Stellungnahme des Bundesgerichts vom 23. Februar 2001 zur Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege und zu den Entwürfen des Bundesgerichtsgesetzes, des Strafgerichtsgesetzes und des Verwaltungsgerichtsgesetzes und

Stellungnahme des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 22. Dezember 2000 zum Entwurf des Bundesgerichtsgesetzes und zum Botschaftsentwurf zur Totalrevision der Bundesrechtspflege

Die Stellungnahme des Bundesgerichts vom 23. Februar 2001 und die Stellungnahme des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 22. Dezember 2000 sind Teile des Anhanges zur Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege (BBl 2001 4202).

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2001-1991

Stellungnahme des Bundesgerichts vom 23. Februar 2001 zur Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege und zu den Entwürfen des Bundesgerichtsgesetzes, des Strafgerichtsgesetzes und des Verwaltungsgerichtsgesetzes 1.

Rolle und Aufgabe des Bundesgerichts als oberstes Gericht

2.

Organisation der Bundesjustiz

3.

Verhältnis zum EVG

4.

Geschäftsverteilung

5.

Prioritäre Schaffung des Bundesstrafgerichts

1. Rolle und Aufgabe des Bundesgerichts als oberstes Gericht Dem Bundesgericht kommt in besonderem Masse die Aufgabe zu, die Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung sowie die Garantie der verfassungsmässigen Rechte zu gewährleisten, wie dies in der Botschaft (Ziff. 2.2) zu Recht betont wird. Die notorische Überlastung der höchsten Gerichte ist einer optimalen Erfüllung dieser Aufgaben hinderlich und daher Hauptanlass einer durchgreifenden Justizreform. Deren primäres Ziel auf Stufe Bundesgericht muss folglich sein, Raum für eine Verwesentlichung der Rechtsprechung zu schaffen und das Arbeitsvolumen auf ein tragbares Mass zu reduzieren. Die Totalrevision der Bundesrechtspflege muss von der Grundidee und dem Hauptziel getragen sein, dem Bundesgericht in erster Linie die rechtsstaatlich und staatspolitisch wichtigen, grundlegenden Fragen zur Beurteilung zu übertragen, soweit sich diese für eine justizmässige Behandlung eignen.

Hierfür muss zur Wahrung der Rechtseinheit die oberste unabhängige Justizbehörde umfassend zuständig sein. Auf der anderen Seite soll das höchste Gericht Urteile ohne grundsätzliche Bedeutung, die den Betroffenen keine beachtlichen Nachteile bewirken, nicht überprüfen müssen, und gibt es Rechtsbereiche, in denen die Beschwerde ans Bundesgericht auszuschliessen ist, weil sich darin vornehmlich Fragen mit ausgeprägtem politischem oder technischem Gehalt stellen, oder weil den unteren Instanzen ein weiter Ermessensspielraum endgültig zu belassen ist. Der Gesetzesentwurf trägt diesen Anliegen grundsätzlich Rechnung (vgl. etwa Art. 70, 74, 78 und 79 E-BGG).

1.1. Mit Blick auf die notwendige Verwesentlichung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung drängen sich allerdings Fragen auf zu den in Art. 78 E-BGG vorgeschlagenen Ausschlussbereichen. Beispielsweise soll gemäss Abs. 1 lit. g dieser Bestimmung das gesamte Sachgebiet der internationalen Rechtshilfe in Straf- und Administrativsachen letztinstanzlich der ersten Bundesgerichtsebene übertragen werden. Dieser völlige Ausschluss der bundesgerichtlichen Zuständigkeit ist sachlich nicht begründet. Es handelt sich weder um einen wenig justiziablen noch um einen überwiegend technischen Rechtsbereich. Auch andere Gründe für einen völligen Ausschluss der bundesgerichtlichen Zuständigkeit sind nicht ersichtlich. Die internationale Rechtshilfe
in Straf- und Administrativsachen beschlägt rechtsstaatlich, staatspolitisch sowie völkerrechtlich grundlegende Fragen, die nach dem eingangs Gesagten durch das Bundesgericht zu entscheiden sind. Auslieferung und Rechtshilfe sind nicht zuletzt mit Blick auf die Menschenrechtsproblematik und das ge5891

genwärtig international breit diskutierte Bankgeheimnis sensible Bereiche. Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung müssen auch in diesem Gebiet analog zur Regelung in den Art. 70 Abs. 2 Bst. a, 74 Abs. 2 und 79 E-BGG dem Bundesgericht unterbreitet werden können.

