zu 98.454 Parlamentarische Initiative Menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Assistenzärzte Bericht vom 11. April 2001 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates Stellungnahme des Bundesrates vom 30. Mai 2001

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, zum Bericht vom 11. April 2001 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates betreffend menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Assistenzärzte nehmen wir nach Artikel 21quater Absatz 4 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) nachfolgend Stellung.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

30. Mai 2001

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

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Der Bundespräsident: Moritz Leuenberger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

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2001-1019

Stellungnahme 1

Ausgangslage

Am 18. Dezember 1998 reichte Nationalrat Marc Suter eine parlamentarische Initiative ein mit dem Ziel, die Assistenzärztinnen und -ärzte vollumfänglich dem Arbeitsgesetz zu unterstellen. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates schloss sich bei der Vorprüfung der Initiative anlässlich der Sitzung vom 13. August 1999 der Auffassung des Initianten an, wonach die heutigen Arbeitsbedingungen der Assistenzärztinnen und -ärzte in der Schweiz unhaltbar seien, und beschloss, der Initiative Folge zu leisten. Der Nationalrat folgte diesem Antrag am 4. Oktober 1999 ohne Gegenstimme.

Als nächsten Schritt führte die Kommission am 24. Februar 2000 mit Vertreterinnen und Vertretern des Verbands der Schweizerischen Assistenz- und Oberärzte (VSAO), des Spitalsektors, der Sanitätsdirektorenkonferenz (SDK) und der Wissenschaft ein Hearing zur Arbeitszeitproblematik der Assistenzärztinnen und -ärzte durch. Im Anschluss daran erteilte sie einer Subkommission den Auftrag, einen Berichts- und Erlassentwurf auszuarbeiten.

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit hat am 5. April 2001 vom Berichts- und Erlassentwurf ihrer Subkommission Kenntnis genommen. Die Kommissionsmehrheit hat dem Erlassentwurf zugestimmt. Eine Minderheit lehnt die Revision dagegen ab und beantragt, auf den Gesetzesentwurf nicht einzutreten.

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Stellungnahme des Bundesrates

Der Bundesrat unterstützt die von der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vorgeschlagene Gesetzesänderung.

Assistenzärzte sind vom persönlichen Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes bezüglich der Arbeits- und Ruhezeitvorschriften ausgenommen. Einer der Gründe, weshalb diese Ausnahme ins Gesetz aufgenommen wurde, lag darin, dass ein erheblicher Teil der Arbeits- und Präsenzzeit der Assistenzärzte im Spital als eigentliche Ausbildungszeit für die Erreichung eines Facharzttitels betrachtet wurde. Der Gesetzgeber ging somit davon aus, dass die in einem Spital aufgewendete Zeit in erster Linie der Aus- und Weiterbildung dient und nicht als eigentliche Arbeitszeit anzusehen ist, während der eine effektive Arbeitsleistung erbracht wird. Er verzichtete deshalb darauf, die Arbeitnehmerschutzvorschriften ­ insbesondere die Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen ­ auf die Assistenzärzte anwendbar zu erklären.

Diese Situation hat sich im Laufe der Jahre erheblich geändert. Mit der chronischen Überbelastung der Assistenzärztinnen und -ärzte durch die im Spital zu erbringenden Dienstleistungen hat sich der Anteil der effektiven Weiterbildung auf ein Minimum reduziert. Das Verhältnis zwischen tatsächlich geleisteter Arbeitszeit und der für die Weiterbildung zur Verfügung stehenden Zeit hat sich offensichtlich wesentlich zu Ungunsten der Weiterbildung verschoben.

Es ist unbestritten, dass die heutigen Regelungen über die Arbeits- und Ruhezeiten der Assistenzärztinnen und -ärzte zu unhaltbaren Zuständen führen. Extrem lange 6099

wöchentliche Arbeitszeiten und extrem lange ununterbrochene Präsenzzeiten in den Spitälern sind heute praktisch die Regel. Wöchentliche Arbeitszeiten von weit über 60 Stunden und tägliche Präsenzzeiten von über 20 Stunden sind weit verbreitet.

Die Auswirkungen dieser Arbeitszeitsituation liegen auf der Hand. Einerseits führen solche Belastungen durch die fehlenden Erholungszeiten zu negativen gesundheitlichen Folgen für die Assistenzärztinnen und -ärzte selbst. Anderseits beeinträchtigen sie die Qualität der Betreuung der Patientinnen und Patienten, was aus der Sicht der Tatsache, dass den Assistenzärztinnen und -ärzten heute die Hauptlast der medizinischen Betreuung in den Spitälern obliegt, bedenklich erscheint. Dass die Leistungsfähigkeit der Assistenzärztinnen und -ärzte durch deren Übermüdung erheblich eingeschränkt und damit das Risiko von medizinischen Fehlern erhöht wird, ist unbestritten. Die Folgen davon haben nicht nur die Patientinnen und Patienten zu tragen, sie stellen auch einen belastenden betriebs- und volkswirtschaftlichen Kostenfaktor dar. Eine Verbesserung der Arbeitssituation der Assistenzärztinnen und -ärzte drängt sich aus dieser Sicht auf.

Darüber, dass eine Verbesserung der Arbeitszeitbedingungen der Assistenzärztinnen und -ärzte unumgänglich ist, sind sich alle interessierten Kreise grundsätzlich einig.

Uneinigkeit besteht jedoch über den einzuschlagenden Weg. Erste Schritte dazu zeigen die Beispiele der Kantone Bern und Zürich, die beschlossen haben, die wöchentlichen Arbeitszeiten der Assistenzärztinnen und -ärzte bis 1. Januar 2004 auf 50 Stunden zu verkürzen. Andere Kantone haben jedoch noch keine Schritte in dieser Richtung unternommen. Damit eine umfassende gesamtschweizerische Lösung erreicht werden kann, ist eine vollumfängliche Unterstellung der Assistenzärztinnenund -ärzte unter das Arbeitsgesetz angezeigt.

