00.094 Botschaft zur Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» und zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen vom 11. Dezember 2000

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen zusammen mit der vorliegenden Botschaft den Entwurf zu einem Beschluss über die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte». Wir beantragen Ihnen, diese Volk und Ständen mit der Empfehlung auf Ablehnung zur Abstimmung ohne direkten Gegenvorschlag zu unterbreiten.

Ferner unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen sowie einen Entwurf zu einem Bundesbeschluss über die Finanzierung der Massnahmen im öffentlichen Verkehr zu Gunsten behinderter Menschen, beide Entwürfe mit Antrag auf Zustimmung.

Wir schlagen Ihnen die Abschreibung des folgenden parlamentarischen Vorstosses vor: 1999 M 99.3192

Gleichstellungsgesetz für Behinderte (N 8.10.99, Jost Gross; S 06.06.00).

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

11. Dezember 2000

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates

11303

Der Bundespräsident: Adolf Ogi Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2000-2479

1715

Übersicht Die Frage der Gleichstellung der behinderten mit den nicht behinderten Personen ist eines der besonders wichtigen politischen Anliegen der letzten Jahre. Eng verknüpft mit der Politik der Menschenrechte, fügt es sich nahtlos in die Perspektive einer Politik der gegenseitigen Toleranz und Solidarität zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft ein. In diesem Sinne verdient das eigentliche Anliegen der Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» unsere Unterstützung. Überdies hat bereits die neue Bundesverfassung vom 18. April 1999 sich diese Idee zu eigen gemacht und die Gesetzgeber von Bund und Kantonen beauftragt, die Benachteiligungen zu beseitigen, welche behinderte Personen beeinträchtigen (geltender Art. 8 Abs. 4). Da das Ziel nicht in Frage gestellt wird, muss das zur Umsetzung einer Politik zu Gunsten der Gleichstellung der Behinderten am besten geeignete Instrument gefunden werden.

Die Volksinitiative ist am 14. Juni 1999 bei der Bundeskanzlei in Form eines ausgearbeiteten Entwurfs eingereicht worden. Sie verlangt die Ergänzung der Bundesverfassung mit einer neuen Bestimmung, die einen Gesetzgebungsauftrag erteilt, für die Gleichstellung zu sorgen, und die Massnahmen im Hinblick auf die Beseitigung und den Ausgleich bestehender Benachteiligungen verlangt. Ferner gewährleistet sie direkt, soweit wirtschaftlich zumutbar, den Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind.

Die Formulierung des von der Initiative vorgesehenen Gesetzgebungsauftrags ist offen gehalten. Von daher unterscheidet er sich nicht wesentlich von demjenigen, wie er bereits in Artikel 8 Absatz 4 der neuen Bundesverfassung niedergelegt ist.

Anders verhält es sich hingegen bezüglich der Gewährleistung des Zugangs zu Bauten oder der Inanspruchnahme von Leistungen. Diese Gewährleistung bringt auf Verfassungsebene ein subjektives Recht, das sowohl an die Privatpersonen als auch an die Gemeinwesen gerichtet ist. Sie beschlägt alle öffentlich zugänglichen Bauten und Anlagen, seien sie neu oder bereits bestehend. Sie umfasst Leitungen jeglicher Art, seien sie vom Staat oder von Privatpersonen erbracht. Sie bringt eine identische Regelung für die Bauten und die Leistungen. Die Regelung umfasst somit eine Verpflichtung zur Anpassung,
die mit dem Inkrafttreten der Verfassungsbestimmung vollzogen werden muss. Die einzige Schranke, die anerkannt wird, ist das Verhältnismässigkeitsprinzip, namentlich in Bezug auf seinen wirtschaftlichen Aspekt.

Da das Recht auf Zugang oder Inanspruchnahme direkt anwendbar ist, obläge seine Umsetzung den Gerichten, zumindest insoweit, als die Gesetzgeber nicht legiferiert hätten. Diese Umsetzung impliziert nun aber politische Entscheidungen, die in demokratischen Gesetzgebungsverfahren getroffen werden sollten. Ferner hätte ein derart offen formuliertes Recht auf Zugang erhebliche finanzielle Auswirkungen für den Einzelnen und die betroffenen Privatunternehmen sowie für das Gemeinwesen.

Aus diesen Gründen beantragen wir, die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behin-

1716

derte» Volk und Ständen mit der Empfehlung auf Ablehnung zur Abstimmung zu unterbreiten.

Der geltende Artikel 8 Absatz 4 der Bundesverfassung erteilt den verschiedenen Gesetzgebern den verbindlichen Auftrag, die Benachteiligungen der Behinderten zu beseitigen. Um diesen Auftrag der neuen Verfassung umzusetzen, sowie als Antwort auf eine in den Räten im Juni 2000 überwiesene parlamentarische Motion (99.3192), haben wir uns an die Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs gemacht. Der Erlass eines Gesetzes scheint uns der beste Weg zu sein, um das Hauptanliegen der Volksinitiative, das heisst die Förderung der Gleichstellung zu Gunsten der Behinderten, erfüllen zu können. Was das subjektive Recht anbelangt, hat ein Bundesgesetz gegenüber einer verfassungsmässigen Gewährleistung den Vorteil, dass die Bereiche, in denen Massnahmen erforderlich sind, genau bezeichnet, das Ausmass dieser Massnahmen definiert, der Grundsatz der Verhältnismässigkeit konkretisiert und der Rhythmus der Anpassungen festgelegt werden können.

Der Gesetzesentwurf ist auf den öffentlichen Verkehr, die für die Öffentlichkeit bestimmten Bauten, die Wohngebäude mit mehr als acht Wohneinheiten sowie die Gebäude mit vielen Arbeitsplätzen gerichtet, unabhängig davon, ob sie Privatpersonen oder dem Gemeinwesen gehören. Was andere Bauten als diejenigen des öffentlichen Verkehrs angeht, betrifft die Regelung nur die neuen oder erneuerten Objekte und sieht somit keine generelle Verpflichtung zur Anpassung vor; hingegen werden die Bauten für den Betrieb des öffentlichen Verkehrs (soweit wirtschaftlich vertretbar) einer Sonderregelung unterworfen, die eine solche Verpflichtung vorsieht. Dieser Unterschied rechtfertigt es, dass der Bund an den durch den Gesetzesentwurf verursachten zusätzlichen Kosten nur bezüglich des öffentlichen Verkehrs und nicht bezüglich der Bauten im Allgemeinen partizipiert. Der Entwurf soll sich auch auf die der Öffentlichkeit angebotenen Dienstleistungen des Staates, konzessionierter Unternehmen oder Privater erstrecken. Auch hier unterscheidet die Regelung je nach der Eigenschaft des Leistungserbringers; für die Privatpersonen sieht das Gesetz nur ein Diskriminierungsverbot im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 der Bundesverfassung vor, währenddem sie den Gemeinwesen oder den konzessionierten Unternehmen die Verpflichtung
auferlegt, ihre Leistungen behindertengerecht zu erbringen.

Ausserdem sieht der Gesetzesentwurf beim Zugang zu Bauten und Leistungen subjektive Rechte vor. In Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit werden diese subjektiven Rechte indessen nur dann anerkannt, wenn das konkrete Interesse der behinderten Person hinsichtlich des Zugangs zu Bauten oder Leistungen höher zu gewichten ist als die entgegenstehenden Interessen einer anderen Privatperson oder andere öffentliche Interessen. Für die Anpassung der Infrastrukturen im Bereich des öffentlichen Verkehrs bestimmt der Entwurf eine Frist von 20 Jahren. Er ermächtigt ferner den Bund, den Unternehmen des öffentlichen Verkehrs Beiträge zu gewähren, um die durch den Entwurf verursachten zusätzlichen Kosten teilweise zu finanzieren.

Schliesslich sieht der Gesetzentwurf Änderungen des geltenden Rechts bei den Steuern, dem Strassenverkehr sowie dem Fernmeldewesen vor.

Die finanziellen Auswirkungen des Gesetzes sind sicher bedeutend, doch deutlich kleiner als diejenigen im Fall der Annahme der Initiative. Diese erhebliche Diffe-

1717

renz ist vor allem auf den unterschiedlichen materiellen Geltungsbereich, die geforderten Anpassungs-Standards sowie den für die Umsetzung beschlossenen Rhythmus zurückzuführen. Der Gesetzesentwurf zeichnet sich durch folgende Grundzüge aus: Leistungen Privater sind nur erfasst, wenn eine Diskriminierung vorliegt; hinsichtlich der Bauten besteht, mit Ausnahme des öffentlichen Verkehrs, keine Verpflichtung zur Anpassung; die Anpassungsfristen für den öffentlichen Verkehr betragen 20 und 10 Jahre; erweisen sich die Kosten der Infrastrukturanpassung im Vergleich zum individuellen Nutzen für eine behinderte Person als unverhältnismässig, sind Ersatzmassnahmen erlaubt. Der Bereich des öffentlichen Verkehrs hat die Verpflichtung zur Anpassung, was ihn von den anderen Bereichen unterscheidet.

Dort sind deshalb auch die höchsten Mehrkosten zu erwarten. Aus diesem Grund beantragen wir, dass der Bund sich an der Finanzierung dieser Kosten bis zu einem Betrag von 300 Millionen Franken beteiligt, und zwar während einer Periode von 20 Jahren. Die jährlichen Kosten, die dem Bund aus den im Gesetzesentwurf vorgesehenen Massnahmen erwachsen, weisen die Grössenordnung von 31­47 Millionen Franken auf.

Der Gesetzesentwurf setzt den geltenden Artikel 8 Absatz 4 der Bundesverfassung um, soweit er gewisse unbestimmte Begriffe des Gesetzgebungsauftrags konkretisiert. Er stützt sich ferner auf verschiedene materielle Kompetenzzuweisungen an den Bund, vor allem im Bereich des öffentlichen Verkehrs und der Förderungsmassnahmen zur Integration der behinderten Personen.

1718

Botschaft 1

Text und Entstehungsgeschichte der Volksinitiative

1.1

Form und Gültigkeit

1.1.1

Wortlaut

Die Volksinitiative hat folgenden Wortlaut1: Art. 4bis (neu) 1

Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, der Sprache, des Alters, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

2

Das Gesetz sorgt für die Gleichstellung behinderter Menschen. Es sieht Massnahmen zur Beseitigung und zum Ausgleich bestehender Benachteiligungen vor.

3

Der Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, ist soweit wirtschaftlich zumutbar gewährleistet.

1.1.2

Zustandekommen

Die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» wurde am 14. Juni 1999 eingereicht. Am 4. August 1999 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Initiative mit 120 455 gültigen Unterschriften zu Stande gekommen ist2.

1.1.3

Gültigkeit

1.1.3.1

Einheit der Form

Gemäss Artikel 139 Absatz 2 der Bundesverfassung (BV; Art. 121 Abs. 4 der alten Bundesverfassung vom 29. Mai 1874, aBV) kann die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung die Form der allgemeinen Anregung oder des ausgearbeiteten Entwurfs haben. Gemäss Artikel 139 Absatz 3 und 194 Absatz 3 BV muss die Initiative den Grundsatz der Einheit der Form wahren. Dieser Grundsatz gebietet, dass die Volksinitiative entweder in die eine oder die andere der beiden vorerwähnten Formen gekleidet ist3, was bedeutet, dass eine Vermischung der beiden Formen 1 2 3

Zur Anpassung an die neue Bundesverfassung vgl. Ziff. 3.2.

BBl 1999 7312, 1998 3964 Art. 75 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR, SR 161.1).

1719

unzulässig ist. Die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» hat die Form eines in allen Teilen ausgearbeiteten Entwurfs für einen Verfassungsartikel. Sie respektiert somit die Einheit der Form.

1.1.3.2

Einheit der Materie

Gemäss Artikel 139 Absatz 3 und 194 Absatz 3 BV (Art. 121 Abs. 3 aBV) muss die Volksinitiative auf Teilrevision ferner die Einheit der Materie wahren. Dieser Grundsatz wird erfüllt, wenn zwischen den einzelnen Teilen einer Initiative ein sachlicher Zusammenhang besteht4.

Die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» schlägt die Einführung eines neuen Verfassungsartikels vor, welcher drei Absätze umfasst. Die Bestimmung zielt in ihrer Gesamtheit darauf ab, in der Verfassung spezifisch zu Gunsten der Menschen mit Behinderungen5 einen Gleichstellungsgrundsatz zu verankern. Zu diesem Zweck werden bestimmte Instrumente einer Gleichstellungs-Politik genannt (Diskriminierungsverbot, Gesetzgebungsauftrag, Gewährleistung eines Rechts auf Zugang zu Anlagen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind). Die Initiative besteht somit aus Elementen, welche unter sich in einem direkten Zusammenhang stehen und sich gegenseitig ergänzen. Sie respektiert somit die Einheit der Materie.

1.1.3.3

Durchführbarkeit der Initiative

Der Verfassungsgeber hat den Grundsatz der Durchführbarkeit der Initiative nicht ausdrücklich stipuliert, dies weil er erwog, dass diese materielle Schranke der Teilrevision der Verfassung selbstverständlich sei6. Die Unmöglichkeit, eine Volksinitiative durchzuführen, ist jedoch nach der Praxis der zuständigen Behörden ein Nichtigkeitsgrund. Der Grundsatz der Durchführbarkeit gebietet, dass eine Initiative nicht ohne weiteres und zwangsläufig als offensichtlich unrealisierbar erscheint.

Einfache materielle Schwierigkeiten genügen nicht, um auf die Undurchführbarkeit zu schliessen7.

Die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» schlägt im Bereich der Gleichbehandlung der Behinderten ein spezifisches Grundrecht vor. Wie bei den anderen Grundrechten und ihrer Funktion in der Gesamtheit der Rechtsordnung soll dieses Recht in erster Linie die verschiedenen Staatsgewalten in der Erfüllung ihrer Aufgaben binden und ihnen die Pflicht auferlegen, Massnahmen zu ergreifen, um es zu verwirklichen (Art. 35 Abs. 1 und 2 BV). Die Tatsache, dass die Verwirklichung dieses Rechts auch (aber nicht ausschliesslich) von einem Gesinnungswandel abhängt, der vom Staat nur sehr beschränkt beeinflusst werden kann, macht die Volksinitiative deswegen nicht undurchführbar. Sie erteilt jedenfalls eine Anordnung, der die Behörden nachleben können, indem sie ihr Handeln mit dem erklärten Grundsatz in Übereinstimmung bringen, und sie können in den Bereichen, die ihrem direkten 4 5 6 7

Art. 75 Abs. 2 BPR Im Folgenden wird in der Regel ­ im Einklang mit der Volksinitiative ­ der Begriff «Behinderte» verwendet.

BBl 1997 I 433 Etienne Grisel, Initiative et référendum populaires, 2. Auflage, Bern 1997, S. 241.

1720

Einfluss entzogen sind, durch Information und durch den politischen Diskurs handeln. Die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» respektiert somit die Bedingung der Durchführbarkeit, wie sie die Praxis der Bundesbehörden verlangt.

1.1.3.4

Übereinstimmung mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts

Gemäss den Artikeln 139 Absatz 3 und 194 Absatz 2 BV muss eine Initiative die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts respektieren. Dieser Grundsatz verlangt, dass eine Initiative auf Teilrevision der Verfassung keine Bestimmung des Völkerrechts verletzt, deren Bedeutung absolut ist (jus cogens). Es handelt sich dabei um diejenigen Bestimmungen, welche allen Staaten ­ seien sie durch einen Vertrag gebunden oder nicht8 ­ zwingend auferlegt sind, weil sie die Grundlagen für das Verhalten der Nationen in ihren gegenseitigen Beziehungen bilden und für das friedliche Zusammenleben der Völker und die Menschenwürde unabdingbar sind (so zum Beispiel der Kern des humanitären Völkerrechts, die Verbote von Gewalt, Folter, Aggression, Völkermord).

Die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» verstösst offensichtlich gegen keine dieser Bestimmungen. Sie respektiert somit die Bedingung der Übereinstimmung mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

1.2

Entstehungsgeschichte und Zweck der Initiative

1.2.1

Die Lancierung der Initiative

Die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» wurde im August 1998 lanciert.

Die Eidgenössischen Räte hatten in den vorangegangenen Monaten im Rahmen der Verfassungsreform insbesondere über die Einführung einer neuen Bestimmung debattiert, welche die Gleichbehandlung der Behinderten ausdrücklich vorschreibt.

Parallel dazu hatte der Nationalrat über eine von Nationalrat Marc Suter am 5. Oktober 1995 eingereichte parlamentarische Initiative zu befinden9. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass die Unterschriftensammlung für die Volksinitiative gleichzeitig mit dem Referendumsverfahren bezüglich der Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 26. Juni 1998 stattfand; diese Revision sah unter anderem die Aufhebung der Viertelsrenten vor. Am 13. Juni 1999 hat das Schweizer Volk diese Änderung mit grosser Mehrheit abgelehnt10. Tags darauf wurde die Volksinitiative bei der Bundeskanzlei eingereicht.

Wie dieser Rückblick auf die erwähnten verschiedenen Gesetzgebungsverfahren zeigt, erfolgte die Lancierung der Volksinitiative in einem politischen Umfeld, das für die Probleme der Behinderten sensibilisiert war, und die Volksinitiative trägt zur Ergänzung eines bereits auf breiter Ebene laufenden Gesetzgebungs-Verfahrens bei.

In weniger als einem Jahr war die erforderliche Anzahl Unterschriften gesammelt,

8 9 10

BBl 1997 I 362, 433 mit Hinweisen.

Siehe Ziffer 2.4.1 Siehe die Ergebnisse der Volksabstimmung vom 13. Juni 1999, BBl 1999 7293.

1721

weshalb die Volksinitiative rasch eingereicht werden konnte. Die gesammelten Unterschriften stammen aus allen Teilen der Schweiz11.

Das Initiativ-Komitee setzt sich vorwiegend aus Vertretern von privaten Behindertenorganisationen und aus Mitgliedern der im Bundesrat vertretenen politischen Parteien zusammen.

1.2.2

Der Gesichtspunkt der Urheber der Initiative

Die Urheber der Initiative prangern die unzähligen Hindernisse an, die sich den Behinderten in wichtigen Lebensbereichen, wie der Schule, der Ausbildung, der Arbeit und dem Reisen, entgegenstellen12. Sie fordern, dass diese Personen, wie dies für die Nichtbehinderten zutrifft, in den Genuss aller anerkannten Menschenrechte kommen, und sie verlangen eine bessere Integration der Behinderten in das tägliche Leben.

Die Initianten sind zwar der Meinung, dass der neue Artikel 8 BV bezüglich der von ihnen vertretenen Sache einen wichtigen Fortschritt darstellt, betrachten ihn aber insofern als zu wenig weit gehend, als er kein Recht auf direkten Zugang zu Anlagen und Bauten gewährleistet, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Nach ihrer Meinung ist aber ein solches Recht wesentlich, um den Gleichstellungsgrundsatz rasch und effizient umzusetzen; es würde den betroffenen Personen denn auch erlauben, grobe Verletzungen des Gleichstellungsanspruchs gerichtlich geltend zu machen, und zwar ohne auf den Erlass von eidgenössischen oder kantonalen Gesetzen warten zu müssen. Dabei sind die Urheber der Initiative überzeugt, dass dieses Instrument massvoll eingesetzt würde, und dass die Rechtswege nur in Fällen offensichtlicher und leicht zu korrigierender Ungleichheiten überhaupt beschritten würden.

Schliesslich sehen die Initianten in der verfassungsmässigen Garantie eines Rechts auf Zugang zu Anlagen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, einen Ansporn für die Gesetzgeber, den Erlass griffiger Gesetze zu Gunsten der Gleichstellung von Behinderten voranzutreiben. Mit anderen Worten: Diese Garantie würde Bund und Kantone anhalten, ihrer Aufgabe als Gesetzgeber ohne Verzug nachzukommen. Diese Wechselwirkung zwischen Gesetzgebungsauftrag und Garantie eines direkten subjektiven Rechts würde ausserdem dazu beitragen, den Gesetzgebungsprozess positiv zu beeinflussen, indem zukunftsgerichtet realitätsbezogene Lösungen und viel versprechende Perspektiven aufgezeigt würden.

1.3

Behandlungsfristen

Gemäss Artikel 29 Absatz 1 und 2 des Bundesgesetzes vom 23. März 196213 über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung muss der Bundesrat seine Botschaft der Bundesversammlung innerhalb von 18 Monaten nach Einreichung der Initiative vorlegen, wenn er dem Parlament einen mit dieser Initiative eng zusammenhängen11 12

13

BBl 1999 7312 Siehe das Dossier des Vereins Volksinitiative zur Gleichstellung Behinderter, das der Presse anlässlich der Einreichung der Initiative übergeben wurde: «Information für die Medien ­ Einreichung der Volksinitiative vom 14. Juni 1999» (nachstehend, Dossier Verein Volksinitiative).

Geschäftsverkehrsgesetz; SR 171.11

1722

den Erlass unterbreitet. Im vorliegenden Fall läuft diese Frist am 14. Dezember 2000 ab.

Gemäss Artikel 27 Absatz 1 Geschäftsverkehrsgesetz beschliesst die Bundesversammlung innert 30 Monaten nach Einreichung der Initiative, ob sie der Initiative zustimmt oder nicht; im vorliegenden Fall hat dies bis spätestens am 14. Dezember 2001 zu geschehen. Diese Frist kann allerdings gemäss Artikel 27 Absatz 5bis um ein Jahr verlängert werden, wenn mindestens ein Rat über einen mit der Volksinitiative eng zusammenhängenden Erlass Beschluss gefasst hat. In einem solchen Fall würde die Frist vorliegend am 14. Dezember 2002 ablaufen.

2

Allgemeines

2.1

Zur Situation der Behinderten in der Schweiz

2.1.1

Der Begriff der Behinderung

Lange Zeit galt Behinderung als eine individuelle Abweichung von der Norm eines gesunden, leistungsfähigen Menschen. Die medizinische und ökonomische Betrachtungsweise führte zu einer Individualisierung der Behindertenproblematik. Jedoch ist auch die sozio-kulturelle Dimension der Behinderung in die Betrachtungsweise einzubeziehen. Unter dem Blickwinkel eines ganzheitlichen Ansatzes ist Behinderung nicht nur ein individuelles Problem, sondern ein Lebensbewältigungsproblem in einer bestimmten Gesellschaft und in einer bestimmten historischen Entwicklungsphase. Die kulturelle Dimension von Behinderung zeigt sich darin, dass somatische, psychische und psychosomatische Krankheitsbilder innerhalb einer Kultur und Sozialstruktur einer Gesellschaft bewertet und entsprechend dieser Bewertung institutionell erkannt oder auch negiert, ja gar verdrängt werden14. Entsprechend der Bewertung gestaltet sich das individuelle und gesellschaftliche Handeln.

Behinderung muss gesehen werden als das Resultat eines komplexen Zusammenwirkens von individuellen, familiären, sozialen, ökonomischen, kulturellen und juristischen Gegebenheiten und Kräften. Als systemische Hindernisse erweisen sich architektonische Barrieren, fehlende behindertengerechte hygienische Einrichtungen, mangelnde Berücksichtigung spezieller Bedürfnisse von Menschen mit Wahrnehmungsschwierigkeiten in den Medien und in öffentlichen Verkehrsmitteln, ungenügende Teilzeitbeschäftigungsmöglichkeiten usw. Soziale Strukturen tragen dazu bei, die Behinderung zu schaffen oder zu verstärken.

Wie jeder Mensch lebt auch der Mensch mit einer Behinderung als Individuum und als Mitglied der Gesellschaft. Der mit einer Behinderung belastete Mensch muss sich zwei existenzielle Fragen stellen: Welche Anforderungen richtet die Gesellschaft an mich und wie komme ich mit meiner Behinderung zurecht. Im Spannungsfeld von Normalität und Abweichung wird Behinderung definiert und bewertet. «Die Frage bleibt offen, wieweit Behinderung eine Eigenschaft, vor allem ein Mangel, ein Defizit in körperlicher oder psychischer (oder geistiger) Hinsicht des Menschen sei, der als behindert gilt, oder wieweit Behinderung ein gesellschaftliches Konstrukt darstellt, das zur Ausgrenzung bestimmt gearteter Menschen führt»15 14 15

Adriano Previtali, Handicap e diritto, Fribourg 1998, S. 44 sowie S. 82, Fussnote 290.

Jörg Paul Müller, Diskriminierung behinderter Personen de constitutione lata et ferenda, in: Erwin Murer (Hrsg.), Eingliederung vor Rente ­ Eingliederung in die Sackgasse, Bern 1998, S. 1­15, S. 6.

1723

oder führen kann16. «Mit dem Begriff der Behinderung wird nicht der Gesundheitszustand an sich beschrieben, sondern der aus einer bestimmten somatischen oder psycho-mentalen Verfassung resultierende Kompetenz- oder Funktionsverlust. Diese Störung oder Einschränkung der Funktionsfähigkeit kann ausschliesslich für das betroffene Individuum eine Beeinträchtigung darstellen, oder aber, was in der Regel der Fall ist, sich auch auf Dritte auswirken»17.

Ein neues, ganzheitliches Konzept versucht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Beurteilung von Behinderung zu entwickeln. Ihr bisheriges Klassifikationssystem, die «International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps» wird aus einer neuen Sichtweise heraus uminterpretiert und umgearbeitet in ein erweitertes Gedankengebäude. Das neue Klassifikationssystem18 orientiert sich nicht nur an den Defiziten der Person, sondern erfasst auch die soziale Dimension des menschlichen Lebens. Es unterscheidet vier Ebenen und verbindet damit folgende Fragestellungen: 1.

Schaden (impairment): Welche Körperfunktionen und -strukturen sind beeinträchtigt?

2.

Aktivitäten (disabilities): Welche Einschränkungen der Aktivitäten und des selbst bestimmten, autonomen Handelns ergeben sich aus dem Schaden?

3.

Partizipation (handicap): Es geht um das Ausmass des Einbezogenseins einer Person in verschiedenen Lebensbereichen. In welcher Weise und in welchem Ausmass wirken sich Gesundheitsstörungen, körperliche Schäden oder Aktivitätseinschränkungen auf die Teilnahme an öffentlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Aufgaben, Angeboten und Errungenschaften aus?

4.

Kontextfaktoren: Wie (in welcher Weise und in welchem Ausmass) wirken sich persönliche Faktoren sowie die Lebensumstände, die Lebens- und Familiengeschichte, die Gesamtheit der Umweltfaktoren, in denen der Mensch eingebettet ist und mit denen er sich auseinander setzt und interagiert, hinderlich oder förderlich auf die Partizipationsmöglichkeiten aus?

Dieses neue Klassifikationssystem ist nicht auf die Ursachen, sondern auf die Folgen von Gesundheitsstörungen ausgerichtet und versteht sich als Hilfsmittel für die Erkennung sozialer Folgen. Damit soll es den Blick öffnen für den Einzelnen wie für Gesellschaft, Schritte zu wagen in Richtung mehr Selbstbestimmung, mehr Teilnahmemöglichkeiten in allen Lebensbereichen. Anzeichen für den Mentalitätswandel, wonach Menschen mit Behinderungen nicht mehr nur als Objekte der Fürsorge und Pflege, sondern vermehrt auch als Subjekte der eigenen Lebensgestaltung und Lebensbewältigung gesehen werden, sind unverkennbar.

16

17 18

Vgl. Erwin Murer, Vom Schutz des Starken im Schwachen oder das Bild des Schwachen im Sozialversicherungsrecht, in: Peter Gauch (Hrsg.), Das Menschenbild im Recht, Mélanges, Universität Freiburg, 1999, S. 359­382.

Markus Buri/Walter Weiss, Behinderung, in: Walter Weiss (Hrsg.), Gesundheit in der Schweiz, Zürich 1993, S. 73.

Dargestellt in Anlehnung an Christoph Heinz, Anderer Blick ­ freiere Sicht. INFORUM 2, 1998, S. 8­13 sowie in Anlehnung an Judith Hollenweger, «Behinderung» neu denken: Ein Schritt nach vorne? Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 12/1998, S. 24­29.

1724

2.1.2

Behinderung als existenzielle Beeinträchtigung und besondere Herausforderung an die Lebensbewältigung

Die Definition der Behinderung als existenzielle Beeinträchtigung geht aus von der Vorstellung, dass die primäre Aufgabe des Menschen darin besteht, zu überleben, auch wenn er nicht im Vollbesitz all seiner physischen und psychischen Kräfte ist.

Gestützt auf diese Sichtweise entstanden verschiedene Kategorisierungen der Behinderung mit unterschiedlichen Kriterien, welche teils zu statistischen Zwecken (z.B. jährliche IV-Statistik, erstellt vom Bundesamt für Sozialversicherung), teils für die Umschreibung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen nach dem Bundesgesetz über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 195919 verwendet werden (siehe Anhänge 1 und 2).

Die IV-Statistik unterscheidet ­ neben dem gesetzlichen Kriterium des Invaliditätsgrades ­ nach drei Ursachen (Geburtsgebrechen, Krankheit, einschliesslich psychischer Leiden, Unfall) sowie in Anlehnung an medizinische Kriterien nach Gebrechensgruppen und Funktionsausfällen. Sodann untersucht sie die Invaliditätswahrscheinlichkeit, d.h. die Wahrscheinlichkeit, im Verlaufe des Lebens von Invalidität betroffen zu sein (siehe Graphik 1 im Anhang 1).

Das Gesetz über die Invalidenversicherung definiert in Art. 4 IVG Invalidität ursachen- und wirkungsbezogen als «die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit.» Im Vernehmlassungsentwurf zur vierten IV-Revision werden die Formen der Behinderung präzisiert: neben den körperlichen oder geistigen Gesundheitsschäden werden die psychischen Gesundheitsschäden als eigene Kategorie aufgezählt20. Die IV-Gesetzgebung betrachtet Behinderung unabhängig von den Ursachen und Formen als ein vornehmlich ökonomisches Lebensbewältigungsproblem. Das Ausmass der Behinderung bestimmt sich deshalb nach den ökonomischen Auswirkungen der Behinderung im Erwerbsleben.

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Behinderung nicht gleichgesetzt werden darf mit Erwerbsbehinderung oder mit ökonomischer Unselbständigkeit. Beispiele hochbegabter Menschen, welche sinnesbehindert oder mobilitätsbehindert sind und erfolgreich eine berufliche oder akademische Laufbahn eingeschlagen haben, machen dies deutlich. Behinderung kann gerade ein Anreiz sein, seine Lebensbewältigungsaufgabe
in hervorragender und eindrücklicher Weise im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich zu erfüllen. Zum Bild des Schwachen gehört auch dessen (verbleibende) Stärke21, welche durch eine körperliche oder psychische Verletzung in besondere Weise mobilisiert und durch die Entwicklung besondere Fähigkeiten kompensiert werden kann. Allerdings: Zur Realisierung der (verbleibenden) Lebenschancen bedarf es neben der subjektiven Anstrengung auch ob19 20

IVG, SR 831.20 Vgl. Vernehmlassungsentwurf über die vierte IV-Revision vom 4. Juli 2000. Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) gelangt durch die Verbindung seines Art. 8 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 des IVG, den es abändert (vgl. Ziff. 8 des Anhangs) zu einem vergleichbaren Ergebnis (BBl 2000 5041).

21

Vgl. Erwin Murer, Vom Schutz des Starken im Schwachen oder das Bild des Schwachen im Sozialversicherungsrecht, in: Peter Gauch (Hrsg.), Das Menschenbild im Recht, Mélanges, Universität Freiburg, 1999, S. 359­382.

1725

jektiver, auch materieller,Voraussetzungen, die ausserhalb der Machtsphäre des Einzelnen liegen. (Vergleiche Anhang 3 Abschnitt 2.2: Die Deckung des Invaliditätsrisikos).

2.1.3

Menschen mit Behinderungen im Arbeitsprozess

2.1.3.1

Allgemeines

Die meisten Menschen in der Schweiz sichern ihre wirtschaftliche Existenz durch ein Arbeitseinkommen. Für sie ist die Arbeitswelt ein bedeutender Lebensbereich.

Zugang zum Arbeitsmarkt und Wertschätzung der eigenen Arbeitskraft ist daher von vitaler Bedeutung, wirtschaftlich und sozial. Die allgemeine Arbeitsmarktsituation, das Ausmass von Angebot und Nachfrage, die spezifischen Qualifikationen, nach denen nachgefragt wird, die Einschätzung der Leistungsfähigkeit, die Beurteilung der fachlichen und sozialen Eignung durch den nachfragenden Arbeitgeber oder die nachfragende Arbeitgeberin bestimmen die Marktzutrittschancen bzw. die Anstellungschancen. Dies trifft auch für Menschen mit Behinderungen zu. Der Arbeitsmarkt ist für Menschen mit Behinderungen ein Kristallisationspunkt der gesellschaftlichen Akzeptanz. Dabei ist zu bedenken, dass die individuellen Verhältnisse sehr unterschiedlich sind was die Behinderungsart (physisch, psychisch oder geistig) und deren Grad (leicht, mittel, schwer, Einfach- und Mehrfachbehinderung) sowie deren Augenfälligkeit betrifft. Lebensgeschichte und bisherige Einbettung in Familie, Arbeitswelt und Gesellschaft vor Eintritt der Behinderung spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle für die Integrationsfähigkeit. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Ursache einer Behinderung in der Mehrzahl der Fälle nicht ein Geburtsgebrechen oder ein Unfall, sondern eine Krankheit ist, die im Laufe des Lebens eintritt22. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, von einer Behinderung betroffen zu sein und infolgedessen im Erwerbsleben nicht mehr die volle Leistung erbringen zu können oder den Anforderungen gar nicht mehr zu genügen23.

2.1.3.2

Geschützte Werkstätten

Da Menschen mit Behinderungen auf dem freien Arbeitsmarkt geringe Anstellungschancen haben, wurden geschützte Werkstätten geschaffen. Anfang der Neunzigerjahre fanden gegen 20 000 Personen mit schweren Behinderungen in ca. 300 geschützten Werkstätten eine ihrer Behinderung angemessene Tätigkeit. Für die Hälfte dieser Personen ist in angegliederten Wohnheimen auch für Unterkunft und nach Möglichkeit für ein Freizeitangebot gesorgt. Dieser Einrichtungstyp entspricht dem erweiterten Leistungsauftrag des Bundesamtes für Sozialversicherung, wonach die

22 23

Siehe dazu die Ausführungen unter 2.1.4.3.

Einer von fünf Männern kurz vor der Pensionierung ist IV-Rentner. Der Eintritt in die Gruppe der IV-Rentner und IV-Rentnerinnen erfolgt hauptsächlich auf Grund von Krankheit. Der Bezug einer Invalidenrente ist ein Phänomen, das ebenso wie die Verschlechterung des Gesundheitszustandes hauptsächlich mit dem Alter zusammenhängt.

Vergleiche dazu die Ausführungen unter 2.1.4.4 sowie die Graphik 1 im Anhang 1.

1726

Integration Behinderter über die Bereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit zu erfolgen hat24.

2.1.3.3

Neue Integrationsformen

Die Situation Behinderter am Arbeitsplatz ist seit Anfang der Neunzigerjahre im Wandel begriffen. Während bis Ende der Achtzigerjahre mit der Schaffung der gesetzlichen Grundlagen zur sozialen Sicherheit Behinderter (Invalidenversicherungsgesetz, zwei IVG-Revisionen) die Schaffung behindertengerechter Institutionen mit Arbeitsplätzen im Vordergrund gestanden hatte und dementsprechend die kollektiven Leistungen der Invalidenversicherung stark angestiegen sind, kommt heute der Integration in quantitativer, besonders aber auch in qualitativer Hinsicht eine zunehmende Bedeutung zu. Das Augenmerk ist vermehrt auf die Möglichkeiten des Einzelnen und der Sicherung seiner Autonomie gerichtet. Den Ausschlag zu dieser veränderten Sichtweise gaben einerseits negative Erfahrungen mit Ausgrenzungseffekten und andererseits positive Erfahrungen mit neuen Formen der Integration25.