1.2. Umgekehrt sind unter dem Blickwinkel der Verwesentlichung auch Fragezeichen zu einer überdehnten Zuständigkeit des Bundesgerichts zu setzen, beispielsweise auf dem Gebiet des Strassenverkehrs, wo der ursprünglich vorgesehene Ausschluss der Beschwerde gegenüber Massnahmen zur örtlichen Verkehrsregelung gestrichen wurde, namentlich aber im Bereich des Sozialversicherungsrechts. Die kürzliche Beratung der parlamentarischen Initiative der GPK zur Entlastung des Bundesgerichts hat gezeigt (Amtl. Bull. SR 1999 S. 1062 ff., 2000 S. 113 ff. und 399 f.; NR 2000 S. 46 ff. und 664 ff.), dass der Gesetzgeber in diesem Rechtsbereich die volle Sachverhalts- und Rechtskontrolle durch ein Bundesgerichtsorgan weiterhin gewährleisten will. Unter dieser Prämisse ist daher eine beschränkte Sachverhaltskontrolle vor Bundesgericht im Sozialversicherungsrecht, wie sie die Art. 92 und 99 E-BGG vorsehen, nur realisierbar, wenn die Sozialversicherungsfälle vorerst an ein unteres Bundesverwaltungsgericht und erst danach, beschränkt auf Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, an das Bundesgericht weitergezogen werden können. Wird die im Bundesgerichtsgesetz vorgesehene Kompetenzzuteilung beibehalten und das Bundesgericht umfassend als zweite gerichtliche Instanz im Sozialversicherungsrecht eingesetzt, führt dies in der höchstrichterlichen Rechtsprechung unweigerlich zu einem Ungleichgewicht der unter sich gleichwertigen Rechtsgebiete. Bereits heute ergeht rund jeder dritte Entscheid des Bundesgerichts auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Wird allein in diesem Bereich auf griffige Kognitions- und Zugangsbeschränkungen verzichtet, finden weitere Verlagerungen statt und droht die Gefahr, dass das Bundesgericht zur Hauptsache zu einem Bundessozialversicherungsgericht umgestaltet wird, was nicht der Sinn einer richtig verstandenen umfassenden Justizreform sein kann. Die hier angeregte Zweistufigkeit der Bundesjustiz im Sozialversicherungsrecht würde das gebotene Gleichgewicht wieder herstellen. Zudem würde damit eine der Grundvoraussetzungen für eine
Integration des EVG in das Bundesgericht geschaffen (dazu Ziff. 3.6).

1.3. Die beiden Beispiele zeigen, dass der Gesetzesentwurf dem Grundsatz, die Aufgaben des Bundesgerichts auf das Wesentliche auszurichten, nicht vollumfänglich gerecht wird. Zu fordern ist in allen Rechtsbereichen die Begründung, aber auch die Beschränkung der bundesgerichtlichen Zuständigkeit auf die Beurteilung von Streitsachen von grundsätzlicher oder für die Betroffenen objektiv beachtlicher Bedeutung. Soweit einzelne Sachgebiete von der Beschwerde richtigerweise ausgenommen sind (Art. 78 E-BGG), wäre allenfalls zu prüfen, ob justiziable Grundsatzfragen von besonderer Tragweite dem Bundesgericht vom Bundesverwaltungsgericht zur Vorabentscheidung vorzulegen sind (eingeschränktes Vorlageverfahren in Anlehnung an den Vorschlag der Expertenkommission Art. 107 ff. E-BGG, Schlussbericht vom Juni 1997, S. 97 f.)

2. Organisation der Bundesjustiz 2.1. Die Entwürfe des Strafgerichtsgesetzes und des Verwaltungsgerichtsgesetzes (je Art. 5 Abs. 1) sehen die Wahl der Richter der unterinstanzlichen Bundesgerichte durch den Bundesrat vor, gegebenenfalls mit Bestätigung durch die Bundesversammlung. Die Wahl durch den Bundesrat ist verfassungsrechtlich bedenklich und 5892

daher abzulehnen. Die unterinstanzlichen Bundesgerichte haben Verfügungen der Bundesverwaltung und Anordnungen der Ermittlungsbehörden des Bundes zu überprüfen. Der Bundesrat leitet die Bundesverwaltung (Art. 178 Abs. 1 BV). Er ist daher als Wahlbehörde für die erstinstanzlichen Bundesgerichte nicht geeignet. Es könnte zumindest der Anschein entstehen, dass der Bundesrat geneigt sein könnte, auf Vorschlag der Verwaltung Personen als Richter zu wählen, die der Verwaltung nahe stehen und ihr gewogen sind. Ein amtierender Richter müsste gegebenenfalls befürchten, bei Entscheiden, die der Verwaltung widerstreben, nicht wieder gewählt zu werden. Die nach Art. 191c BV (Fassung gemäss Bundesbeschluss über die Reform der Justiz vom 8. Oktober 1999) verfassungsrechtlich gewährleistete richterliche Unabhängigkeit wäre damit in Frage gestellt; ebenso stellen sich Fragen im Hinblick auf Art. 6 EMRK. Die Wahl von Richtern durch die Regierung ist auch in den Kantonen nicht üblich. Für die Wahl der erstinstanzlichen Bundesrichter ist daher ein anderes Wahlorgan vorzusehen. In Betracht kämen etwa ein Ausschuss der Bundesversammlung oder eine noch zu schaffende unabhängige Wahlkommission.

2.2. Die Aufsicht über die unterinstanzlichen Bundesgerichte sollte das Bundesgericht wahrnehmen. Die bundesgerichtliche Aufsicht hat sich bereits bei den Enteignungs-Schätzungskommissionen bewährt. Mit der Ausdehnung der bundesgerichtlichen Aufsicht auf das neue Bundesverwaltungsgericht und das Bundesstrafgericht geht es darum, die dritte Staatsgewalt des Bundes folgerichtig aufzubauen. Wie in vielen Kantonen die erstinstanzlichen Gerichte unter der administrativen Aufsicht der Kantons- bzw. Obergerichte stehen, sollten die unterinstanzlichen eidgenössischen Gerichte der administrativen Aufsicht des Bundesgerichts unterstellt werden.

Die Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte übt darüber hinaus ohnehin das Parlament aus. Mit der unmittelbaren Aufsicht des Bundesgerichts über die beiden neuen unterinstanzlichen Bundesgerichte lässt sich eine Rechtszersplitterung vermeiden und die einheitliche Anwendung von Justizverordnungen sicherstellen (z.B.

Gebührenverordnungen, Archivierungsverordnung etc.). Ausserdem werden günstige Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit in der Justizverwaltung geschaffen, insbesondere im
Informatikbereich. Die Bedürfnisse sind die gleichen.