Die ungleiche Rechtssituation zwischen Spitälern mit privatrechtlichen Arbeitsverträgen und solchen mit öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnissen ist eine Folge davon, dass das Arbeitsgesetz keinen umfassenden Geltungsbereich kennt. Bezüglich der Arbeits- und Ruhezeiten sind abweichende Vorschriften des Bundes, der Kantone und der Gemeinden ausdrücklich vorbehalten. Der Bundesrat hat bereits in seiner Antwort auf die Interpellation Leuthard Hausin
vom 13. Dezember 2000 zu dieser Situation Stellung genommen und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass eine Lösung dieser Problematik auf dem Wege einer Gesetzesrevision erfolgen müsste. Er ist zudem der Auffassung, dass die Behandlung der vorliegenden Initiative dem Parlament die Möglichkeit bieten könnte, die Frage des Geltungsbereichs des Arbeitsgesetzes im Bereich des Gesundheitswesens in einem weiteren Sinne zu prüfen.

Der Bundesrat ist sich der Bedenken der Kantone über die Folgen ­ insbesondere finanzieller Natur ­ einer Unterstellung der Assistenzärztinnen und -ärzte unter das Arbeitsgesetz bewusst. Er ist jedoch der Auffassung, dass Kostengründe allein kein Argument gegen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Assistenzärztinnen und -ärzte darstellen. Er anerkennt aber auch, dass die angestrebte Gesetzesrevision angesichts der komplexen Organisationsstrukturen der Spitäler und der anstehenden anderen Reformen nicht von einem Tag auf den anderen umgesetzt werden kann. Er begrüsst daher die von der Kommission für das Inkrafttreten der Revision vorgeschlagene Übergangsfrist bis zum 1. Januar 2005.

Bezüglich der Position der Minderheit der Kommission ist der Bundesrat der Auffassung, dass diese der Gesamtproblematik der Arbeitssituation der Assistenzärztin6100

nen und -ärzte nicht gerecht wird. Es ist zwar richtig, dass die Kantone die Problematik erkannt haben und zum Teil bereits gehandelt haben. Die von den Kantonen bereits umgesetzten oder ins Auge gefassten Verbesserungen betreffen jedoch nur den Bereich der öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisse. Keinen rechtlichen Einfluss haben sie jedoch auf die privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse der Privatspitäler. Werden die Regelungen den Kantonen überlassen, bleibt die ungleiche Rechtssituation zwischen Spitälern mit privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen und öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnissen bestehen.

Entgegen der Auffassung der Minderheit der Kommission hat die angestrebte Gesetzesrevision keine Auswirkungen auf die Angestellten der Heime. Auf Erzieher und Fürsorger in Heimen würden die Arbeits- und Ruhezeitvorschriften des Arbeitsgesetzes weiterhin nicht anwendbar sein, da diese diesbezüglich vom persönlichen Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes ausgenommen bleiben. Für die übrigen Angestellten der Heime, die in der Regel in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis stehen, ist das Arbeitsgesetz und damit die Arbeits- und Ruhezeitvorschriften seit jeher anwendbar.

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Finanzielle und personelle Auswirkungen

Die Gesetzesrevision hat für den Bund keine direkten finanziellen und personellen Folgen. Finanzielle Konsequenzen werden sich hingegen bei den Kantonen und Gemeinden ergeben, die ihrerseits wieder Auswirkungen für die Krankenversicherten bringen werden. Der Bundesrat geht mit der Auffassung der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit einig, dass in Anbetracht der weiteren umfassenden Reformen im Spitalwesen über das Ausmass der Mehrkosten nur generelle Schätzungen möglich sind. Zudem fliessen die Mehrkosten vorab in die Betriebskosten der Spitäler, die die Grundlage für die Aushandlung der Tarife mit den Sozialversicherern bilden und die, zumindest für den Bereich der Krankenversicherung, einer behördlichen Genehmigung bedürfen. Die genaue Höhe der Mehrkosten ist daher nicht zuletzt abhängig vom Resultat der Tarifverhandlungen. Nicht zu erwarten ist, dass die Mehrkosten in vollem Umfang auf die Sozialversicherungstarife durchschlagen und die angestrebte Gesetzesrevision zu einer Kostenexplosion führt.

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Verhältnis zum europäischen Recht

Die Europäische Union bewegt sich bezüglich der Arbeitszeiten der «Ärzte in Ausbildung» in eine vergleichbare Richtung. Die massgebende Arbeitszeitrichtlinie vom 23. November 1993 wurde mit Beschluss vom 22. Juni 2000 in dem Sinne ergänzt, dass die wöchentliche Arbeitszeit der «Ärzte in Ausbildung» ab 1. August 2004 schrittweise auf 48 Stunden zu reduzieren ist, wobei den Mitgliedstaaten dazu eine Übergangsfrist von fünf Jahren eingeräumt wird. Die Schweiz als Nichtmitglied der Europäischen Union ist von dieser Arbeitszeitrichtlinie nicht betroffen.

Keine Rolle im vorliegenden Zusammenhang spielt das Inkraftreten des sektoriellen Abkommens über die Personenfreizügigkeit, da Vorschriften des Arbeitsrechts nicht Gegenstand des Vertrages bilden.

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Verfassungsmässigkeit

Die Änderungen stützen sich auf Artikel 110 Absatz 1 Buchstabe a der Bundesverfassung.

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