Die im Rahmen der 4. IV-Revision vorgelegte Einführung einer Assistenzentschädigung zwischen 10 und 70 Franken pro Tag soll es zahlreichen Behinderten ermöglichen, anstatt in Wohnheimen zu Hause ­ im Kreise ihrer Familie oder als alleinstehende Person ­ in ihrer gewohnten Umgebung zu verbleiben. Die Direktzahlungen sollen an die Betroffenen fliessen, die ihren Alltag selbstverantwortlich organisieren.

Das private Umfeld wird dadurch zu Hilfestellungen vor Ort ermutigt, und das Selbstwertgefühl der Betroffenen wird gestärkt.

Was die berufliche und soziale Wiedereingliederung von verunfallten oder schwer erkrankten, jedoch genesenden Personen anbelangt, wird die Integration in die Arbeitswelt je nach Art und Ausmass der psychophysischen Beeinträchtigung über spezialisierte Einrichtungen (z.B. Rehabilitationsklinik der SUVA in Bellikon, AG) bewerkstelligt. Unter den angewandten Massnahmen nimmt die Berufsfindungsabklärung einen hohen Stellenwert ein. Dies entspricht dem Grundsatz der Invalidenversicherung «Eingliederung vor Rente.» Da die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen die wirtschaftliche Existenz sichert, sollen auch Jugendliche mit Lernbehinderungen26 eine berufliche Ausbildung absolvieren können. Die laufende Revision des Bundesgesetzes über die Berufsbildung27 sieht deshalb eine fachkundige individuelle Begleitung von Personen mit Lernschwierigkeiten vor. Der Bund kann diese individuelle Unterstützung fördern (Art.

24 25

26

27

Uli Schwaninger, Behinderte Personen im Arbeitsprozess, in: Walter Weiss (Hrsg.), Gesundheit in der Schweiz, Zürich 1993, S. 82.

Uli Schwaninger, a.a.O., S. 83. Vergleiche dazu Katharina Kanka und Marc F. Suter, Persönliche Assistenz für Behinderte, Schlüssel zur Selbstverantwortung und Gleichstellung, NZZ, 6. Oktober 2000, Nr. 233, S. 16.

Als lernbehindert gelten Kinder und Jugendliche, welche zwar Lernschwierigkeiten haben, jedoch hinsichtlich ihrer intellektuellen Fähigkeiten im Streubereich der Normalverteilung der intellektuellen Leistungsfähigkeit einer Bevölkerung liegen, d.h.

mindestens einen Intelligenzquotient von 75 Prozent und höher aufweisen, mitunter auch überdurchschnittlich begabt sind, jedoch aus verschiedenen Gründen (beispielsweise soziale oder persönliche Reifemängel und mangelnde Lernbereitschaft usw.) geringe schulische Leistungen erbringen (vgl. weitere Ausführungen über Lernbehinderung in Ziffer 2.4.1.6).

Die Botschaft wurde vom Bundesrat am 6. September 2000 verabschiedet; BBl 2000 5686.

1727

28 und Art. 54 Abs. 2 Bst. a Ziff. 5 des Entwurfes). Die Vorlage sieht eine berufspraktische Bildung mit einem gesamtschweizerischen Abschluss vor, der den Zugang zur Arbeitswelt eröffnen soll. Diese berufspraktische Bildung löst die bisherige Anlehre ab. Auf der Basis dieser ersten Qualifikationsstufe kann, bei entsprechenden Fähigkeiten des Jugendlichen, nachträglich ein ordentlicher Lehrabschluss mit eidgenössischem Fähigkeitsausweis ­ unter teilweiser Anrechnung der berufspraktischen Bildung ­ erfolgen.

2.1.4

Das statistische Bild von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz

2.1.4.1

Zur Datenlage

Es existieren keine genauen Daten zur Anzahl behinderter Personen in der Schweiz.

Hingegen ist bekannt, wie viele Personen Leistungen der Invalidenversicherung beziehen. Die IV-Statistik gibt jährlich darüber Auskunft. Jedoch ist dabei zu bedenken, dass die Daten der IV-Versicherung kein vollständiges Bild vermitteln: Sie erfassen ­ neben den Kindern und Jugendlichen ­ zwar Invalide im erwerbsfähigen Alter mit einer Invalidität von mindestens 40% (Anspruchsvoraussetzung für eine IV-Rente) sowie Invalide, welche eine andere individuelle Leistung der Invalidenversicherung erhalten (Abklärungsmassnahmen, medizinische, schulische oder berufliche Massnahmen und Hilfsmittel). Hingegen fehlen in dieser Statistik all jene Menschen mit Behinderungen, welche die Anspruchsvoraussetzungen der Invalidenversicherung nicht erfüllen und deshalb keine IV-Leistungen beziehen können.

Der Bezügerkreis der IV wird auch durch die zeitlich limitierten Leistungsanspruchsvoraussetzungen eingeschränkt. So werden Personen mit Behinderungen, welche dank einer beruflichen Umschulung nicht mehr auf die Unterstützung der IV angewiesen sind, nicht mehr von der IV-Statistik erfasst. Die Statistik der Invalidenversicherung erfasst lediglich die Menschen, welche eine Leistung der IV zugesprochen erhalten, hingegen nicht all die Menschen, denen es gelungen ist, ihre Behinderung durch private Massnahmen und besondere Anstrengungen ohne die Hilfe der IV soweit zu überwinden, dass sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen können.

Die Statistik der Invalidenversicherung weist die Zahlen aus über Personen, welche sich dank einer durch die IV unterstützten Erstausbildung oder durch eine berufliche Umschulung in die Arbeitswelt eingliedern konnten28.

Die IV-Statistik erfasst auch nicht die Zahl der Arbeitgeber, welche freiwillig, aus sozialer Rücksichtnahme oder auf Grund betriebswirtschaftlicher Überlegungen bereit sind, Menschen trotz eingeschränkter Leistungsmöglichkeiten anzustellen oder weiterhin zu beschäftigen.

Eine weitere Einschränkung der Aussagekraft der IV-Statistik ergibt sich aus dem System der Sozialversicherung AHV/IV. Die IV zahlt nach dem Übertritt ins Rentenalter keine Leistungen aus, weil mit dem Eintritt ins Rentenalter diese Form der Sozialversicherung abgelöst wird durch die AHV. Einzig die Anzahl der ausbezahlten Hilflosenentschädigungen, welche auch an die AHV-Rentenbezüger und Ren28

Die IV hat im Jahre 1999 5104 Erstausbildungen unterstützt und für 11 471 Personen dank einer Umschulung die berufliche Wiedereingliederung ermöglicht: siehe IVStatistik 1999, Tabelle 6.2., S. 40.

1728

tenbezügerinnen entrichtet werden, ist bekannt. Die Statistik über die Hilflosenentschädigungen erfasst jene betagten Behinderten, welche in der Alltagsbewältigung so eingeschränkt sind, dass sie regelmässig auf Dritthilfe angewiesen sind. Im Jahre 1998 waren es 37 781 Personen, welche zusätzlich zur AHV-Rente eine Hilflosenentschädigung erhielten29. Diese Zahl widerspiegelt jedoch nur einen Bruchteil der Behinderten im AHV-Rentenalter, weil sie all diejenigen Personen nicht einschliesst, welche zwar behindert sind, jedoch für alltägliche Verrichtungen keine Dritthilfe benötigen.

Die Datenlücke im Bereich der Behinderung wurde vom Parlament als unbefriedigend erkannt. In diesem Sinn haben beide Räte ein Postulat überwiesen und den Bundesrat aufgefordert, entsprechende Schritte in die Wege zu leiten (97.3393). Der Bundesrat nahm inzwischen die Entwicklung einer Behindertenstatistik als neues Vorhaben in das statistische Mehrjahresprogramm 1999­2003 auf. Die dafür notwendigen Mittel von 200 000 Franken jährlich sind im Finanzplan ab 2002 eingestellt. Die Realisierung einer Behindertenstatistik wird voraussichtlich finanzielle Mittel von etwa 1,2 Millionen Franken und personelle Mittel von 1­2 Stellen erfordern.

2.1.4.2

Gesamtzahl der behinderten Personen

Gemäss Schätzungen aus den Jahren 1991 und 1992 leben in der Schweiz rund 650 000 Personen mit Behinderungen. Darunter sind rund 80 000 Sehbehinderte und Blinde, 51 000 Hörbehinderte und Gehörlose, 10 000 geistig Behinderte sowie 510 000 Menschen mit anderen Behinderungen. Die Schätzung beruht auf einer groben Annahme, dass jeweils 10 Prozent einer Bevölkerung von einer leichten, mittleren oder schweren Behinderung betroffen sind. Danach müsste die Gesamtzahl im jetzigen Zeitpunkt auf 700 000 erhöht werden, da im Juni 2000 in der Schweiz 7 243 600 Bewohner gezählt wurden30. Eine andere Schätzung spricht von einer halben Million Menschen, welche in der Schweiz in einem leichten, mittleren oder schweren Grad behindert sind.31

2.1.4.3

Ursachen der Behinderungen

Der Eintritt in die Gruppe der IV-Rentner und IV-Rentnerinnen erfolgt hauptsächlich auf Grund von Krankheit (142 000 Personen oder 76%), wogegen Eintritte auf Grund von Geburtsgebrechen (26 000 Personen oder 14 %) und Unfällen (20 000 Personen oder 11%) im Gesamtvergleich nur eine untergeordnete Rolle spielen 32.

29 30

31

32

IV-Statistik 1999, Tabelle 6.1.1. S. 37. Vgl. auch die summarische Darstellung über die von der Invalidenversicherung erbrachten Leistungen im Jahre 1998 in Anhang 2.

Uli Schwaninger, Behinderte Personen im Arbeitsprozess, in: Walter Weiss (Hrsg.), Gesundheit in der Schweiz, Zürich 1993, S. 82­85, S. 82. Die Volkswirtschaft, Nr. 7/20000, S. 20.

Vergleiche Ruedi Prerost, Das Hauptziel heisst selbstbestimmtes Leben. BehindertenGleichstellung in der Schweizerischen Bundesverfassung, in: Judith Hollenweger/Heinz Bättig (Hrsg.), Bildungswege zur Selbstbestimmung. Erschwerungen für Studierende mit Behinderungen, Luzern, 1997, S. 27­34, S. 27.

Siehe Übersicht im Anhang 1.

1729

Die IV-Statistik des Jahres 1999 unterscheidet 13 Gebrechensgruppen, deren Ursache eine Krankheit ist. Unter den Krankheiten gehören vor allem die psychischen Störungen zu den häufigsten Invaliditätsursachen. Mehr als eine von drei Renten infolge Krankheit wird auf Grund dieser Diagnose zugesprochen33. Sie verursachen unterschiedliche Funktionsausfälle. Weil deren ökonomische Auswirkungen einen Invaliditätsgrad von mindestens 40 Prozent zur Folge haben, lösen diese Krankheiten im Einzelfall eine IV-Rente aus34.

Ein Blick auf die Statistik der Unfallversicherung (UVG) zeigt, dass 1993 rund 300 000 Fälle von Berufsunfällen und Berufskrankheiten gemeldet wurden, 30 000 Fälle weniger als 1992. Der seit einigen Jahrzehnten beobachtete Rückgang der Unfälle, der Fälle von Invalidität und der Todesfälle in der Schweiz im Bereich der Arbeitswelt ist ­ unter anderem ­ auf die Wirksamkeit von Präventionsmassnahmen sowie auf eine tief greifende Umstrukturierung des Arbeitsmarktes zurückzuführen.

Allerdings ereignen sich in gewissen Branchen wie der Forstwirtschaft, dem Bauhauptgewerbe, dem Ausbaugewerbe, den Steinbrüchen/Gruben sowie der Holz- und Möbelindustrie überdurchschnittlich viele schwere Unfälle35.

Die Verkehrsunfälle bilden eine wichtige Kategorie der Nichtbetriebsunfälle (rund 120 000 bzw. 16% aller Nichtbetriebsunfälle). Die polizeilich erfassten Unfälle fordern 30 000 Verletzte pro Jahr. Verkehrsunfälle verursachen oft schwere Verletzungen und hohe Kosten. Die Gesamtsumme der durch Unfälle verursachten sozialen Kosten wurde im Jahre 1988 auf 5700 Millionen Franken geschätzt, wovon 316 Millionen Heilungskosten und 2 142 Millionen Produktionsausfallkosten sind.

Wieviele der Verletzten eine dauernde Invalidität erleiden, geht aus der Statistik nicht hervor36.

2.1.4.4

Wahrscheinlichkeit des Bezugs einer IV-Rente

Die Wahrscheinlichkeit, eine IV-Rente zu beziehen, liegt bei 4,2% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit rasch an und weist bezüglich der Geschlechter erhebliche Unterschiede auf. So weist die Bevölkerungsgruppe der älteren Männer im erwerbsfähigen Alter ein maximales Risiko auf: einer von fünf Männern kurz vor der Pensionierung ist IV-Rentner. Der Eintritt in die Gruppe der IV-Rentner und IV-Rentnerinnen erfolgt hauptsächlich auf Grund von Krankheit. Der Bezug einer Invalidenrente ist ein Phänomen, das ebenso wie die Verschlechterung des Gesundheitszustandes hauptsächlich mit dem Alter zusammenhängt37.

58% aller IV-Rentner und IV-Rentnerinnen in der Schweiz sind Männer. Deren Wahrscheinlichkeit, eine IV-Rente zu beziehen, liegt gesamthaft um ein Drittel hö33 34 35

36

37

IV-Statistik 1999, S. 21.

Siehe die Tabellen 1 und 2 im Anhang 1.

Hans Ulrich Debrunner, Marcel Jost, Peter Wüthrich, Berufsunfälle und Berufskrankheiten, In: Walter Weiss (Hrsg.), Gesundheit in der Schweiz, Zürich 1993, S. 357.

Calmonte Roland, Brigitte Herren, Thomas Spuhler, Christophe Koller, Gesundheit und Gesundheitsverhalten in der Schweiz, Detailergebnisse der 1. Schweizerischen Gesundheitsbefragung 1992/93 des Bundesamtes für Statistik, Neuchâtel 1998, S. 62 und 63.

Hingegen sind die Todesfälle bekannt: An den Folgen von Strassenunfällen sterben in der Schweiz jährlich zwischen 800 und 900 Menschen.

Vgl. dazu die Grafik 1 im Anhang 1.

1730

her als jene der Frauen. Wenn man die Hauptrisikofaktoren «Mann» und «erhöhtes Alter» verbindet, stellt man fest, dass ein Drittel aller IV-Rentenbezüger der Gruppe der über 50 Jahren alten Männer angehören38. Ob sich diese Risikofaktoren auch im AHV-Alter fortsetzen, ist aus der IV-Statistik nicht ersichtlich, da mit dem Eintritt ins AHV-Rentenalter die IV-Rente durch die AHV-Rente abgelöst wird.

2.1.4.5

Entwicklung der Invalidität seit 1992

Das jährliche Wachstum der Anzahl der IV-Leistungsbezüger und -bezügerinnen betrug in der Schweiz in den letzten sechs Jahren (1992­1998) durchschnittlich 3,7% (+ 77 000 Personen). Gleichzeitig stieg die Wahrscheinlichkeit, eine IVLeistung zu beziehen, von 5,4% auf 6,6% der versicherten Bevölkerung. Die Differenz von 1,2 Punkten entspricht einem Anstieg von 20% seit dem Jahre 1992.

Dieses Wachstum kann nicht nur auf das Phänomen der Alterung der versicherten Bevölkerung zurückgeführt werden. Es ist auch nicht bloss eine direkte Folge der schwachen Wirtschaftskonjunktur: Die Wahrscheinlichkeit, von Invalidität betroffen zu sein, ist seit 1992 ausnahmslos in allen Altersklassen gestiegen39. Da mit zunehmendem Alter das Invaliditätsrisiko zunimmt, wirkt sich die Verschiebung der Alterspyramide in einer Zunahme der Invalidisierungen aus. Ein Fünftel der zwischen 1985 und 1995 gemeldeten neuen Fälle der IV ist auf diese Entwicklung zurückzuführen40. Im zeitlichen Vergleich zeigt sich, dass bei den Personen, welche auf Grund von Krankheit als invalid anerkannt werden (80% der Neuzugänge), immer häufiger «Beeinträchtigungen der Knochen oder Bewegungsorgane» sowie «psychische Erkrankungen» (Psychosen, Psychoneurosen und Persönlichkeitsstörungen) als Krankheitsursache angegeben werden. Während 1958 bei 5 von 10 Fällen diese zwei Krankheitsbilder anzutreffen waren, sind es 1995 schon 7 von 10.

2.1.4.6

Kinder und minderjährige Jugendliche mit Behinderungen

Bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen unterscheidet man folgende Kategorien41: Blinde und Sehbehinderte, Gehörlose und Schwerhörige, Körperbehinderte und chronisch Kranke, Lernbehinderte, geistig Behinderte, Sprachbehinderte und Verhaltensgestörte.

Die schulischen Förderungsbedürfnisse der Behinderten können jedoch nicht einfach nach Behindertenkategorien definiert werden. Neuere Definitionsbemühungen gehen dahin, die Zusammenhänge zwischen der spezifischen Schädigung und den möglichen Aktivitäten sowie die individuellen Partizipationsmöglichkeiten jedes einzelnen Kindes zu berücksichtigen.

Viele körperbehinderte Kinder und Jugendliche können in Regelklassen integriert werden, sofern die baulichen Bedingungen dies zulassen. Andere Kinder mit Behin38 39 40 41

IV-Statistik 1999, S. 20.

IV-Statistik 1999, S. 12.

Vergleiche François Donini, Nicolas Eschmann, Anstieg der IV-Rentenbezüger: Erklärungsansätze. In: Soziale Sicherheit, Nr. 4, 1998, S. 202­207, S. 204.

Angaben der Schweizerischen Zentralstelle für Heilpädagogik vom 7. Oktober 2000.

1731

derungen brauchen eine zusätzliche Unterstützung, zum Teil schulische Unterstützung, zum Teil aber auch eine breit gefächerte Unterstützung in schulischen wie auch in ausserschulischen Lebensbereichen (Wohnen, Körperpflege, Freizeit, Transport usw.).

Kinder mit besonderen Förderbedürfnissen werden in der Schweiz auf drei Arten geschult: in IV-subventionierten Sonderschulen, in speziellen Kleinklassen42 und in Regelklassen unter Beizug heilpädagogischer Fachpersonen oder spezialisierter Dienste (integrative Schulungsformen).

In Sonderschulen, welche von der IV unterstützt sind, werden in unterschiedlichen Klassen bzw. Lerngruppen unterschiedlich bildungsfähige Kinder gefördert. Man unterscheidet schulisch bildungsfähige Kinder, welche einen reduzierten Schulstoff bewältigen (Erlernen der grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen), praktisch bildungsfähige Kinder (Einüben von praktischem Alltagskönnen), rudimentär bildungsfähige Kinder im Einzelunterricht (z.B. Orientierung im Raum, Wahrnehmungstraining, Differenzierung der Reaktionen auf Umweltreize).

Die beiden Kategorien Sonderklassen (Klassen der Sonderschulen im Sinne der IV und Kleinklassen im Rahmen der ordentlichen Grundschule) fasst das Bundesamt für Statistik zusammen und bezeichnet sie als «Klassen mit besonderem Lehrplan».

Damit fallen in dieses breite statistische «Gefäss» sowohl das leicht entwicklungsverzögerte Kind, das den Schulstart in einer Einführungsklasse vollzieht, wie auch ein mehrfachbehindertes Kind, das in einer Sonderschule alltagspraktisches Können erwirbt. Währenddem in Kleinklassen die Kinder schulisch bildungsfähig sind, d.h.

fähig sind, sich die grundlegenden Kulturtechniken anzueignen, finden sich in den IV-Sonderschulen neben Lerngruppen mit schulisch bildungsfähigen Kindern auch Lerngruppen mit Kindern, welche lediglich praktisch bildungsfähig sind. Das Invalidenversicherungsgesetz umschreibt die Sonderschulung wie folgt: Zur Sonderschulung gehört die eigentliche Schulausbildung sowie, falls ein Unterricht in den Elementarfächern nicht oder nur beschränkt möglich ist, die Förderung in manuellen Belangen, in den Verrichtungen des täglichen Lebens und in der Fähigkeit des Kontaktes mit der Umwelt (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 IVG).

Im Schuljahr 1997/98 besuchten insgesamt 792 954 Schülerinnen und
Schüler die Klassen der obligatorischen Volksschule. Davon waren 44 447 (d.h. über 5 %) der Schülerinnen und Schüler in Klassen mit besonderem Lehrplan eingeteilt43. Mehr als 34 000 Kinder haben im Schuljahr 1998/99 Sonderschulbeiträge der Invalidenversicherung erhalten. Ungefähr die Hälfte dieser Kinder besuchten eine Klasse mit besonderem Lehrplan, während die andere Hälfte entweder im Vorschulalter oder parallel zum Volksschulunterricht pädagogisch-therapeutische Massnahmen in Anspruch nahm44.

42

43

44

Kleinklassen sind Bestandteil der Volksschule. Bei den Kleinklassen unterscheidet man 5 Kategorien, welche jedoch nicht in allen Kantonen in dieser Ausprägung vorhanden sind und teilweise unterschiedlich benannt werden: Einführungsklassen (Vermittlung des Stoffes der ersten Primarschulklasse während zweier Schuljahre), Fremdsprachenklassen als Integrationshilfe, Kleinklassen für Lernbehinderte, Kleinklassen für Verhaltensauffällige sowie Werkklassen (Kleinklasse auf der Sekundarstufe I). Angaben vom Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg vom 20. Oktober 2000.

Im Schuljahr 1998/99 besuchten gesamthaft 47 013 Kinder eine Klasse mit besonderem Lehrplan, wovon 45% ausländische Kinder waren. Statistisches Jahrbuch der Schweiz 2000, 107. Jahrgang, Zürich 1999, S. 398.

IV-Statistik 1999, S. 14.

1732

Mehr als die Hälfte der Kinder, welche eine Klasse mit besonderem Lehrplan besuchen, fällt in die Kategorie der Schüler mit Lernbehinderungen. Es sind Kinder, welche trotz Schulschwierigkeiten fähig sind, die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. Die zweitgrösste Gruppe bilden die Kinder mit einer geistigen Behinderung (18,6%). Diese Kinder sind u.U. praktisch bildungsfähig, jedoch erlauben es ihre eingeschränkten intellektuellen Möglichkeiten nicht, einem Unterricht in den Elementarfächern zu folgen. Unter die Gruppe der geistig Behinderten fallen auch Kinder mit schwerer Mehrfachbehinderung, welche rudimentär bildungsfähig sind. Minderjährige, welche bei den alltäglichen Lebensverrichtungen (wie Ankleiden oder Essen) in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen sind, haben Anspruch auf einen Pflegebeitrag für hilflose Minderjährige, welcher bei einem Heimaufenthalt um ein Kostgeld von 56 Franken pro Übernachtung erhöht wird (Art. 13 IVV)45.

Der Vergleich mit früheren Jahren zeigt, dass der prozentuale Anteil der Gruppe von Schülern und Schülerinnen, die als lernbehindert angesehen werden, wächst. Im Vergleich zwischen den Kantonen sind zudem erhebliche Unterschiede in der kantonalen Zuweisungspraxis feststellbar, welche vermeintlich exakte Definitionen in Frage stellen. Ausländische Kinder sind in Kleinklassen mit 44,6 Prozent ­ im Vergleich zum gesamtschweizerischen Durchschnitt von 22 Prozent ausländischer Kinder in der Volksschule ­ überproportional vertreten46. Der hohe Anteil an ausländischen Kindern in den Kleinklassen weist darauf hin, dass im schulischen Bereich die sozial und kulturell bedingten Lernbehinderungen, namentlich fehlende Sprachkenntnisse, von Bedeutung sind.

2.1.4.7

Mobilitätsbehinderung

Die Mobilität stellt einen zentralen Aspekt des Gesundheitszustandes und der gesundheitlichen Lebensqualität dar, da sie den Autonomiegrad bzw. die Abhängigkeit von anderen Personen umschreibt. Die Mobilität kann vor allem durch körperliche, aber auch durch andere Behinderungen beeinträchtigt sein. Die nachfolgenden Zahlen über Menschen mit körperlichen Behinderungen lassen erahnen, wie gross der Anteil der Mobilitätsbehinderten an der gesamten Bevölkerung ist. 15,2 Prozent der Männer und 13,4 Prozent der Frauen im Alter zwischen 25 und 69 Jahren sind permanent körperlich behindert47. Wie viele Menschen davon in ihrer Fortbewegung eingeschränkt sind, ist nicht genau bekannt. Geht man davon aus, dass etwa die Hälfte davon, d.h. 7 %, mobilitätsbehindert sind, bedeutet dies eine Anzahl von rund 300 000 Menschen. Was dies im konkreten Alltag bedeutet, mag folgende Untersuchung der Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe veranschaulichen: Nach dieser Erhebung sind nur 20 bis 30 Prozent der öffentlichen Gebäude 45

46

47

Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) enthält eine leicht andere Definition (vgl. Art. 9 und die Aufhebung von Art. 42 Abs. 2 IVG; BBl 2000 5041).

Gabriel Sturni-Bossart, Angaben der Schweizerischen Zentralstelle für Heilpädagogik mit Hinweisen auf Angaben des Bundesamtes für Statistik sowie auf Kormann, R. Burgard, P. Eichling H.-M: Zur Überrepräsentation von ausländischen Kindern und Jugendlichen in Schulen für Lernbehinderte. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, Nr. 3, 1999, S. 106­109.

Roland Calmonte, Brigitte Herren, Thomas Spuhler, Chrisophe Koller: Gesundheit und Gesundheitsverhalten in der Schweiz. Detailergebnisse der 1. Schweizerischen Gesundheitsbefragung 1992/93, Bundesamt für Statistik, Neuchâtel 1998, S. 117.

1733

wie Poststellen, Kirchen, öffentliche Verkehrsmittel, Restaurants für Gehbehinderte überhaupt zugänglich48.

2.2

Menschen mit Behinderungen als Träger von spezifischen Menschen- und Freiheitsrechten

2.2.1

Allgemeine Rechtsentwicklung

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 und Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16.12.196649, beide in der Schweiz in Kraft seit dem 18. September 1992) beziehen sich auf die allgemeinen Menschenrechte. Sie sind in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach ergänzt worden durch weitere Instrumente, die den spezifischen Schutzbedürfnissen bestimmter Personenkategorien in differenzierter Weise Rechnung tragen. Diese Ausdifferenzierung erfolgt u.a.

deshalb, weil der Mensch nicht mehr nur als abstraktes Gattungswesen, sondern in der Besonderheit seiner konkreten Lebensumstände in der Gesellschaft als Kind, als Frau, als alter oder kranker Mensch, als Angehöriger einer ethnischen oder sprachlichen Minderheit usw. betrachtet wird.

Die Entwicklung solcher ergänzender Instrumente des internationalen Schutzes der Menschenrechte widerspiegelt die Schärfung des rechtssoziologischen Blickes für die Vielfalt der Lebensumstände in einer Gesellschaft, gleichzeitig aber auch die Mühe, Rechte unbesehen vom sozialen Status allen Menschen zuzugestehen: 1952 die Konvention über die politischen Rechte der Frau, 1959 die Erklärung der Rechte des Kindes50, 1965 die Konvention über die Beseitigung der Rassendiskriminierung51, 1971 die Erklärung der Rechte der geistig Behinderten, 1975 die Erklärung der Rechte der Behinderten, 1981 Internationales UNO-Jahr der Behinderten, 1982 Weltkongress in Wien über die Rechte der Alten, 1993 der Erlass von Standardregeln der Vereinten Nationen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, welche im Ingress der Salamanca-Erklärung über Prinzipien, Politik und Praxis der Pädagogik für besondere Bedürfnisse angerufen werden52.

Auch wenn die Schweiz nicht alle Konventionen ratifiziert hat, nimmt sie aktiv an dieser allgemeinen Rechtsentwicklung teil. Die genannten Konventionen und UNODeklarationen bekräftigen das Recht, trotz Anderssein, trotz einer Existenz mit physischen oder psycho-mentalen Schwierigkeiten, Krankheiten und Defiziten, welche man als Behinderung bezeichnet, gleich wie die andern Menschen behandelt zu werden bzw. besonderen Schutz und besondere Unterstützung zu erhalten. Gemeinsam ist den Menschenrechtskonventionen das Anliegen der gesellschaftlichen Integration durch Verbesserung der Lebenschancen.

48 49 50 51 52

Allgemein zum Problem, siehe den Diskriminationsbericht der DOK, 2.Aufl., Zürich 1998.

SR 0.103.1 und SR 0.103.2 In der Schweiz in Kraft seit 26. März 1997 (SR. 0.107, BBl 1994 V 1).

In der Schweiz in Kraft seit 29. Dezember 1994 (SR. 0.104, BBl 1992 III 269­331) Salamanca-Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse, hersg. von der österreichischen UNESCO-Kommission, übergeben durch: DOMINO, Verein für behinderte Menschen, Linz, 1. Aufl., 1996.

1734

2.2.2

Besondere Gefahr der Diskriminierung

Typisierungen und Kategorisierungen haben eine für die Wahrnehmung bedeutsame Entlastungsfunktion. Die Tendenz zu typisieren und zu kategorisieren erklärt sich dadurch, dass sie dem Einzelnen wie der Gesellschaft helfen, die Vielfalt und Fülle der Lebenserscheinungen überblickbar und leicht kommunizierbar zu machen. Problematisch werden Vorgänge, durch welche Menschengruppen unter ein bestimmtes Etikett oder Klischee fallen, sodass das einzelne Mitglied einer solchen Gruppe nur noch in einem verengten Blickwinkel als «typischer» Gruppenvertreter und nicht mehr als Individuum mit spezifischen Eigenschaften und Bedürfnissen wahrgenommen wird. Eine solch reduzierte Wahrnehmung birgt die Gefahr in sich, dass sich die Beziehung nicht mehr offen und unvoreingenommen gestaltet. Mit den vorgeformten Gruppenbildern lassen sich die auf das «Typische» reduzierten, überaus komplexen Verhältnisse der gesellschaftlichen und individuellen Realitäten gesellschaftlich und individuell einfacher, vor allem bequemer, bewältigen. Die Tendenz zu Klassifizierungen mittels leicht anwendbarer Gegensatzpaare wie Frau­Mann, jung­alt, gesund­krank, normal­abweichend ist verführerisch und verhängnisvoll, wenn damit unbesonnen Bewertungen getroffen werden, welche dem einzelnen Menschen nicht gerecht werden und ihn gar ausschliessen aus Kontakt- und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Auswirkungen solcher Vereinfachungen auf der Ebene der Wahrnehmung verfestigen sich in Einstellungen und Verhaltensdispositionen. Sie werden wirksam bis in die feinsten Verästelungen der Organisation von Staat und Gesellschaft, deren Entwicklungsdynamik stets auf Grund von Wertungen und Bewertungen erfolgt. «Derartige (verengte, wertungsmässig vorgegebene und unreflektiert übernommene) Behandlungen oder Annäherungen werden diskriminierend, wenn sie aus dem Gesichtswinkel rechtlicher oder ethischer (gesellschaftlicher) Werte als negativ eingestuft werden müssen und nicht allgemein gelten, sondern bestimmte soziale Gruppen spezifisch treffen53.» Das Recht versucht, solchen Diskriminierungen Einhalt zu gebieten. Es ist in der Rechtslehre anerkannt, dass Wertungen einfliessen in der Beurteilung dessen, was als gleich und was als ungleich anzusehen ist und demzufolge entweder gleich oder ungleich zu behandeln ist. In allen Fällen der Güterabwägung zwischen
öffentlichen und individuellen Interessen, zwischen den Interessen des Einzelnen und des Gemeinwesens fliessen Wertungen zur Rechtfertigung der Andersbehandlung ein.

Werthaltungen sind Ausdruck eines bestimmten Weltbildes, einer bestimmten kulturellen Tradition und Verwurzelung, eines bestimmten Menschenbildes. Eine Geisteshaltung, welche gewisse Menschen in ihren Rechten und Entfaltungsmöglichkeiten beschneidet, sei es bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt, ist unvereinbar mit dem Ideal einer offenen, toleranten Gesellschaft. Dieses Ideal basiert in der Leitidee der Würde des Menschen (Art. 7 BV) als höchstem Wert und auf den individuellen Grund- und Freiheitsrechten. Damit verpflichtet sich das Gemeinwesen, allen Menschen ein Optimum an Lebenschancen zu gewähren54.

Die Anerkennung und Schaffung von Bedingungen zur Optimierung von Lebenschancen auch für Menschen mit Behinderungen ist keine Selbstverständlichkeit. Gerade in der heutigen Zeit, in welcher der Wert eines Menschen in Gefahr steht, vor53 54

Regula Kägi-Diener, Medienmacht und Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen am Beispiel des Bildes der Frau in den Medien, AJP 9/1994, S. 1129.

Vgl. Previtali, a.a.O., S. 164.

1735

rangig nach ökonomischen Leistungskriterien und/oder nach medizinischgesundheitlichen Ideal- und Machbarkeitsvorstellungen bemessen und bewertet zu werden, ist der Staat verpflichtet, mit gezielten Massnahmen Abwertungstendenzen und Ausgrenzungsmechanismen entgegenzutreten. Der Gesetzgeber kann mit seiner Autorität dokumentieren, dass diskriminierende Ausgrenzung nicht tolerierbar ist.

Er kann eine wirksame Politik betreiben und neue Zugangsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen schaffen. Gleichzeitig kann er dadurch einen Bewusstseinswandel anregen.

2.3

Rechtsvergleich

2.3.1

Vergleich mit den Rechtsordnungen ausgewählter Staaten

2.3.1.1

Besondere Verfassungsbestimmungen und besondere Behindertengesetze

Deutschland Das Grundgesetz kennt mit Artikel 3 seit 1994 eine Bestimmung über die Rechtsgleichheit, die mit Artikel 8 BV vergleichbar ist. Das Grundgesetz beschreibt die Behinderung als Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Frage auseinander gesetzt, wie behinderte Kinder zu unterrichten sind. Es hat gestützt auf das Grundgesetz einen individuellen Anspruch auf «integrative Beschulung» im Rahmen des tatsächlich Machbaren bejaht (BVR 9/97 vom 8.10.97). Auf Grund der bisherigen Rechtsprechung ist unklar, wieweit Artikel 3 Grundgesetz eine Drittwirkung entfaltet.

Frankreich In Frankreich ist seit 1990 ein Antidiskriminierungsgesetz in Kraft, das die Gleichstellung der Behinderten regelt. Dieses Gesetz bietet eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten im Falle von Diskriminierungen (Geldstrafen und in besonderen Fällen auch Haftstrafen). Gastwirte, die sich weigern, behinderte Gäste zu bewirten, müssen sich seit der Verabschiedung dieses Gesetzes im Falle einer Klage vor Gericht verantworten, ähnlich wie Taxifahrer oder andere Dienstleistungsanbieter, die sich weigern, Behinderte zu bedienen. Neben der individuellen Klage gibt es die Möglichkeit des Verbandsklagerechtes, wobei als einzige Voraussetzung gilt, dass der Verband bereits fünf Jahre lang geschäftsfähig sein muss.

Italien Die Verfassung Italiens erfasst Behinderte mit dem Gleichstellungsgebot (Art. 3) sowie mit einer Bestimmung, die allen arbeitsunfähigen und nur beschränkt arbeitsfähigen Personen ein Recht auf Erziehung, Berufsausbildung und Sozialhilfe gewährt (Artikel 38).

Österreich Das Bundesbehindertengesetz von 1990 sieht verschiedene Massnahmen (Behindertenpass, Fahrvergünstigungen, Befreiung von Gebühren, Hilfsmittel usw.)

vor, die die bestmögliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sichern sollen.