2.3. Die Enteignungs-Schätzungskommissionen sollen der generellen ­ mit einem Weisungsrecht verbundenen ­ Aufsicht durch das Bundesgericht entzogen und unter die «administrative Aufsicht» des Bundesrates gestellt werden (vgl. Anhang Ziff. 52 zum Entwurf des Bundesgesetzes über das Bundesverwaltungsgericht). Die heutige Aufsicht des Bundesgerichts umfasst neben der administrativen Aufsicht über die Geschäfts- und Rechnungsführung der Präsidenten ein allgemeines Weisungsrecht sowie Aufsichtsbefugnisse auch in Fragen der Rechtsprechung. So nimmt das Bundesgericht beispielsweise durch Kreisschreiben die jeweiligen Anpassungen des «üblichen Zinsfusses» (im Sinne von Art. 76 Abs. 5 und Art. 19bis Abs. 4 EntG) vor und führt mit den Kommissionspräsidenten Konferenzen zur Behandlung von Schätzungsproblemen durch. Da die Schätzungskommissionen Milizgerichte ohne Gerichtssitz sind, erfüllt das Bundesgericht bzw. die Bundesgerichtskasse zusätzliche Aufgaben der Gerichtsverwaltung, wie etwa Abfassung und Abgabe von Formularen, die Archivierung von Akten, den Einzug der Ordnungsbussen und die Überwachung der Abrechnungen (Art. 4, 6 und 56 der Verordnung für die eidgenössischen Schätzungskommissionen vom 24. April 1972, VESCHK; SR 711.1). Diese Hilfestellung im Rahmen der Rechtsprechung und der Geschäftsführung lässt sich nicht ohne ernsthafte Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Spezialgerichte durch eine «administrative Aufsicht» des Bundesrates ersetzen. Gewisse Aufsichtsbefugnisse können zudem der Bundesverwaltung schon deswegen nicht abgetreten wer5893

den, weil diese auf verschiedenen Gebieten (Militäranlagen, Heimatschutzprojekte) als Enteignerin auftritt. Die Schätzungskommissionen sind daher weiterhin einer gerichtlichen Aufsicht zu unterstellen. Falls das Bundesgericht zu seiner Entlastung davon entbunden werden soll, wären die Aufsichtsaufgaben daher an das Bundesverwaltungsgericht als neue Beschwerdeinstanz über den Schätzungskommissionen abzutreten (Art. 77 E-EntG).

3. Verhältnis zum EVG Der Entwurf schlägt die Teilintegration des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes in das Bundesgericht vor. Die Botschaft (Ziff. 2.4.1.6) beschränkt sich darauf, Gründe zu nennen, die für eine Teilintegration sprechen sollen. Gegengesichtspunkte, die das Bundesgericht dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement schriftlich mitgeteilt hat (Stellungnahme vom 1. September 2000), bleiben unerwähnt; ebenso dass die Expertenkommission nach eingehender Prüfung eine Teilintegration mit überzeugender Begründung als unzweckmässig verworfen hat (Schlussbericht vom Juni 1997, Seite 37). Das Bundesgericht lehnt die Teilintegration einstimmig ab, im Wesentlichen aus folgenden Gründen: 3.1. Massgebliche Kriterien für eine Änderung der Gerichtsorganisation müssen die Qualität und die Effizienz der höchstrichterlichen Rechtsprechung sein. Die Teilintegration mit beibehaltenem Standort des EVG in Luzern bringt insoweit keine Vorteile. Sie liegt weder im Interesse der Justiz noch der Rechtsuchenden und bringt per Saldo keine finanziellen Einsparungen. Dagegen müsste mit einer Verminderung der Qualität der Rechtsprechung gerechnet werden, weil entgegen der Auffassung in der Botschaft (Ziff. 2.4.1.5) eine spezialisierte Auswahl der Richter nicht mehr stattfinden könnte; die Rechtsprechung im Sozialversicherungsbereich durch spezialisierte Richter wäre nicht mehr gewährleistet.

3.2. Das Sozialversicherungsrecht ist vollwertiger Teil des Bundesverwaltungsrechts und letztinstanzlich mit bundesgerichtlicher Autorität anzuwenden. Dies ist heute schon gewährleistet. Die Koordination der Rechtsprechung ist durch die gemeinsame Rechtsprechungsdatenbank sichergestellt. Zwischen den beiden Gerichten besteht heute kein erheblicher Koordinationsaufwand. Die Aufgabe der organisatorischen Selbständigkeit des EVG unter Beibehaltung des separaten Standortes in Luzern brächte keinen Fortschritt.

3.3. Die Administration lässt sich nur durch verantwortliche Organe vor Ort effizient wahrnehmen. Die Delegation der Verwaltung des EVG nach Lausanne brächte keinerlei Vorteile, insbesondere auch nicht für das EVG, dagegen in der Organisationseinheit schwere Nachteile. Die Teilintegration wäre mit erheblichen praktischen Umtrieben und Schwierigkeiten verbunden. Schwer vorstellbar ist insbesondere, wie ein
Gesamtgerichtspräsident von Luzern aus seine Führungsaufgaben wirksam wahrnehmen könnte. Häufige Reisen nach Lausanne wären unausweichlich. Das Gleiche gilt für Plenarsitzungen, die jährlich mehrfach stattfinden und zu welchen alle derzeit elf Luzerner Richter nach Lausanne anreisen müssten, sowie für die Gerichtsleitung (die Luzerner Mitglieder der Gerichtsleitung müssten sich mehrfach pro Monat, gegebenenfalls auch dringlich nach Lausanne begeben). Zu beachten ist

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auch die Bedeutung der informellen Kontakte, die zwischen den in Lausanne tätigen Richtern stattfinden und von denen die in Luzern tätigen Richter ausgeschlossen wären.

