative «Recht auf Leben» von einem Grundrecht auf Leben aus, mit welchem die Fristenlösung nicht, vereinbar sei (BB1 1983 II 26). Anderseits wurde die Initiative «Recht auf Leben», welche ausdrücklich festhalten wollte, dass das Leben und damit auch das Recht auf Leben mit der Zeugung beginne (BB11983 II4 ff., 12), in der Abstimmung vom 9. Juni 1985 deutlich verworfen (BB11985 II 673). In jüngerer Zeit vertritt Rainer Schweizer (Kommentar BV, Art. 24novlcs, Rz. 29 f.) die Auffassung, der Fötus geniesse einen verfassungsrechtlichen Schutz; er fügt hinzu, «das Entwicklungsprojekt Mensch» verlange wohl einen «differenzierten (...), wachsenden Schutz.»

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Rechtsungleichheit und Rechtsunsicherheit aufhebt. Die heute für einen Abbruch ausschlaggebenden, unbestimmten Kriterien verlören ihre Bedeutung.

Anderseits darf nicht verkannt werden, dass die Fristenregelung in dieser Form erhebliche Nachteile hat und Gefahren in sich birgt. So ist zu bedenken, dass die Entscheidungsautonomie der Frau von der vorgeschlagenen gesetzlichen Neuregelung zwar vorbehaltlos anerkannt wird, in der Praxis aber nicht immer gewährleistet sein dürfte. Es ist nicht auszuschliessen, dass Drittpersonen - zu denken ist insbesondere an den Kindsvater und an die Angehörigen - in bestimmten Fällen derart grossen Einfluss auf die Schwangere nehmen, dass deren freier Entschluss in Frage gestellt ist. Des weiteren besteht die Gefahr, dass unerfahrene Frauen leichtfertig einen Abbruch vornehmen lassen, ohne allfällige physische und/oder psychische Spätfolgen zu bedenken. Schliesslich - und das ist für den Bundesrat das wichtigste Argument - vermag der Wille der schwangeren Frau allein, ohne dass weitere objektive Kriterien vorliegen, die Abtreibung nicht zu rechtfertigen.

Die Anerkennung eines Selbstbestimmungsrechts der Frau vermag nach Auffassung des Bundesrates einen Übergang von der heutigen (engen) medizinischen Indikation zur rein autonomen Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs nicht zu rechtfertigen.

Indem die vorgeschlagene Regelung auf jeden institutionalisierten Schutz ungeborenen Lebens und - mit Blick auf die Spätfolgen - auch der schwangeren Frauen verzichtet, wird sie dem Schutzauftrag des Staates auch für das ungeborene Leben nicht gerecht. Der Bundesrat vermag sie in dieser Form deshalb nicht zu unterstützen.

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Weitgehende Strafbefreiung des S chwangerschaftsabbruches

Aus dem Gesagten folgt, dass der Bundesrat auch die Anträge der Minderheiten I und III der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates ablehnt. Der Antrag der Minderheit III entspricht der Fristenregelung mit dem einzigen Unterschied, dass die schwangere Frau m allen Fällen straflos bleiben soll. Die Minderheit I möchte den Schwangerschaftsabbruch überhaupt nicht im Strafgesetzbuch regeln. Eine Annahme dieses Antrages würde aber bedeuten, dass das ungeborene Leben keinerlei Schutz mehr erfährt.

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Schutzmodell mit Beratungspflicht

Eine Minderheit IV schlägt eine Regelung vor, die als «Schutzmodell mit Beratungspflicht» umschrieben wird7. Grundidee dieser Lösung ist die Gewährleistung eines gewissen Schutzes für das ungeborene Leben auch in der Anfangsphase, der nicht allein ein strafrechtlicher sein soll. Vielmehr ist ein umfassendes Präventions-, Hufs- und Beratungskonzept vorgesehen, wobei vor allem der Beratung eine zen7

In der Sache handelt es sich um eine Fristenregelung, wie sie ähnlich von der Mehrheit der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vorgeschlagen wird und die auch die dort erwähnten Vorteile aufweist. Die Frist wird aber aus medizinischen Gründen von vierzehn auf zwölf Wochen seit der letzten Periode verkürzt, da die gesundheitlichen Risiken der Frau mit zunehmender Dauer der Schwangerschaft ansteigen. Während dieser Frist wird die Strafbarkeit ausgesetzt, die schwangere Frau muss sich jedoch durch eine staatlich anerkannte Beratungsstelle beraten lassen.