1736

Spanien Die Verfassung Spaniens enthält seit 1992 einen besonderen Artikel über Behinderte (Art. 49), der den Staat verpflichtet, auf Behinderte besonders Rücksicht zu nehmen hinsichtlich Vorsorge, Behandlung, Rehabilitation und Eingliederung körperlich und geistig Behinderter. Ein Gesetz zur sozialen Integration behinderter Personen (13/1982 vom 7.04.1983) konkretisiert diese Bestimmung unter anderem in den Bereichen Arbeit, Bildung, Bauten und Verkehr.

USA Bereits in den Siebzigerjahren wurden umfassende gesetzliche Regelungen für die Gleichstellung Behinderter verabschiedet. Im Jahre 1990 verabschiedete der Kongress der USA ein weiteres, viel umfassenderes Gleichstellungsgesetz für Behinderte, den «Americans with Disabilities Act (ADA)». Es verbietet Diskriminierungen von Behinderten bei der Einstellung und Beschäftigung, bei der Inanspruchnahme von öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen, bei der Benutzung des öffentlichen Personenverkehrs und bei der Inanspruchnahme von telekommunikativen Einrichtungen. Überdies macht es Vorschriften für die Aktivitäten der Bundesstaaten und Gemeinden. Klagen gegen die Verletzung des ADA können sowohl von Privatpersonen als auch von staatlicher Seite eingereicht werden. Einrichtungen, die finanzielle Unterstützungen durch die Bundesregierung erhalten, können die Zuschüsse durch den Bund entzogen werden, wenn sie Bestimmungen des ADA verletzen. Verschiedene staatliche Kommissionen sind als Beschwerdestelle tätig.

Kanada Kanada hat seine Verfassung mit einer Bestimmung über Behinderte erweitert und 1982 in Artikel 15 der Grundrechtscharta festgeschrieben, dass «Menschen nicht auf Grund ihrer Rasse, ihrer nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Schwächen diskriminiert werden dürfen».

2.3.1.2

Arbeitsrecht

Deutschland Das Schwerbehindertengesetz vom 26. August 1986 soll die Integration von Personen mit einem Behinderungsgrad von über 50% in Arbeit, Beruf und Gesellschaft sichern. Hauptinstrument des Gesetzes ist die Pflicht der privaten und öffentlichen Arbeitgeber mit mindestens 16 Arbeitnehmern, auf mindestens 6% der Arbeitsplätze Schwerbehinderte zu beschäftigen. Für nicht besetzte Pflichtarbeitsplätze haben die Arbeitgeber eine monatliche Abgabe von DM 200.­ zu entrichten. Schwerbehinderte geniessen zudem einen besonderen arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz und können die Nahverkehrsmittel unentgeltlich benützen (Kosten gehen zu Lasten des Bundes). Für behinderte Personen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Beschäftigung finden, existieren geschützte Werkstätten, welche berufliche Ausbildung und angemessene Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.

Frankreich Für den privatrechtlichen Bereich sieht das Gesetz No. 87­157 vom 10. Juli 1987 (Art. L 323-1 ff. des Code de la Santé publique) für Betriebe mit mehr als 20 Ange-

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stellten eine Einstellungspflicht für Behinderte im Ausmass von 6% vor; die Sanktion besteht in einer «freiwilligen» Abgabe, die als Vielfaches des Minimalstundenlohnes (SMIC) bestimmt wird. Im öffentlich-rechtlichen Bereich bestimmen besondere Kommissionen (cotorep) die Personen, die als Behinderte zur Arbeit in der Verwaltung zugelassen werden können, sei es in besonderen Kategorien (emplois réservés), auf dem Weg über besonders ausgestaltete Ausleseverfahren (concours aménagés) oder in einem vorläufigen Vertragsverhältnis, nach dessen Ablauf unter bestimmten Bedingungen eine definitive Anstellung in Betracht kommt.

Italien Ein neues Gesetz No. 68 vom 12. März 1999 hat eine nach Betriebsgrösse abgestufte Einstellungspflicht eingeführt (bzw. frühere in dieselbe Richtung zielende Bestimmungen revidiert): in Betrieben mit über 50 Beschäftigten beträgt die «Behindertenquote» 7%, in Betrieben mit 35­50 Angestellten müssen mindestens zwei und in Betrieben mit 15­30 Beschäftigten mindestens eine behinderte Person arbeiten können. Arbeitgeber, die Behinderte einstellen, haben Anspruch auf Prämien und gewisse andere Vorteile.

Österreich Das Behinderteneinstellungsgesetz von 1970 verpflichtet Arbeitgeber mit mehr als 25 Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, auf 25 Beschäftigte mindestens eine behinderte Person mit einem Behinderungsgrad von mindestens 50% anzustellen. Wer diese Quote nicht einhält, muss eine Ausgleichstaxe entrichten. Für die Ausbildung von im Betrieb beschäftigten Behinderten sowie für Aufträge an Behinderteninstitutionen gibt es Prämien und Förderungsbeiträge. Das Behinderteneinstellungsgesetz sieht zudem einen besonderen Kündigungsschutz zu Gunsten der Behinderten vor (Zustimmung des Behindertenausschusses beim Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen).

Spanien Das Integrationsgesetz (13/1982) befasst sich mit Fragen der beruflichen Ausbildung und (Wieder-)Eingliederung Behinderter und mit Massnahmen zur Integration dieser Personen in die Arbeitswelt, insbesondere durch eine Einstellungspflicht zu Lasten der Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten («Behindertenquote» 2 %) sowie mittels Nichtigerklärung von diskriminierenden Klauseln in den (individuellen und kollektiven) Arbeitsverträgen. Die Arbeitsämter führen eine Liste mit arbeitsuchenden Behinderten. Im Übrigen werden die
Integrationsmassnahmen durch Subventionen unterstützt, und für nicht vermittelbare Personen ist die Schaffung geschützter Arbeitsplätze vorgesehen. Arbeitslose Behinderte haben Anspruch auf ein Mindesteinkommen.

Grossbritannien Mit dem Disability Discrimination Act hat Grossbritannien 1995 die obligatorischen Beschäftigungsquoten (Disabled Persons Employment Act 1944) abgeschafft. Für Arbeitgeber gilt nun ein allgemeines Diskriminierungsverbot gegenüber Behinderten, welches in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten auch positive Massnahmen (reasonable adjustments) zur Gleichstellung dieser Personen mit den übrigen Angestellten erfordern kann. Gegen Diskriminierung besteht die Möglichkeit einer (gesetzlich limitierten) Schadenersatzklage beim County Court. Im Übrigen kann der zuständige Minister Mittel zur Verfügung stellen, um die Beschäftigung einer be-

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hinderten Person zu ermöglichen oder ihr eine entsprechende Ausbildung zu verschaffen.

Schweden Durch das Gesetz 1970:663 werden die Gemeinden ermächtigt, rein kommerziell geführte Unternehmungen zu betreiben, in denen Behinderte beschäftigt werden, wenn für diese Personen auf dem lokalen Arbeitsmarkt keine anderen Einsatzmöglichkeiten bestehen. Der neue Erlass 1999:132 betreffend das Verbot der Diskriminierung Behinderter in der Arbeitswelt regelt unter diesem Gesichtspunkt sowohl die direkte wie die indirekte Diskriminierung (z.B. scheinbar neutrale Anstellungs- bzw.

Arbeitsbedingungen, durch welche aber Behinderte de facto von der Bewerbung ausgeschlossen werden). Sanktioniert wird die Diskriminierung durch Schadenersatzansprüche, zu deren Geltendmachung der Berechtigte sich allenfalls vom Ombudsmann für Behinderte vertreten lassen kann. Beschäftigungsquoten sind im schwedischen Recht nicht vorgesehen.

USA Der «Americans with Disabilities Act» (ADA) von 1990 verbietet unter anderem Diskriminierungen von Behinderten bei der Einstellung und Beschäftigung. Nach dem ADA ist es privaten und staatlich unterstützten Arbeitgebern mit mehr als 15 Arbeitnehmern verboten, qualifizierte Menschen mit Behinderungen auf Grund ihrer Behinderung bei der Bewerbung, der Einstellung, Beförderung, Entlassung, Entlöhnung, Aus- und Fortbildung sowie hinsichtlich der Arbeitsbedingungen zu diskriminieren. Die Arbeitgeber sind angewiesen, hinsichtlich der Anforderungen und der Strukturen einer Arbeitsstelle angemessene Bedingungen zu schaffen, die es Behinderten erlauben, die betreffende Tätigkeit auszuüben. Über die Einhaltung dieser Bestimmungen wacht eine spezielle Kommission, der auch Individualbeschwerden vorzulegen sind. Darüber hinaus müssen Arbeitgeber mit mehr als 50 Angestellten, die Staatsaufträge von über 50 000 $ erhalten, positive Massnahmen treffen, um qualifizierte Behinderte beschäftigen zu können (Rehabilitation Act von 1973).

Kanada Eine spezielle Kommission wacht über die Durchsetzung der in der Verfassung und im Gesetz über die Persönlichkeitsrechte von 1977 enthaltenen Bestimmungen gegen Diskriminierung. Im Arbeitsbereich werden diese Bestimmungen konkretisiert durch ein Gesetz und ein Reglement über die «Billigkeit» im Arbeitsrecht (Loi sur l'équité en matière d'emploi/1995; Règlement sur
l'équité en matière d'emploi/1996), welche sowohl für den privaten wie den öffentlichen Sektor gelten.

Die Arbeitgeber werden angehalten, Hindernisse für die berufliche Laufbahn Behinderter zu eliminieren. Zentralregierung und Provinzen oder Territorien teilen sich in die Finanzierung von Institutionen und Programmen zur Förderung der Eingliederung Behinderter. Ausserdem besteht beim Ministerium für Human Ressources ein spezieller Integrationsfonds, aus welchem Förderungsmassnahmen finanziert werden. Für Angestellte im öffentlichen Dienst sind besondere technische und andere Hilfsmassnahmen vorgesehen; eine «Commission de la fonction publique» mit individuellem Beratungsdienst ist für diesen Bereich zuständig. Für junge Personen mit Behinderungen läuft in Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft ein Programm «Pathway», in dessen Rahmen sich Kaderleute darum kümmern, für diese Jungen Beschäftigungsmöglichkeiten als stagiaires zu finden.

1739

2.3.1.3

Bauliche Anpassungen von Gebäuden

Deutschland Auch in Deutschland ist das Baurecht Ländersache. Die Bauordnungen der Länder enthalten Vorschriften über die behindertengerechte Gestaltung baulicher Anlagen.

Frankreich Ein spezielles Gesetz (Loi d'orientation en faveur des personnes handicapées no.75-335 vom 30. Juni 1975) schreibt vor, dass die architektonischen Dispositionen und die Ausgestaltung der Räume in Wohnbauten und in öffentlichen Gebäuden so beschaffen sein müssen, dass sie für Behinderte zugänglich sind. Durch zwei Dekrete (no. 78-109 vom 1. Februar 1978 und no. 78-1167 vom 8. Dezember 1978) werden diese Bestimmungen konkretisiert, insbesondere bezüglich Rollstuhlgängigkeit, und auf alle neuen privaten und staatlichen Anlagen anwendbar erklärt. Durch ein weiteres Gesetz (Loi no. 91-663 du 13 juillet 1991) und entsprechende Ausführungserlasse ist eine präventive Kontrolle eingeführt und der Code de la construction, de l'habitation et de l'urbanisme, etwa im Bezug auf die Baubewilligungen und die Eröffnung von Gebäuden mit Publikumsverkehr, entsprechend ergänzt worden.

In einem jüngsten Erlass (Décret no. 99-756 du 31. August 1999) werden detaillierte Vorschriften über die behindertengerechte Anlage von öffentlichen sowie privaten, aber der Öffentlichkeit zugänglichen Strassen, Plätzen und Örtlichkeiten aufgestellt.

Für Massnahmen zur Verbesserung des Zugangs von Behinderten zu Verwaltungsstellen in älteren Gebäuden steht ein interministerieller Fonds (Fonds interministériel pour l'accessibilité aux personnes handicapées des bâtiments anciens ouverts au public qui appartiennent à l'Etat) zur Verfügung, der von einer speziellen Commission interministérielle de la Politique immobilière de l'Etat (CPIE) verwaltet wird.

Italien In zwei gleichnamigen Gesetzen (Legge no. 118 vom 30. März 1971, Legge no. 13 vom 9. Januar 1989, modifiziert durch Legge no. 62 vom 27. Februar 1989) und ergänzenden Erlassen sind Massnahmen für den öffentlichen und privaten Bereich vorgesehen, insbesondere Beihilfen für bauliche Anpassungen. Mit einem weiteren Gesetz (Legge no. 49/1997) werden für solche Arbeiten Steuervergünstigungen gewährt.

Österreich Das Bauwesen steht in Österreich in der Kompetenz der Länder. Es bestehen deshalb in diesem Bereich keine Normen auf Bundesebene.

Spanien Das Integrationsgesetz (13/1982) enthält für den Baubereich
Vorschriften über die behindertengerechte Neukonstruktion, Renovation oder Vergrösserung von öffentlichen und privaten Gebäuden und hält die zuständigen Stellen dazu an, private Bauherren bei der Durchführung solcher Arbeiten zu unterstützen und unter gewissen Umständen auch zu subventionieren. Beim subventionierten Wohnungsbau werden direkt entsprechende Auflagen (Beispiel: Einbau rollstuhlgängiger Aufzüge) gemacht.

1740

Grossbritannien Es gibt in Grossbritannien keine gesetzlichen Bestimmungen, welche bestimmte Massnahmen zur behindertengerechten Anlage und Ausstattung von Gebäuden vorschreiben. Hingegen können die lokalen Wohnungsämter (local housing authorities) privaten Bauherren Finanzierungsbeihilfen zur Durchführung entsprechender Anpassungen gewähren. Eine Ausnahme macht der Chronically Sick and Disabled Persons Act 1970, der in § 8 vorschreibt, dass Ausbildungsstätten für Behinderte zugänglich gemacht werden müssen.

Schweden Ein Gesetz 1987:10 schreibt für den Siedlungsbau in Artikel 4 eine behindertengerechte Anlage vor. Nach einem neueren Erlass 1993:387 über die Unterstützung Behinderter wird diesen das Recht zugesprochen, in Privatwohnungen untergebracht zu werden, die ihrer Behinderung angepasst sind, oder ­ falls es sich um eine sehr schwere Behinderung handelt ­ gar in Wohnungen, in denen für ihre elementaren Bedürfnisse (Haushaltführung, Mahlzeitenabgabe usw.) gesorgt wird.

USA Die Fair Housing Act Amendments von 1988 verbieten die Diskriminierung Behinderter. Zudem sind Vermieter verpflichtet, angemessene Anpassungen der von Behinderten gemieteten Wohnungen an deren Bedürfnisse zu tolerieren. Für Wohngebäude mit mehr als drei Wohnungen und Aufzug, die nach 1991 in Betrieb genommen wurden, besteht die Verpflichtung zu positiven Massnahmen, die Behinderten den Zugang zu Gemeinschaftsräumen ermöglichen und auch die einzelnen Wohnungen rollstuhlgängig machen sollen.

Alle neuen Bauten, die von öffentlichen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, müssen für Behinderte zugänglich sein. Vom ADA als öffentliche Einrichtungen und Dienstleistungen erfasst werden Geschäfte, Hotels, Restaurants, Theater, Versammlungsräume, Büros, Museen, Parks, Schulen, Sportstätten, Ämter usw. Wie Studien gezeigt haben, werden durch diese Vorschriften die Baukosten durchschnittlich lediglich um ½ Prozent erhöht. Bei bestehenden Gebäuden müssen Veränderungen vorgenommen werden, wenn diese leicht zu verwirklichen und ohne grössere Schwierigkeiten oder Kosten umsetzbar sind. Die Barrieren müssen aber nicht nur für Rollstuhlbenutzer beseitigt werden, sondern auch für andere Behindertengruppen wie die Sehgeschädigten und die Hörbehinderten. So sind öffentliche Einrichtungen dazu verpflichtet, auch akustische Hilfsmittel und
Dienstleistungen bereitzustellen, um Menschen mit Behinderungen die Nutzung der angebotenen Güter oder Dienstleistungen zu ermöglichen. Dies umfasst sowohl die Bereitstellung von qualifizierten Gebärdendolmetschern oder anderen Hilfen für Hörbehinderte als auch die Bereitstellung von Materialien in Grossschrift, Brailleschrift oder auf Kassette für Sehbehinderte und Blinde. Wo solche Massnahmen eine «unangemessene Bürde» bedeuten würden, genügt es, dass Personal bereitsteht, um auf die speziellen Bedürfnisse behinderter Benutzer der Einrichtung einzugehen. So muss etwa das Personal in Gaststätten bereit sein, Sehbehinderten die Speisekarte vorzulesen.

Kanada Das Wohnungswesen ist in Kanada grundsätzlich Sache der Provinzen. Das Gesetz über die Persönlichkeitsrechte enthält aber in den Art. 5 und 6 Diskriminationsverbote, die sich ausdrücklich (auch) auf die Beherbergung und das Zurverfügungstellen von Wohn- und Geschäftsräumen beziehen. Ausserdem hat das zuständige Mi1741

nisterium über eine besondere Organisation, die Société canadienne d'hypothèque et de logement, Wohnungshilfe- und Anpassungsprogramme für behinderte Personen eingeleitet.

2.3.1.4

Erziehungswesen

Deutschland Die Erziehung ist Sache der Länder. Alle Bundesländer haben Sonderschulen für Behinderte eingerichtet.

Frankreich Für behinderte Kinder sind Sonderklassen vorgesehen, die je nach der Pflegebedürftigkeit der Kinder dem Erziehungs- oder dem Sozialministerium zugeordnet sind. Zum Gesundheitsministerium gehören weitere Sondereinrichtungen für die Aufnahme beziehungsgestörter sowie motorisch oder sensorisch behinderter Kinder.

Auf Departements- und Bezirksebene bestehen besondere Kommissionen, die sich mit der Betreuung und Unterbringung der Kinder (Stipendiengewährung, Befreiung von Unterbringungs- und Behandlungskosten in spezialisierten Einrichtungen, Übernahme von Transportkosten usw.) befassen. Das Gesetz No. 87-157 vom 10.

Juli 1987 enthält Anreize für die Unternehmen, welche Lehrstellen für behinderte Jugendliche anbieten. Weitere Erlasse betreffen die Gewährung von Stipendien für höhere Schulen, von denen insbesondere auch behinderte Personen aus weniger begüterten Kreisen profitieren können; ihnen können auch Ausnahmen von der Verpflichtung zugestanden werden, sich hauptsächlich und vollzeitlich dem Studium zu widmen (etwa wenn medizinische Notwendigkeiten dem entgegenstehen). Besondere Bestimmungen bestehen auch hinsichtlich der Durchführung von Examen für behinderte Kandidaten und Kandidatinnen.

Italien Auf der Primarschulstufe sind besondere Betreuer eingesetzt, welche sich um die Integration behinderter Kinder und die Durchführung der für sie bestimmten Lehrprogramme kümmern. Ein Gesetz vom 5. Februar 1993 Nr.104 statuiert das grundsätzliche Recht aller minderjährigen Behinderten auf schulische Ausbildung und sieht verschiedene Massnahmen zur Förderung der Schulung behinderter Personen vor: Koordination der Lehrpläne mit ausserschulischen Aktivitäten, sonderpädagogische Lehrveranstaltungen usw. Auch in Italien existieren besondere Bestimmungen für die Durchführung von Examina mit behinderten Schülerinnen und Schülern.

Bei den Schulämtern der Provinzen sind besondere Arbeitsgruppen mit der Durchführung dieser Massnahmen sowie der entsprechenden Beratung der betroffenen Personen betraut; diese Arbeitsgruppen können auch Vorschläge für weitere Massnahmen und Verbesserungen einbringen. Für die Hochschulstufe bestehen besondere Regeln.

Österreich Beim Schulbereich handelt es sich ­ abgesehen von bundesrechtlichen Regeln über die Pflichtschulen ­ um eine Kompetenz der Länder.

1742

Spanien Das Integrationsgesetz (13/1982) sieht in den Artikel 23 ff. Massnahmen zur Integration Behinderter in das allgemeine Erziehungssystem vor, welches auch sonderpädagogische Einrichtungen zur Verfügung zu stellen hat, denen die Kinder auf Grund einer pluridisziplinären Diagnose individuell zugewiesen werden. Darüber hinaus können für Personen mit schweren Behinderungen auch spezielle Betreuungszentren geschaffen werden. Interessant ist die Vorschrift, wonach öffentliche Spitäler und private Krankenhäuser, in welchen mehr als 50% der Betten von der öffentlichen Hand subventioniert sind, eine pädagogische Abteilung einzurichten haben, die sich um die Schulung hospitalisierter Schüler kümmert. Behinderte Studenten sind von den Studiengebühren befreit. Sie können verlangen, dass die Examina in behindertengerechter Weise abgenommen werden.

Grossbritannien Nach dem Education Act 1977 ist es primär Sache der Eltern, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder, auch behinderte, eine angemessene Ausbildung erhalten. Für die Erziehung behinderter Kinder existiert immerhin ein Code of practice, der vom Staatssekretariat erstellt und periodisch revidiert wird und von den beiden Parlamentskammern genehmigt werden muss. Danach sollen behinderte Kinder so weit möglich ­ und wenn dies dem Wunsch der Eltern entspricht ­ zusammen mit gesunden die Schulen besuchen. Die zuständigen Behörden sind gehalten, behinderte Kinder zu erfassen, ihren Zustand zu evaluieren und darüber einen Bericht zu verfassen. Eltern können eine solche Evaluation oder Reevalution auch verlangen und haben, falls sie mit dem Ergebnis nicht einverstanden sind, ein Beschwerderecht, das bei einem Spezialgericht geltend gemacht werden kann. Die Behörden sind ferner aufgerufen, ihr Möglichstes zu tun, um besonderen Bedürfnissen Behinderter entgegenzukommen und dafür zu sorgen, dass sie in den normalen Schulbetrieb eingegliedert werden. Wer eine Schule, ein College oder eine Universität betreibt, ist verpflichtet, die entsprechenden Gebäude und deren Umgebung für Behinderte zugänglich zu machen, soweit dies mit zumutbarem Aufwand möglich ist.

Schweden Das schwedische Recht sieht eine Vielzahl von Massnahmen mit dem Zweck vor, behinderten Kindern möglichst gleichwertige Ausbildungsbedingungen zu bieten wie gesunden. Sie reichen von Gratistransporten
über den Einsatz von Tutoren bis zur Schaffung von Sonderklassen.

USA Der Rehabilitation Act 1973 verbietet jegliche Diskriminierung behinderter Personen, auch im Schulwesen. Zusammen mit dem Individuals with Disabilities Education Act und zahlreichen Ausführungsvorschriften gewährleistet er für jedes behinderte Kind in den Vereinigten Staaten eine unentgeltliche und angemessene Ausbildung. Dazu gehören unter Umständen auch therapeutische Massnahmen, Sondertransporte, Beratungen, Übersetzerdienste, technische Hilfsmittel usw. Die Eltern werden in das Individual Education Program einbezogen. Ziel der entsprechenden Bemühungen ist, den Kindern eine Erziehung in einem Umfeld zu verschaffen, das möglichst nahe an dasjenige herankommt, in welchem gesunde Kinder ihre Erziehung erhalten.

1743

Kanada Für das Erziehungswesen sind auch in Kanada primär die Provinzen zuständig. Die Bundesregierung unterstützt deren Bemühungen jedoch über ein Stipendienprogramm, innerhalb dessen für Behinderte ein Sonderregime vorgesehen ist. Insbesondere können behinderte Studierende auf Gymnasialstufe als Vollzeitstudierende auch anerkannt werden, wenn ihr Pensum lediglich 40% eines normalen Vollzeitstudiums beträgt. Ausserdem kann invaliden Absolventen die Rückerstattung der als Darlehen ausgestalteten Stipendien erlassen werden, wenn deren Tilgung ihnen nur mit unverhältnismässigen Anstrengungen möglich wäre.

2.3.1.5

Öffentlicher Verkehr

Deutschland Das Schwerbehindertengesetz verpflichtet Unternehmen des öffentlichen Verkehrs, erheblich behinderte Personen gegen Vorzeigen eines entsprechenden Ausweises unentgeltlich zu befördern. Einzelheiten sind in einem besonderen Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter (UnBefG vom 9. Juli 1979) geregelt.

Frankreich Die Loi d'orientation en faveur des personnes handicapées enthält Bestimmungen, welche die Mobilität Behinderter begünstigen sollen, namentlich hinsichtlich entsprechender Konstruktion der öffentlichen Transportmittel, Schaffung besonderer Transportmöglichkeiten usw. Im Übrigen übernimmt der Staat die Kosten für individuelle Transporte von behinderten Schülern und Studenten von und zu ihren Ausbildungsstätten.

Italien In einem Gesetz No. 21 vom 15. Januar 1992 werden die Regionen und Gemeinden angehalten, Massnahmen zu treffen, um einen Taxi- und Mietwagendienst für Behinderte zu organisieren. Ein weiterer Erlass No. 104 vom 5. Februar 1992 will die Zugänglichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel für Behinderte sicherstellen und sieht Steuervergünstigungen für behindertengerechte Fahrzeuge und die Schaffung reservierter Parkplätze vor.

Österreich Was den Strassenverkehr betrifft, stellen verschiedene Bestimmungen der Strassenverkehrsordnung sicher, dass für Behinderte sog. Schutzwege mit Behindertenrampen geschaffen und dass diese Zonen von den übrigen Verkehrsteilnehmern freigehalten werden; ferner haben die zuständigen Behörden dafür zu sorgen, dass für Behinderte spezielle Parkflächen, insbesondere in der Nähe von Verwaltungsgebäuden, Spitälern usw. zur Verfügung stehen. Auf den Eisenbahnlinien der Österreichischen Bundesbahnen kann Behinderten eine Fahrpreisermässigung gewährt werden.

Spanien Im Integrationsgesetz (13/1982) wird auch der Verkehr angesprochen: Die öffentlichen Verkehrsmittel sollen behindertengerecht konstruiert bzw. angepasst werden.

1744

Grossbritannien Durch Reglemente des Staatssekretariats, dem eine Konsultativkommission beigegeben ist, werden Minimalanforderungen für die behindertengerechte Ausstattung neuer Taxis aufgestellt und den Chauffeuren Anweisungen für den Transport Behinderter erteilt. Entsprechende Bestimmungen betreffen die public service vehicles sowie die rail services. Die zuständigen Behörden können Massnahmen zur Verbesserung der Transportmöglichkeiten für Behinderte subventionieren.

Schweden Zwei Gesetze aus dem Jahre 1977 sehen vor, dass Transportkosten für Behinderte nach Massgabe der Tarife der öffentlichen Verkehrsmittel, wenn nötig aber auch darüber hinaus (z. B. für eine notwendige Begleitperson), von der öffentlichen Hand übernommen werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Transportmittel aus zwingenden oder rein privaten Gründen (Ferien u dgl.) benützt werden. Ausserdem kann die öffentliche Hand an die Anschaffung von Spezialfahrzeugen für Behinderte Beiträge leisten oder auch die gesamten Kosten übernehmen.

USA Auch im öffentlichen Personenverkehr wurden mit der Verabschiedung des ADA erhebliche Verbesserungen erreicht. Seit August 1990 dürfen die öffentlichen Verkehrsbetriebe nur noch Busse in Betrieb setzen, die Behinderten zugänglich sind.

Studien haben gezeigt, dass die Kosten für den Einbau von Hubliften den Kaufpreis um nicht mehr als 5 Prozent übersteigen. Auch die Busse von privaten Firmen im Überlandverkehr müssen für Behinderte zugänglich sein, wobei ihnen jedoch eine Frist von sieben Jahren eingeräumt wurde. Den Betreibern von Eisenbahnen wurde eine Frist von fünf Jahren gewährt, innert der sie mindestens einen Waggon pro Zug für Behinderte zugänglich machen müssen; Neuanschaffungen müssen ausnahmslos rollstuhlgängig sein. Besondere Bestimmungen bestehen für die Luftfahrt, indem ein Air Carrier Access Act 1986 den Fluggesellschaften jegliche Diskriminierung behinderter Personen untersagt. Sie sind darüber hinaus gehalten, positive Massnahmen zu treffen, um diesen Personen ­ grundsätzlich ohne zusätzliches Entgelt ­ den Zugang zum Flugzeug und den Aufenthalt in demselben zu gestatten, und haben ihr Kabinenpersonal entsprechend auszubilden.

Kanada Das kanadische (Bundes-)Transportgesetz statuiert ausdrücklich die Verpflichtung des Staates, ein effizientes Verkehrsnetz zu betreiben,
welches auch für «Personen mit einem Defekt» zugänglich sein soll. Der Vollzug dieser Bestimmungen ist dem Office des Transports du Canada übertragen, welches auch Beschwerden Behinderter behandelt. Dieses Amt hat mehrere Reglemente für die Seeschifffahrt und den Bahnverkehr sowie für die Luftfahrt erlassen, welche eine behindertengerechte Gestaltung der Verkehrsmittel vorschreiben. Ein weiteres Reglement betrifft die Ausbildung der Begleitpersonals für Hilfeleistungen an behinderte Passagiere.

2.3.1.6

Kommunikation

Deutschland Auch in Deutschland gibt es diese Gebührenbefreiung bzw. -ermässigung von Radio-, Fernseh- und Telefongebühren für bestimmte Behindertengruppen, die wegen 1745

ihres Handicaps nicht in der Lage sind, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen (namentlich Seh- und Hörbehinderte). Für das Fernsehen wird gegenwärtig über eine bestimmte Quote von Sendungen verhandelt, die untertitelt bzw. mit Erklärungen in Gebärdensprache versehen werden sollen.

Frankreich Von der Fernsehgebühr sind unter bestimmten Voraussetzungen Personen befreit, deren Behinderung es ihnen verunmöglicht, selber für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Ebenso wird die Carte France Télécom Blinden zu Vorzugsbedingungen abgegeben. Mit technischen Massnahmen (Blinklichter, zusätzliche Klingelzeichen, Verstärker usw.) sorgt France-Télécom ferner dafür, dass Seh- und/oder Hörbehinderten der Gebrauch des Telefons ermöglicht bzw. erleichtert wird. Im Fernsehen sind gewisse Sendungen bereits seit 1983 im Interesse der hörbehinderten Zuschauer untertitelt. Für die Angebote der öffentlichen Verwaltung und anderer öffentlicher Anstalten im Internet sind in einem Rundschreiben der Regierung vom Oktober 1999 besondere Empfehlungen an die Webmasters für eine behindertengerechte Ausgestaltung ihrer Informationen formuliert worden.

Italien Ausser einer Befreiung von den Gebühren auf Vertragsabschlüssen in der Mobiltelefonie sind keine besonderen Massnahmen zu Gunsten Behinderter vorgesehen.

Österreich Behinderte sind unter gewissen Voraussetzungen von Telefon-, Radio- und Fernsehgebühren befreit.

Spanien Ein Königliches Dekret 1736/1998 mit welchem das Telekommunikationsgesetz genehmigt wurde, schreibt vor, dass Behinderte die Fernmeldedienste zu den gleichen Bedingungen in Anspruch nehmen können wie andere Benützer. Für Andalusien schreibt ein regionales Gesetz den öffentlichen Sendeunternehmen vor, technische Massnahmen zu treffen, um die Übersetzung ihrer Sendungen in Schrift oder Gebärden zu gewährleisten. Privaten Sendern werden entsprechende Vorkehren empfohlen.

Grossbritannien Das Staatssekretariat kann in Übereinstimmung mit dem Schatzkanzleramt finanzielle Beihilfen für die Entwicklung von behindertengerechten Telekommunikationseinrichtungen oder die Verbesserung bestehender Anlagen ausrichten. Eine im Broadcasting Act 1996 eingesetzte Kommission wird zudem beauftragt, einen Kodex über die Anpassung der Radio- und Fernsehdienste an die Bedürfnisse Behinderter auszuarbeiten. Als Minimum wird die
Verpflichtung vorgesehen, dass innerhalb von 10 Jahren seit Beginn der Digitalisierung der Ausstrahlungen 50% der für Hörbehinderte geeigneten Programme zu untertiteln sind und 10% der Programme mit Erläuterungen für Sehbehinderte versehen werden.

Schweden Das schwedische Recht sieht finanzielle Unterstützungsmassnahmen für die Ausrüstung mit Teletext, für die Übersetzung in Brailleschrift sowie in Gebärdensprache vor.

1746

USA Um Hörbehinderten den Gebrauch der telekommunikativen Einrichtungen zu ermöglichen, wurden die Telefongesellschaften angewiesen, in den ganzen USA Hörund Sprachbehinderten rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen und ihnen die Inanspruchnahme des Telefons ohne Mehrkosten zuzusichern. Durch die mit dem Telecommunications Act 1996 modifizierten Bestimmungen des Communications Act 1934 wird den Herstellern von Telekommunikationsgeräten und den Dienstleistungsunternehmungen in diesem Sektor eine behindertengerechte Konstruktion ihrer Apparate bzw. Ausgestaltung ihrer Dienste vorgeschrieben. Die Umsetzung dieser Vorschriften ­ zunächst durch Richtlinien, jetzt mit einem Verordnungsentwurf ­ ist im Gange. Eine Federal Communications Commission (FCC) wacht über die Implementation der Regelung. Für den Bereich des Internet sind von der zuständigen Agentur (Access Board) eine Reihe von Normen (zur entsprechenden Revision des Rehabilitation Act 1973/98) vorgeschlagen worden, welche eine behindertengerechte Ausgestaltung der Websites gewährleisten sollen. Weitere, seit Beginn 1998 in Kraft stehende Regeln schreiben den Fernsehunternehmen zunehmend vor, das close captionning ihrer Sendungen (Untertitelung, bzw. Beschreibung von Hintergrundgeräuschen usw.) mittels kodierter Signale, die mit den Sendesignalen ausgestrahlt werden, zu ermöglichen.

Kanada Ein Gesetz über den Zugang zu Informationen begründet ein generelles Recht auf Zugang zu allen Informationen, welche von Bundesstellen ausgehen. Ein besonderer, vom Parlament gewählter und regierungsunabhängiger Commissaire à l'information wacht über die Durchsetzung dieses Rechts. Der «Conseil de la radiodiffusion et des télécommunications canadiennes» verlangt im Übrigen von den grossen Rundfunkanstalten, dass alle lokalen Informationssendungen (auch die live ausgestrahlten) untertitelt werden.

2.3.2

Das Recht der Kantone

2.3.2.1

Allgemeines

Bereits heute verfügt die Mehrheit der Kantone über spezifisch auf die Behinderten zugeschnittene Bestimmungen. Allerdings ist man noch weit von einem «kantonalen Standard» entfernt. Während zwar wohl praktisch alle Kantone in ihren Verfassungen die Pflicht des Staates stipulieren, die besonderen Bedürfnisse der Behinderten zu berücksichtigen, sehen doch nur einzelne von ihnen für diese Gruppe besondere Bestimmungen in ihren Gesetzgebungen vor. Es sind vor allem drei Kantone (TI, GR, VS), welche diesbezügliche Spezialgesetze erlassen haben. Diese Gesetze haben allerdings nicht die gleiche Tragweite; zwei von ihnen sind auf eine mehr allgemeine Integration gerichtet (VS 55 und GR 56), während das dritte Gesetz gezielter auf bestimmte Bereiche anwendbar ist (TI57; hier sieht das Gesetz die Verpflichtung 55 56 57

Gesetz über die Eingliederung behinderter Menschen vom 31. Januar 1991, Gesetzessammlung, Bd. V, 1850.

Gesetz über die Förderung Behinderter vom 18. Februar 1979, Systematische Gesetzessammlung des Kantons Graubünden, Band II, 440.000.

Legge sull'integrazione sociale e professionale degli invalidi (LISPI) vom 14. März 1979, 6.4.7.1.