3.4. Weiss ein möglicher Kandidat für das Amt eines Bundesrichters nicht, ob sein Arbeitsort Lausanne oder Luzern sein wird, kann dies eine nicht unerhebliche Anzahl von geeigneten Persönlichkeiten abhalten, sich für eine Kandidatur zur Verfügung zu stellen.

Zwar wird in der Botschaft (Ziff. 2.4.1.5) ausgeführt, bei einer Vakanz müsse gerichtsintern abgeklärt und entschieden werden, ob ein amtierender Richter an die vakante Stelle wechseln wolle, womit für die Kandidaten und die Bundesversammlung der Arbeitsort des neu zu wählenden Richters feststehe. Indessen schliesst Art.

16 Abs. 2 E-BGG, wonach bei der Bestellung der Abteilungen die fachlichen Kenntnisse der Richter zu berücksichtigen sind, dieses Vorgehen aus. Wenn die fachlichen Kenntnisse massgeblich sind, kann es nicht den persönlichen Wünschen der amtierenden Richter überlassen sein, in welche Abteilung sie wechseln wollen, schon gar nicht vor der Wahl des neuen Mitglieds, dessen Fachkenntnisse vom Gericht ­ und nicht nur vom Parlament ­ ebenfalls zu berücksichtigen sind. Zudem widerspricht sich die Botschaft, wenn sie andernorts die Anciennität der bisherigen Richter der Fachkompetenz des neu gewählten Mitglieds weichen lassen will (Ziff.

4.1.1.2. zu Art. 5 und Ziff. 4.1.1.3 zu Art. 16). Auf die fachlichen Kenntnisse hat das Bundesgericht bereits bisher geachtet und seine Abteilungen nach einer Vakanz erst nach der Wahl des neuen Richters und mit dessen Mitwirkung bestellt. Dieses Vorgehen entspricht einem unbestreitbaren Gebot der Fairness. Bereits daraus werden die Mängel der vorgeschlagenen Freizügigkeit zwischen den beiden Gerichtssitzen offenkundig.

3.5. Die Botschaft (Ziff. 2.4.1.6) geht davon aus, die Teilintegration entspreche eher der Vorstellung des Verfassungsgebers, der die oberste Gerichtsbarkeit des Bundes einem Bundesgericht übertrage (Art. 188 Abs. 1 BV). Verfassungsrechtlich ist der heutige Zustand jedoch unbedenklich. Das EVG ist formell Bestandteil des Bundesgerichts. Zudem lässt sich die Verfassung teleologisch so verstehen, dass das Bundesgericht als Institution gemeint ist. In diesem Lichte ist die Gliederung des Bundesgerichts in mehrere
selbständige Gerichte verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen. Dass sodann die Bundesverfassung in dieser Frage nicht ausschliesslich grammatikalisch auszulegen ist, zeigt auch ein Blick auf die unter ihrer alten Fassung gelebte Verfassungswirklichkeit. So wenig der Wortlaut von Art. 103 Abs. 3 und Art. 114bis aBV die Bundesversammlung daran hinderte, die einem eidgenössischen Verwaltungsgericht zugedachten Administrativstreitigkeiten dem Bundesgericht zu übertragen, so wenig störte man sich daran, dass die Rechtsprechung im Bundessozialversicherungsrecht seit 1917 von einem selbständigen, erst 1969 dem Bundesgericht angegliederten Eidgenössischen Versicherungsgericht ausgeübt wurde. Bei den Beratungen der nachgeführten Bundesverfassung wurde der Ist-Zustand denn auch mit keinem Wort in Frage gestellt.

3.6. Das Bundesgericht hat sich in der Vernehmlassung zum Entwurf der Expertenkommission für eine Vollintegration ausgesprochen, sofern das Verfahrensrecht vereinheitlicht und durch Zugangsbeschränkungen der Personalbestand, namentlich auch die Zahl der Richter, wesentlich gesenkt werden könne. Es tritt unverändert dafür ein, falls diese Grundvoraussetzungen geschaffen werden, insbesondere der Rechtsweg im Sozialversicherungsbereich so ausgestaltet wird, dass die bundesgerichtliche Belastung über alle Rechtsgebiete einigermassen ausgeglichen ist. Die 5895

vorne (Ziff. 1.2) zur Diskussion gestellte Zweistufigkeit der Bundesjustiz in Sozialversicherungsangelegenheiten würde dazu eine wichtige Voraussetzung schaffen.

Die vorgeschlagene Teilintegration, die verglichen mit dem Ist-Zustand keine Verbesserung im Rechtsprechungsbereich und per Saldo keine administrative Entlastung der beiden Gerichte brächte, lehnt das Bundesgericht dagegen aus den dargelegten Gründen einstimmig ab. Keine Zustimmung verdient dabei namentlich auch die in der Botschaft angetönte Absicht (Ziff. 2.4.1.6 am Ende), mit der Entlastung des Bundesgerichts Raum für eine Verschiebung sozialversicherungsrechtlicher Zuständigkeiten nach Lausanne zu schaffen.

4. Geschäftsverteilung (Art. 20 E-BGG) 4.1. Gestützt auf das geltende Recht besteht folgende Praxis: Die Materien werden den Abteilungen durch das Reglement zugewiesen. Die Zusammensetzung der Abteilungen (Aufteilung der 30 Richter auf die 5 Abteilungen des Bundesgerichts) wird vom Bundesgericht jeweils in einem Konstituierungsbeschluss festgelegt. Die Zuteilung der Geschäfte auf die einzelnen Richter erfolgt durch den Abteilungspräsidenten unter Berücksichtigung der Sprache, der Sachgebiete, der Sachzusammenhänge und der Auslastung, wobei im Interesse einer sachgerechten und zeitlich gleichmässigen Erledigung der Fälle eine gewisse Flexibilität unverzichtbar ist. Dieses System hat sich bewährt. Es trägt dem Grundsatz des gesetzlichen Richters hinreichend Rechnung.