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traie Bedeutung zukommt. Die obligatorische Beratung soll einen verantwortungsvollen Entscheid gestützt auf eine Abwägung aller in Frage stehenden Rechtsgüter ermöglichen.

Der Bundesrat betrachtet diesen Antrag als eine mögliche Lösung, die Rechte der Frau und den Schutz des ungeborenen Lebens zum Ausgleich zu bringen. Das Schutzmodell mit Beratungspflicht will das Leben als höchstes Rechtsgut möglichst umfassend schützen, nicht primär mit den Mitteln des Strafrechts, sondern mit Hilfsangeboten für die schwangere Frau. Es schützt vor einem rein subjektiven, möglicherweise voreiligen, unüberlegten Entscheid; es kann verhindern, dass Frauen gegen ihren Willen, auf äusseren Druck hin, einen Abbruch der Schwangerschaft in Erwägung ziehen. Dem Selbstbestimmungsrecht der Frau wird von dritter, nicht direkt involvierter Seite, das zu schützende Rechtsgut des Lebens gegenüber gestellt, was eine objektivere Güterabwägung der letztlich entscheidenden Frau verspricht.

Eine Minderheit V unterstützt dieses Schutzmodell mit einer Motion8, die weitere flankierende Massnahmen zum Schutz vorgeburtlichen Lebens und zur Verringerung der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche verlangt." Im Vordergrund stehen dabei die sexuelle Aufklärung und die Information über Empfängnisverhütung, die genügende Dotierung staatlich anerkannter Beratungsstellen, der Einbezug des Vaters des werdenden Kindes in die Beratung sowie das Recht des medizinischen Personals, die Mitarbeit an Schwangerschaftsabbrüchen ohne persönliche Nachteile zu verweigern. Der Bundesrat erachtet solche Massnahmen als sinnvoll, weil sie mithelfen, auf der Basis einer umfassenden Güterabwägung einen verantwortungsbewussten Entscheid zu treffen.

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Indikationenregelung

Die Minderheit U tritt für einen weitgehenden staatlichen Schutz für das ungeborene Leben ein, und zwar ab Beginn der Schwangerschaft. Ein Abbruch soll nur dann straflos sein, wenn er aus wichtigen sachlichen Gründen ausgeführt wird,'d.h.

«wenn nach ärztlichem Urteil angezeigt, um von der Frau die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage abzuwenden». Die Minderheit II weist darauf hin, dass die heutigen Erkenntnisse über die Entwicklung des Kindes ab Zeugung eventuell einmal überholt sein könnten.

Die Festsetzung einer Frist sei deshalb schwierig und in jedem Falle willkürlich.

Der Bundesrat anerkennt die hohe Achtung vor dem Leben, die im Antrag der Minderheit II zum Ausdruck kommt. Er hat sich 1974 auch selber für eine erweiterte Indikationenlösung ausgesprochen. Indessen vermag der vorgeschlagene Text noch nicht gänzlich zu befriedigen, indem die Indikationen recht allgemein umschrieben sind, so dass sich die Nachteile der heutigen Lösung (vorne Ziffer 22) wieder einstellen könnten.

98.3047. Motion Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (Minderheit Engler) vom 19.3.1998. Schwangerschaftsabbruch. Flankierende Massnahmen.

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III

Zusammenfassung

Der Bundesrat erachtet eine Revision der Bestimmungen des Strafgesetzbuches über den Schwangerschaftsabbruch als notwendig. Eine Neuregelung muss neben dem Selbstbestimmungsrecht der Frau aber staatliche Verantwortung für den Schutz ungeborenen Lebens zum Tragen bringen.

Die von der Mehrheit der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vorgeschlagene Fristenregelung erfüllt diese Voraussetzungen nicht; der Bundesrat vermag sie deshalb nicht zu unterstützen. Er erachtet jedoch das Schutzmodell mit Beratungspflicht oder aber eine weiter gefasste Indikationenregelung als Lösungen, welche die staatliche Verantwortung für das werdende Leben und das Selbstbestimmungsrecht der Frau zu einem Ausgleich bringen können.

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Parlamentarische Initiative Änderung des Strafgesetzbuches betreffend Schwangerschaftsabbruch Stellungnahme des Bundesrates zum Bericht vom 19. März 1998 der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 26. August 1998

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01.12.1998

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