1747

des Staates vor, Massnahmen im Hinblick auf die Eingliederung von Behinderten auf sozialer und beruflicher Ebene zu ergreifen).

2.3.2.2

Beschäftigung

Die Berücksichtigung der Interessen der behinderten Personen ist von Kanton zu Kanton stark unterschiedlich. Die Spanne reicht von blosser Ermutigung bis zur Beschäftigung und Eingliederung von Behinderten als Bestandteil der Personalpolitik des Regierungsrates (wie in ZH58), oder von der Bereitstellung von Stellen für Behinderte (wie in LU59), bis zur Verpflichtung, ehemalige, invalid gewordene Mitarbeiter oder andere invalide Personen zu beschäftigen (wie in FR60). In BS61 und LU62 wurde die Verpflichtung eingeführt, die mit Behinderten vorgesehenen Lehrverträge zu melden. Die zuständige Behörde muss anschliessend klären, ob es sich um eine Lehre oder eine Grundausbildung im Sinne des Bundesgesetzes über die Berufsbildung63 handelt. Mehrere kantonale Gesetzgebungen sehen eine besondere Unterstützung des Kantons für die Berufsausbildung der behinderten Lehrlinge vor (unter anderem diejenigen von TG64, JU65 und BE66). Ferner sei erwähnt, dass in BS67 im Bereich Arbeitsvermittlung besondere Sektionen zu Gunsten von Behinderten geschaffen werden können.

In gewissen Kantonen ist die Palette der möglichen Massnahmen zur Förderung der beruflichen Eingliederung der Behinderten sehr breit: So verfügt beispielsweise das VS 68 über eine ganze Reihe von Möglichkeiten, darunter die Einführung von Anreizen im Privatbereich, die Unterstützung von spezialisierten Organisationen, die Bereitstellung von halbgeschützten Arbeitsstellen in der kantonalen Verwaltung usw. Es handelt sich um Massnahmen im Sinne von Anreizen (beispielsweise Bereitstellen von Krediten für die Bezahlung der Löhne von Personen, welche im halbgeschützten Dienst in der kantonalen Verwaltung beschäftigt werden, oder Möglichkeit, behinderte Lehrlinge ausserhalb der erlaubten Kontingente anzustel-

58

59 60

61 62 63 64 65 66 67 68

Par. 5, lit. I, des Gesetzes über das Arbeitsverhältnis des Staatspersonals vom 27. September 1998 (177.10), das im Programm der Personalpolitik des Staatsrates die Förderung der Anstellung und der Integration von behinderten Personen vorsieht.

Par. 82a des Gesetzes über das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis (Personalgesetz) vom 13. September 1988 (SRL Nr. 51).

Beschluss vom 25. Februar 1992 über die Anstellung invalider Personen (122.70.43), er zielt auf die berufliche Wiedereingliederung von Behinderten, unter besonderer Berücksichtigung ehemaliger, invalid gewordener Mitarbeiter.

Par. 15 des kantonalen Gesetzes über die Berufsbildung vom 21. Februar 1985 (SG 420.200).

Par. 40 der Vollzugsverordnung zum Bundesgesetz über die Berufsbildung vom 24. Mai 1982 (SRL Nr. 425).

SR 412.10 Par. 10 des Gesetzes über die Berufsbildung vom 4. November 1985 (412.11).

Art. 13 de la Loi sur la formation professionnelle vom 13. Dezember 1990 (413.11).

Art. 18 Abs. 1 des Gesetzes über die Berufsbildung vom 9. November 1981 (435.11).

Par. 1 Abs. 2 des Gesetzes betreffend die Einführung des Bundesgesetzes über die Arbeitsvermittlung vom 22. November 1951 (SG 819.500).

Art. 11 bis 17 des Gesetzes über die Eingliederung behinderter Menschen vom 31. Januar 1991 (1850). Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14 dieses Gesetzes die Bereitstellung von Beschäftigungsmöglichkeiten für die behinderten Personen im normalen und im geschützten Milieu vorsieht: Es kommt somit der Wille, die berufliche Eingliederung dieser Personen selbst in der «normalen» Berufswelt zu fördern, klar zum Ausdruck.

1748

len). Die Tessiner Gesetzgebung 69 ihrerseits sieht ebenfalls eine grosse Vielfalt von Massnahmen zur Förderung der beruflichen Integration Behinderter vor. Der Gesetzgeber unterscheidet verschiedene Massnahmen, welche im Bereich der beruflichen Integration zu ergreifen sind: Beispielsweise die direkte Anstellung von Behinderten durch die Gemeinwesen70, oder aber die Ausrichtung von Beiträgen oder die Vergabe von öffentlichen Arbeiten an Arbeitgeber verbunden mit der Bedingung, solche Personen zu beschäftigen71. Ferner präzisiert das Gesetz, dass bei der Wahl der anzuwendenden Massnahmen denjenigen der Vorzug zu geben ist, die für die Integration des Individuums in die Gesellschaft am besten geeignet sind72. Was schliesslich GR73 anbelangt, erstellt das Gesetz eine Art Hierarchie der Massnahmen, die der Kanton ergreifen muss: Wenn möglich, Behinderte beschäftigen, andernfalls die privaten Unternehmen, die ihnen Ausbildungs- und Arbeitsplätze anbieten, durch Finanzhilfen und Beratung unterstützen.

2.3.2.3

Bauten

Die meisten Kantone sehen in diesem Bereich Bestimmungen betreffend die Bedürfnisse der Behinderten vor. Es gibt Kantone, die diesem Anliegen nur mit allgemeinen Begriffen Rechnung tragen, während andere versuchen, präzisere Antworten auf die besonderen Bedürfnisse der Behinderten zu geben. Immerhin muss in fast allen Kantonen der Zugang zu Bauten und Anlagen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind74, auch für die Behinderten gewährleistet sein. Es handelt sich um quantitative Kriterien (wie Gebäudefläche oder Anzahl Wohnungen), die erlauben zu sagen, ob eine Baute oder eine Anlage für die Öffentlichkeit bestimmt ist. In diesem Bereich gibt es Kantone, welche sogar sehr detaillierte Bestimmungen zu Gunsten der Behinderten kennen (beispielsweise NE 75).

Mehrere Kantone schreiben vor, dass die Bedürfnisse der Behinderten bei der Erstellung oder der Erneuerung von Gebäuden oder Geschäftslokalen oder von Wohnblöcken berücksichtigt werden müssen. Zur Definition der Wohnblöcke werden auch quantitative Kriterien herangezogen: So präzisieren beispielsweise gewisse kantonale Gesetzgebungen (BL76 oder SG77), dass es sich hierbei um Häuser mit mindestens sechs Wohnungen handelt. Ferner kommt es vor, dass der Staat gehalten

69 70 71 72 73 74 75

76 77

Legge sull'integrazione sociale e professionale degli invalidi vom 14. März 1979 (6.4.7.1).

Art. 9 des Gesetzes Art. 10 des Gesetzes Art. 11 des Gesetzes Art. 35 des Behindertengesetzes (440.000).

Einkaufszentren, Verwaltungsgebäude, Gerichte, Kirchen, Schulen, Spitäler, Sportanlagen, Warenhäuser, Parkplätze usw.

Die Art. 20­22 des «Loi sur les constructions» vom 25 März 1996 (RSN 720.0) und die Art. 9­25 der dazugehörigen Vollzugsbestimmungen («Règlement d'exécution») vom 16. Oktober 1996 (RSN 720.1) sehen vor, dass der Zugang zu Bauten für die an einer körperlichen oder wahrnehmungsbedingten Beeinträchtigung leidenden Personen grundsätzlich gewährleistet sein muss.

Par. 108 Abs. 2 des Raumplanungs- und Baugesetzes vom 8. Januar 1998 (400).

Art. 55bis des Gesetzes über die Raumplanung und das öffentliche Baurecht vom 6. Juni 1972 (sGS 731.1).

1749

ist, diese Wohnungspolitik durch finanzielle Anreize zu ermutigen (beispielsweise GR und TI78).

Diese Garantien zu Gunsten der Behinderten erfahren Differenzierungen unter dem Aspekt des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes: Dies bedeutet, dass darauf verzichtet werden kann, den Zugang zu einer Baute zu gewährleisten, wenn dies mit unverhältnismässig hohen Kosten verbunden ist, oder wenn andere schützenswerte Interessen betroffen sind.

Aus dieser Übersicht der verschiedenen kantonalen Regelungen im Baubereich geht eine Gemeinsamkeit hervor: Die Massnahmen zu Gunsten der Behinderten sind in der Mehrzahl klar zwingend (sodass bei ihrer Missachtung die Behörde die Baubewilligung verweigern kann). Den Behinderten selbst steht indessen oft keine Möglichkeit offen, sich zu wehren, da die kantonalen Gesetze ihnen keine subjektiven Rechte einräumen. Kantone, die ein Beschwerderecht vorsehen, sind selten: Dazu gehört der Kanton LU, der vorsieht, dass einem mit der Interessenwahrung der Behinderten im Baubereich beauftragten privaten Organ («Beratungsstelle für behindertengerechtes Bauen») das Recht zukommt, Rekurs zu führen, wenn die Bauten den gesetzlichen Anforderungen nicht genügen79. Desgleichen auferlegt ein Gesetzesentwurf von BS «Entwurf eines Bau- und Planungsgesetzes», dem Staatsrat die Verpflichtung, ein Organ gleicher Art zu bestimmen (ebenfalls «Beratungsstelle für behindertengerechtes Bauen» genannt), mit ebenfalls analogem Beschwerderecht.

2.3.2.4

Ausbildung

Im Erziehungsbereich wird in fast allen Kantonen ein minimaler Standard gewährleistet, und zwar dank Staatsbeiträgen an Sonderschulen oder Heime.

Ferner kennen die kantonalen Gesetzgebungen verschiedene Massnahmen im Hinblick auf eine mehr oder weniger klare Integration der behinderten Kinder in die ordentlichen Schulklassen. Die Mehrheit der Kantone hat eine «gemischte» Lösung gewählt: Diese Kantone sehen die Gewährung einer besonderen Unterstützung an diese Kinder vor, um ihnen so die Integration in die Regelklassen zu ermöglichen.

Diese Regelung entspricht bis zu einem gewissen Grad dem Lösungsansatz, wie er etwa Anwendung findet, um die Integration von Kindern aus einer anderen Sprachregion zu erleichtern Es handelt sich um besondere Kurse, die eine künftige Integration erleichtern sollen. Allerdings findet die Politik der Integration von behinderten Kindern allemal ihre Grenze im Umstand, dass die Schwere der Behinderung dem Unterricht der anderen Schüler nicht ernstlich entgegenstehen darf.

Zu den Kantonen, welche die schulische Integration der behinderten Kinder am stärksten vorantreiben, gehört beispielsweise SG80, der den Grundsatz der Subsidiarität der Spezialklassen aufgestellt hat. Der Spezialunterricht ist bestimmt für die geistig, psychisch, physisch, wahrnehmungs- oder artikulationsbehinderten Kinder 78 79 80

GR: Art. 38 des Behindertengesetzes und TI: Art. 8b der LISPI sehen vor, dass der Kanton Beiträge an die behindertengerechte Gestaltung von Wohnungsbauten leisten kann.

Par. 157 und Par. 20 Abs. 1, lit. d des Planungs- und Baugesetzes vom 7. März 1989 (SRL Nr. 735).

Art. 37 des Volksschulgesetzes vom 13. Januar 1983 (213.1) sieht die getrennte Schulung vor, doch präzisiert Art. 40, dass der Schulrat jedes Jahr die Möglichkeit prüfen muss, die Schüler einer Sonderschule in einer Regelschule zu integrieren (respektive diejenigen einer Kleinklasse in einer Regelklasse).

1750

oder Jugendlichen, doch muss die Schuldirektion periodisch überprüfen, ob diese Art Schulung weiterhin erforderlich ist81. Auch im Kanton TG82 ist vorgesehen, dass ein Kind nur dann gesondert geschult wird, wenn seine Schwierigkeiten, dem normalen Unterricht zu folgen, anders nicht gelöst werden können. Im Kanton TI83 wurden Stellen zur pädagogischen Unterstützung («servizi di sostegno pedadogico») geschaffen, mit dem Ziel, den Kindern, welche besondere Schwierigkeiten aufweisen, beim Unterricht zu helfen; doch wird der Schüler, sofern es die Art der Behinderung («la natura dell invalidità») erlaubt, in eine Regelklasse mit besonderer Unterstützung aufgenommen84. LU und ZH85 gehen in die gleiche Richtung, sehen sie doch vor, dass die Schüler und Schülerinnen der Sonderschulen in die Regelklassen integriert werden müssen, sobald dies möglich ist. In der Gesetzgebung des Kantons VS86 wird sogar präzisiert, dass die vollständige oder teilweise Integration der Lernenden in die ordentlichen Schulstrukturen angestrebt wird: Die Integration wird dadurch (im Rahmen des Möglichen) zu einer langfristig angestrebten Lösung.

Die meisten Kantone scheinen also die behinderten Schüler, sobald als möglich, in die Regelklassen oder (-schulen) integrieren zu wollen (wobei wohlverstanden nur diejenigen Behinderungen gemeint sind, welche die Lernfähigkeit der betroffenen Behinderten nicht zu stark beeinträchtigen).

Was die Kindergärten anbelangt, kann auf GR87 verwiesen werden, welcher präzisiert, dass die Integration der behinderter Kinder bereits ab dem Kindergarten zu fördern ist.

Hinsichtlich des Lehrpersonals schreibt die Gesetzgebung von BE88 vor, dass die Grundausbildung den Lehrkörper ebenfalls darauf vorbereiten muss, die Eingliederung der behinderten Kinder und Jugendlichen in die Regelklasse und den Regelunterricht zu erleichtern.

2.3.2.5

Öffentlicher Verkehr

Auch in diesem Bereich wird den Bedürfnissen der behinderten Personen in den Kantonen sehr unterschiedlich Rechnung getragen. Mehrere Kantone haben einen gezielten Lösungsansatz gewählt, indem sie vorsehen, dass die Fahrzeuge und Anlagen so beschaffen sein müssen, dass sie auch von den Behinderten benutzt werden 81 82 83 84

85

86 87 88

Art. 20 des Gesetzes Par. 9 des Gesetzes über die Volksschule und den Kindergarten vom 23. Mai 1995 (411.11).

Art. 63 de la Legge della scuola vom 1.2.1990 (5.1.1.1) Art. 18 des Regolamento per l'educazione speciale vom 9.7.1975 (5.1.2.1). Ferner präzisiert Art. 29, dass diese pädagogisch-therapeutischen Massnahmen dem behinderten Schüler im Rahmen des Möglichen erlauben, die Normalschule zu besuchen. Diese Massnahmen umfassten Therapien für die sensorischen, motorischen, wahrnehmungsbedingten und sprachlichen Probleme.

LU: Par. 14 Abs. 1 der Verordnung über die Sonderschulung vom 21. Dezember 1999 (SRL Nr. 409), der vorsieht, dass die behinderten Kinder, welche fähig sind, dem Unterricht in einer Normalklasse mit besonderen integrativen pädagogischen Massnahmen zu folgen, dort integriert werden können. Im gleichen Sinne ZH: Par. 13, Par. 14, Par. 18, Par. 23 und Par. 27 des Reglements über die Sonderklassen, die Sonderschulung und Stütz- und Förderungsmassnahmen vom 3. Mai 1984 (412.13).

Art. 2 des Dekrets über die Sonderschulung vom 25. Juni 1986 (1083) Art. 1 des Gesetzes über die Kindergärten im Kanton Graubünden vom 17. Mai 1992 (420.500).

Art. 9 Abs. 2 lit. A des Gesetzes über die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung vom 9. Mai 1995 (LLBG, 430.210.1).

1751

können (Beispiel: BE89). Andere Kantone haben einen anderen Ansatz gewählt, und zwar insofern, als die besonderen Bedürfnisse der behinderten Personen beim Abschluss von Leistungsvereinbarungen berücksichtigt werden (so im Fall von ZH und LU90). Wieder andere Kantone sehen finanzielle Anreize von Seiten des Staates in Form von Subventionen für den Erwerb von Fahrzeugen durch Institutionen vor, welche den Transport von behinderten Personen bezwecken (Beispiele: FR und SG91).

Hinzuweisen ist noch auf die von BS und BL beschlossene Lösung: Diese beiden Kantone haben am 13. Oktober 1998 eine «Vereinbarung über die Beitragsleistung an Fahrten von Behinderten» (BS, SG 953.930) abgeschlossen, wonach sie für die Einrichtung eines Angebots im Sinne eines Behindertentransportes sorgen (das heisst eine Art Taxi-Dienst, einen mit Privatmitteln organisierten öffentlichen Transportdienst).

2.3.2.6

Steuern

In gewissen Kantonen sind für den steuerpflichtigen Behinderten oder für Personen, welche ein behindertes Familienmitglied finanziell unterstützen, Steuererleichterungen vorgesehen. Im Allgemeinen sind diejenigen Kosten abziehbar, welche sich aus der Behinderung ergeben: In LU92 sind die mit der Invalidität verbundenen Kosten begrenzt abziehbar; in BS93 sind Abzüge für diejenigen Personen vorgesehen, welche der Pflege bedürfen (für sich selbst oder für einen Angehörigen); das Gleiche gilt für den Kanton JU94, dessen Gesetzgebung bestimmt, dass die Behinderung der steuerpflichtigen Person oder ihres Ehegatten Anspruch auf Abzüge gibt.

Gewisse Kantone erlauben besondere Abzüge für die Motorfahrzeuge der behinderten Personen. So sehen mehrere Kantone die Befreiung von der Fahrzeugsteuer vor: Dies ist der Fall in BS95 sowie in NE96, wo die Personen mit einer schweren physi89

90

91

92 93

94 95 96

Art. 5 Abs. 2 des Gesetzes über den öffentlichen Verkehr vom 16. September 1993 (762.4), wonach Fahrzeuge und Anlagen grundsätzlich so zu gestalten sind, dass ihre Benützung auch den Behinderten offen steht.

ZH: Par. 13a der Verordnung über das Angebot im öffentlichen Personenverkehr vom 14. Dezember 1988 (740.3), wonach die besonderen Bedürfnisse der behinderten Personen zu berücksichtigen und ihre Mobilität zu verbessern ist. LU: Par. 10 Abs. 2 des Gesetzes über den öffentlichen Verkehr und den schienengebundenen Güterverkehr vom 21. Mai 1996 (775), wonach das Angebot der Verkehrsunternehmen auf die Bedürfnisse der mobilitätsbehinderten Personen Rücksicht nehmen muss.

In FR bestimmt das Transportgesetz vom 20. September 1994 (780.1) in Art. 43, dass der Staatsrat Institutionen, die im Dienste des Behindertentransports stehen, einen Beitrag zur Anschaffung von Spezialfahrzeugen gewähren kann. Desgleichen sieht die sanktgallische Gesetzgebung in Art. 15 des Gesetzes zur Förderung des öffentlichen Verkehrs vom 25. September 1988 (sGS 710.5) die Möglichkeit der Gewährung von Staatsbeiträgen im Falle von besonderen technischen Massnahmen zu Gunsten der Behinderten vor; ein Grundsatz, der in Art. 2bis des Einführungsgesetzes zum eidgenössischen Eisenbahngesetz vom 7. Februar 1971 wiederaufgenommen wurde (sGS 713.1).

Par. 40 lit. h des Steuergesetzes (SRL Nr. 620) Par. 44 Abs. 1 Ziff. 4 des Gesetzes über die direkten Steuern vom 22. Dezember 1949 (SG 640.100) und Par. 22a der dazugehörigen Verordnung (vom 30. Januar 1990, SG 64.110) Art. 34 Abs. 1 lit. g und 47 lit. d de la Loi d'impôt vom 26. Mai 1988 (RSJU 641.11) Gesetz über die Besteuerung der Motorfahrzeuge vom 17. November 1966 (SG 650.500) Art. 2 Ziff. 8 Loi sur la taxe des véhicules automobiles, des remorques et des bateaux vom 6. Oktober 1992 (RSN 761.20)

1752

schen Behinderung keine Fahrzeugsteuer bezahlen, wenn das Fahrzeug für ihre Fortbewegung unabdingbar ist.

Schliesslich finden sich Gesetzgebungen, welche eine Befreiung von der Blindenhundetaxe vorsehen: dies beispielsweise in BS97 und in TG98.

2.4

Die Initiative Suter und die Vernehmlassung von 1999

2.4.1

Die parlamentarische Initiative Suter

Am 5. Oktober 1995 hat Nationalrat Marc Suter die parlamentarische Initiative «Gleichstellung der Behinderten» (95.418) eingereicht. Der Nationalrat hiess sie gut99 und verabschiedete eine neue Bestimmung (Art. 4 Abs. 3 aBV), die drei Elemente enthielt: ein Diskriminierungsverbot gegenüber körperlich, geistig oder psychisch behinderten Personen, den Gesetzgebungsauftrag, Benachteiligungen behinderter Personen durch Massnahmen und Anreize zu beseitigen oder auszugleichen, sowie ein subjektives Recht auf Zugang zu öffentlichen Bauten, Anlagen und Dienstleistungen100. Im Ständerat wurde dieses Geschäft von der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit beraten. Sie beauftragte den Bundesrat mit der Durchführung einer Vernehmlassung zum Problem der Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Personen (Vernehmlassung von 1999101; vgl. nachfolgende Ziffer). Nach dem Vorliegen der Vernehmlassungsergebnisse und auf Grund des Vorentscheides des Bundesrates, der Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» einen Gegenentwurf gegenüberzustellen, beschloss der Ständerat am 6. Juni 2000, auf den aus der parlamentarischen Initiative Suter hervorgegangenen Verfassungsartikel nicht einzutreten102.

Wir betrachten diese Initiative in der Fassung, wie sie der Nationalrat 1998 angenommen hat, als zu weit gehend, da sie wie die Volksinitiative schon auf Verfassungsstufe ein subjektives Recht einräumt103. Ein solches Recht wirft hinsichtlich der Anwendung zahlreiche Fragen auf; wir verweisen hier auf die Begründung, die uns zur Ablehnung der Volksinitiative veranlasst104. Wir ziehen die Idee eines Gesetzes, das den Grundsatz der Gleichstellung Behinderter und nicht Behinderter umsetzt, einer kaum justiziablen Verfassungsbestimmung vor105.

97 98 99 100 101 102 103 104 105

Par. 6 lit. b des Gesetzes betreffend das Halten von Hunden vom 21. Januar 1982 (SG 365.100) Par. 9 lit. g der Verordnung des Regierungsrates über das Halten von Hunden vom 16. Oktober 1984 (641.21) AB 1996 N 1160 AB 1998 N 1794; Bericht und Beschlussesentwurf der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, BBl 1998 2437 BBl 1999 5316 AB 2000 S 269 ff. Im Zeitpunkt der Verabschiedung dieser Botschaft war die Differenz zwischen Ständerat und Nationalrat zu diesem Geschäft noch nicht bereinigt.

Mündliche Stellungnahme des Bundesrates anlässlich der Behandlung der parlamentarischen Initiative im Plenum des Nationalrates; AB 1998 NR 1794 ff.

Vgl. Ziff. 3, insbesondere 3.3 und 3.4 AB 1998 NR 1800 f.

1753

2.4.2

Die Vernehmlassung von 1999

2.4.2.1

Allgemeines

Die im Herbst 1999 durchgeführte Vernehmlassung zur Frage der Gleichstellung der Behinderten diente dazu, den Handlungsbedarf und die gewünschte Regelungsebene abzuklären sowie erste Anhaltspunkte zu den finanziellen Auswirkungen neuer Massnahmen zu erhalten. Insgesamt haben 74 von 164 angeschriebenen Institutionen Stellung genommen. Die Ergebnisse wurden im Bericht des EJPD vom 28. Januar 2000 «Gleichstellung der Behinderten, Auswertung der Vernehmlassung vom Herbst 1999» zusammengefasst106.

2.4.2.2

Rechtsgrundlagen auf Verfassungsstufe

Die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» oder eine inhaltlich ähnliche Regelung gemäss parlamentarischer Initiative Suter (vgl. Ziff. 2.4.1) wurden von der SP sowie von zehn Organisationen befürwortet. Für subjektive Rechte auf Verfassungsstufe traten ferner die Kantone GL und BE sowie 15 Organisationen ein.

Zahlreiche Vernehmlasser waren demgegenüber ausdrücklich der Meinung, Artikel 8 BV biete eine genügende Rechtsgrundlage für ein Gesetzgebungsprogramm über die Beseitigung von Benachteiligungen Behinderter (ZH, BL, SH, VD, FR, AR, GE, UR, SZ, TG, NE, TI; FDK, SDK; CVP, SVP, LPS; 6 Organisationen).

Auf Ablehnung stiess ein subjektives Recht im Sinne der Volksinitiative bei bürgerlichen Parteien (FDP, CVP, SVP) sowie in Wirtschaftskreisen (6 Organisationen).

Etliche Vernehmlasser äusserten sich gegen eine Verfassungsreform, solange Artikel 8 BV noch nicht umgesetzt ist.

2.4.2.3

Künftige Gesetzgebung

Die ständerätliche Kommission sprach sich in ihrem Bericht für die sofortige Erarbeitung eines konkreten Gesetzgebungsprogramms in der Form eines indirekten Gegenvorschlags zur Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» aus. Diese Einschätzung teilten zahlreiche Vernehmlasser (SH, ZG, ZH, SZ, TG; FDK, SDK; FDP, SVP, CVP, LPS; 4 Organisationen). Weitere Vernehmlasser befürworteten ein Gesetzgebungsprogramm (BL, TG, SZ, NE, TI, VD, LU; SP; 18 Organisationen), wobei die meisten Vernehmlasser ein rasches Vorgehen wünschten. Eine Mehrheit der Vernehmlasser sprach sich für ein Spezialgesetz, allenfalls kombiniert mit der Revision bestehender Gesetze, aus.

Der Handlungsbedarf wurde von einer Mehrheit der Vernehmlasser bejaht. Im Vordergrund standen die Bereiche öffentlicher Verkehr, Bauten (verbesserter Vollzug, evtl. Beschwerderecht für Behindertenorganisationen), Wohnen (u.a. Assistenzentschädigung), Arbeit (mit Schwerpunkt auf Anreizsystemen), Kommunikation, Berufsbildung und Schulwesen (integrierte Schulung).

106

Dieser Bericht kann auf der Internetseite des Bundesamtes für Justiz konsultiert werden (http://www.bj.admin.ch).

1754

Bei der Frage, ob Menschen mit Behinderungen besondere subjektive Rechte einzuräumen seien, waren die Meinungen geteilt. Etliche Vernehmlasser befürworteten subjektive Rechte grundsätzlich, andere nur auf Gesetzesstufe. Andere wiederum sprachen sich für ein subjektives Recht auf Zugang zu Bauten und Anlagen aus.

Auch in der Frage, ob subjektive Rechte erst nach einer Übergangsfrist eingeführt werden sollten, waren die Meinungen geteilt. Eine weitere Gruppe von Vernehmlassern lehnte eine Drittwirkung subjektiver Rechte gegenüber Privaten ab.

Zahlreiche Vernehmlasser wiesen darauf hin, dass die Kostenfolgen im damaligen Zeitpunkt noch nicht abschätzbar waren. Einige Vernehmlasser gingen von verhältnismässig bescheidenen Mehrkosten (2­5% der Gesamtkosten) für Neubauten aus.

Je nach Ausbaustandard wurden die Kosten für den öffentlichen Verkehr auf 75 Millionen bis gegen 4 Milliarden Franken geschätzt. Nach Ansicht einiger Vernehmlasser würden die Mehrkosten einer stärkeren schulischen Integration durch Einsparungen bei den Sonderschulen kompensiert. Viele Vernehmlasser gingen davon aus, dass eine stärkere Integration der Behinderten zu volkswirtschaftlichen Einsparungen oder mindestens zu keinen Mehrkosten führt.

3

Analyse und Würdigung der Volksinitiative

3.1

Rechtliche Analyse

3.1.1

Auslegung des Initiativtextes

3.1.1.1

Allgemeines

Die Initiative schlägt die Einführung eines neuen Artikels 4bis 107 in der Bundesverfassung vor, welcher in drei Absätzen ein Grundrecht auf Gleichstellung formuliert, das vorbehältlich von Absatz 1 besonders auf die behinderten Personen gerichtet ist.

Dieser Artikel 4bis stipuliert somit, gemessen am allgemeinen Gleichstellungsgrundsatz von Artikel 4 aBV, eine Spezialgarantie zu Gunsten der Behinderten.

Durch seine Platzierung (anschliessend an den Art. 4 aBV), seinen Geltungsbereich (Schutz der Person, Wirkungen, die direkt auf der Verfassung gründen), seinen Wortlaut (Diskriminierung, Gleichstellung, Gewährleistung) sowie durch den Initiativtitel selbst («Gleiche Rechte für Behinderte») postuliert der Artikel die Einführung eines Grundrechts. Dieses Recht ist dazu bestimmt, diejenigen Wirkungen auf den politischen Prozess zu entfalten, welche die Verfassung den Grundrechten im Allgemeinen zuerkennt: Es soll in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen (Art. 35 Abs. 1 BV); es ist allen Behörden der verschiedenen Gemeinwesen (Bund, Kantonen, Gemeinden) sowie den privaten Personen, die staatliche Aufgaben erfüllen, aufgegeben (Art. 35 Abs. 2 BV); und es ist, so weit es sich dazu eignet, schliesslich auch auf die Beziehungen unter Privaten wirksam (Art. 35 Abs. 3 BV).

107

Die Frage der formellen Integration der neuen Bestimmung in die neue Bundesverfassung, einschliesslich das Problem von Platzierung und Nummerierung, wird in Ziff. 3.2 betreffend die Auswirkungen der neuen Verfassung auf die Initiative behandelt.

1755

3.1.1.2

Das Diskriminierungsverbot (Abs. 1)

Absatz 1 stipuliert den Grundsatz, wonach niemand diskriminiert werden darf, und zählt neun Tatbestände (oder Kriterien) auf, die geeignet sind, zu Diskriminierungen zu führen, das heisst, Herkunft, Rasse, Geschlecht, Sprache, Alter, soziale Stellung, Lebensform, religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugung, körperliche, geistige oder psychische Behinderung.

Der persönliche Geltungsbereich von Absatz 1 ist allgemein und bezieht sich nicht nur auf die Behinderten. Der Vorschlag, eine solche Generalklausel einzuführen, erklärt sich durch die Tatsache, dass die Initiative noch vor dem Hintergrund der alten Bundesverfassung von 1874, die keine vergleichbare Formulierung kannte.

Da die Liste mit den Kriterien, die geeignet sind, zu Diskriminierungen zu führen, mit der Formulierung «namentlich» beginnt, ist sie nicht abschliessend. Sie führt einfach Kriterien auf, welche erfahrungsgemäss oft Ursachen für Diskriminierungen sind. Ferner schafft die Aufzählung keine Prioritäten zwischen den verschiedenen Kriterien, welche somit grundsätzlich gleichwertig sind.

Was den Begriff der Diskriminierung anbelangt, wird er in der Bestimmung selbst nicht definiert. Allerdings haben wir keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Urheber der Initiative würden dieser Begriffsbestimmung einen Sinn verleihen, der vom allgemein üblichen Begriff abwiche. Im Gegenteil: Angesichts des Werdegangs der Initiative muss angenommen werden, dass der Begriff der Diskriminierung im Sinne der Volksinitiative demjenigen von Artikel 8 Absatz 2 der Verfassung entspricht. Es geht somit um qualifizierte, mithin offensichtliche oder besonders schockierende, die eine herabwürdigende Wirkung haben können.

Absatz 1 ist eine direkt anwendbare Bestimmung, das heisst, er kann vor dem Richter angerufen werden, ohne dass dazu noch ein gesetzlicher Erlass zur Umsetzung erforderlich wäre.

3.1.1.3

Der Gesetzgebungsauftrag (Abs. 2)

Absatz 2 setzt sich aus zwei Sätzen zusammen: Der erste erteilt dem Gesetzgeber den klaren Auftrag, für die Gleichstellung der Behinderten zu sorgen; der zweite sieht Massnahmen zur Beseitigung und zum Ausgleich bestehender Benachteiligungen vor.

3.1.1.3.1

Erster Satz

Der erste Satz hat die Gesetzgeber der verschiedenen Gemeinwesen im Auge. Er enthält keinerlei Zuordnung materieller Gesetzgebungskompetenz und bringt somit keine Veränderung der verfassungsmässigen Kompetenzaufteilung mit sich108.

Dieser Satz stellt ein erstes Auslegungsproblem, und zwar wegen der Divergenz zwischen dem deutschen Text, der den Ausdruck «Gleichstellung»109 verwendet,

108 109

Vgl. Auch BBl 1997 III 568, I 136/137, 1993 I 1321 f., 1980 I 132; vgl. auch Ziff. 8.1.1.

Vgl. den Wortlaut der Volksinitiative in der deutschen Fassung im Bundesblatt, BBl 1999 7312, 1998 3967.

1756

und dem französischen und dem italienischen Text, die auf den Ausdruck «égalité de droit»110 bzw. «parità dei diritti»111 zurückgreifen. Der Titel der Initiative «Gleiche Rechte für Behinderte» («Droits égaux pour les personnes handicapées» / « Parità di diritti per i disabili») könnte vorerst nahe legen, dass nur eine rechtliche Gleichstellung anvisiert wird. Der Titel einer Volksinitiative muss jedoch nicht notwendigerweise über alle ihre inhaltlichen Elemente Auskunft geben, sondern kann sich darauf beschränken, die hauptsächliche Idee auszudrücken112. Wie wir in der Folge sehen werden, besteht die eigentliche Idee der Initiative in einer spezifischen Gewährleistung des Gleichstellungsprinzips, einschliesslich die tatsächliche Gleichstellung.

Dazu kommt, dass die Initiative in der deutschen Fassung vorgestellt wurde, während die französische und die italienische Fassung Übersetzungen sind113. Für die Interpretation des Textes ist somit die deutsche Version massgeblich, und es ist zu bedenken, dass Artikel 4bis Absatz 2 erster Satz die Gleichstellung, und nicht nur die Gleichberechtigung, gewährleistet.

Ein zweites Auslegungsproblem betrifft den Gehalt selbst des Begriffs der Gleichstellung (égalité) im Kontext der Initiative. Gemäss einer gängigen Auslegung unterschied sich der Begriff «Gleichstellung» («égalité» / «uguaglianza») von demjenigen der «Gleichberechtigung» und meinte bis zur Annahme der neuen Verfassung eine tatsächliche Gleichstellung. Diese Unterscheidung ging aus Artikel 4 Absatz 2 aBV (Gleichstellung der Geschlechter) klar hervor, wonach der erste Satz die Gleichberechtigung («... gleichberechtigt»), der zweite die tatsächliche Gleichstellung («Gleichstellung») gewährleistete114. Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung haben sich die Dinge jedoch geändert. Artikel 8 Absatz 3 zweiter Satz präzisiert nun den Begriff «Gleichstellung» im Sinne einer «rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung» («egalité de droit et de fait» / «uguaglianza di diritto e di fatto»). Dies führt zur Feststellung, dass die Einfügung dieser beiden Begriffe (rechtlich und tatsächlich) zu einer Neutralisierung des Hauptbegriffs (Gleichstellung) geführt hat, der seither nicht mehr darauf beschränkt ist, einzig die tatsächliche Gleichstellung zu bezeichnen. Im Zeitpunkt der Lancierung der Volksinitiative
(Sommer 1998) bestand zwischen den beiden Räten bezüglich Artikel 8 Absatz 3 zweiter Satz BV jedoch noch eine Differenz hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs der Gleichstellung115. Somit bestand, was die Tragweite des Begriffs der «Gleichstellung» betraf, keine Gewissheit. Daher muss Artikel 4bis Absatz 2 unabhängig von der in Artikel 8 Absatz 3 zweiter Satz BV verwendeten Terminologie ausgelegt werden.