4.2. Nach Art. 20 E-BGG soll das Bundesgericht neu die Bildung der Spruchkörper sowie den Einsatz der Ersatzrichter durch Reglement festlegen. Die damit verlangte generell-abstrakte Festlegung der Spruchkörper ist unpraktikabel. Die Bildung der Spruchkörper und die Zuteilung der Ersatzrichter muss weiterhin aufgrund der Sprache, des Spezialwissens und der Arbeitsbelastung flexibel gehandhabt werden können. Ein generell-abstraktes System führte zu erheblichen Effizienzverlusten und damit zur Gefahr von Prozessverzögerungen; es müsste gegebenenfalls durch einen umfangreichen Ausnahmekatalog abgeschwächt werden.

5. Prioritäre Schaffung des Bundesstrafgerichts 5.1. Die Botschaft (Ziff. 2.1.4) geht davon aus, dass das Bundesgerichtsgesetz, das Strafgerichtsgesetz und das Verwaltungsgerichtsgesetz gleichzeitig verabschiedet und in Kraft gesetzt werden. In den letzten Jahren hat sich indessen mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass das Fehlen eines unterinstanzlichen Bundesstrafgerichts einen der gravierendsten Mängel der eidgenössischen Justizorganisation darstellt. Deshalb ist die Errichtung des unterinstanzlichen Bundesstrafgerichts vordringlich. Dieses sollte seinen Betrieb so bald wie möglich aufnehmen. Das Strafgerichtsgesetz sollte daher vorweg beraten und in Kraft gesetzt werden, umso mehr, als anzunehmen ist, dass die Behandlung des Bundesgerichtsgesetzes und des Verwaltungsgerichtsgesetzes erhebliche Zeit in Anspruch nehmen wird.

5.2. Die Effizienz-Vorlage soll am 1. Januar 2002 in Kraft treten. Sollte ­ was anzunehmen ist ­ bis dahin das untere Bundesstrafgericht seinen Betrieb nicht aufgenommen haben, muss jedenfalls eine Übergangslösung zur Entlastung der Anklagekammer des Bundesgerichts getroffen werden. Die auf Grund der Effizienz-Vorlage 5896

zu erwartende erhebliche Mehrbelastung wäre für die Anklagekammer und das Bundesgericht insgesamt in keinem Fall tragbar, auch nicht für eine Übergangsperiode, wie das Bundesgericht bereits mit Eingabe vom 22. Mai 2000 an die Eidgenössischen Räte festgehalten hat.

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Stellungnahme des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 22. Dezember 2000 zum Entwurf des Bundesgerichtsgesetzes und zum Botschaftsentwurf zur Totalrevision der Bundesrechtspflege Inhaltsverzeichnis I.

Grundsätzliche Bemerkungen

II. Fusion der beiden Gerichte III. Einheitsbeschwerde IV. Verfahrensvereinheitlichung V.

Organisation und Verwaltung

VI. Status der Bundesgerichtsjuristen VII. Schlussbemerkung

I. Grundsätzliche Bemerkungen (1) In der Sache ist einleitend mit aller Deutlichkeit festzuhalten, dass die vorgeschlagene Totalrevision der Bundesrechtspflege mit den entsprechenden ­ gut aufeinander abgestimmten ­ Vorlagen vom Eidgenössischen Versicherungsgericht (EVG) voll unterstützt wird. Sie trägt den wesentlichen Rahmenbedingungen, welche das EVG im Grundlagenbericht vom 20. Juni 2000 zuhanden der Vorsteherin des EJPD formuliert hat, Rechnung: (2) Die höchstrichterliche Rechtsprechung in Sozialversicherungssachen ist und bleibt Bestandteil der Bundesgerichtsrechtspflege.

(3) Die Rechtspflege in der Sozialversicherung nimmt teil an der mit der Vorlage zu einem Bundesgerichtsgesetz bezweckten Konzentration des Rechtsschutzes auf das Wesentliche. Zwischen den darin vorgesehenen Massnahmen besteht eine Interdependenz.

(4) Das materielle Sozialversicherungsrecht ist kein losgelöster Rechtszweig, sondern ein gewichtiger Teil des Verwaltungsrechts, dessen allgemeine Rechtsgrundsätze anwendbar sind, und weist ­ eingebettet in die gesamte Rechtsordnung ­ enge Bezüge und Nahtstellen zum Völkerrecht, zum Verfassungsrecht und zu anderen Rechtsgebieten, insbesondere zum Privatrecht, auf.

(5) Wichtig sind die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und die koordinierte richterliche Rechtsfortbildung. Dies sind tragende Reformziele der Totalrevision der Bundesrechtspflege.

(6) Für das Verfahren vor dem neuen Bundesgericht gelten im gesamten Verwaltungsrecht die gleichen Bestimmungen. Die dazu erforderliche Korrektur der bisherigen besonderen Ausgestaltung des Sozialversicherungsprozesses im Bereich der Kognition und der Gerichtskosten ist vorzunehmen.

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II. Fusion der beiden Gerichte (7) Das EVG hält an dem im genannten Grundlagenbericht vertretenen Ziel fest, dass Bundesgericht und EVG zu einem neuen Bundesgericht zu vereinigen sind.

(8) Damit gelten für das gesamte Sozialversicherungsrecht bezüglich Kognition und Kostenpflicht die gleichen verfahrensrechtlichen Regeln wie für das übrige Verwaltungsrecht, wodurch sich nicht nur die Anzahl Verfahren erheblich reduziert, sondern auch deren Erledigungsart ändert. Schliesslich entfallen bei dieser Lösung die jetzt bestehenden Probleme und Unzulänglichkeiten betreffend Koordination der Rechtsprechung, Justizverwaltung und Kommunikation, was ­ unter dem Gesichtspunkt der Nutzung von Synergieeffekten ­ nichts anderes bedeutet, als dass organisatorische und kostenmässige Gründe ebenfalls für die Vereinigung der beiden Gerichte sprechen.

(9) Das Bundesgerichtsgesetz (BGG) ist denn auch durchwegs als Fusionsgesetz ausgestaltet. Mit dem BGG wird die institutionelle Vereinigung der beiden höchsten Gerichte Tatsache. Damit wird eine Entwicklung abgeschlossen, die 1917 mit der Schaffung des EVG begonnen hat und über die Zwischenstation des Einbezugs der Sozialversicherung in die Bundesverwaltungsrechtspflege (1969) zur Vereinigung der beiden Gerichte in einem neuen Bundesgericht führt, wie es Art. 188 Abs. 1 BV gebietet (Sägesser, Die Bundesbehörden, S. 493, Rz 1068).

(10) Folgerichtig ist Sitz des Bundesgerichts Lausanne (Art. 4 Abs. 1). Hingegen ist es u.E. nicht richtig, einen zweiten Sitz in Luzern zu bezeichnen (Art. 4 Abs. 2). Aus der institutionellen Vereinigung folgt, dass im Gesetz für die dezentralisierten Abteilungen nur ein Standort (Luzern) zu bezeichnen ist. In diesem Sinne ist Art. 4 Abs. 2 neu wie folgt zu fassen: «Eine bis zwei Abteilungen haben ihren Standort in Luzern.» (11) Wenn eine vollständige Integration zur Zeit nicht durchführbar sein sollte, darf daraus nicht abgeleitet werden, dass es nach wie vor zwei eigenständige Bundesgerichte gibt. Entscheidend ist, dass mit der Vorlage Bundesgericht und EVG institutionell zu einem neuen Bundesgericht vereinigt werden (Spira, Faut-il supprimer le Tribunal fédéral des Assurances?, SZS 2000, S. 487 ff.).

(12) Die Schaffung zweier vollkommen selbstständiger, voneinander unabhängiger und örtlich getrennter oberster Gerichte mit dem EVG als
letztinstanzlichem Fachgericht für die Sozialversicherung (Status quo ante [vor 1. Oktober 1969]) fällt schon aus verfassungsrechtlichen Überlegungen (vgl. Rz 9) als Lösungsmodell von vornherein ausser Betracht.

(13) Ebenso klar zu verwerfen ist die Idee, das EVG in ein dem Bundesgericht vorgelagertes Bundessozialverwaltungsgericht mit voller Kognition (und ­ sehr beschränkter ­ Weiterzugsmöglichkeit an das Bundesgericht) umzuwandeln: (14) Die Schaffung eines dem Bundesgericht vorgelagerten Bundessozialverwaltungsgerichts als Zwischeninstanz mit voller Kognition und Kostenfreiheit im Leistungsprozess wäre zwar geeignet, die verfahrensrechtliche Gleichstellung abzufedern und hinsichtlich des Weiterzugs ans Bundesgericht als Filter zu wirken. Zu beachten ist jedoch, dass unter Einbezug des sich zu einem förmlichen Rechtsmittelverfahren entwickelten Einspracheverfahrens, das gemäss Art. 52 des Bundesgesetzes über einen Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) generell eingeführt wird, der rechtsuchenden Person vier Instanzen zur Überprüfung der

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Streitsache zur Verfügung stehen würden. Die Zwischenschaltung einer zusätzlichen richterlichen Behörde wäre auch etwas Neues im Verwaltungsrecht. Es würde ein Kuriosum darstellen, dem neu zu schaffenden Bundesverwaltungsgericht, welches primär Entscheide der Bundesverwaltung überprüft (vgl. S. 4390 der Botschaft und Art. 29 des Entwurfs des Bundesgesetzes über das Bundesverwaltungsgericht), generell einen Bereich zuzuweisen, in dem kantonale Verwaltungs- oder Versicherungsgerichte als Vorinstanzen urteilen. Zudem haben die Kantone für Streitigkeiten aus dem Bundessozialversicherungsrecht bereits durchwegs gut funktionierende richterliche Behörden als letzte Instanzen eingesetzt. Sie sind die Visitenkarte der Sozialversicherungsgerichtsbarkeit und würden durch die Einführung einer zusätzlichen Überprüfungsinstanz auf Bundesebene demotiviert. Die Schaffung einer Zwischeninstanz führt schliesslich zu einer zusätzlichen und wesentlichen Verlängerung des Instanzenzugs, welche aufgrund der jüngsten Erfahrungen ­ basierend wohlgemerkt auf dem Ist-Zustand ­ sowohl im Hinblick auf Art. 29 Abs. 1 in fine BV als auch unter EMRK-Gesichtspunkten höchst problematisch erscheint. Es gibt keine hinreichenden Gründe, den Prozessweg ausgerechnet in einem Teil des Bundesrechts zu verlängern, in dem ein rasches und einfaches Verfahren zu den allgemeinen Rechtsprinzipien gehört. Daher ist das Modell, das EVG in ein dem Bundesgericht vorgeschaltetes Bundessozialverwaltungsgericht umzuwandeln, untauglich. Das Gleiche gilt auch für das Modell, die Sozialversicherung letztinstanzlich dem Bundesverwaltungsgericht zuzuweisen, und nur noch Grundsatzfälle ans Bundesgericht zuzulassen.