Nun zeigt eine unabhängige und systematische Auslegung des Initiativtextes, dass Absatz 2 auf eine Gleichstellung zielt, welche sich von der blossen Gleichberechti110 111 112

113 114 115

Vgl. oben Ziff. 1.1.1 Vgl. den Wortlaut der Volksinitiative in der italienischen Fassung im Bundesblatt, FF 1999, 6256, 1998 3117.

Soweit er nur die Behinderten erwähnt, trägt der Titel der Initiative auch nicht dem allgemeinen Charakter des Diskriminierungsverbots von Abs. 1 Rechnung. Aber es ist klar, dass die allgemeine Tragweite dieser Klausel nicht durch den einschränkenden Initiativtitel in Frage gestellt werden darf. Es sei noch angefügt, dass der Titel einer Volksinitiative in seinem allgemein verständlichen Sinn zu begreifen ist. So umfasst die Formulierung «Gleiche Rechte für Behinderte» für viele Leser auch die materiellen Mittel, deren diese Personen bedürfen, um ihre Rechte auszuüben.

In Übereinstimmung mit Art. 23 Abs. 2 der Verordnung vom 24. Mai 1978 über die politischen Rechte (SR 161.11) wurden die Übersetzungen von den Initianten genehmigt.

BGE 125 I 21, Erw. 3a, 24 f., mit zahlreichen Hinweisen auf Rechtsprechung und Doktrin; BBl 1993 I 1262, 1320 f.

AB NR 1998 1756­1765, 2364­2366; SR 1998 691.

1757

gung unterscheidet, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens fliesst die von der Initiative vorgeschlagene Garantie der «Gleichberechtigung» schon aus dem allgemeinen Gleichstellungsgrundsatz von Artikel 4 aBV und dem in Artikel 4bis Absatz 1 verankerten, von der Initiative postulierten Diskriminierungsverbot; mit Artikel 4bis Absatz 2 erster Satz muss somit logischerweise etwas anderes als die Gleichberechtigung gemeint sein, ansonsten die Bestimmung schliesslich dreifach wiederholt würde; schliesslich implizieren die gewählten Begriffe, wonach das Gesetz Massnahmen zur Beseitigung und zum Ausgleich bestehender Benachteiligungen vorsieht («Elle prévoit des mesures en vue de l élimination et de la correction des inégalités existantes» / «Prevede provvedimenti per eliminare e compensare svantaggi nei loro confronti»), eine von der blossen rechtlichen Gleichstellung unterschiedliche Gleichstellung, verlangen doch Beseitigung und Ausgleich116 von rechtlich diskriminierenden Bestimmungen keine «Massnahmen», sondern ganz einfach die Ersetzung dieser fehlerhaften Bestimmungen durch solche, die mit dem Grundsatz der rechtlichen Gleichstellung vereinbar sind; ferner sind die Absichten der Urheber der Initiative klar: Sie zielen auch auf die Garantie einer tatsächlichen Gleichstellung117.

Was die anvisierten Bereiche anbelangt, ist der Initiativtext offen. Er konzentriert sich auf keinen bestimmten Bereich gesetzgeberischer Tätigkeit, schliesst aber auch keinen aus; ebenso wenig legt er bestimmte Prioritäten fest. Mit anderen Worten: Die Gesetzgeber sind dazu aufgerufen, in allen Rechtsbereichen zu legiferieren, eingeschlossen diejenigen, welche die Beziehungen zwischen den Privaten normieren (indirekte Drittwirkung der Grundrechte). Angesichts des offenen Charakters dieses Auftrags verfügen die Gesetzgeber jedoch über ein grosses Ermessen, was Rangordnung und Rhythmus in der Umsetzung der Verfassungsbestimmung anbelangt. Je nach politischen Kräfteverhältnissen wird dieser Spielraum somit von Behörde zu Behörde unterschiedlich genutzt werden.

3.1.1.3.2

Zweiter Satz

Der zweite Satz präzisiert den Inhalt des ersten insofern, als er den Grundsatz der Gewährung von Massnahmen zur Beseitigung oder zum Ausgleich118 von Benachteiligungen stipuliert. Dadurch unterstreicht der Initiativtext ausdrücklich einen wichtigen Aspekte der Politik bei der Verwirklichung der Grundrechte: Die Gemeinwesen müssen nicht nur ein Verhalten an den Tag legen, das der Gleichstellung nicht schadet (Pflicht zur Enthaltung), sondern sie müssen darüber hinaus ein aktives Verhalten entwickeln, um die Gleichstellung zu verwirklichen. Indem die Beseitigung (besser: der Ausgleich) bestehender Benachteiligungen verlangt wird, 116 117

Siehe zu diesem Begriff Ziff. 3.1.1.3.2 und die diesbezügliche Bemerkung.

In den auf den Unterschriftenbögen aufgedruckten Kommentaren war ausdrücklich die Rede von «Chancengleichheit» («Dirittto di avere pari opportunita»). Zur Frage der formellen Anpassung des Textes der Volksinitiative an die neue Verfassung und zum Problem der französischen und italienischen Übersetzung konsultiert, hat das Initiativkomitee ausdrücklich präzisiert, dass «das von der Volksinitiative angestrebte Ziel klar die Verwirklichung der Gleichstellung ist, und zwar gleichzeitig in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht».

118 Der deutsche Text als Originaltext verwendet das Substantiv «Ausgleich» (im Italienischen übersetzt mit «compensare»). Der französische Text, welcher den Begriff «correction» verwendet, drückt die Idee des Ausgleichs aber nur annähernd aus. Um diese Bestimmung zu begreifen, ist es deshalb erforderlich, die Idee des «Ausgleichs» vor Augen zu haben.

1758

muss der Staat unter Umständen sogar positive Massnahmen zur Förderung der Gleichstellung ergreifen. Der Artikel belässt dem Gesetzgeber, was die Wahl der Mittel anbelangt, allerdings einen grossen Spielraum, umfasst doch der Begriff «Massnahmen» sowohl Zwangsmittel (Verpflichtung, nach den Bedürfnissen der unterschiedlich Behinderten zu bauen, Beschäftigtenquote usw.) als auch Vorkehren rein anregender Natur (Direkthilfen, Steuererleichterungen oder -vorteile usw.). Die Wahl der Mittel hängt ab vom Ermessensspielraum der Gesetzgeber und bleibt ein politischer Entscheid.

3.1.1.4

Gewährleistung eines subjektiven Rechts (Abs. 3)

Absatz 3 gewährleistet, soweit wirtschaftlich zumutbar, den Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind.

Selbst wenn diese Bestimmung einen eigenen Absatz in der Verfassungsnorm bildet, stellt sie eine Konkretisierung des Absatzes 2 von Artikel 4bis und nicht von Absatz 1 dar. Diese Auffassung wird gestützt durch den Umstand, dass der Initiativtext einer Logik folgt, welche vom Allgemeinen (Abs. 1) zum Besonderen (Abs. 2) geht.

Davon ausgehend, erscheint es klar, dass die Gewährleistung des Zugangs nur die Behinderten im Auge hat119 und nicht alle Personen, welche möglicherweise unter Diskriminierungen gemäss Absatz 1 zu leiden haben.

Wörtlich genommen gewährleistet Absatz 3 des Initiativtextes nicht ausdrücklich das Recht auf den Zugang120, sondern bloss den Zugang zu Anlagen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Obwohl der Begriff «Recht» selbst fehlt, darf dennoch nicht in Abrede gestellt werden, dass diese Bestimmung den Behinderten ein subjektives, direkt auf die Verfassung gestütztes Recht einräumt. Im Grundrechtsbereich kommt die Garantie eines Grundsatzes des materiellen Rechts nämlich in Wirklichkeit der Schaffung eines subjektiven Rechts gleich: Den Zugang zu gewährleisten heisst, ein Recht auf Zugang anzuerkennen. Dasselbe gilt bei der Gewährleistung der Eigentumsgarantie gemäss Artikel 26 Absatz 1 BV, der den Begriff «Recht» ebenfalls nicht erwähnt. Dazu kommt, dass die Urheber der Initiative ihre Auffassung betreffend subjektives Recht in Absatz 3, den sie zum Kernstück ihrer Initiative erhoben haben, unmissverständlich dargetan haben121.

Was den materiellen Geltungsbereich dieses Rechts anbelangt, ist er ebenfalls offen, wie wir das bereits weiter oben hinsichtlich des Auftrags gesehen haben; der Initiativtext schliesst keine Kategorie von Leistungen aus, zieht aber auch keine vor.

Anvisiert sind Werke aller Art (Häuser, Gebäude, Läden, Bahnhöfe, Säle, Stadien, Schwimmbäder, Denkmäler, Parks, Anlagen usw.) sowie auch alle Arten von 119

Vgl. auch das Dossier des Vereins Volksinitiative, «Der Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind ...».

120 Im Gegensatz zum Anspruch auf gleichen Lohn gemäss Art. 8 Abs. 3 dritter Satz BV (Art. 4 Abs. 2 dritter Satz aBV).

121 Dossier des Vereins Volksinitiative, insbesondere: «Nicht auf halbem Wege stehen bleiben ­ Warum wir heute unsere Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» und «Zugang zu Bauten und Anlagen oder Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind ...»; siehe auch die parlamentarischen Beratungen zur Initiative Suter (vgl. Ziff. 2.4.1), die eine Klausel enthielt, welche derjenigen von Abs. 3 des Textes der Volksinitiative sehr ähnlich ist.

1759

Dienstleistungen (Verkehr, Fernmeldewesen, Restaurants, Reisen, Darbietungen, Vergnügungen usw.). Es fällt auf, dass Absatz 3 nicht nur auf die staatlichen Werke und Dienstleistungen, sondern auch auf solche von Privaten gerichtet ist (direkte Drittwirkung). Die Begriffsbestimmung «für die Öffentlichkeit bestimmt» umfasst in der Tat nicht nur die Anlagen und Leistungen von Gemeinwesen, sondern auch diejenigen, welche von den Privaten angeboten werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Begriff «für die Öffentlichkeit bestimmt» der Auslegung bedarf und, namentlich was die Privatpersonen anbelangt, nicht den gesamten privaten Sektor umfasst. Der Begriff könnte beispielsweise mit dem in Artikel 261bis StGB122 verwendeten («Leistung, die für die Allgemeinheit bestimmt ist») zusammenfallen, womit der quasi-öffentliche Bereich gemeint ist, der nicht den der Privatsphäre zustehenden Schutz geniesst.

Absatz 3 kann in seiner Eigenschaft als subjektives Recht direkt vor rechtsanwendenden Behörden angerufen werden, und zwar ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, seinen Gegenstand, seine Tragweite und seine Grenzen, die berufungsberechtigten Personen, Prozessvoraussetzungen usw. zu definieren. Die Regelung aller dieser Fragen, die normalerweise dem Gesetzgeber zukommt, wird hier grundsätzlich den rechtsanwendenden Behörden überlassen. Allerdings ist es schwierig, generell den Grad der Justiziabilität von Absatz 3 vorauszusehen. Dies hängt stark von den Umständen des Einzelfalles ab, namentlich von dessen Natur (richtige Handhabung von bereits bestehenden Leistungen oder Schaffung neuer Leistungen). Es kann in der Tat angenommen werden, dass eine rechtsanwendende Behörde durchaus und ohne sich gesetzgeberische Kompetenzen anzumassen, einen Dienstleistungsanbieter anhält, seine Leistungen im Sinne der Interessen der Behinderten zu erbringen; damit ersetzte er nicht den Gesetzgeber, sondern präzisierte vielmehr die Bedingungen für die Gewährung bereits definierter Leistungen. Umgekehrt verlöre die in Absatz 3 der Initiative enthaltene Garantie viel von ihrer Substanz, sollte die verlangte Leistung ein derart erhebliches Engagement implizieren, dass der Rahmen der herkömmlicherweise gewährten Leistungen gesprengt würde, sodass nicht auszuschliessen wäre, dass die Bestimmung ohne gesetzliche Stütze
toter Buchstabe bleiben könnte123.

Schliesslich ordnet Absatz 3 das Bestehen eines Rechts auf Zugang ausdrücklich seinem wirtschaftlich zumutbaren Charakter unter. Diese Klausel orientiert sich offensichtlich am Prinzip der Verhältnismässigkeit. Nach der Meinung einiger Initianten hätte sie sogar zum Ziel, die Gründe, weswegen eine Leistung abgelehnt werden könnte, ausschliesslich auf wirtschaftliche Erwägungen zu begrenzen124. Das würde bedeuten, dass beispielsweise psychologische Gründe oder Erwägungen im Zusammenhang mit der Landschaft oder mit der Ästhetik oder Geschichte eines Ortes bei der Beurteilung des zumutbaren Charakters einer Leistung nicht berücksichtigt werden könnten. Was uns angeht, sind wir im Gegenteil der Meinung, dass die Klausel des zumutbaren wirtschaftlichen Opfers bloss einen Aspekt des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes ausmacht, und dass der Initiativtext, auch wenn er nur diesen einen Aspekt erwähnt, nicht als die anderen ausschliessend verstanden werden 122 123

SR 311.0; BBl 1992 III 314 Siehe eine Analyse zum Problem der Justiziabilität im Verhältnis zum Anspruch auf positive Leistungen, der sich direkt aus einem Grundrecht ergibt, bei Caroline Klein, La discrimination des personnes handicapées, Diss. 2000, S. 98­112.

124 Siehe im Bericht über die Auswertung der Ergebnisse der Vernehmlassung von 1999 (vgl. Ziff. 2.4.1 oben), die Antworten der verschiedenen Behinderten-Organisationen, Mitglieder des Unterstützungskomitees der Initiative.

1760

darf. Aus der Einfügung von gewissen Präzisierungen in eine rechtliche Bestimmung kann nämlich nicht abgeleitet werden, dass alles, was darin nicht ausdrücklich vorkommt, ausgeschlossen ist (Umkehrschluss). Wir schliessen daraus, dass das unzumutbare wirtschaftliche Opfer nicht das einzige Kriterium ist, unter dessen Aspekt die Garantie des Rechts auf Zugang, wie es die Volksinitiative formuliert, geprüft werden muss.

3.1.2

Direkte Anwendung

Während Absatz 2 der Initiative eine Umsetzung durch den Gesetzgeber erfordert, sind die Absätze 1 und 3 direkt anwendbar. So können das Diskriminierungsverbot und die Klausel betreffend die Gewährleistung eines direkten Zugangs auf Leistungen Wirkungen entfalten, ohne dass eine Vollzugsgesetzgebung erforderlich wäre.

Allerdings bedeutet die direkte Anwendbarkeit nicht, dass der Gesetzgeber seiner Gesetzgebungskompetenz beraubt ist. So ist es durchaus möglich, dass er das Recht auf Zugang zu Anlagen und Leistungen in einem Gesetz konkretisieren könnte, sofern die Verwirklichung dieses Rechts es erforderte (wie dies bei der Gleichstellung von Mann und Frau der Fall war, namentlich hinsichtlich des Anspruchs auf gleichen Lohn)125.

3.2

Anpassung an die neue Verfassung

3.2.1

Eingliederung in die neue verfassungsmässige Systematik

Als Folge des Inkrafttretens der neuen Bundesverfassung muss die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» an die neue verfassungsmässige Systematik angepasst werden. Gemäss Ziffer III des Bundesbeschlusses vom 18. Dezember 1998 über eine neue Bundesverfassung126 werden Änderungen der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 von der Bundesversammlung formal an die neue Verfassung angepasst; der Bundesbeschluss, den sie zu diesem Zweck erlässt, unterliegt nicht dem Referendum.

Da die Volksinitiative ein Grundrecht für die Gleichstellung der Behinderten vorsieht, hat sie einen direkten Bezug zu Artikel 8 BV. Diese Bestimmung stipuliert nämlich den generellen Grundsatz der Rechtsgleichheit (Abs. 1), konkretisiert eine der daraus fliessenden rechtlichen Konsequenzen (Abs. 2), und gewährleistet in den beiden letzten Absätzen spezifisch die Gleichstellung von Mann und Frau (Abs. 3) und die Gleichstellung der Behinderten (Abs. 4). So wie die neue Bundesverfassung für die Gleichstellung von Mann und Frau keine gesonderte Bestimmung vorsieht, so ist es unseres Erachtens auch nicht erforderlich, eine gesonderte Bestimmung über die Gleichstellung der Behinderten darin zu verankern. War eine gesonderte Bestimmung in der Systematik der alten Verfassung von 1874 noch gerechtfertigt (sie enthielt keinerlei Spezialnorm über die Behinderten), trifft dies für die neue Verfassung nicht mehr zu, ansonsten zwei Verfassungsbestimmungen (der aus der Volksinitiative stammende Artikel sowie Artikel 8 Absatz 4, dessen Aufhebung die Initiative nicht verlangt) Gegenstände der gleichen Art mit unterschiedlichen Be125 126

BBl 1993 I 1321 AS 1999 2555

1761

griffen regeln würden. Eine derartige Wirkung wäre unerwünscht und wird von den Initianten auch gar nicht verlangt. Ferner ist nicht einzusehen, warum von zwei Spezialtexten über die Gleichstellung der Geschlechter und der Behinderten der eine in Artikel 8 figurieren würde, der andere ausserhalb bliebe. Wir sind deshalb der Meinung, dass der Sinn der Volksinitiative schon in Artikel 8 BV enthalten ist.

3.2.2

Eingliederung von Absatz 1

Absatz 1 des Initiativtexts übernimmt inhaltlich den Text von Artikel 8 Absatz 2 BV. Da die Aufzählung der Kriterien bekanntlich keinerlei Prioritäten setzt, hat die Tatsache, dass, im Gegensatz zur Volksinitiative, das Alter im Text der neuen Verfassung vor der Sprache erwähnt wird, keine Bedeutung.

Da Absatz 1 der Volksinitiative im geltenden Verfassungsrecht bereits verankert ist, wird er somit gegenstandslos und kann aus dem Text, welcher dem Referendum unterstellt wird, gestrichen werden.

3.2.3

Eingliederung von Absatz 2

Dieser Absatz erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, für die Gleichstellung behinderter Menschen zu sorgen (erster Satz), und Massnahmen zur Beseitigung und zum Ausgleich bestehender Benachteiligungen vorzusehen (zweiter Satz). In materieller Hinsicht gehört Absatz 2 in den Kontext von Artikel 8 Absatz 4 BV. Da der erste Satz von Absatz 2 der Initiative jedoch nicht ausdrücklich in Artikel 8 Absatz 4 BV steht, muss er in diese Bestimmung eingefügt werden, und zwar als erster Satz von Artikel 8 Absatz 4 BV. Der zweite Satz von Absatz 2 der Initiative entspricht praktisch ganz dem geltenden Artikel 8 Absatz 4; da er jedoch detaillierter ist, weil er nicht nur die Beseitigung, sondern auch den Ausgleich bestehender Benachteiligungen vorsieht, muss er den geltenden verfassungsmässigen Text ersetzen.

Was die fehlerhaften Übersetzungen des Begriffs der Gleichstellung im französischen und im italienischen Initiativtext angeht127, sind wir der Meinung, dass sie durch das vorliegende Verfahren nicht richtiggestellt werden können. Es wurde nämlich nicht geschaffen, um Irrtümer in den bereits von den Wählern unterzeichneten Initiativtexten zu korrigieren. Umgekehrt ergibt sich aus der Auslegung des Textes im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte selbst, dass Absatz 2 erster Satz die Gleichstellung und nicht nur die Gleichberechtigung meint128.

3.2.4

Eingliederung von Absatz 3

Dieser Absatz garantiert neu ein subjektives Recht auf Zugang zu Anlagen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Da er nur die Behinderten meint129, muss er, was die Systematik anbelangt, in diejenige Bestimmung integriert werden,

127 128 129

Vgl. Ziff. 3.1.1.3.1 Vgl. Ziff. 3.1.1.3.1 in fine Vgl. Ziff. 3.1.1.4

1762

welche spezifisch die Gleichstellung der Behinderten garantiert, das heisst in Artikel 8 Absatz 4.

3.2.5

An die neue Verfassung angepasster Text

Im Einverständnis mit dem Initiativkomitee schlagen wir vor, dass die Volksinitiative, integriert in die neue Verfassung an Stelle des geltenden Artikels 8 Absatz 4, Volk und Ständen mit folgendem Wortlaut zur Abstimmung unterbreitet wird: Art. 8 Absatz 4 BV 4

Das Gesetz sorgt für die Gleichstellung behinderter Menschen. Es sieht Massnahmen zur Beseitigung und zum Ausgleich bestehender Benachteiligungen vor. Der Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, ist soweit wirtschaftlich zumutbar gewährleistet.

3.3

Folgen der Initiative

3.3.1

Positive Aspekte

Ein positiver Aspekt der Initiative besteht in der Einführung eines besonderen und detaillierten Gleichstellungsgrundsatzes zu Gunsten der Behinderten, wodurch die Notwendigkeit einer Politik der Förderung der Gleichstellung unterstrichen wird.

Eine solche Garantie kann eine dynamische und stimulierende Wirkung auf die Entwicklung der verschiedenen künftigen Gesetzgebungen (von Bund und Kantonen) ausüben.

Ferner könnte, zumindest beim ersten Hinsehen, angenommen werden, dass die Gewährleistung eines subjektiven Rechts auf Zugang zu Bauten und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind ­ dies ist die primäre Stossrichtung der Initiative ­, den Vorteil einer gewissen Einfachheit und Effizienz für sich beanspruchen kann. Einfachheit insofern, als dieses subjektive Recht dazu beitragen könnte, die Zahl der Erlasse einzudämmen. Effizient insofern, als es geeignet wäre, eine gezielte Verbesserung der Lage der behinderten Personen zu bewirken, das heisst in Fällen offensichtlicher Mängel.

3.3.2

Negative Aspekte

Die negativen Aspekte ergeben sich primär aus der verfassungsmässigen Gewährleistung einer Rechts auf Zugang zu Bauten und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Denn, wie man bereits bei der verfassungsmässigen Garantie des gleichen Lohns für gleichwertige Arbeit (Art. 8 Absatz 3 BV) gesehen hat, ist die Umsetzung von direkt auf der Verfassung basierenden Rechtsansprüchen durch die rechtsanwendenden Behörden nicht einfach: Bis zum Inkrafttreten des Bundesgeset-

1763

zes über die Gleichstellung von Mann und Frau vom 24. März 1995130 haben die Gerichte oft gezögert, ja sich geweigert, aus dem subjektiven Recht auf gleichen Lohn zwingende Wirkungen namentlich bezüglich der Privaten zu ziehen131. Einer der Gründe für diese Zurückhaltung ist die stark verankerte Auffassung, dass es, getreu der Gewaltenteilung im Innern des Staates, Sache des Gesetzgebers ist, politische Fragen zu entscheiden. In dieser Eigenschaft obliegt es ihm, den Anwendungsbereich und die Tragweite einer Bestimmung, die Anspruchsberechtigten, die Schuldner einer Verpflichtung, die Grenzen eines Rechts, die massgebenden Kriterien bei der Abwägung divergierender Interessen, festzulegen. Alle diese Fragen harren der ausgewogenen Lösungen, die das Gesetz demokratisch formuliert. Wenn das Postulat der Gleichstellung zu Gunsten der Behinderten die blosse rechtliche Gleichstellung überschreitet und auf positive Leistungen abzielt, die sowohl von den Privatpersonen als auch von den Gemeinwesen erbracht werden müssen, verlangen demokratische Legitimierung und Rechtssicherheit, dass diese Fragen vom Gesetzgeber gelöst werden . Der Bundesrat hat immer schon die Idee unterstützt, dass ein Gesetz, welches den Gleichstellungsgrundsatz zu Gunsten der Behinderten umsetzt, einer schwierig anzuwendenden verfassungsmässigen Bestimmung vorzuziehen ist132.

Zur Illustration seien hier einige Fragen aufgeworfen, worauf die Verfassungsbestimmung keine Antwort gibt und die von der Rechtsprechung gelöst werden müssten: Wer gilt als behinderte Person? Handelt es sich um invalide Personen im Sinne des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, oder ist der Kreis der anvisierten Personen grösser? Was ist unter Bauten, was unter Anlagen, was unter Leistungen zu verstehen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, und sind mit der Bestimmung alle diese Einrichtungen und Leistungen gemeint, oder gibt es Grenzen bezüglich Volumen und Kapazität, ausserhalb deren die Verfassungsbestimmung nicht anwendbar ist? Welches ist die Art des gewährleisteten Zugangs, und zu welchen Bedingungen wird dieser Zugang gewährt? Welche anderen Interessen sind zu berücksichtigen, und welches sind die Kriterien, die geeignet sind, um in die Abwägung der gegenteiligen Interessen einzufliessen? Ist eine Übergangsfrist einzuhalten, bevor von den
Gemeinwesen oder von den Privatpersonen verlangt wird, dass sie den Anforderungen an die Verfassungsbestimmung Folge leisten? Wer ist gehalten, einen den Bedürfnissen der Behinderten angepassten Zugang zu gewährleisten? An welche Behörde muss man sich wenden und in welchem Zeitpunkt oder bei welcher Gelegenheit? Wer hat ein Beschwerderecht? Wie man sieht, können alle diese Fragen ganz unterschiedlich beantwortet werden, und zwar ohne dass damit gegen die Idee der Gleichstellung verstossen würde. Ist ein derart grosser Auslegungsspielraum gegeben, obliegt es mithin dem Gesetzgebers, eine angemessene Auswahl zu treffen und die Grenzen des Rechts auf Gleichstellung festzulegen.

Alle diese Unsicherheiten haben einen starken Einfluss auf die Beurteilung der wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen der Volksinitiative. Wir beschränken uns hier darauf, sie aufzuzeigen, und verweisen im Übrigen auf das Kapital der Botschaft, worin die wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen des Gesetzesentwurfs behandelt werden133.

130 131 132 133

SR 151.1 FF 1993 I 1248 AB 1998 NR 1801 Vgl. Ziff. 5

1764

Überdies hätten die Verwaltungs- und Gerichtsbehörden mit einer Mehrbelastung zu rechnen, da die Umsetzung der Initiative in hohem Masse von der Rechtsprechung dieser Behörden abhängt.

Die Initiative erfasst bezüglich Bauten alle für die Öffentlichkeit bestimmten Gebäude, einschliesslich der bereits bestehenden. Sie verlangt also die Anpassung der Infrastrukturen vom Zeitpunkt an, in dem die Initiative durch Volk und Stände angenommen wird.

Sicher ist weiter, dass die Initiative Privatpersonen weit stärker in die Pflicht nimmt als der Gegenentwurf: Privatpersonen sind derselben Anpassungspflicht unterstellt wie die Gemeinwesen. Die einzige Begrenzung des Geltungsbereichs ist durch das Kriterium der Bestimmung für die Öffentlichkeit gegeben. Wie nachfolgend dargelegt, differenziert demgegenüber der Gesetzesentwurf zwischen Dienstleistungen, die von Privaten angeboten werden (Art. 7 Abs. 3), oder von einem Gemeinwesen (Art. 7 Abs. 2). Private unterliegen nur einem Diskriminierungsverbot, während die Gemeinwesen verpflichtet sind, ihre Dienstleistungen auf die Bedürfnisse der Behinderten auszurichten134.

Genaue Kostenschätzungen für die Eigentümer von Gebäuden und Anlagen sowie die Anbieter von Dienstleistungen lassen sich nicht anstellen, da nicht vorweggenommen werden kann, wie der Begriff der wirtschaftlichen Zumutbarkeit durch die rechtsanwendenden Behörden ausgelegt würde.

Eine sofortige und umfassende Anpassung des öffentlichen Verkehrs würde Zusatzkosten von rund 4 Milliarden Franken verursachen. Die sofortige Umstellung ohne Rücksicht auf bestehende Infrastrukturen und Ersatzzyklen für Fahrzeuge wäre sicher für zahlreiche Verkehrsunternehmen wirtschaftlich nicht zumutbar. Zu welcher Etappierung der Anpassungen die Rechtsprechung auf Grund des Verhältnismässigkeitsprinzips führen würde, lässt sich indessen zahlenmässig nicht festlegen. Für weitere Einzelheiten der Kostenschätzung im Verkehrsbereich wird auf die Ausführungen in Ziffer 5.4.2 verwiesen.

Ausgehend von den finanziellen Auswirkungen des Gesetzesentwurfs scheint es offensichtlich, dass die Volksinitiative wesentlich höhere Kosten verursachen würde.

Hinsichtlich des von der Volksinitiative vorgeschlagenen Gesetzgebungsauftrags (Art. 8 Abs. 4 neu) sind wir der Meinung, dass er im Vergleich zum geltenden Artikel 8 Absatz 4 BV keine
entscheidende qualitative Änderung mit sich bringt. Die geltende Bestimmung ist genügend weit und offen gehalten, um eine die Gleichstellung Behinderter begünstigende Gesetzgebung zu erlauben. Vor allem erlaubt sie auch, auf Gesetzesebene Rechtsansprüche zu formulieren; damit werden den behinderten Personen die erforderlichen Mittel eingeräumt, um den im Gesetz stipulierten Rechten Nachachtung zu verschaffen. Zu diesem Punkt sei auf das Kapitel über die Verfassungsmässigkeit des Gesetzesentwurfs verwiesen135.

134 135

Vgl. Erläuterungen in Ziff. 4.3.2.

Vgl. Ziff. 8.1

1765

3.4

Antrag: Ablehnung der Initiative und Vorlage eines indirekten Gegenentwurfs

Wie wir weiter oben gesehen haben, würde die Umsetzung des subjektiven Rechts, das, vorbehältlich der Zumutbarkeit, einen Zugang zu Bauten und Anlagen oder die Inanspruchnahme von Einrichtungen und Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, gewährleistet, praktische, schwierig zu lösende Probleme stellen; damit verbunden wären gravierende Kostenfolgen für viele Privatpersonen, Firmen und private Organisationen, sowie schliesslich auch für die Gemeinden, die Kantone und den Bund. Ferner schafft die Unberechenbarkeit der Verpflichtungen, welche die Rechtsprechung allenfalls aus diesem Recht ableiten würde, eine Rechtsunsicherheit, die Eigentümern und Leistungserbringern, seien sie nun Privatpersonen oder Gemeinwesen, kaum zumutbar wäre. Die Gewährleistung eines subjektiven Rechts auf Stufe Verfassung ist in einem derart komplexen Bereich nicht der richtige Weg, um die Gleichstellung zu fördern. Genau diese Überlegungen haben uns im Übrigen bewogen, bei den parlamentarischen Beratungen zu Artikel 8 Absatz 4 BV denjenigen Anträgen zu opponieren, die auf die Einführung eines subjektives Rechts auf Verfassungsebene abzielten136.

Aus ähnlichen Gründen wäre es nicht angemessen, der Volksinitiative einen direkten Gegenvorschlag entgegenzusetzen, das heisst einen Text mit Verfassungsrang, nachdem eine Gesetzgebung zu Gunsten der Gleichstellung der Behinderten in der geltenden Verfassung bereits eine genügende Grundlage findet137.

Um dem eigentlichen Ziel der Volksinitiative, nämlich die Förderung der Gleichstellung der Behinderten ­ ein Ziel, welches wir vollumfänglich unterstützen ­ gerecht zu werden, erscheint uns die Ausarbeitung eines Gesetzes die richtige Lösung.

Ein Bundesgesetz hat den Vorteil, dass es die Bereiche, in welchen ein Handlungsbedarf gegeben ist, konkret festlegt; ferner definiert es die Tragweite der Massnahmen, konkretisiert den Grundsatz der Verhältnismässigkeit und bestimmt den Rhythmus der erforderlichen Anpassungen. In allen diesen Fragen ergibt sich politischer Handlungsbedarf, somit ist es auch in erster Linie Sache des Gesetzgebers, darüber zu befinden.

Somit beantragen wir den Räten, die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» abzulehnen, und einen indirekten Gegenvorschlag in der Form eines Gesetzes, das den Gesetzgebungsauftrag von Artikel 8 Absatz 4 BV umsetzt, vorzulegen.

4

Indirekter Gegenentwurf: Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz)

4.1

Vorentwurf und Vernehmlassung 2000

4.1.1

Vorentwurf

Im Dezember 1999 haben wir das EJPD beauftragt, den Vorentwurf für ein Gesetz auszuarbeiten, das den Gesetzgebungsauftrag von Art. 8 Abs. 4 BV konkretisiert.

Der Vorentwurf wurde im Laufe der ersten Hälfte des Jahres vorbereitet und Anfang 136 137

AB 1998 NR 678; SR 992 Vgl. Ziff. 8.1.1

1766

Juni 2000 in die Vernehmlassung geschickt. Die Vernehmlassung wurde auf breiter Basis genutzt138.

4.1.2

Ergebnisse der Vernehmlassung

Grundsatz eines Gesetzes und generelles Konzept des Entwurfs Der Vorentwurf wurde von der Mehrheit der befragten Kantone, politischen Parteien und Organisationen gut aufgenommen, und zwar was den Grundsatz eines Gesetzes an sich als auch dessen allgemeine Stossrichtung und dessen Zweck anbelangt.

Ferner wurde der rasche Vollzug des Verfassungsauftrags begrüsst. Die dem Vorentwurf zuteil gewordene Unterstützung hat verschiedene Gründe: Nach Auffassung von drei Kantonen (GE, NW, VS) und zehn Organisationen entspricht der Vorentwurf einer Notwendigkeit; zwei Kantone (AG, OW) und eine Partei (FDP) unterstützen den Vorentwurf nur insoweit, als er einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» bildet. Vollumfänglich abgelehnt in der aktuellen Form wird der Entwurf von drei Kantonen (AI, SH, SG). Zwei politischen Parteien (CSP, PdAS) und 10 Organisationen ziehen den Entwurf DOK vor139.

Zweck (Art. 1) Zwei Kantone (AG, GE) und sechs Organisationen billigen ausdrücklich den Zweck des Vorentwurfs und seine Formulierung. Verschiedene Vernehmlasser verlangen, dass der Zweck präziser umschrieben wird. Zehn Fach- und andere interessierte Organisationen wünschen eine breitere Begriffsumschreibung. Wieder andere wünschen eine eigentliche Generalklausel (keine abschliessende Aufzählung).

Definition der behinderten Person (Art. 2) Zwei Kantone (GE, SO) und fünf Organisationen billigen ausdrücklich den Grundsatz einer Definition oder die vorgeschlagene Formulierung. Hingegen ist für andere befragte Kreise die Definition zu weit und könnte Auslegung und Anwendung der Bestimmung erschweren. Während einige der befragten Kreise (vor allem die CVP und den Behinderten nahestehende Organisationen) die Tatsache kritisieren, dass die Definition auf einer Aufzählung der Arten von Behinderungen (physische, psychische, geistige) gründet, bedauern andere Kreise (vor allem AG, GR, VD und verschiedene Organisationen), dass der Vorentwurf die wahrnehmungs- und sprachbedingten Behinderungen überhaupt nicht erwähnt. Mehrere Kreise schlagen eine offene Klausel vor, oder eine Klausel, welche die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben generell vorsieht.

138

Vgl. den Bericht vom 11. Dezember 2000 über die Auswertung der Ergebnisse der Vernehmlassung zum Vorentwurf des Bundesgesetzes über die Beseitigung von Benachteiligungen der Menschen mit Behinderungen. Dieser Bericht kann auf der Internetseite des Bundesamtes für Justiz konsultiert werden (http://www/bj.admin.ch).

139 Der Verein Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» und die Konferenz der Dachorganisationen der privaten Invalidenhilfe haben anlässlich des Vernehmlassungsverfahrens zum Vorentwurf einen eigenen Gesetzesentwurf über die Gleichstellung der Behinderten ausgearbeitet (Entwurf DOK).

1767

Geltungsbereich (Art. 3) Fünf Behinderten nahe stehende Organisationen billigen ausdrücklich den vorgeschlagenen Geltungsbereich, während verschiedene Vernehmlasser (vor allem GE, VS, SP, PdAS) ihn als zu einengend erachten. Umgekehrt finden ihn verschiedene, insbesondere den Verkehrsbetrieben und der Wirtschaft nahe stehende Kreise als zu weit und zu wenig präzise gefasst. Gewisse Kreise bedauern ausdrücklich, dass die Bereiche Beschäftigung und Lehre vom Geltungsbereich ausgeschlossen sind.

Zwei Kantone (BE, ZG) und eine Fachorganisation billigen ausdrücklich die Anwendung des Gesetzesentwurfs auf die Bauten und Anlagen. Zwei Kantone (BS, AI), die Schweizerische Bau-, Planungs- und Umweltschutzdirektoren-Konferenz, die FDP und ein Spitzenverband haben die Verfassungsmässigkeit einer Bundesnorm in diesem Bereich bezweifelt, sei es mit Blick auf die verfassungsmässige Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, sei es auf Grund von Artikel 8 Absatz 4 BV bezüglich der Drittwirkung. Für zahlreiche Kreise ist der Begriff «umfassend renoviert» zu unklar und führt entweder zu einer Rechtsunsicherheit oder zu praktischen Schwierigkeiten. Dieser Begriff muss in einem Gesetz im formellen Sinne klar definiert werden. Die CVP und die FDP schlagen vor, den Begriff «umfassend» in Abhängigkeit zu den Renovationskosten respektive zum Verkehrswert der Baute oder der Anlage zu definieren. Was die Fach- oder anderen interessierten Organisationen anbelangt, finden sie den Geltungsbereich zu restriktiv und wünschen, dass er auf alle Bauten und Anlagen ausgedehnt wird, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind; gewisse Organisationen verlangen auch die Einführung einer maximalen Anpassungsfrist. Schliesslich schlägt der Kanton Tessin die Einführung von Anreizmassnahmen im Gesetzesentwurf vor.

Die Anwendung des Gesetzesentwurfs auf Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind, wird von fünf Organisationen ausdrücklich gebilligt. Umgekehrt finden die Kantone GL und SH diese Massnahmen als viel zu restriktiv; der Kanton GR und drei interessierte Organisationen verlangen die Einführung von besonderen Massnahmen für die Zahnradbahnen, Standseilbahnen, Kabinenbahnen und die Skilifte. Einige befragte Kreise bedauern auch das Fehlen eines «dies a quo», wie dies die Buchstaben a und
c vorsehen.

Mit Ausnahme des Kantons ZG, der die Anwendung des Gesetzesentwurfs auf Wohngebäude mit mehr als acht Wohneinheiten ausdrücklich billigt, traf diese Begrenzung auf acht Wohneinheiten auf zahlreiche Kritik. Der Kanton BS findet sie ungerechtfertigt; drei Kantone (BE, NW, SO) und zehn Organisationen erachten sie als zu hoch. Demgegenüber finden sie der Kanton GR, drei Spitzenverbände und eine andere interessierte Organisation als zu tief. Die FDP schlägt vor, Wohnbauten vom Geltungsbereich auszunehmen.

Die Anwendung des Gesetzesentwurfs auf Leistungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, wird von der FDP, der SVP und einer interessierten Organisation abgelehnt. Verschiedene Kreise sind der Meinung, dass die Beziehung zwischen dieser Bestimmung und denjenigen von Buchstaben a und b des gleichen Artikels vertieft werden muss.

Was die übrigen quantitativen Begrenzungen anbelangt, die gewisse Zwecke vom Geltungsbereich des Gesetzes ausnehmen (weniger als 50 Plätze oder Fläche von 100 m2), schlagen die Kantone BE, BL, SZ und VD sowie drei Fachorganisationen und eine andere interessierte Organisation ihre Aufhebung vor. Die Kritiken betreffen vor allem den unangemessenen und unausgeglichenen Charakter der zahlenmä1768

ssigen Vorgaben sowie die Tatsache, dass diese Einschränkungen im Vergleich mit den kantonalen Baugesetzgebungen einen Schritt rückwärts bedeuten. Diese Kreise schlagen vor, dass diese zahlenmässigen Begrenzungen entweder erhöht werden oder dass eine Generalklausel eingeführt wird, welche die Respektierung des Verhältnismässigkeitsprinzips zur Pflicht macht. Was den Ausschluss der Dienstleistungen des Fernmeldewesens vom Geltungsbereich anbelangt, wurde er von keinem Kanton und keinem der befragten Kreise gebilligt.

Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit Die Respektierung des Verhältnismässigkeitsprinzips muss im Entwurf als Leitlinie dienen. Die im Gesetzesentwurf vorgeschlagenen Massnahmen müssen finanziell zumutbar und technisch realisierbar sein. Die grosse Mehrheit der Vernehmlasser anerkennt die Notwendigkeit, den Verhältnismässigkeitsgrundsatz zu respektieren.

Sechs Fachorganisationen oder den befragten Kreisen nahestehende Organisationen sind jedoch der Auffassung, dass das Interesse an der Verwirklichung des Grundrechts der Gleichstellung der behinderten Personen den kostenbedingten Überlegungen vorzugehen habe.

Probleme der subjektiven Rechte: Variante 1 (ohne Art. 5a) und Variante 2 (mit Art. 5a) Einundzwanzig Kantone, vier politische Parteien (CSP, LPS, FDP, SVP), vier Spitzenverbände, neun andere interessierte Organisationen, die Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs und die Schweizerische Bau-, Planungsund Umweltschutzdirektoren-Konferenz, der Rat der Eidgenössischen Technischen Hochschulen, die Post, fünf besonders betroffene Organisationen des öffentlichen Verkehrs oder der Eigentümer lehnen die subjektiven Rechte ab. Gewisse Vernehmlasser lehnen sie nicht grundsätzlich, sondern wegen der damit verbundenen Probleme ab (z.B. BE und SO). Hingegen sind vier Kantone (BL, FR, TI, VS), zwei politische Parteien (CVP, SP), eine Eidgenössische Kommission, drei Spitzenverbände, 16 Fachorganisationen und zehn weitere Organisationen dafür. Gesamthaft gesehen wird die Gewährung von subjektiven Rechten an die Behinderten mit 48 gegen 36 verworfen. Die Gegner argumentieren vor allem, dass die subjektiven Rechte zu unflexibel seien, dass sie Vollzugsprobleme und eine Überlastung der Gerichte mit sich brächten. Zwei Kantone (GR, SH) und eine andere interessierte Organisation
befürchten stark, dass der Vorentwurf den Behinderten einen Sonderstatus einräume; einige Kantone (AR, NE) sind sogar der Meinung, es handle sich um unverhältnismässige Rechte, verbunden mit einer Ungleichbehandlung. Was die finanziellen Konsequenzen der Gewährung dieser Rechte betrifft, befürchten vier Kantone (AG, AR, SZ, TG), die SVP, ein Spitzenverband und eine andere interessierte Organisation, dass sie erheblich seien. Die Kantone AG und NE erwägen eine Überprüfung dieser Rechte, wenn die wirtschaftlichen Folgen bekannt sind. Das Hauptargument der Befürworter von subjektiven Rechten ist dasjenige der Unbrauchbarkeit des Gesetzesentwurfs, wenn er zwar die Benachteiligungen aufführt, gleichzeitig aber keine Möglichkeit gibt, sie zu bekämpfen. Die Kantone BE und SO sowie drei andere interessierte Organisationen ziehen eine Verstärkung des Beschwerderechts der Organisationen vor. Drei Fachorganisationen und die FDP haben die Schaffung eines Schiedsgerichts oder einer Ombudsstelle vorgeschlagen.

Auf der Ebene des Verfahrensrechts schlägt die CVP eine Umkehrung der Beweislast vor, wie dies Artikel 6 des Gleichstellungsgesetzes vorsieht.

1769

Massnahmen im Bereich des Bundespersonals (Art. 6) Sieben Kantone (GE, NW, SO, SZ, VD, VS, ZG), drei politische Parteien (CVP, SP, SVP), zwei Eidgenössische Kommission, zwei Spitzenverbände, sieben Fachorganisationen und vier andere interessierte Organisationen billigen ausdrücklich die Massnahmen bezüglich des Bundespersonals. Für die Mehrheit der konsultierten Kreise, die zu diesem Punkt Stellung bezogen haben, muss die Bestimmung umformuliert werden: Für die Kantone GR und VS, eine eidgenössische Kommission, ein Spitzenverband, acht Fach- und eine weitere Organisationen ist Artikel 6 zu restriktiv und muss auf den ganzen öffentlichen und privaten Sektor ausgedehnt werden.

Hinsichtlich des Privatsektors müssen Anreizmassnahmen vorgesehen werden. Zwei politische Parteien (LPS, FDP), drei Spitzenverbände und eine interessierte Organisation lehnen das System von Art. 6 hingegen ab. Schliesslich wird das Kriterium der «gleichwertigen Qualifikationen» kritisiert; die SP, sieben Fachorganisationen und vier andere interessierte Organisationen ziehen das Kriterium der «genügenden Qualifikationen» vor.

Probleme der subjektiven Rechte in Verbindung mit den Bestimmungen über die Massnahmen im Bereich des Bundespersonals ­ Variante 1 (ohne Art. 6a) und Variante 2 (mit Art. 6a) Acht Kantone (GL, GR, JU, OW, SO, TG, UR, ZH), drei politische Parteien (LPS, FDP, SVP), eine eidgenössische Kommission, drei Spitzenverbände, die Post und drei weitere Organisationen lehnen die vorgeschlagene Regelung des Rechtsschutzes ab, der die Anstellung von Behinderten durch den Bund gewährleistet. Hingegen akzeptieren vier Kantone (GE, LU, NW, VD), drei politische Parteien (CSP, CVP, SP), eine eidgenössische Kommission, drei Spitzenverbände, 15 Fach- und acht andere interessierte Organisationen den vorgeschlagenen Rechtsschutz; das Verhältnis beträgt insgeseamt 34 Befürworter zu 19 Gegnern. Die Gegner sind der Meinung, dass der Rechtsschutz zu unflexibel ist, dass sie eine Überlastung der Gerichte und Ungleichbehandlungen mit sich bringen. Das Hauptargument der Befürworter entspricht demjenigen, wie es bei der Einführung von subjektiven Rechten im allgemeinen vorgebracht wurde (vgl. Ziffer 6, zu Art. 5a).

Das Beschwerderecht der Behindertenorganisationen (Art. 8) Sechs Kantone (BE, GE, LU, NW, SO, TG), die SP, die Konferenz
der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs und die Schweizerische Bau-, Planungs- und Umweltschutzdirektoren-Konferenz, eine eidgenössische Kommission, vier Spitzenverbände, zehn Fach- und drei andere Organisationen billigen ausdrücklich die Anerkennung eines Beschwerderechts der Behindertenorganisationen. Die Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs und die Schweizerische Bau-, Planungs- und Umweltschutzdirektoren-Konferenz machen den Vorteil dieses Instruments gegenüber subjektiven Rechten geltend. Ein Kanton (AG, mit Blick auf den Geltungsbereich des Vorentwurfs und der verlangten Voraussetzungen), die FDP, die SVP, drei Spitzenverbände, sowie vier weitere Organisationen widersetzen sich diesem Beschwerderecht. Die Gegner sind der Auffassung, dass die Verwirklichung von zahlreichen Projekten verzögert würde, die finanziellen Auswirkungen noch nicht bekannt seien und dass dieses Recht eine Überlastung der Gerichte mit sich bringen werde. Die FDP und eine Organisation aus Verkehrskreisen schlagen vor, dass dieses Beschwerderecht durch ein Anhörungsrecht ersetzt werde; die Kantone BE und SO hingegen fordern die Verstärkung des Beschwerderechts der Organisationen, damit es als Alternative zu den subjektiven Rechten gemäss Artikel 1770

5a dienen könne. Auf Verfahrensebene schlagen zwei Fach- und drei andere Organisationen eine Umkehr der Beweislast zu Gunsten der behinderten Person vor. Die Wahrscheinlichkeit der Benachteiligung soll genügen. Fünf Fach- und vier andere interessierte Organisationen missbilligen die dem Bundesrat übertragene Kompetenz, die beschwerdelegitimierten Organisationen zu bezeichnen, ebenso wie die Bedingung fünfjähriger Tätigkeit; diese Frist muss verkürzt werden. Zahlreiche Kreise fordern eine Überprüfung der Bestimmung, um sie praktikabler zu machen oder ihren Geltungsbereich auszudehnen. Mehrere befragte Kreise schlagen vor, dass dieses Beschwerderecht in das kantonale Verfahrensrecht eingebaut werde.

Finanzhilfen für die Förderung von Programmen (Art. 9 Abs. 3) Verschiedene Vernehmlasser haben das Fehlen einer Koordination oder einer klaren Abgrenzung dieser Bestimmung mit den Artikel 73 und 74 IVG kritisiert oder darauf hingewiesen, dass eine Abstimmung der verschiedenen Massnahmen notwendig sei (so AR, BL, BS, FR, LU, NE, OW, TG, VD, VS; CVP, FDP und UVS).

Besondere Bestimmungen für die Kantone (Art. 11) Diese Bestimmung gab Anlass zu zahlreicher Kritik: Mehrere Kantone (AG, BE, BL, BS, GL, NE OW, SZ, ZG) haben die Intervention des Gesetzesentwurfs in ihren Zuständigkeitsbereich vehement kritisiert; andere Kreise hingegen sind der Meinung, dass der Bund zu vorsichtig sei und sich zu stark begrenze.

Für eine politische Partei (CVP) und zahlreiche Fachorganisationen oder interessierte, den Behinderten nahe stehende Organisationen muss der Entwurf den Grundsatz der integrierten Schulung einführen oder den freien Zugang zum Unterricht in den Regelklassen gewährleisten; für gewisse Kreise (insbesondere GR) ist dies bereits ab dem Kindergarten vorzusehen. Drei Fach- und drei andere interessierte Organisationen verlangen, dass der Entwurf die Kantone verpflichtet, aus personeller und organisatorischer Sicht die Bedingungen zu schaffen, welche einen Unterricht in den Regelklassen erlauben. Nach dem Kanton TI, vier Fach- und zwei anderen interessierten Organisationen soll der Entwurf nur die Leitlinie der integrierten Schulung definieren und deren Vollzug den Kantonen überlassen. Auch müssen Modalitäten für Koordination und Abgrenzungen mit Artikel 19 IVG gefunden werden (AR, BS, FR, NW, TG, UR; CVP;
Konferenz der IV-Stellen). Die Tatsache, dass nur zwei Arten von Behinderungen (Taubheit und Blindheit) oder eine einzige Kommunikationsmethode für die Gehörbehinderten (Gebärdensprache) ins Auge gefasst werden, wird von zahlreichen befragten Kreisen kritisiert.

Änderung geltenden Rechts (Art. 12) Die eingegangenen Antworten betreffen in erster Linie die vorgeschlagenen Änderungen im Bereich der direkten Bundessteuern und der Harmonisierung der direkten Steuern (Verzicht auf Franchise beim Abzug der Invaliditätskosten oder Einführung eines neuen Sozialabzugs für Betreuungsarbeit). Für die Kantone GR, AG, LU, NW, UR, SZ, ZG und ZH sowie für die CVP, FRSP und CP sind diese Änderungen nicht erwünscht, weil sie das Steuersystem für die Privaten und die Steuerverwaltungen noch komplizierter machen, weil sie neue Ungleichheiten mit sich bringen oder weil sie dem System der direkten Bundessteuer widersprechen, das sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen und den effektiven Kosten, nicht dem entgangenen Verdienst richtet. Nach AG, GE und NE ist die Aufhebung der Franchise zu wenig zielgenau, indem auch nicht behinderte Menschen davon

1771

profitieren. Die Kantone NW und VD fordern ein System mit degressivem Abzug, während die Kantone BS und LU dies ausdrücklich ablehnen.

Anpassungsfristen für den öffentlichen Verkehr Die vorgeschlagenen Anpassungsfristen werden von sechs insbesondere behinderten Kreisen nahe stehenden Organisationen ausdrücklich gebilligt. Hingegen sind die Fristen für zahlreiche Kantone (AR, BE, BL, BS, FR, GE, GR, SH, SZ, UR, VD, ZH), die FDP, den Schweizerischen Städteverband und eine andere interessierte Organisation zu kurz, und die Anpassungen wären nur unter Inkaufnahme unverhältnismässiger Kosten möglich. Die Änderungsvorschläge beschlagen in erster Linie die Verlängerung und die Flexibilität der Fristen (vor allem BL, BE, GR, OW, UR, VD, ZG, ZH), den Verzicht auf eine Anpassungspflicht für Bauten, Anlagen und Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr und die Einführung einer Unterscheidung zwischen den verschiedenen Fahrzeugtypen (vor allem FR). Schliesslich schlagen der Kanton SH, die Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs, die SVP und zwei interessierte Organisationen vor, dass der Entwurf überhaupt keine Anpassungsfrist vorschlägt.

4.1.3

Überarbeitungen des Vorentwurfs

Verglichen mit dem Vorentwurf bringt der Gesetzesentwurf zwei Neuerungen: Die Rechtsansprüche (Art. 7, vorgesehen erst bei Variante 2 des Vorentwurfs) und die Finanzhilfen des Bundes an die durch den Gesetzesentwurf verursachten zusätzlichen Kosten (Art. 17).

Im Übrigen wurde der Vorentwurf namentlich in den folgenden Punkten überarbeitet: ­

Er wurde mit einem neuen, kurzen Titel versehen, der auf den Gesetzeszweck hinweist (Gleichstellung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten).

­

Die Definition des Gesetzeszwecks (Art. 1) wurde stärker an die Perspektive von Artikel 8 Absatz 4 BV angeglichen (Gleichstellung an Stelle von Integration).

­

Der Artikel über die Begriffsbestimmungen (Art. 2) umfasst nun auch die Umschreibungen der Benachteiligung im Allgemeinen (alter Art. 4 Abs. 2), und im Besonderen (alter Art. 5 Abs. 1 und 2); er definiert ebenfalls den Begriff des Erneuerns (bislang nicht definiert).

­

Der Artikel über den Geltungsbereich (Art. 3) wurde einerseits in dreierlei Hinsicht ausgeweitet: 1. Er zählt aus Gründen der Systemlogik alle vom Entwurf anvisierten und seinen allgemeinen Prinzipien unterstellten Bereiche auf (somit auch die Zivilluftfahrt, die Arbeitsverhältnisse des Bundespersonals); 2. Er umfasst Gebäude mit mehr als 50 Arbeitsplätzen; 3. Er hebt die quantitativen Restriktionen bezüglich Grösse und Anzahl Plätze auf, da für die Mehrheit der befragten Stellen sie nicht als gerechtfertigt oder geeignet fanden; anderseits wurde der Geltungsbereich auch begrenzt, und zwar insofern, als das Gesetz Skilifte sowie Sesselbahnen und Gondelbahnen mit weniger als 9 Plätzen nicht mehr einbezieht.

­

Ein neuer Artikel behält weitergehende kantonale Bestimmungen vor (Art. 3a).

1772

­

Die Bestimmungen, die das Verhältnismässigkeitsprinzip konkretisieren (Art. 5a Abs. 3 und 4), werden nun in einer eigenständigen Bestimmung aufgeführt (Art. 8).

­

Die Bestimmung betreffend die Massnahmen im Bereich des Bundespersonals (Art. 9) wurde geändert.

­

Die Bestimmung, welche in diesem gleichen Bereich Rechtsansprüche vorsieht (Art. 6a), wurde gestrichen.

­

Der Artikel über das Beschwerderecht von Behindertenorganisationen (Art. 11) wurde insofern geändert, als das Beschwerderecht an die Verfügung über die Plangenehmigung geknüpft wurde (dort, wo ein solches Verfahren besteht).

­

Der Artikel, der Finanzhilfen für die Förderung der Gleichstellung der Behinderten vorsieht (Art. 12 Abs. 3) wurde im Sinne der durch den NFA entwickelten Grundsätze präzisiert.

­

Der Artikel über den Grundschulunterricht (Art. 14) wurde in dem Sinne revidiert, als nicht nur die schwerhörigen und sehschwachen Personen, sondern auch die anderen behinderten Kinder und Jugendlichen miteinbezogen werden.

­

Der Artikel über die Anpassungsfristen für den öffentlichen Verkehr (Art. 16) wurde revidiert und die Fristen verlängert (20 und 10 Jahre).

­

Auf die Änderung der Artikel 35 Absatz 1 Buchstabe b und 213 Absatz 1 Buchstabe b des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (Einführung eines neuen Sozialabzugs) wurde aus steuerrechtlichen Überlegungen verzichtet.

­

Die Änderung von Artikel 3 Absatz 4 des Radio- und Fernsehgesetzes (Verpflichtung, einen repräsentativen Teil der Sendezeit behindertengerecht auszustrahlen) sowie von Artikel 13 Absatz 2bis des Bundesgesetzes über die Arbeitslosenversicherung (Berücksichtigung der Betreuungsaufgaben für die Berechnung der Dauer der Beitragsperiode) wurden mit Blick auf die umfassenden Revisionen dieser Gesetze fallen gelassen.

Im Übrigen verweisen wir auf die Kommentare zu den einzelnen Bestimmungen.

4.2

Ansatz des Gesetzesentwurfs

Wie bereits in der Einführung erwähnt, kann das Problem der Behinderung und der Integration behinderter Personen auf unterschiedliche Weise angegangen werden140.

Man kann auf die persönliche Situation Behinderter einwirken in der Absicht, ihnen vergleichbare oder gleichwertige Lebensbedingungen zu verschaffen wie nicht behinderten Personen und ihre Situation jener nicht behinderter Mitglieder der Gesellschaft anzunähern. Gemäss diesem Ansatz zielt eine staatliche Massnahme direkt auf die behinderte Person ab und der Gesetzgeber versucht, deren persönliche Situation zu verbessern oder zu verändern, beispielsweise durch Auszahlung von Renten zur Abdeckung des behinderungsbedingten Ausfalls von Erwerbseinkommen, durch Sonderschulen, durch Förderung der beruflichen Wiedereingliederung usw. Diesen Ansatz hat der Gesetzgeber mit der Sozialversicherung, insbesondere der Invaliden140

Vgl. Ziff. 2.1

1773

versicherung und der beruflichen Vorsorge, gewählt. Sie dient namentlich der Gewährleistung eines würdigen Lebens und entspricht dem Empfinden sozialer Gerechtigkeit. Diese soziale Säule ist als Massnahme zur «Beseitigung von Benachteiligungen der behinderten Personen» zu betrachten und sie erfüllt bereits einen wichtigen Teil des Auftrags von Artikel 8 Absatz 4 BV.

Diesem ersten Ansatz muss ein zweiter beigestellt werden, der den umgebenden Rahmen betrifft, um die Umstände und Hindernisse des Umfeldes, die Behinderte belasten, zu bekämpfen. Gemäss diesem zweiten Ansatz zielen die staatlichen Massnahmen auf die Gesellschaft insgesamt und die von ihr geschaffenen Rahmenbedingungen. Die Massnahmen zielen darauf, die Rahmenbedingungen zu beeinflussen und die Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft zu berücksichtigen und zu verhindern, dass jene Personen, die nicht in jeder Hinsicht den allgemeinen Normen entsprechen, marginalisiert und ausgeschlossen werden. Mit andern Worten zielt der «umgebungsbezogene» Ansatz auf den allgemeinen Rahmen des gesellschaftlichen Lebens. Von den Massnahmen, die gestützt auf diesen Ansatz ergriffen werden, profitieren im Übrigen nicht nur dauerhaft behinderte Personen, sondern auch alle jene, die alters-, unfall- oder krankheitsbedingt vorübergehend einen Teil ihrer Fähigkeiten verlieren.

Der vorliegende Gesetzesentwurf gründet auf diesem zweiten Ansatz. Er strebt namhafte Verbesserungen an, namentlich betreffend des Zugangs zu Bauten, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, des Transportwesens und der Dienstleistungen. Gestützt auf die Überprüfung der Wirksamkeit des Gesetzes ist eine Weiterentwicklung dieser Politik denkbar.

Schliesslich ist festzustellen, dass der Entwurf eine gemischte Lösung darstellt, der einerseits den Erlass eines Spezialgesetzes vorsieht, das wichtige Begriffe umschreibt und einige Massnahmen im Bereich der Bundeskompetenzen vorsieht, anderseits ändert er aber auch geltende Gesetze.

4.3

Erläuterungen zum Entwurf

4.3.1

Allgemeine Präsentation

Der Gesetzesentwurf ist in fünf Abschnitte unterteilt.

Der 1. Abschnitt enthält allgemeine Bestimmungen, die insbesondere der Auslegung des Gesetzes dienen und den Geltungsbereich umschreiben.

Der 2. Abschnitt enthält die zentralen Bestimmungen des Entwurfs: Artikel 5 konkretisiert die Aufgaben von Bund und Kantonen und präzisiert, bezüglich der allgemeinen Definition der Benachteiligung, dass die Förderungsmassnahmen selbst keine Diskriminierungen darstellen; Artikel 6 weitet das Prinzip des Diskriminierungsverbots (besonders schwere Ungleichbehandlung) auf die Privaten aus, die ihre Dienstleistungen öffentlich anbieten; schliesslich Artikel 7, der den Angelpunkt des Gesetzesentwurfs bildet; er sieht Rechtsansprüche zur Durchsetzung der gesetzlichen Gleichstellungsverpflichtungen vor, während Artikel 8 das Verhältnismässigkeitsprinzip konkretisiert und damit die Wirkung von Artikel 7 begrenzt. Diese Instrumente sollen die mit dem Vollzug des Rechts zusammenhängenden, oft als unüberwindbar gehaltenen Schwierigkeiten zu meistern erlauben und ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen gewährleisten.

1774

Der 3. Abschnitt enthält die Bestimmungen, die nur den Bund betreffen, sei es, dass er eine Vorreiterrolle bei der eigenen Beschäftigungspolitik spielt, welche die Anstellung von Behinderten fördert, sei es, dass die Bestimmungen Massnahmen der Gleichstellung in seinen Kompetenzbereichen enthalten (technische Normen für Bauten des Bundes oder für vom Bund subventionierte Bauten, Personentransport durch Konzessionäre). Dieser Abschnitt umfasst auch einige Anreizsysteme, insbesondere finanzieller Art, die dazu beitragen sollen, die Bevölkerung für die Integration der Behinderten zu sensibilisieren.

Der 4. Abschnitt enthält einen Artikel, der die Kantone verpflichtet, behinderten Kindern und Jugendlichen eine ihren Bedürfnissen angepasste Grundschulung zukommen zu lassen, die es ihnen auch erlaubt, Kommunikationstechniken zu erlernen, die ihrer Behinderung angemessen sind.

Der 5. Abschnitt enthält die Schlussbestimmungen: Artikel 16 sieht Anpassungsfristen im Bereich des öffentlichen Verkehrs vor, die eine schrittweise Anwendung der neuen Grundsätze im Gleichstellungsbereich ermöglichen; Artikel 17 ermächtigt den Bund, an öffentliche Transportunternehmen Finanzhilfen auszurichten, um die Finanzierung der erheblichen Zusatzkosten als Folge des Gesetzesentwurfs zu erleichtern.

Der Gesetzesentwurf sieht schliesslich die Anpassung verschiedener Bundesgesetze vor: Vorgeschlagen wird insbesondere eine Besserstellung der Behinderten im Steuerrecht, da sie ihre vielfältigen behinderungsbedingten Unkosten nie ganz ersetzt erhalten und weil die direkten und indirekten Steuern sie aus psychologischer Sicht stärker belasten können als nicht behinderte Steuerpflichtige; die anderen Gesetzesanpassungen beseitigen Benachteiligungen behinderter Personen in den Bereichen Strassenverkehr und Fernmeldewesen.

4.3.2

Die einzelnen Bestimmungen

Titel Der Titel des Gesetzesentwurfs übernimmt wörtlich Ausdrücke von Artikel 8 Absatz 4 BV und gibt damit die Zielrichtung der Normen an. Im Kurztitel wird das Anliegen der Gleichstellung aufgegriffen, auch wenn in dieser verkürzten Darstellung nicht gesagt werden kann, mit wem die Behinderten gleichzustellen sind.

Ingress Der Ingress verweist auf vier Verfassungsbestimmungen, auf die sich der Gesetzesentwurf hauptsächlich stützt. In Ziffer 8 sind nähere Ausführungen zur Verfassungsmässigkeit der Vorlage enthalten.

1. Abschnitt: Allgemeine Bestimmungen Art. 1

Zweck

Die Verfassung beauftragt den Bund in Artikel 8 Absatz 4, Benachteiligungen durch gesetzliche Massnahmen zu verringern oder zu beseitigen. Das vorliegende Gesetz dient der Erfüllung dieses Auftrags (Abs. 1). Werden die Anliegen Behinderter frühzeitig in die Planung einbezogen, können Benachteiligungen meist verhindert wer1775

den, ohne dass ein (grosser) Zusatzaufwand entsteht. Der Sensibilisierung kommt für die Anliegen der Behinderten deshalb besonders grosse Bedeutung zu. Beispielhaft werden die wichtigsten Bereiche genannt, die für die Teilnahme Behinderter am gesellschaftlichen Leben und die Integration in die Gesellschaft einen zentralen Stellenwert einnehmen: die sozialen Kontakte, die Bildung sowie die berufliche Tätigkeit, die eine möglichst ungehinderte Kommunikation und Mobilität voraussetzen (Abs. 2).

Behinderte betrachten in der Regel behinderungsbedingte Einschränkungen ihrer selbstbestimmten Lebensgestaltung als Benachteiligung. Als politisches Ziel soll deshalb wenn immer möglich und wirtschaftlich verantwortbar die Beseitigung solcher Benachteiligungen angestrebt werden. Normalerweise dürften gesellschaftliche Rahmenbedingungen, welche die Unabhängigkeit Behinderter von der Hilfe durch Drittpersonen erlauben und damit vom Gefühl befreien, von anderen Personen abhängig zu sein, oberstes Ziel bleiben. In verschiedenen Bereichen werden Behinderte allerdings weiterhin auf die heute vielerorts gut funktionierende und wertvolle persönliche Hilfeleistung angewiesen sein. Solche private Hilfen sollen durch das Gesetz nicht konkurrenziert werden.

Art. 2

Begriffe

Artikel 2 definiert die wichtigsten Begriffe für den Anwendungsbereich dieses Gesetzesentwurfs. Er umschreibt in Absatz 1 den Begriff «Mensch mit Behinderung».

Die Invalidenversicherung definiert nicht die Behinderung allgemein, sondern verwendet den Begriff «Invalidität». Das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung versteht darunter: «die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit». 141 Diese Umschreibung ist hier aus zwei Gründen nicht zweckmässig: Zum einen wird an die Erwerbsfähigkeit angeknüpft. Dieser Ansatz ist zu eng; die gesellschaftliche Stellung der Menschen mit Behinderungen darf nicht bloss über die Erwerbsfähigkeit definiert werden. Zudem interessiert hier die Ursache der Behinderung nicht.

Im deutschen Schwerbehindertengesetz wird die Behinderung wie folgt umschrieben (§ 3): «Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. ....».

141

BG vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung, SR 831.20, Art. 4 Abs. 1. Zuvor ist die Änderung vom 26. Juni 1998, die eine Ausdehnung auf psychische Erkrankungen vorsah, in der Volksabstimmung gescheitert (BBl 1998 3479, 1999 7293). Die 4. IVRevision greift diesen Punkt wieder auf und soll damit die heutige Praxis verankern. Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) gelangt durch die Verbindung seines Art. 8 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 des IVG, den es abändert (vgl. Ziff. 8 des Anhangs) zu einem vergleichbaren Ergebnis (BBl 2000 5041).

1776

Altersbedingte Gebrechen fallen damit nicht unter die gesetzliche Definition. Eine interessante Definition enthält der «Americans with disabilities Act» von 1990 in Section 3: «The term means, with respect to an individual: a. a physical or mental impairment that substantially limits one or more of the major life activities of such individual; b. a record of such an impairment; or c. being regarded as having such an impairment.» In dieser Umschreibung fehlt eine Unterscheidung von geistiger und psychischer Behinderung; es ist unklar, ob psychische Behinderungen auch erfasst werden.

Mit dem Gesetzesentwurf werden verschiedenste Sachbereiche angesprochen. Der Begriff der Behinderung muss dementsprechend vielfältige Sachverhalte abdecken und ist deshalb in Absatz 1 in eigenständiger und umfassender Art umschrieben. Das Invalidenversicherungsgesetz definiert heute eine besondere Form der Erwerbsunfähigkeit und bezeichnet sie als Invalidität. Im Behindertengleichstellungsgesetz werden demgegenüber Funktionsverluste des Menschen umschrieben und als Behinderung bezeichnet. Diese Umschreibung erfasst eine grössere Menschengruppe: im Unterschied zur IV sind auch Personen erfasst, die noch nicht oder nicht mehr im erwerbsfähigen Alter stehen. Erfasst werden vom Gesetz also insbesondere auch betagte Menschen, bei denen auf Grund des Alters dauerhafte Funktionsausfälle (z.B. verminderte Gehfähigkeit) eingetreten sind. Während die Invalidenversicherung den Verlust eines Einkommens durch eine individuelle Rente an eine bestimmte Person ausgleicht, verbessert das Behindertengleichstellungsgesetz die allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die (auch wenn sie gestützt auf Art. 7 durch eine Klage oder Beschwerde einer behinderten Person erzwungen wird) einer unbestimmten Vielzahl von Personen zugute kommt142.

Absatz 2 umschreibt, wann im Allgemeinen eine Benachteiligung Behinderter vorliegt. Sie liegt vor, wenn zwischen Menschen mit und ohne Behinderung differenziert wird, ohne dass sachgerechte Kriterien dies verlangen, oder wenn eine Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne Behinderungen vorgesehen ist, obschon eine Differenzierung aus sachlichen Gründen angezeigt wäre. Die Benachteiligung umfasst nicht nur die rechtliche Schlechterstellung, sondern auch faktische Verhältnisse. Die
Benachteiligung ist von der Diskriminierung (vgl. Art. 6) abzugrenzen.

Absatz 2 konkretisiert damit insbesondere den Begriff der Benachteiligung von Artikel 8 Absatz 4 BV143.

Laut Absatz 3 wird der erschwerte Zugang zu Bauten sowie zu Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs als Benachteiligung umschrieben. Es müssen nicht sämtliche Zugänge behindertengerecht gestaltet sein; es genügt, wenn der Haupteingang die Anforderungen erfüllt. Unstatthaft wäre hingegen beispielsweise der Zugang über einen Warenlift eines Hintereingangs. Ein öffentliches Verkehrsmittel ist dann behindertengerecht, wenn es wenigstens über eine Möglichkeit der Benützung eines Personenwagens verfügt; es muss also nicht jedes Fahrzeug einer Zugskomposition über einen behindertengerechten Zugang verfügen. Es genügt, wenn pro Zug wenigstens ein Personenwagen entsprechend ausgerüstet ist. Was die Bahnhöfe anbelangt, wird auf Verordnungsebene festzulegen sein, welche Bahnhöfe neben den 142 143

Vgl. dazu auch Ziff. 4.2.

Vergleiche dazu ausführlicher Ziffer 8.1.

1777

wichtigsten Bahnhöfen, den sog. Stützbahnhöfen, in welchem Umfang anzupassen sind. Wie in den Erläuterungen zu Artikel 1 dargelegt, werden Rahmenbedingungen angestrebt, die Hilfe durch Drittpersonen möglichst erübrigen. Für die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel gilt dies nur bedingt. Die autonome Benützung öffentlicher Verkehrsmittel schliesst die Beanspruchung des Personals der Verkehrsunternehmen, beispielsweise für die Benützung eines Mobilifts, nicht aus. Die Anwesenheit von Personal ist für viele Behinderte von unschätzbarem Wert. Hingegen soll vermieden werden, dass auch Mitreisende beigezogen werden müssen. Bei Wohnbauten muss der Zugang zu den einzelnen Wohnungen sichergestellt sein. Die behindertengerechte Ausgestaltung des Wohnungsinneren wird nicht erfasst; dieser Bereich ist von den Kantonen zu regeln.