(15) Aus der institutionellen Vereinigung von Bundesgericht und EVG ergibt sich schliesslich, dass die Bundesversammlung die Richter für das Bundesgericht wählt.

Wir begrüssen die damit verbundene Einführung der Freizügigkeit und teilen die überzeugende Begründung in der Botschaft. Die Freizügigkeit entspricht in der Tat der Tatsache, dass alle Bundesrichter oberste Richter des Landes sind, und nicht primär Fachrichter. Es gibt keine sachlichen Gründe, die gegen die Freizügigkeit sprechen.

III. Einheitsbeschwerde (16) Das EVG bejaht die Einheitsbeschwerde. Sie ist einer der wichtigsten Gegenstände der Totalrevision. Mit ihrer Einführung wird ­ im Sinne des Fairnessprinzips ­ das bisherige komplizierte Rechtsmittelsystem wesentlich vereinfacht und bürgernäher gemacht.

(17) Der mit der Einführung der Einheitsbeschwerde verbundene Systemwechsel hat zur Folge, dass massgebend ist, welchem Rechtsgebiet die zu beurteilende Frage angehört. Der entscheidende Zuordnungsfaktor ist die Natur des Rechts, das den Streitfall in der Sache regelt.

(18) Daraus folgt, dass bezüglich der Aufteilung der Rechtsmaterien auf die einzelnen Abteilungen des Bundesgerichts verschiedenste Möglichkeiten offen stehen. So liesse sich zum Beispiel eine Zuordnung denken, die anstatt des klassischen Sozialversicherungsrechts das Sozialrecht im umfassenden Sinne vorsieht (vgl. die analogen Hinweise auf S. 4284 der Botschaft; ad Art. 16).

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IV. Verfahrensvereinheitlichung (19) Es gibt nach dem Gesagten keinen Grund mehr für einen verfahrensmässigen Sonderfall Sozialversicherungsrecht. Das bringen die überzeugende Struktur und die Logik des BGG zum neuen System der Bundesrechtspflege klar zum Ausdruck. Mit Nachdruck unterstützen wir daher die als Konsequenz der Einheitsbeschwerde vorgeschlagene, sozialpolitisch vertretbare Verfahrensvereinheitlichung auch für das Sozialversicherungsrecht.

(20) Wir pflichten dem Vorschlag ausdrücklich bei, dass die Kognition auch im Bereich des Leistungsrechts der Sozialversicherung nur noch die Rechtskontrolle umfasst.

(21) Im Sinne einer flankierenden Massnahme regen wir an, den in der im Juni 2000 eingesetzten Arbeitsgruppe (Botschaft S. 4237 Fussnote 2) diskutierten, in der Botschaft indessen nicht enthaltenen Vorschlag einer differenzierten Kognition für sensible Rechtsgebiete (also nicht nur für Teile des Sozialversicherungsrechts, sondern z.B. auch für Miet-, Arbeits- und Vormundschaftsrecht sowie die dem Versicherungsvertragsgesetz unterliegenden Zusatzversicherungen) in die Vorlage aufzunehmen. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass Art. 80 Abs. 2 BGG die Schaffung einer zweiten kantonalen ­ oder gemeinsamen (vgl. Art. 191b Abs. 2 BV) ­ Instanz in allen Bereichen des öffentlichen Rechts und damit auch auf dem Gebiete der Sozialversicherung nicht ausschliesst. Allerdings würde die Einführung einer zusätzlichen kantonalen Vorinstanz eine Änderung von Art. 57 ATSG nach sich ziehen. Mit dieser Massnahme bleiben zwar die in Rz 14 dargestellten Nachteile bis zu einem gewissen Grad bestehen, dafür werden aber als Filter wirkende und mit umfassender Kognition ausgestattete kantonale oder interkantonale Gerichte dem Bundesgericht vorgeschaltet, ohne dass die Konzeption des vorgesehenen, die eidgenössischen Rekurskommissionen und die Beschwerdedienste der Departemente ablösenden Bundesverwaltungsgerichts in Frage gestellt wird.

(22) Wir sind überzeugt, dass mit der Einführung des generellen Einspracheverfahrens im ATSG (Art. 52) die Beschränkung der Kognition auf die Rechtskontrolle abgefedert wird. Es entspricht einem sinnvollen, effizienten und verfahrensökonomischen Rechtsschutzsystem, Unvollständigkeiten, Unrichtigkeiten, Unklarheiten oder Unsicherheiten in der Sachverhaltsfeststellung
schon auf der Stufe des bürgernäheren Verwaltungsverfahrens auszumerzen. Das Einspracheverfahren bringt im Übrigen eine wesentliche Entlastung der kantonalen Versicherungsgerichte, wie die Erfahrungen zeigen.

(23) Das EVG ist ausdrücklich mit der generellen Einführung der Kostenpflicht auch im Leistungsprozess der Sozialversicherung einverstanden.

(24) Die in Art. 61 Abs. 4 BGG getroffene Sonderregelung für Sozialversicherungleistungen erachten wir als systemfremd, findet sich doch ­ entsprechend dem Grundsatz der Verfahrensvereinheitlichung ­ im vorliegenden Entwurf des BGG keine spezielle Norm mehr zur Sozialversicherungsrechtspflege. Der in diesem Absatz vorgesehene tiefe Kostenrahmen lässt generell die Versicherungsträger davon profitieren und berücksichtigt die Tatsache nicht, dass es (neben den Rentenfällen) Bereiche gibt, wo sehr hohe Streitwerte auf dem Spiele stehen (z.B. Freizügigkeitsleistungen im überobligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge). Sodann ist der Gebührenrahmen von 200 bis 1000 Franken viel zu eng. Wir halten aus diesen Gründen eine spezielle Regelung für Streitigkeiten über Sozialversicherungsleistungen als nicht notwendig. Es genügt dafür Art. 61 Abs. 2 BGG, wonach sich die Ge5901

richtsgebühr nach der finanziellen Lage der Parteien richtet. Will man aus sozialpolitischen Gründen nicht so weit gehen, drängt sich jedenfalls auf, Absatz vier bei Absatz zwei als lit. c einzufügen, sodass auch in diesen Streitigkeiten über den üblichen Kostenrahmen hinausgegangen werden kann.