Absatz 4 umschreibt die erschwerte Inanspruchnahme von Dienstleistungen. Zu diesen Dienstleistungen gehören etwa jene von Amtsstellen mit Publikumsverkehr (Grundbuch, Handelsregister usw.), regelmässige politische, kulturelle oder sportliche Veranstaltungen, Einkaufszentren, Dienstleistungen der Banken usw. Auch erfasst sind der Fernmeldebereich sowie Radio und Fernsehen. Diese beiden Bereiche entwickeln sich sehr dynamisch. Durch Überarbeitung der spezialgesetzlichen Grundlagen soll diesen Veränderungen Rechnung getragen werden. Je nach Fortschreiten der Arbeiten und je nach Ergebnis werden die Anliegen der Behinderten im Rahmen des vorliegenden Gesetzesentwurfs oder im Rahmen der Revisionen der beiden Spezialgesetze in anderer als der hier vorgeschlagenen Weise umgesetzt werden müssen144.

Absatz 5 umschreibt, was unter «Erneuern» verstanden wird. Die Konkretisierung durch die Nennung einer Verhältniszahl entspricht der Forderung verschiedener Vernehmlasser.

Art. 3

Geltungsbereich

Der Gesetzesentwurf erfasst zunächst all jene Bauten und Anlagen, zu denen grundsätzlich jeder Zugang hat, sofern er die allenfalls bestehenden Voraussetzungen (Eintritts- oder Benützungsgebühr, schickliche Kleidung usw.) erfüllt (Bst. a). Es gilt also beispielsweise für Geschäfte, Banken, Restaurants, Hotels, Veranstaltungsräume, Museen, Bibliotheken, Parkhäuser, Parkanlagen, Hallen- und Strandbäder sowie Sportstadien. Ausgenommen vom Geltungsbereich sind dagegen Bauten und Anlagen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes erbaut wurden (massgebend ist der Zeitpunkt, in dem die Baubewilligung erteilt wurde) und die seit Inkrafttreten des Gesetzes nie erneuert wurden.

Der Geltungsbereich umschliesst im Weiteren den öffentlichen Verkehr soweit er den genannten Gesetzen unterstellt ist (Bst. b). Dazu gehören Bahnhöfe, Haltestellen, Schiffsanlegestellen, Flugplätze sowie Anlagen (Kommunikationssysteme, Billettausgabe, usw.) und Fahrzeuge (Züge, Busse, Trolleybusse, Seilbahnen, Schiffe, Flugzeuge). Die SBB werden deshalb besonders erwähnt, weil ihr Betrieb im Unterschied zu den anderen Unternehmen des öffentlichen Verkehrs keiner Infrastrukturkonzession bedarf und sich auf ein Spezialgesetz stützt145. Ausgenommen sind lediglich Skilifte sowie kleinere Sesselbahnen und Gondelbahnen mit weniger als neun Plätzen pro Transporteinheit.

144

Fernmeldegesetz vom 30. April 1997, SR 784.10; Radio- und Fernsehgesetz vom 21. Juni 1991, SR 784.40 145 BG vom 20. März 1998 über die Schweizerischen Bundesbahnen, SR 742.31

1778

Ferner gilt der Gesetzesentwurf bei Wohngebäuden einer gewissen Grösse (Bst. c): Wohngebäude müssen mehr als acht Wohneinheiten umfassen. Nur der Zugang zum Gebäude und zu den einzelnen Stockwerken muss gewährleistet sein. Die Ausgestaltung des Wohnungsinnern ist demgegenüber nicht Gegenstand des Geltungsbereichs des Gesetzesentwurfs. Wie für die Bauten nach Buchstabe a sind hier nur die Wohnbauten erfasst, die neu sind oder die erneuert werden.

In analoger Weise erfasst der Gesetzesentwurf Gebäude mit mehr als 50 Arbeitsplätzen, die neu sind oder erneuert werden (Bst. d). Nur der Zugang zum Gebäude muss den Ansprüchen der Behinderten entsprechen. Der Geltungsbereich des Gesetzesentwurfs erstreckt sich nicht auf das Gebäudeinnere. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass ein Arbeitgeber, der Behinderte beschäftigt, schon heute für die Anpassungen des Arbeitsplatzes (in der Regel mit finanzieller Unterstützung der Invalidenversicherung) sowie der Arbeitsräume und der sanitären Einrichtungen sorgen muss, damit alle Angestellten davon Gebrauch machen können. Diese Verpflichtung gründet nicht auf dem Gesetzesentwurf, sondern auf andern Bundesvorschriften über den Arbeitnehmerschutz. Buchstabe e erfasst die Dienstleistungen Privater und Dienstleistungen der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), konzessionierter Unternehmen sowie der Gemeinden, der Kantone und des Bundes.

In den Buchstaben a, b und e von Artikel 3 des Gesetzesentwurfs werden nur jene Bauten, Anlagen, Einrichtungen, Fahrzeuge und Dienstleistungen erfasst, die öffentlich zugänglich sind. Eine Dienstleistung ist dann öffentlich, wenn sie einer unbestimmten Zahl von Personen (beispielsweise mit Inseraten) angeboten wird.

Bauten, die bei ihrer Erstellung oder bei ihrer Erneuerung auf die Anforderungen der Behinderten ausgerichtet werden, müssen danach nicht fortlaufend der technischen Entwicklung angepasst werden. Erst wieder im Falle einer späteren Erneuerung gemäss Artikel 2 Absatz 5 muss die Frage geprüft werden, ob der Bau den Anforderungen der Behinderten entspricht.

Der letzte Buchstabe (f) erwähnt der Vollständigkeit halber Arbeitsverhältnisse, die dem Bundespersonalgesetz unterstehen. Artikel 9 präzisiert die geltenden Verpflichtungen des Bundes in diesem Bereich.

Art. 4

Verhältnis zum kantonalen Recht

Etliche Vernehmlasser haben kritisiert, der Entwurf gehe teilweise hinter kantonales Recht zurück. Es ist indessen nicht die Absicht des Bundesrates, fortschrittliche Lösungen auf kantonaler Ebene zu verhindern. Deshalb wird hier festgehalten, dass das künftige Gesetz weitergehenden Bestimmungen des kantonalen oder kommunalen Rechts nicht entgegensteht.

2. Abschnitt: Beseitigung von Benachteiligungen Art. 5

Massnahmen von Bund und Kantonen

Absatz 1 richtet sich an Bund und Kantone und verpflichtet sie, jene Massnahmen zu ergreifen, die nötig sind, um Benachteiligungen aufzuheben oder ­ wo dies nicht ohne weiteres möglich ist ­ auszugleichen. Die Massnahmen sollen auch präventiv wirken und verhindern, dass Benachteiligungen überhaupt entstehen. Der zweite Satzteil hält fest, dass diese Massnahmen die besonderen Bedürfnissen behinderter 1779

Frauen zu beachten haben. Damit soll der doppelten Benachteiligung Rechnung getragen werden. Das Problem der doppelten Diskriminierung stellt sich insbesondere bei der Berufsbildung (Abdrängung in typische Frauenberufe) und den Leistungen der Sozialversicherungen (berufliche Wiedereingliederung von behinderten Frauen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben).

Absatz 2 sagt, dass sachgerechte Privilegierungen der Behinderten erlaubt sind und nicht mit dem Hinweis auf die Rechtsgleichheit angefochten werden können. Solche Massnahmen werden in der Regel zeitlich begrenzt sein oder auf andere Weise sachlich auf enge Anwendungsbereiche beschränkt bleiben. Diese Bestimmung lehnt sich an Artikel 3 Absatz 3 des Gleichstellungsgesetzes an146.

Art. 6

Dienstleistungen Privater

Die Bestimmung hält fest, dass Diskriminierungen im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 BV nicht nur im Verhältnis zwischen Staat und Behinderten, sondern auch unter Privaten untersagt sind (Drittwirkung). Die Diskriminierung ist eine qualifizierte Benachteiligung, d.h. eine besonders krasse unterschiedliche, benachteiligende und meist auch herabwürdigende Behandlung von Menschen mit Behinderungen. Das Diskriminierungsverbot verpflichtet Privatpersonen aber nicht, bestimmte (positive) Massnahmen zur Beseitigung von tatsächlichen Benachteiligungen Behinderter zu ergreifen. Es verpflichtet weder zu einem gleichstellenden Verhalten noch dazu, auf Differenzierungen zwischen Kunden zu verzichten.

Mit andern Worten soll diese Bestimmung segregierendem Verhalten von Dienstleistungsanbietern vorbeugen, das Menschen mit Behinderungen von bestimmten Aktivitäten ausschliessen will aus Angst, dass ihre Präsenz eine bestimmte Ruhe oder die sozialen Gewohnheiten der übrigen Kunden beeinträchtigen könnte. So darf einer geistig behinderten Person der Zugang zu einem Restaurant nicht aus der blossen Furcht verwehrt werden, sie vertreibe andere Gäste und ohne dass er genügend Hinweise darauf hat, dass diese Person die Atmosphäre und Ruhe seines Betriebs störe. Soweit ein Behinderter sich schicklich benimmt und er nicht andere Gäste stört, wäre es diskriminierend, ihn abzuweisen. Die Bestimmung zielt demnach auf besonders stossendes Verhalten, das jene Toleranz, die sich Mitglieder unserer Gesellschaft gegenseitig schuldig sind, vermissen lässt. Andererseits verpflichtet Artikel 6 Privatpersonen nicht dazu, ihre Dienstleistungen den Bedürfnissen Behinderter besonders anzupassen. So muss der Inhaber eines Restaurants, um nochmals auf dieses Beispiel zurücksprechen zu kommen, seine Speisekarte nicht in Blindenschrift anbieten, um Personen mit Sehbehinderungen eine selbstständige Bestellung zu ermöglichen. Es bleibt der privaten Autonomie und Initiative des einzelnen privaten Dienstleistungsanbieters überlassen, ob er seine Dienstleistung behindertengerecht anbieten will. Wird er in diesem Sinn tätig, kann dies sein Angebot attraktiver machen und ihm einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.

Das Diskriminierungsverbot gilt für jene Privaten, die Dienstleistungen öffentlich, d.h. grundsätzlich jedermann, anbieten. Unter den Begriff Dienstleistungen fallen zahlreiche Leistungsangebote. Im Vordergrund stehen der Detailhandel, Restaurants, Hotels, Bäder sowie kulturelle Angebote.

146

SR 151.1

1780

Art. 7

Rechtsansprüche

Das kantonale Recht ist namentlich im Baubereich recht fortschrittlich147, vielfach besteht aber ein Vollzugsdefizit. Mit einem Beschwerde- und Klagerecht können Behinderte das geltende Recht besser durchsetzen. Die Vollzugskontrolle wird damit zu einem wesentlichen Teil durch die Betroffenen selbst erfolgen. Dadurch sinkt der Aufwand staatlicher Vollzugskontrollen mit entsprechendem Verwaltungsaufwand.

Absatz 1 gibt Anspruch auf Beseitigung von Behinderungen beim Zugang zu Bauten, Anlagen, Wohnungen sowie auf Verordnungsstufe gestützt auf Artikel 10 Absatz 1 zu bestimmende Einrichtungen und Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs.

Beim Zugang zu Gebäuden ist der Eigentümer in die Pflicht zu nehmen. Sie trifft auch Privatpersonen, die das Gebäude oder Teile davon an das Gemeinwesen oder konzessionierte Unternehmen als Dienstleistungsanbieter vermieten.

Absatz 2 räumt ein Beschwerde- und Klagerecht ein für Personen mit Behinderungen, die Dienstleistungen der SBB, konzessionierter Unternehmen oder des Gemeinwesens selbst in Anspruch nehmen wollen und dabei benachteiligt werden.

Absatz 3 regelt das Beschwerde- und Klagerecht Behinderter, die eine Dienstleistung, die von Privatpersonen angeboten wird, beanspruchen möchten und dabei wegen ihrer Behinderung diskriminiert werden. Ein Klagerecht auf Grund dieser Bestimmung besteht beispielsweise dann, wenn ein Hallenbadbetreiber Behinderten grundsätzlich keinen Zutritt gewähren will. Der Gesetzesentwurf sieht im Fall einer Diskriminierung eine Entschädigungspflicht vor.

Für die Beschwerde- und Klagelegitimation gelten die üblichen Regeln. Wer ein subjektives Recht nach Artikel 7 geltend machen will, muss nachweisen, dass er im Sinne des Gesetzesentwurfs behindert ist (Art. 2 Abs. 1) und dass er auf Grund dieser Behinderung im vorliegenden Fall persönlich benachteiligt oder diskriminiert ist.

Das Klage- und Beschwerderecht gilt mit Inkrafttreten des Gesetzes für den ganzen Geltungsbereich, also grundsätzlich auch für den öffentlichen Verkehr. Mit Blick auf die besonders hohen Mehrkosten in diesem Bereich ist in Artikel 16 jedoch für die Verkehrsunternehmen eine Übergangsfrist von 20 beziehungsweise 10 Jahren vorgesehen, die ihnen eine Etappierung der notwendigen Anpassungen erlaubt. Es wird Sache der rechtsanwendenden Behörden sein, im Einzelfall mit
Blick auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu entscheiden, ob eine Anpassung der Bauten, Anlagen oder Fahrzeuge einem Verkehrsunternehmen schon vor Ablauf der Übergangsfrist zuzumuten ist oder ob das Anbieten einer Ersatzmassnahme nach Artikel 8 Absatz 2 genügt.

Art. 8

Verhältnismässigkeit

Diese Bestimmung konkretisiert das Verhältnismässigkeitsprinzip und erlaubt den rechtsanwendenden Behörden, einen strengen Prüfungsmassstab anzulegen. Sie dient auch dazu, die zeitliche Dimension (vgl. die Fristen in Art. 16) in die Interessenabwägung einzubeziehen. Insbesondere im öffentlichen Verkehr hängt die Zumutbarkeit von Anpassungen wesentlich vom Faktor Zeit ab. Ganz allgemein muss die Beseitigung einer Benachteiligung wirtschaftlich in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen für Behinderte stehen (Abs. 1 Bst. a). Auch überwiegende Interes147

Vgl. Ziff. 2.3.2

1781

sen des Umweltschutzes und des Natur- und Heimatschutzes, einschliesslich der Denkmalpflege (Abs. 1 Bst. b) oder der Verkehrs- und Betriebssicherheit (Abs. 1 Bst. c) können der Durchsetzung der Rechtsansprüche Grenzen setzen. Wird ein säumiger Grundeigentümer eines Neubaus oder eines erneuerten Gebäudes eingeklagt, ist in der Interessenabwägung nach Absatz 1 Buchstabe a darauf abzustellen, wie hoch die zusätzlichen Kosten bei der Erstellung bzw. Erneuerung des Gebäudes ausgefallen wären. Diese Kosten dürften regelmässig deutlich tiefer liegen als die nachträglichen Anpassungskosten.

Gemäss Absatz 2 werden bei der Interessenabwägung die dem öffentlichen Verkehr in Artikel 16 eingeräumte Frist und die gestützt darauf festgelegten Programme zur Anpassung des öffentlichen Verkehrs an die Bedürfnisse der Behinderten einbezogen. Diese Bestimmung verstärkt den Gedanken der Verhältnismässigkeit, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs im Unterschied zu den anderen vom Gesetz betroffenen Gebäudeeigentümern oder Dienstleistungserbringern ihre bestehenden Infrastrukturen in den ersten zwanzig Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes anpassen müssen. Diese Relativierung ist nötig, weil die subjektiven Rechte nicht den Zweck der Übergangsbestimmung vereiteln sollen. Die subjektiven Rechte haben in Bezug auf die bestehenden Infrastrukturen vor allem, wenn nicht ausschliesslich, den Zweck zu verhindern, dass einfach vorzunehmende Anpassungen verzögert werden. Sie sollen also nicht das vom Bund im Rahmen der Finanzhilfen (Art. 17 Abs. 3) entwickelte Umsetzungskonzept oder die entsprechenden Investitionspläne der Unternehmen in Frage stellen. In diesem Sinn muss die rechtsanwendende Behörde die Übergangsfristen in ihren Entscheid einbeziehen. Sie soll nicht Investitionen veranlassen oder Ersatzlösungen anordnen, die nicht im Einklang mit der Betriebs- und Investitionsplanung des Unternehmens stehen. Die Wirtschaftlichkeitsüberlegungen werden gegenüber dem Interesse an der Beseitigung einer Benachteiligung kurz nach dem Inkrafttreten mehr Gewicht haben als gegen Ende der Übergangsfrist. Ersatzlösungen sind dann gutzuheissen, wenn sie billiger zu stehen kommen als die wirtschaftlich nicht zumutbare vollständige Beseitigung einer Benachteiligung und sie dennoch die Situation
der Behinderten zu verbessern vermögen.

Absatz 3 verstärkt den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, indem es den rechtsanwendenden Behörden erlaubt, beim Verzicht auf eine vollständige Beseitigung einer Benachteiligung eine differenzierte, auf die konkreten Verhältnisse zugeschnittene Zwischenlösung gutzuheissen. Absatz 3 schreibt in diesem Sinne vor, dass das Gemeinwesen, die SBB oder eines anderen konzessionierten Unternehmens den Behinderten eine Ersatzlösung anbieten muss, wenn deren Rechtsanspruch aus Verhältnismässigkeitsgründen nicht durchsetzbar ist. Damit sollen jene Benachteiligungen, die mit vernünftigem Aufwand nicht beseitigt werden können, wenigstens soweit möglich, ausgeglichen werden. Privatpersonen sind nicht verpflichtet, Ersatzmassnahmen zu ergreifen, wenn eine rechtsanwendende Behörde feststellt, dass die Beseitigung einer Benachteiligung beim Zugang zu Gebäuden unverhältnismässig ist.

Absatz 4 hält fest, dass der Richter eine Entschädigung gestützt auf Artikel 7 Absatz 3 nach den konkreten Umständen, der Schwere der Diskrimination und dem Wert der fraglichen Dienstleistung festlegt. Er ist dabei an die Höchstgrenze von 5000 Franken gebunden.

1782

3. Abschnitt: Besondere Bestimmungen für den Bund Allgemeines zu den Artikeln 9­13 Dem Bund wird in Artikel 8 Absatz 4 BV keine neue Gesetzgebungskompetenz eingeräumt, sondern lediglich ein Gesetzgebungsauftrag erteilt. Er kann deshalb in den angestammten Zuständigkeitsbereichen der Kantone keine Vorschriften über die Gleichstellung der Behinderten erlassen. Hingegen kann er in seinen Bereichen ­ vorbildhaft ­ rechtliche und tatsächliche Benachteiligungen ausräumen. In Frage kommen Regeln insbesondere dort, wo er als Arbeitgeber und Bauherr auftritt, sowie dort, wo er durch von ihm kontrollierte Betriebe Dienstleistungen (Personentransport, Post) anbietet.

Art. 9

Massnahmen im Personalbereich

Der Bund übt eine Vorbildfunktion aus. Er soll deshalb als Arbeitgeber zu einer behindertenfreundlichen Anstellungspraxis verpflichtet werden. Der Bundesrat hat bewusst keine Quote gewählt, um das Anliegen flexibel umsetzen zu können.

Im Unterschied zu der hier vorgeschlagenen Lösung kennt Deutschland eine weitaus schärfere Regelung mit einer zahlenmässig im Gesetz festgelegten Mindestquote: Private und öffentliche Arbeitgeber mit mehr als 16 Arbeitsplätzen müssen mindestens 6 % Schwerbehinderte beschäftigen. Wird die Quote nicht erreicht, ist für jeden nicht angestellte Behinderten monatlich DM 200.­ in einen Fonds zu bezahlen148.

Wir betrachten eine derart einschneidende Regelung, die auch private Arbeitgeber erfasst, nicht als zweckmässig.

Die Regelung findet im Bereich des Bundespersonalgesetzes vom 24. März 2000149 Anwendung (Art. 3).

Weitere Ausführungen zu diesem Bereich vgl. Ziffer 5.2.1.

Art. 10

Vorschriften über technische Normen

Absatz 1 verpflichtet den Bundesrat, Vorschriften über die behindertengerechte Gestaltung der Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs, also der Haltestellen, Bahnhöfe, Flugplätze, Fahrzeuge, aber auch der Kommunikations- und der Billettausgabesysteme zu erlassen. In diesen Ausführungsbestimmungen wird es unter anderem darum gehen zu umschreiben, welche Bahnhöfe in welchem Umfang den Anliegen der Behinderten anzupassen sind. Eine technische Harmonisierung ist beste Gewähr für möglichst lückenfreie Transportketten und universell einsetzbare Hilfsmittel. Die betroffenen Kreise werden beim Erlass dieser Vorschriften selbstverständlich beigezogen.

Mit Absatz 2 erhalten die bestehenden bundesrätlichen Weisungen über bauliche Vorkehren für Behinderte vom 6. März 1989150 eine ausdrückliche gesetzliche Verankerung.

148 149 150

Vgl. Ziff. 2.3.1.2 BBl 2000 2208; AS ...; SR ...

BBl 1989 I 1508

1783

Angesichts der raschen technischen Entwicklung ist es notwendig, solche Normen periodisch dem Stand der Technik anzupassen (Abs. 3). Soweit es zweckmässig ist, wird der Bundesrat auf Normen privater Organisationen verweisen.

Absatz 4 erlaubt dem Bundesrat, differenzierte Lösungen für bestehende und neue Bauten, Anlagen und Fahrzeuge vorzusehen.

Art. 11

Beschwerderecht von Behindertenorganisationen

Diese Bestimmung regelt das Beschwerderecht von Organisationen, die sich statutengemäss den Anliegen Behinderter widmen. Zur Beschwerde zugelassen sind gesamtschweizerisch tätige Organisationen, die seit mindestens zehn Jahren existieren. Der Bundesrat bezeichnet die zur Beschwerde berechtigten Organisationen, um Klarheit über die Beschwerdelegitimation zu schaffen (Abs. 1).

Die Verfahrensbestimmungen beschränken sich auf bundesrechtliche Verfahren, in denen eine Plangenehmigung oder eine Konzession erteilt werden (Abs. 2 und 3).

Anfechtungsobjekt sind Verfügungen, die eine Benachteiligung im Sinne von Artikel 2 des Gesetzesentwurfs zum Gegenstand haben. Angefochten werden können insbesondere Verfügungen in den Bereichen Kommunikation (Radio und Fernsehen) und öffentlicher Verkehr (Plangenehmigungen für Bauten und Anlagen sowie Fahrzeugzulassungen).

Die Absätze 4 und 5 enthalten Regeln über die Eröffnung von Verfügungen und andere verfahrensrechtliche Details analog dem Beschwerdeverfahren im Umweltschutzgesetz vom 7. Oktober 1983151.

Allgemeines betreffend die Artikel 12 und 13 Wie das schon in den beiden Vernehmlassungsverfahren betont wurde152, können gesetzliche Bestimmungen nicht alle Aspekte der Stellung behinderter Menschen in der Gesellschaft regeln. Die Fortschritte in diesem Punkt hängen stark von der Entwicklung der Geisteshaltung der Bevölkerung ab und die Gesellschaft muss wieder vermehrt lernen, mit Unterschieden in einer gemischten Gesellschaft zu leben, deren Mitglieder nicht immer über die gleichen Möglichkeiten verfügen. Dieser Prozess geht im Übrigen weit über die Frage der behinderten Menschen hinaus und beschlägt auch Fragen der ethnischen Zugehörigkeit, der Kulturen, der Sprachen und Nationalitäten; es geht im weitesten Sinn um Fragen der kollektiven Toleranz153.

Diese Bestimmungen über die Förderungsmassnahmen sollen zu einem Mentalitätswandel beitragen und eine Politik unterstützen, die Einzelnen diese Entwicklung ermöglicht. Die erwähnten Programme sollen innovatorische Modelle der Gesellschaftsorganisation und der Integration Behinderter ermöglichen.

Die Artikel 12 und 13 bilden die gesetzliche Grundlage, die Integration Behinderter durch den Bund zu fördern und Beiträge auszurichten. Sie erlauben jedoch nicht den Erlass von Organisationsvorschriften. Soweit die neue
Aufgabe einer Einheit der Zentralverwaltung zukommt, ist die Frage der Zuordnung nicht im Gesetz im formellen Sinne, sondern auf der Stufe einer bundesrätlichen Verordnung154 zu regeln.

151 152 153 154

Art. 55, SR 814.01 Vgl. Ziff. 2.4.2 und 4.4.1 Vgl. Ziff. 2.1 Vgl. Ziff. 4.3.5

1784

Art. 12

Programme zur Integration von Menschen mit Behinderungen

Artikel 12 sieht die Möglichkeit des Bundes vor, Programme für die Integration Behinderter durchzuführen. Die Umsetzung der Programme setzt das Einverständnis der Betroffenen voraus. Es kann nicht um zwangsweise Integrationsmassnahmen gehen. Um der Klarheit willen nennt Absatz 2 die wichtigsten Bereiche; es handelt sich aber nicht um eine abschliessende Aufzählung. Das Ziel dieser Programme ist es, mit der Unterstützung der Behörden neue Massnahmen und Formen der Integration Behinderter zu testen. Wir denken dabei an die Integration geistig oder psychisch behinderter Kinder und Jugendlicher in den Regelklassen mittels Unterstützung der Lehrkräfte und angemessener pädagogischer Betreuung. Andere Programme könnten die Integration Behinderter im Berufsleben fördern, auch da mit psychologischer Betreuung am Arbeitsplatz und unter Einbezug der Verhältnisse am Arbeitsplatz. Schliesslich können solche Programme Behinderte in ihrer autonomen Lebensweise unterstützen. Die Massnahmen zielen beispielsweise darauf, Haus- und Quartierbewohner dafür zu gewinnen, behinderten Menschen in ihrer Umgebung zu helfen, ein autonomes Leben zu führen und das Verantwortungs- und Solidaritätsgefühl gegenüber behinderten Mitmenschen zu stärken. Wieder andere Programme können der Förderung der aktiven Präsenz behinderter Personen im Rahmen allgemein bekannter Veranstaltungen dienen, statt dass entsprechende Parallelveranstaltungen durchgeführt werden (z.B. Sportwettkämpfe).

Absatz 3 erlaubt dem Bund, sich an der Erarbeitung solcher Programme zu beteiligen. Angesichts des hohen Sachwissens der privaten Behindertenorganisationen ist es denkbar, dass sich der Bund schwergewichtig darauf konzentriert, sich bloss an Programmen zu beteiligen. Dies entspricht übrigens auch dem Gedanken der Subsidiarität staatlicher Massnahmen. Unter Beteiligung sind die Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Konzepten, die Bereitstellung von Infrastrukturen oder finanzielle Beihilfen zu verstehen. Für Subventionen gelten die allgemeinen Regeln, insbesondere die Pflicht der Programmverantwortlichen, eine Eigenleistung zu erbringen, die ihnen auf Grund ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zugemutet werden kann (Art. 7 des Subventionsgesetzes vom 5. Oktober 1990155). Die Subventionsempfänger können das Gemeinwesen selbst oder ihre Dienststellen
und Betriebe sein oder private Organisationen der Behindertenhilfe. Ferner werden die Finanzhilfen in Übereinstimmung mit den im Rahmen des neuen Finanzausgleichs entwickelten Grundsätzen nur an die gesamtschweizerisch oder sprachregional tätigen Organisation ausgerichtet. Privatpersonen und Unternehmen hingegen, die selbst Programme zur Integration Behinderter entwerfen, können keine Finanzhilfen des Bundes gestützt auf diese Bestimmung erhalten. Die Bestimmung gibt keinen Anspruch auf Subventionen.

Die Finanzhilfen sind mit jenen der Invalidenversicherung zu koordinieren (Förderung der Invalidenhilfe, Art. 73 f. IVG) und die Invalidenversicherung wird weiterhin ­ dem in Artikel 75 Absatz 2 IVG erwähnten Grundsatz gemäss ­ nur greifen, wenn keine anderen Bundeshilfen ausgerichtet werden. Artikel 12 des vorliegenden Entwurfs ändert an dieser Situation nichts. Im Übrigen sind die Koordinationsfragen zwischen den verschiedenen Hilfen auf der Ebene von Bundesratsverordnungen zu lösen.

155

SR 616.1

1785

Art. 13

Information, Beratung und Überprüfung der Wirksamkeit

Diese Bestimmung liefert die gesetzliche Grundlage, damit der Bund eine Informations- und Beratungspolitik zu Gunsten Behinderter führen kann. Absatz 1 handelt von der allgemeinen Information, mit der die Öffentlichkeit für die besonderen Probleme der Behinderten sensibilisiert und die Entscheidungsträger angeregt werden sollen, rechtzeitig berechtigte Anliegen der behinderten Menschen einzubeziehen. In Absatz 2 wird die Beratung von einzelnen Privatpersonen geregelt. Absatz 3 enthält ein für alle Politikbereiche unentbehrliches Instrument, die Evaluation von beschlossenen Massnahmen. Diese Evaluationen erlauben eine Überprüfung der Stossrichtung und führen nötigenfalls zu einer Korrektur oder zur Aufhebung einer Massnahme. Der Bund soll auch Massnahmen anderer Instanzen, insbesondere jener Organisationen, deren Massnahmen er finanziell unterstützt, evaluieren können.

4. Abschnitt: Besondere Bestimmungen für die Kantone Art. 14 Der Bund kann im Bereich der Grundschule nur umschreiben, was der grundrechtliche Anspruch auf «ausreichenden» Unterricht bedeutet156.

Absatz 1 hält fest, dass die Kantone verpflichtet sind, Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen eine Grundschulung zu offerieren, die den spezifischen Bedürfnissen ihrer Behinderung Rechnung trägt. Der Gesetzesentwurf lässt jedoch offen, in welchem Rahmen allfällige Sondermassnahmen zu ergreifen sind. Den Kantonen bleibt weiterhin ­ unter Wahrung der Interessen der behinderten Schülerinnen und Schüler ­ die Wahl zwischen integrierter Schulung in der Regelschule und der Sonderschulung.

Zu einem ausreichenden Unterricht gehört aus inhaltlicher Sicht die Ausbildung der Fähigkeiten, einen Beruf erlernen und ausüben zu können und die Anforderungen des modernen Lebens selbstständig zu meistern, wozu auch die Ausdrucksfähigkeit gehört157. Für Menschen mit Hör- und Sprechbehinderungen bestehen für die direkte Kommunikation verschiedene Hilfsmittel und Techniken wie beispielsweise die Gebärdensprache oder die Blindenschrift. Diese Kommunikationstechniken sind für die Betroffenen zentrale Instrumente für die Integration in die Gesellschaft. Der Umgang mit diesen Techniken gehört deshalb für sie zum Pflichtstoff ihrer Grundbildung, die durch Artikel 62 BV garantiert wird. Absatz 2 verpflichtet die Kantone deshalb zu einem entsprechenden Schulungsangebot.

5. Abschnitt: Schlussbestimmungen Änderung bisherigen Rechts gemäss Art. 15 Vgl. Ziff. 4.3.3

156 157

Art. 62 Abs. 2 BV, vgl. auch Ziff. 8.1.

Borghi in Kommentar BV zu Art. 27, Rz. 33 f.

1786

Art. 16

Anpassungsfristen für den öffentlichen Verkehr

Beim öffentlichen Verkehr wird differenziert zwischen den festen Bauten und den Fahrzeugen sowie der Art und Weise, wie Informationen und Billette erhältlich sind.

Die in der Vernehmlassung vorgeschlagene Übergangsfrist für Bauten und Fahrzeuge von 10 Jahren wurde von zahlreichen Vernehmlassern, namentlich von Kantonen und Verkehrsunternehmen, als unrealistisch beurteilt. Auf Grund der Langlebigkeit der Infrastruktur und der Fahrzeuge erscheint eine Anpassungsfrist von 20 Jahren angemessen (Abs. 1). Zur Auswirkung des Zeitfaktors auf die Höhe der zusätzlichen Kosten vergleiche auch Ziffer 5.4.2.

Für die Umstellung der Kommunikationssysteme und der Billettausgabe lässt sich eine kürzere Frist von zehn Jahren rechtfertigen (Abs. 2).

Erwähnt sei schliesslich in diesem Zusammenhang, dass während der Übergangsfrist subjektive Rechte geltend gemacht werden können, wenn auch in beschränktem Umfang (vgl. Art. 8 Abs. 2). Absatz 3 konkretisiert diese Beschränkung. Bei der Interessenabwägung muss die rechtsanwendende Behörde dem Umsetzungskonzept und den für die Ausrichtung von Finanzhilfen festgelegten Prioritäten (Art. 17 Abs. 3) sowie der Investitions- und Betriebspolitik der Unternehmen Rechnung tragen.

Art. 17

Finanzhilfen des Bundes

Die Verkehrsunternehmen des öffentlichen Verkehrs sind einem harten Wettbewerb mit dem Privatverkehr ausgesetzt. Sie können anfallende Mehrkosten nur zu einem geringen Teil auf die Kunden überwälzen, weil diese sonst auf den Privatverkehr ausweichen. Ein Leistungsabbau hätte dieselbe unerwünschte Wirkung. Es ist deshalb unumgänglich, dass sich der Bund im Verkehrsbereich auch finanziell engagiert und damit eine beschleunigte Umstellung auf behindertengerechte Infrastrukturen ermöglicht (Abs. 1).

Diese Finanzhilfen sind gemäss Absatz 2 für alle Massnahmen nach Artikel 16 möglich, jedoch nur für die Übergangs- und Anpassungszeit, wie sie in den beiden Absätzen dieser Bestimmung enthalten sind. Danach entfallen sie automatisch. Absatz 2 sieht einen Zahlungsrahmen für die Finanzhilfen des Bundes vor. Die Höhe des Zahlungsrahmens ist von der Bundesversammlung in einem Bundesbeschluss festzulegen. Laut dem Entwurf dieses Bundesbeschlusses, der mit diesem Gesetz unterbreitet wird, wird der Zahlungsrahmen auf 300 Millionen Franken festgelegt, verteilt auf die Frist von 20 Jahren für Massnahmen nach Artikel 16 Absatz 1 und von 10 Jahren für Massnahmen nach Artikel 16 Absatz 2. In interdepartementaler Zusammenarbeit wird eine Prioritätenliste erstellt werden, gemäss der die Finanzhilfen gewährt werden.

1787

4.3.3

Anpassungen geltenden Rechts

1. Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer158 Art. 33 Abs. 1 Bst. hbis (neu) Die Behindertenkreise verlangen, dass alle durch die Invalidität verursachten Kosten vom steuerbaren Einkommen abziehbar sind (vollständiger Verzicht auf einen Selbstbehalt), da dieser Selbstbehalt, der übrigens von Kanton zu Kanton variiert, als «Bestrafung» der Behinderten empfunden wird: Behinderte sind dauerhaft mit höheren Kosten als nicht behinderte Personen konfrontiert. Um dieser besonderen Situation Behinderter besser Rechnung zu tragen, schlagen wir vor, die im Sinne dieses Gesetzes behinderten Steuerpflichtigen teilweise oder ganz vom Selbstbehalt zu befreien, wie er in Artikel 33 Absatz 1 Buchstabe h des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer vorgesehen ist. Die vorgeschlagene Lösung sieht zwei Stufen vor: Wenn die entstandenen Kosten 8­10% des steuerbaren Einkommens betragen, sind sie bis zu 2/3 abziehbar; übersteigen sie 10% des Einkommens, sind sie vollständig abziehbar (Aufhebung des Selbstbehaltes). Insgesamt erlaubt das gewählte System Behinderten folgende Abzüge: ­

Kosten, die durch Krankheit, Unfall oder Invalidität entstehen, sind nur abziehbar, wenn sie mindestens 5% des reinen Einkommens übersteigen (maximaler Selbstbehalt);

­

übersteigen die Kosten 8%, aber nicht 10% des reinen Einkommens, sind sie zu 2/3 abziehbar (reduzierter Selbstbehalt);

­

die Kosten sind vollständig abziehbar, wenn sie 10% des reinen Einkommens übersteigen (Selbstbehalt aufgehoben).