V. Organisation und Verwaltung (25) Das EVG begrüsst die für Organisation und Verwaltung (Selbstverwaltung gemäss Justizreform Art. 188 Abs. 3 BV) offene Gesetzgebung, die es erlaubt, im Bundesgerichtsreglement flexibel zu reagieren. Insbesondere ist es unter dem Aspekt der Autonomie des Bundesgerichts richtig, dass das BGG die Zahl der Abteilungen nicht nennt und keine Zuteilung der Rechtsmaterien an die Abteilungen vornimmt.

(26) Im Reglement wird nach den zutreffenden Ausführungen in der Botschaft (S.

43) auch zu ordnen sein, ob und inwieweit Teile der Gerichtsverwaltung über eine grössere Selbstständigkeit verfügen sollen.

VI. Status der Bundesgerichtsjuristen (27) In der Vernehmlassung vom 29. Januar 1998 zum Entwurf der Expertenkommission zu einem Bundesgesetz über das Bundesgericht haben wir uns eingehend mit dem Status der Bundesgerichtsjuristen auseinandergesetzt und verschiedene Anregungen gemacht. Namentlich haben wir ausgeführt, dass heute die Mehrzahl der Fälle selbstständig durch die juristischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bearbeitet, der Urteilsentwurf durch den Instruktionsrichter geprüft sowie genehmigt und anschliessend dem Gericht zum Entscheid unterbreitet wird. Diese verantwortungsvolle Tätigkeit der Gerichtsschreiber, die auch im Entwurf der Botschaft (S. 4287) zutreffend festgehalten wird, gibt Abs. 2 von Art. 22 nur unvollkommen wieder. In Anlehnung an Art. 7 Abs. 2 des Reglementes des EVG vom 16. November 1999 (SR 173.111.2) ist die Stellung der Gerichtsschreiber wie folgt zu umschreiben: «Die Gerichtsschreiber wirken bei der Instruktion der Fälle und bei der Entscheidfindung mit. Sie erarbeiten mit oder ohne Anweisung des Instruktionsrichters Referate. Sie haben beratende Stimme.» Angesichts dieser im Rahmen des Spruchkörpers ausgeübten verantwortungsvollen Tätigkeit und im Hinblick auf die unbeeinflusste Abgabe der beratenden Stimme fragt es sich überdies, ob nicht ­ wie bisher (vgl. Art. 7 Abs. 2 OG) ­ im Gesetz die feste Amtsdauer für Gerichtsschreiber vorzusehen ist.

(28) Es ist zu bedauern, dass in der Botschaft keine Diskussion über andere Modelle der Mitarbeit und der Laufbahn der Gerichtsschreiber stattgefunden hat, wie wir es in der erwähnten Vernehmlassung vom 29. Januar 1998 angeregt hatten.

(29) Der Terminus Gerichtsschreiber bringt namentlich in der französischsprachigen Fassung («Greffier») die verantwortungsvolle Stellung und Tätigkeit der Bundesgerichtsjuristen nur ungenügend zum Ausdruck und könnte durch «référendaire» bzw. «Gerichtsreferent» ersetzt werden.

(30) Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass generell die Beschäftigten am Bundesgericht im Unterschied zur heutigen Rechtslage (vgl. Art. 58 Abs. 2 lit. b Ziff. 1 und 2 BtG, SR 172.221.10, sowie Art. 36 Abs. 2 Bundespersonalgesetz vom 5902

24. März 2000) die einzigen Arbeitnehmenden in der Schweiz sein werden, die in personalrechtlichen Angelegenheiten nicht vor eine aussenstehende Gerichtsinstanz gelangen können (vgl. Art. 29 lit. a und b VGG, Art. 36 Bundespersonalgesetz gemäss Fassung Anhang zum VGG). Auch für das Bundesgerichtspersonal ist eine Beschwerdemöglichkeit an ein externes Gericht zu schaffen.

VII. Schlussbemerkung (31) Erdrückende Geschäftslast, erheblicher administrativer Aufwand der Gerichtsleitung, Koordinationsaufgaben und Justizverwaltung belasten das Richterkollegium und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es besteht daher die latente Gefahr, dass gerade die wesentlichen Aufgaben eines höchsten Gerichts, namentlich die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und die koordinierte richterliche Fortbildung des Rechts, nicht mehr befriedigend wahrgenommen werden könnten. Es zeigt sich je länger desto mehr, dass das seit über 30 Jahren herrschende Organisationssystem den Anforderungen der heutigen Zeit nicht mehr genügt und überholt ist. Mit den anlässlich der Justizreform eingefügten neuen Verfassungsbestimmungen besteht nun die einmalige Gelegenheit, die Bundesrechtspflege auf institutioneller, verfahrensmässiger und personeller Ebene neu zu gestalten, das heisst bildlich gesprochen ein neues Haus zu bauen, anstatt das bisherige Flickwerk weiterzuführen oder den Altbau notdürftig zu sanieren. Gesetzesentwurf und Botschaft nehmen diese Chance wahr und tragen unseren Hauptanliegen ­ Fusion der beiden Gerichte zu einem neuen Bundesgericht und Verfahrensvereinheitlichung ­ in optimaler Weise Rechnung.

Luzern, 22. Dezember 2000

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