Diese Lösung erlaubt es, die Steuerbelastung der besonders stark betroffenen Behinderten zu erleichtern, d. h. all jener, die auf Dauer einen wesentlichen Teil ihres Einkommens für Kosten aufwenden müssen, die mit ihrer Behinderung zusammenhängen. Die vorgeschlagene Formulierung erlaubt es, nur jene vom neuen System profitieren zu lassen, die die Voraussetzungen von Artikel 2 Absatz 1 erfüllen.

Im Vorentwurf eines Behindertengesetzes, das am 4. Juni 2000 in die Vernehmlassung geschickt wurde, haben wir vorgeschlagen, einen Sozialabzug für Betreuungsarbeit vorzusehen (Änderung der Art. 35 Abs. 1 Bst. b und 213 Abs. 1 Bst. b DBG159). Wir haben auf diesen Vorschlag verzichtet, weil sich dieser Vorschlag schlecht mit der geltenden steuerrechtlichen Systematik verträgt, die verlangt, dass Abzüge auf tatsächliche Kosten Bezug nehmen und nicht auf hypothetische wie der Verzicht auf Einkommen.

158 159

DBG; SR 642.11 Vgl. Ziff. 1 von Art. 12 (Änderung bisherigen Rechts) des Vernehmlassungsentwurfs

1788

2. Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden 160 Art. 9 Abs. 2 Bst. h Diese Änderung entspricht der Revision von Artikel 33 Absatz 1 Buchstabe hbis DBG (vgl. Ziff. 1). Es liegt an den Kantonen zu entscheiden, wie sie die Abzüge des Selbstbehaltes abstufen wollen.

3. Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958161 Art. 8 Abs. 2, 2. Satz Die Zweckbestimmung wird erweitert und umfasst neu ausdrücklich auch die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen. Diese Revision erlaubt Anpassungen des Verordnungsrechts, z. B. der Verordnung über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge162.

4. Fernmeldegesetz vom 30. April 1997163 Art. 16 Abs. 1e und 1bis (neu) Eine Auslegung des geltenden Gesetzestextes im Sinne der neuen Verfassung (Art. 8) würde wahrscheinlich erlauben, diese neuen Verpflichtungen im Verordnungsrecht auszuführen. Es scheint aber zweckmässig, den Willen, die Infrastrukturen und Dienste nach dem neuen Gedanken der Gleichstellung der Behinderten auszurichten, deutlich zum Ausdruck zu bringen. Der Inhalt des bisherigen Absatz 1 Buchstabe e wird Teil des umfassenderen neuen Absatzes 1bis. Diese Bestimmung garantiert, dass die Grundversorgung in der ganzen Schweiz Behinderten und nicht Behinderten zu vergleichbaren Bedingungen angeboten wird. Zum einen geht es darum, die technische Qualität sicherzustellen und laufend dem technischen Fortschritt anzupassen, andererseits sollen Zusatzgebühren wegen Mehrkosten verhindert werden. Diese Bestimmung gilt für die Grundversorgungskonzessionäre. Anpassungen sind unter anderem bei den öffentlichen Sprechstellen notwendig. Es ist jedoch nicht erforderlich, jede Sprechstelle den Bedürfnissen der Behinderten anzupassen. Dort, wo wegen grosser Nachfrage mehrere Sprechstellen gleichzeitig angeboten werden (wie beispielsweise in Bahnhöfen), genügt es, wenn wenigstens eine behindertenkonform ausgerüstet ist.

4.3.4

Bundesbeschluss über die Finanzierung der Massnahmen im öffentlichen Verkehr zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen

Artikel 17 des Gesetzesentwurfs sieht vor, dass sich der Bund mit Finanzhilfen an den Mehrkosten beteiligt, die sich aus der Anpassung des öffentlichen Verkehrs an 160 161 162 163

SR 642.14 SR 741.01 SR 741.41 SR 784.10

1789

die Bedürfnisse der Behinderten ergeben. Der Zahlungsrahmen wird in einem separaten Bundesbeschluss festgelegt. Vergleiche im Übrigen die Erläuterungen zu Artikel 17 des Gesetzesentwurfs in Ziffer 4.3.2.

4.3.5

Organisatorische Fragen

Wir haben geprüft, ob es erforderlich ist, ein unabhängiges Organ einzusetzen, und zwar im Sinne einer ständigen Verwaltungskommission, eines oder einer Delegierten bzw. eines oder einer Behindertenbeauftragten (dezentralisierte Lösung).

Die den Behinderten nahestehenden Kreise wünschen ein Organ dieser Art. Es müsste aus formellen Gründen im Gesetz vorgesehen sein.

Andere Kreise verlangen die Schaffung einer mit der neuen Aufgabe betrauten Spezialstelle in der zentralen Bundesverwaltung (zentrale Lösung). Im Gegensatz zur dezentralen bedarf die zentrale Lösung keiner gesetzlichen Grundlage.

Es sei vorerst darauf hingewiesen, dass das mit der neuen Aufgabe befasste, wie auch immer beschaffene Organ eng mit den bereits bestehenden kantonalen und privaten Organisationen zusammenarbeiten wird, verfügen doch diese Organisationen über das Wissen, die Erfahrung und die Kenntnisse, die für eine wirksame Förderungspolitik zu Gunsten der Behinderten unbedingt erforderlich sind.

Die dezentrale Lösung hätte den Vorteil, dass sie der neuen Aufgabe, deren Bedeutung und Einsatz für die Behinderten wesentlich sind, eine besondere Legitimität verleihen würde. Um einsatzfähig zu sein, sollte ein dezentralisiertes Organ über ein gut dotiertes Sekretariat verfügen. Die dezentralisierte Lösung hat allerdings folgende Nachteile: Verzettelung der Kräfte und Gefahr von Doppelspurigkeiten mit den Verwaltungsstellen, die sich bereits mit der Förderung der Behinderteninteressen befassen (beispielsweise das Bundesamt für Sozialversicherungen, das Eidgenössische Personalamt, das Bundesamt für Verkehr), Aufblähen des Verwaltungsapparates und schwerfällige Führung, wahrscheinlich höhere Kosten.

Die zentrale Lösung (selbstständige Stelle oder Anbindung an eine bestehende Einheit) bietet folgende Vorteile: erleichterter Zugang zu Informationen, Möglichkeit, frühzeitig und konkret in das Gesetzgebungs- oder Beschlussfassungsverfahren einzugreifen, fortgeschrittene Zusammenarbeit, Nähe zu den mit den Dossiers befassten Verwaltungsorganen (Verkehr, Kommunikation, Bauwesen).

Angesichts dieser Umstände optieren wir für die zentrale Lösung, die eine umfassendere Problemlösung erlaubt.

Für den Fall, dass diese Lösung getroffen wird, obliegt die interne Zuordnung der Aufgaben und der Entscheidkompetenzen dem Bundesrat (Art. 43
und 47 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes164). Aus einem ersten Gedankenaustausch in der Verwaltung geht hervor, dass bei der Integration der Behinderten erhebliche Überschneidungen mit den traditionellen Politikbereichen des Eidgenössischen Departements des Innern bestehen, dem unter anderem die Verbesserung der sozialen Bedingungen für das Wohlbefinden der Menschen in der Schweiz aufgetragen ist. Unter diesem Titel wacht es, in Übereinstimmung mit Artikel 1 der Organisationsverordnung für das Eidgenössische Departement des Innern vom 28. Juni 164

SR 172.010

1790

2000165, über den Schutz der sozialen Risiken sowie über den Kampf gegen die Diskriminierung und die Förderung der Chancengleichheit (Art. 1 Abs. 2 lit. a und f).

Ferner weisen die Aufgaben, deren Vollzug dem Bund obliegen sollen (Informationskampagnen, Förderung der Gleichstellung mit Programmen, die auf die Integration der Behinderten in die sozialen Strukturen gerichtet sind, Beratungstätigkeit), Ähnlichkeiten mit solchen auf, die in die Vollzugskompetenz des Departements des Innern gehören; dies könnte willkommene Synergien freisetzen und zwischen den betroffenen Verwaltungen eine optimale Koordination gewährleisten. So ist vorgesehen, den Vollzug der neuen Aufgaben dem Bundesamt für Sozialversicherung zu übertragen, was erlaubt, die Koordination der beiden politischen Ansatzpunkte bei der Beseitigung von Benachteiligungen Behinderter (individueller Ansatz, Rahmenbedingungen) sicherzustellen. Dieses Amt wird auch für die Koordination der Entscheide anderer Amtsstellen besorgt sein.

Für die finanziellen und personellen Auswirkungen dieser neuen Aufgaben wird auf die Ziffer 5.2.2 verwiesen.

4.4

Weitere Gesetzesrevisionen

4.4.1

Allgemeines

Weitere, zur Zeit laufende Gesetzesrevisionen, tragen zur Umsetzung einer Politik der Gleichstellung und der Integration der Behinderten bei. Wir rufen an dieser Stelle die wichtigen Revisionen kurz in Erinnerung, die bereits Gegenstand von Anträgen im Parlament waren oder die noch in dieser Legislatur zur Beratung gelangen. Ferner werden zur Zeit im Arbeitsbereich Massnahmen auf ihre Eignung zur Integration von Behinderten geprüft.

4.4.2

Revision des Bundesgesetzes über die Berufsbildung

Der Entwurf zu einem neuen Bundesgesetz über die Berufsbildung166, das unter anderem zum Ziel hat, den Ausgleich der Bildungschancen zu fördern und zu entwickeln (Art. 3 lit. c), bildet die rechtlichen Grundlagen im Hinblick auf vollständige und gezielte Bildungsangebote. So erlaubt die verbesserte Differenzierung zwischen Grundbildung (Berufslehre, berufspraktische Ausbildung, Berufsfachschulen, Berufsmaturität), der höheren Berufsbildung (Berufsprüfungen, höhere Fachschulen) und der berufsorientierten Weiterbildung eine angemessenere Antwort auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Forderungen. Die Gestaltung einer grösseren Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Bildungsrichtungen (Grundsatz, wonach es kein Diplom ohne Anschluss gibt), die Einführung verschiedener Bewertungsmethoden und -instrumente (Verzicht auf Prüfung im strengen Sinne des Wortes zu Gunsten von Qualifikationsverfahren) und die Möglichkeit, von der üblichen Bildungsdauer abzuweichen (Art. 14 Abs. 2) sind ebenfalls Bestimmungen, die zur Anpassungsfähigkeit der neuen Regelung über die Berufsbildung beitragen. Diese Regelung ist auch zum Vorteil der behinderten Personen, deren Bildungsweg oft 165 166

SR 172.212.1; AS 2000 1837 Botschaft vom 6. September 2000 zu einen neuen Gesetz über die Berufsbildung, BBl 2000 5686.

1791

zwangsläufig nicht linear oder in einem anderen Rhythmus verläuft als derjenige Nichtbehinderter.

Überdies erlaubt der Gesetzentwurf dem Bund, Pauschalen an die Kantone auszurichten, namentlich für die fachkundige individuelle Begleitung (Art. 54 Abs. 2 Bst. a Ziff. 5 in Verbindung mit Art. 28), sowie Beiträge für besondere Leistungen im öffentlichen Interesse, insbesondere für Leistungen zu Gunsten von benachteiligten Gruppen (Art. 56 Abs. 1 lit. d in Verbindung mit Art. 7), oder schliesslich für Massnahmen zu Gunsten des Verbleibs im Beruf und des beruflichen Wiedereinstiegs (Art. 56 Abs. 1 lit. e in Verbindung mit Art. 36 Abs. 2).

Die neue vorgeschlagene Regelung will somit einen angemessenen Ausgleich schaffen zwischen der Sorge, die Bildungen je nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen zu individualisieren, und der Sorge, die Qualität der Bildung zu gewährleisten. Das neue vorgeschlagene Gesetz entspricht somit dem Geist von Art. 8 Abs. 4, und bildet in diesem Sinne eine derjenigen Massnahmen, die geeignet sind, die Benachteiligungen der Behinderten zu beseitigen.

4.4.3

Revision der Invalidenversicherung

Eines der mit dieser Revision verfolgten Ziele besteht in der Verbesserung der Leistungen der Invalidenversicherung, insbesondere durch die Einführung einer Assistenzentschädigung. In unserer Botschaft zum ersten Teil167 der 4. Revision der Invalidenversicherung haben wir die Einführung einer Entschädigung dieser Art bereits angekündigt168. Wir haben diesen Antrag im Rahmen des am 4. Juli 2000 eröffneten Vernehmlassungsverfahrens zum Revisionsentwurf der IV aufrechterhalten169.

Die Assistenzentschädigung ist laut dem Vernehmlassungsentwurf dafür bestimmt, die heutige Hilflosenentschädigung, die Pflegebeiträge für die minderjährigen Hilflosen sowie die Entschädigung für Hauspflege zu ersetzen. Sie zielt darauf ab, die Selbstständigkeit von Behinderten, die eine Assistenz benötigen, zu erhöhen, indem ihnen die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um ein eigenständiges Leben zu führen. Es handelt sich dabei somit um eine wichtige Massnahme, um den behinderten Personen die Integration in das tägliche soziale Leben zu erleichtern.

Nach dem vorgesehenen Modell hat die behinderte Person im Sinne von Artikel 4 IVG Anspruch auf die Assistenzentschädigung, sofern die gesetzlichen Bedingungen, das heisst ein Assistenzbedürfnis, eine einjährige Karenzfrist und Wohnsitz in der Schweiz, erfüllt sind.

Der Betrag der Entschädigung variiert je nach der Schwere des Assistenzerfordernisses, das heisst in Abhängigkeit von der Fähigkeit, die alltäglichen Lebensverrichtungen ohne Dritthilfe zu bewältigen oder in Abhängigkeit von der Überwachungsbedürftigkeit der betroffenen Person. An Erwachsene wird die Entschädigung 167

Ursprünglich in zwei Teile getrennt, wurde die IV-Revision nach der Ablehnung des Gesetzes vom 26. Juni 1998 in einem einzigen Verfahren vereint (BBl 1998 3479; 1999 7293).

168 BBl 1997 IV 149, 162 169 BBl 2000 3775; siehe die Art. 42 bis 42quater des Vorentwurfs zur IVG-Revision und die Erläuterungen vom Juni 2000, Ziffer 231, S. 26 ff.

1792

in Form einer monatlichen Pauschale in Prozenten des Betrags der Altersrente ausgerichtet; an Minderjährige für jeden zu Hause verbrachten Tag.

Die Verbesserung der Leistungen, die sich aus der vorgeschlagenen Assistenzentschädigung ergibt, kommt vor allem den Kindern und Jugendlichen zu Gute, die in ihren Familien leben, sowie den erwachsenen Behinderten und den Behinderten, die an einer leichten psychischen oder geistigen Einschränkung leiden und zu Hause leben. Der Betrag der Assistenzentschädigung wird für Personen, die zu Hause leben, im Vergleich zur heutigen Hilflosenentschädigung generell erhöht (die Zulage wird verdoppelt). Ferner sieht der Vorentwurf für schwer behinderte Minderjährige, deren Zustand eine dauernde Pflege erfordert, eine besondere Entschädigung vor. Für Behinderte, die an einer leichten psychischen oder geistigen Behinderung leiden, würde ebenfalls eine Assistenzentschädigung eingeführt.

Die zusätzlichen Kosten für die Einführung der Assistenzentschädigung werden auf 153 Millionen Franken geschätzt (bezogen auf den Preis von 2000). Sie werden wohl ­ wie dies schon das Abkommen vom 8. Oktober 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft sowie ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit170 bezüglich die Hilflosenentschädigung vorsieht ­ ganz von der öffentlichen Hand getragen werden, das heisst zu 87,5% durch den Bund und zu 12,5% durch die Kantone (vgl. Art. 77 Abs. 2 und 78 Abs. 2 des Vorentwurfs der IVG-Revision). Diese Regelung der Finanzierung soll vermeiden, dass Geldleistungen im Fall von Alter und Invalidität in die Länder der EU geleistet werden müssen, die durch Beiträge der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finanziert werden171.

4.4.4

Anreizmechanismen zur Beschäftigung

Die Integration von Behinderten in die Gesellschaft hängt wesentlich von ihrer Integration in das Berufsleben ab. Nun hat eine behinderte Person beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder beim Start zu einer beruflichen Karriere oft wesentlich grössere Hindernisse zu überwinden als eine nicht behinderte Person. Diese Schwierigkeiten sind teilweise auf weit verbreitete Vorurteile zurückzuführen, und nur eine Politik der Anreize lässt darauf hoffen, dass sie aus der Welt geschafft werden können.

Wie bereits im Begleitbericht zum Vorentwurf für die 4. IVG-Revision dargetan, hat eine interne Arbeitsgruppe unter der Leitung des Eidgenössischen Departements des Innern (BSV) verschiedene Mechanismen geprüft, um behinderte Personen zur Beschäftigung zu ermuntern172. Vorerst haben wir gestützt auf diese Arbeiten festgestellt, dass solche Mechanismen, die wesentliche den Arbeitgebern insbesondere in Form von Finanzhilfen oder Steuerabzügen zugestandene Gegenleistungen bedingen, nicht im Rahmen der 4. IVG-Revision bewerkstelligt werden können173. Doch verdient das Problem, aus der breiteren Perspektive des neuen Gesetzgebungs170 171 172

BBl 1999 8643 Vgl. erläuternden Bericht vom Juni 2000 zur 4. IV-Revision, Ziffer 77, S. 84 «Anreizmechanismen zur Beschäftigung von Behinderten», Bericht der Arbeitsgruppe «Anreizsysteme» vom 26. März 1999. Dieser Bericht, welcher vom BSV veröffentlicht wurde, war Gegenstand einer kurzen Zusammenfassung in der «Zeitschrift für Soziale Sicherheit» 6/1999, S. 293 ff.

173 4. IV-Revision, Bericht vom Juni 2000, Ziffer 261. S.60.

1793

Auftrags gemäss Artikel 8 Absatz 4 BV vertieft zu werden. Zu diesem Zweck haben wir das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (Seco/Direktion für Arbeit) beauftragt, zusammen mit dem Eidgenössischen Departement des Innern, dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement sowie dem Eidgenössischen Finanzdepartement dieses Thema weiter zu verfolgen und bis Sommer 2001 einen ergänzenden Bericht über die Notwendigkeit von Anreizmechanismen zur Beschäftigung und über die Analyse dieser Mechanismen vorzulegen, dies in Berücksichtigung der zur Zeit bestehenden wirtschaftlichen und strukturellen Daten des Arbeitsmarktes. Auf der Grundlage dieses Berichts werden wir dann entscheiden, ob den Räten beantragt werden soll, ergänzende gesetzgeberische Massnahmen zu beschliessen, um den Gleichstellungsauftrag zu Gunsten der behinderten Personen im Bereich von Beschäftigung und Arbeit zu konkretisieren.

4.4.5

Revision des Radio- und Fernsehgesetzes

Fernsehen ist ein besonders verbreitetes Kommunikationsmittel unserer modernen Gesellschaft und ein wirksames Kommunikations- und Integrationsmittel. Behindertenkreise verlangen denn auch mit Nachdruck, dass ihren besonderen Bedürfnissen bei der Programmproduktion Rechnung getragen wird. Gegenwärtig wird etwa die Hälfte der Kosten für Untertitelung von Sendungen der SRG indirekt von der Invalidenversicherung getragen. Diese zahlt gestützt auf Artikel 74 des IVG Beiträge an die Organisationen der privaten Invalidenhilfe, die einen Teil dieser Mittel für die Finanzierung der Untertitelung von SRG-Sendungen einsetzen. Die Untertitelung eines angemessenen Teils der Sendungen muss Teil der Grundversorgung bleiben.

In diesem Sinne schlugen wir im Vorentwurf eines Behindertengesetzes, das am 4. Juni 2000 in die Vernehmlassung geschickt wurde, eine Änderung des Radio- und Fernsehgesetzes vom 21. Juni 1991174 vor. Diese Änderung sah die Pflicht für nationale und sprachregionale Programmveranstalter vor, einen angemessenen Teil der Programme behindertengerecht auszugestalten (Art. 3 Abs. 4 neu)175. Da dieses Gesetz gegenwärtig totalrevidiert wird, haben wir hier auf eine Änderung verzichtet.

Wir werden bei der Revision des RTVG aber den Gedanken aufnehmen, die Pflichten der Grundversorgungs-Konzessionäre und der Zugangsberechtigten, die sich aus dem Grundsatz der Gleichstellung der Behinderten ergeben, genau festzulegen.

4.4.6

Revision des Bundesgesetzes über die Arbeitslosenversicherung

Im Unterschied zum AHV-Gesetz176 zählt das Arbeitslosenversicherungsgesetz177 für die Beitragszeit jene Zeit nicht, während der ein Versicherter sich der Betreuung Angehöriger widmet, die Empfänger einer Hilflosenentschädigung sind (Betreuungsgutschriften). Es kennt nur eine Gutschrift für Erziehungsaufgaben (Art. 13 Abs. 2bis). Da diese Betreuungsaufgaben unzweifelhaft als eine wirtschaftliche Leis174 175 176 177

RTVG, SR 784.40 Vgl. Ziff. 5 von Art. 12 (Änderung geltenden Rechts) des Vernehmlassungsentwurfs.

SR 831.10, Art. 29septies AVIG, SR 837.0

1794

tung zu betrachten sind, auch wenn sie keine entlöhnte Erwerbstätigkeit darstellen, sollen die damit befassten Personen im Verhältnis zu anderen Arbeitnehmern nicht benachteiligt werden. Das Fehlen einer solchen Betreuungsgutschrift kann auch eine abschreckende Wirkung haben, indem gewisse Personen auf die Betreuung behinderter Angehöriger verzichten. Die geltende Regelung muss deshalb im Lichte des Auftrags von Artikel 8 Absatz 4 BV überdacht werden.

Im Vorentwurf des am 4. Juni 2000 in die Vernehmlassung geschickten Behindertengleichstellungsgesetzes haben wir beantragt, Artikel 13 Absatz 2bis AVIG mit einer neuen Bestimmung zu ergänzen, welche die für Betreuungsaufgaben aufgewendete Zeit ausdrücklich der Erziehungsarbeit gleichstellt178. Wir haben auch die Möglichkeit erwähnt, auf dem Wege der Auslegung von Artikel 14 Absatz 2 AVIG (Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit)179 vorzugehen.

Soweit die befragten Kreise zur Frage Stellung bezogen haben180, haben sie sich überwiegend positiv zur Änderung von Artikel 13 Absatz 2bis AVIG ausgesprochen.

Diese Lösung wird derjenigen der Auslegung aus offensichtlichen Gründen der Transparenz und Rechtssicherheit vorgezogen181.

Wir haben dennoch entschieden, die Prüfung dieser Frage im Rahmen des vorliegenden Gesetzesentwurfs fallen zu lassen und diesbezüglich im Rahmen der AVIGRevision 2003182 nach einer angemessenen Antwort zu suchen.

4.4.7

Arbeiten an einem Bundesgesetz über die Amtssprachen des Bundes und über die Förderung der Verständigung zwischen den sprachlichen und kulturellen Gemeinschaften der Schweiz

Eine paritätische Arbeitsgruppe aus Vertretern des Bundes und der Kantone ist beauftragt, einen Vorentwurf eines Bundesgesetzes zu erarbeiten, das den Auftrag von Artikel 70 BV erfüllt. Dieser Vorentwurf soll im ersten Quartal 2001 in die Vernehmlassung geschickt werden.

Nach den ersten Ergebnissen der Arbeitsgruppe könnten Förderungsmassnahmen ergriffen werden zur Unterstützung der Kantone im Bereich der schulischen und beruflichen Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Seh- und Hörbehinderungen (beispielsweise Förderung der Gebärdensprache oder der Blindenschrift) oder zur Unterstützung von privaten Organisationen, die das Erlernen der verschiedenen an die Bedürfnisse seh- und hörbehinderter Personen angepassten Sprachen fördern.

178

Vgl. Ziffer 6 zu Art. 12 (Änderung des geltenden Rechts) des Vorentwurfs des Behindertengesetzes.

Vgl. die Erläuterungen zum Vorentwurf , S. 23.

Die meisten der befragten Kreise haben keine Antwort zum Teil des Vorentwurfs des Gesetzes geliefert, der die Änderungen des geltenden Rechts betrifft (vgl. auch Ziff. 4.1.2).

181 Zu Gunsten dieser Änderung haben sich die Kantone LU, ZG, GR, GE, das Eidgenössische Versicherungsgericht, die Kommission für Frauenfragen (unter Vorbehalt einer Textanpassung) und zwei Organisationen ausgesprochen. Nur eine Organisation hat verlangt, auf diese Änderung zu verzichten.

182 Der Vorentwurf der AVIG-Revision befindet sich bis zum 7. Dezember 2000 in der Vernehmlassung. Er sieht keine Änderung von Art. 13 Abs. 2bis vor, wie sie vorliegend diskutiert wird. Die diesbezügliche Prüfung erfolgt bei der Vorbereitung der Botschaft und des Gesetzesentwurfs zum AVIG.

179 180

1795

4.4.8

Neuer Finanzausgleich

Mit Bezug auf den neuen Finanzausgleich (NFA) erfordert der vorliegende Gesetzesentwurf insbesondere in einem Punkt eine Prüfung, und zwar hinsichtlich der Finanzhilfen für die Programme zur besseren Integration von Personen mit Behinderungen in die Gesellschaft (Art. 12 Abs. 3 des Gesetzesentwurfs). Im Übrigen haben auch die Artikel 4 (Verhältnis zum kantonalen Recht) und 14 (Besondere Bestimmung für die Kantone) Bezug zum NFA.

Gemäss seinem globalen Ansatz erstreckt sich die Politik der Integration der Behinderten auf zahlreiche Gesetzgebungsbereiche, und die Idee der Integration muss in jedem dieser Bereiche konkretisiert werden (Querschnittaufgabe). Im Sinne des NFA stellt sie zum Teil eine Verbundaufgabe (gemeinsame Erledigung) von Bund und Kantonen dar. Eine teilweise Entflechtung ist möglich. So wird der Bund im Bereich der Finanzhilfen für die Integrationsprogramme nur die gesamtschweizerischen Programme unterstützen und sich an der Finanzierung von öffentlichen oder privaten Organisationen nur dann beteiligen, wenn sie auf Landesebene oder sprachregional tätig sind. Diese Lösung entspricht derjenigen im Bereich der kollektiven Leistungen der IV183. Die verfassungsmässige Grundlage (zur Zeit Art. 112 Abs. 6 BV), worauf die in Artikel 12 Absatz 3 des Entwurfs vorgesehenen Förderungsmassnahmen beruhen, findet sich in Artikel 112ter des NFA-Entwurfs (Subventionierung der privaten Alters- und Invalidenhilfe)184.

Was die Finanzhilfen zu Gunsten der Unternehmen des öffentlichen Verkehrs anbelangt (Art. 17 des Entwurfs), handelt es sich um Hilfen an die Transportunternehmen, und in diesem Sinne gehören sie nicht direkt zum NFA.

5

Auswirkungen des indirekten Gegenentwurfs

5.1

Allgemeines

Die Angaben zu den finanziellen Auswirkungen basieren mehrheitlich auf groben Schätzungen und nicht auf genauen Berechnungen. Der Grund dafür liegt zum einen in der knappen Zeit, die dem Bundesrat für die Ausarbeitung des indirekten Gegenentwurfs zur Volksinitiative zur Verfügung stand. Zudem fehlen noch Ausführungbestimmungen über technische Normen, die als Grundlage für Berechnungen unabdingbar sind. Schliesslich lässt das gewählte Konzept nur Schätzungen zu, weil das Behindertengesetz zu einem wichtigen Teil nur ein Ziel, nämlich die behindertengerechte Ausgestaltung von Bauten und Dienstleistungen, vorgibt, den Anbietern aber keine Vorschriften macht über die Art und Weise, wie dieses Ziel zu erreichen ist.

Nach dem Konzept des Behindertengesetzes tragen die Kosten der Massnahmen zu Gunsten Behinderter grundsätzlich jene, die sie durchführen. Insbesondere den Eigentümern öffentlich zugänglicher Bauten und Anlagen sowie den Anbietern von Dienstleistungen fallen deshalb in bestimmten Fällen zusätzliche Kosten an. Nutz183

Siehe «Der neue Finanzausgleich zwischen Bund und Kantonen»; Schlussbericht der vom Eidgenössischen Finanzdepartement und der Konferenz der Kantonsregierungen gemeinsam getragenen Projektorganisation vom 31. März 1999, Ziffer 4.4.3, S. 72 ff.

184 Siehe S. 12 von Anhang A des NFA-Berichts.

1796

niesser der vorgeschlagenen Massnahmen sind zunächst Menschen mit Behinderungen, daneben aber auch zahlreiche andere Personen, namentlich die Betagten und die Erwachsenen mit Kleinkindern. Es handelt sich dabei um namhafte Bevölkerungsgruppen: Im Jahr 1998 zählte die Schweiz 325 800 Kleinkinder bis zu 4 Jahren. Die Zahl der 65­79-Jährigen betrug in diesem Jahr 798 143, jene der über 80-Jährigen 281 655. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Betagten im Verhältnis zu jener jüngerer Personen und die Lebenserwartung in den kommenden Jahren zunehmen wird. Schliesslich ist zu beachten, dass grundsätzlich alle Personen dem Risiko ausgesetzt sind, durch Krankheit, Unfall oder andere Umstände behindert zu werden. Dieses Risiko erhöht sich stark mit zunehmendem Alter (vgl. Grafik 1 zum Invaliditätsrisiko im Anhang 1). Neben der in erster Linie anvisierten Zielgruppe der Behinderten wird demnach ein grosser zusätzlicher Teil unserer Bevölkerung in hohem Masse von den Verbesserungen der Infrastrukturen und der Dienstleistungsangebote, wie sie mit dem Gesetzesentwurf vorgeschlagen werden, profitieren.

5.2

Auswirkungen auf den Bund

5.2.1

Finanzielle Auswirkungen

Bauliche Anpassung von Gebäuden und Anlagen Der Bundesrat hat am 6. März 1989 Weisungen über bauliche Vorkehren für Behinderte erlassen185. Darin wird die Norm SN 521 500/1988 «Behindertengerechtes Bauen» der Schweizerischen Zentralstelle für Baurationalisierung (CRB) für Bauten und Anlagen, die der Bund baut oder subventioniert, verbindlich erklärt. Die Normen sind sowohl für Neubauten als auch für Erweiterungsbauten und grössere Umbauten massgeblich. Die erwähnten Weisungen finden im Behindertengesetz nun eine ausdrückliche Grundlage (Art. 10 Abs. 2). Für Bundesbauten und für die durch den Bund subventionierten Bauten ist deshalb mit einer Zunahme von 2­5% der Umbau- und Renovationskosten zu rechnen.

Die öffentliche Hand hat 1998 insgesamt 6,7 Milliarden Franken für den Hochbau ausgegeben. Davon entfielen 343 Millionen Franken auf Gebäude mit Wohnungen.

Das Bauvolumen des Bundes schwankt von Jahr zu Jahr und beträgt im Durchschnitt etwa 200 Millionen Franken, sodass in diesem Bereich zusätzliche Kosten von rund 4­10 Millionen Franken anfallen. Bei den wenigen Genossenschaftswohnungen des Bundespersonals, die mehr als 8 Wohneinheiten aufweisen, dürften die Mehrkosten im Renovationsfall etwa 10­20% betragen. Der Bund subventioniert jährlich Bauten mit einer gesamten Bausumme von etwa 800 Millionen Franken.

Der Anteil des Bundes variiert je nach Bereich und beträgt im Durchschnitt etwa 20%, sodass sich in diesem Bereich jährliche Mehrkosten von etwa 3­8 Millionen Franken ergeben. Von den insgesamt rund 15 000 Genossenschaftswohnungen des Bundes für seine Angestellten befinden sich etwa drei Viertel in Gebäuden mit mehr als acht Wohneinheiten. Die jährlichen Umbauten und Renovationen in diesen Gebäuden kosten im Durchschnitt 20 Millionen Franken. Die durch die behindertengerechte Anpassung bedingten Mehrkosten werden auf 2­4 Millionen geschätzt.

185

BBl 1989 I 1508, vgl. Ziff. 4.3.2 (zu Art. 10)

1797

Für die behindertengerechte Ausgestaltung der Bauten, die dem Rat der Eidgenössischen Technischen Hochschulen unterstellt sind, ist mit baulichen Anpassungen in der Höhe von rund 10 Millionen Franken zu rechnen 186. Diese Kosten verteilen sich auf eine Zeitperiode, deren Dauer vom Renovationsrhythmus abhängt.

Bei der Erfüllung seiner Aufgaben hat der Bund sowohl die Anliegen der Behinderten als auch die Interessen der Denkmalpflege zu berücksichtigen. Im Einzelfall können dem Bund deshalb bei der behindertengerechten Ausgestaltung von Bauten zusätzliche Kosten durch die Beachtung denkmalpflegerischer Aspekte entstehen.

Das Ausmass dieser Kosten lässt sich nur im konkreten Einzelfall beziffern.

Für künftige Strassenbauten ergeben sich für den Bund in der Regel keine nennenswerten Mehrkosten. Eine behindertengerechte Ausgestaltung der Fluchtwege in Tunnels könnte hingegen die Baukosten spürbar erhöhen.

Die erwähnten Kosten sind im Rahmen der bewilligten Kredite durch die Verlagerung von Prioritäten aufzufangen.

Anpassung der Dienstleistungen des Bundes Der Bund erbringt verschiedene Dienstleistungen, die einem breiten Publikum angeboten werden. Zu erwähnen sind beispielsweise die Landesbibliothek, das Landesmuseum in Zürich und Prangins, das Eidgenössische Handelsregister, das Bundesarchiv, die Eidgenössische Sportschule Magglingen sowie die Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH) in Zürich und Lausanne. Die Dienstleistungen dieser Institutionen müssen Menschen mit Behinderungen grundsätzlich zugänglich sein. Es ist nicht mit umfangreichen Anpassungen und deshalb auch nicht mit nennenswerten Mehrauslagen zu rechnen.

Personalkosten Das Behindertengesetz wirkt sich für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderungen insofern positiv aus, als sie beim Bund verbesserte Anstellungschancen erhalten. Die vermehrte Anstellung von Menschen, die trotz Behinderung voll leistungsfähig sind, führt möglicherweise zu erhöhten Kosten für die Ausgestaltung und Anpassung der Arbeitsplätze. Die Mehraufwendungen lassen sich jedoch zur Zeit nicht beziffern.

Mit der Anstellung von Personen, die wegen ihrer Behinderung kein volles Arbeitspensum erbringen können (so genannte Erwerbsbehinderte), entstehen zusätzliche Kosten. Zurzeit wendet der Bund für rund 160 solche Personen 7,5 Millionen Franken jährlich
auf. Da sich kaum abschätzen lässt, wie stark sich der Anteil dieser Personen am Gesamtbestand des Personals steigern lässt, können die finanziellen Folgen in dieser Hinsicht nicht näher konkretisiert werden.

Die erwähnten Kosten sind im Rahmen der bewilligten Kredite durch die Verlagerung von Prioritäten aufzufangen.

Verfahrenskosten Mit dem subjektiven Beschwerderecht werden säumige Eigentümer oder Dienstleistungsanbieter zum Handeln gezwungen. In welchem Umfang vom Beschwerderecht Gebrauch gemacht werden wird, lässt sich zur Zeit nicht abschätzen. Das Behindertengesetz sieht verschiedene Übergangsfristen für den öffentlichen Verkehr 186

Wichtigste Positionen: ETH Zürich (5,3 Mio. Franken), Eidg. Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (3 Mio. Franken)

1798

vor, sodass den durch das Gesetz Verpflichteten angemessene Zeit zum Handeln zur Verfügung steht. Der Rechtsanspruch auf Beseitigung der Benachteiligung bzw. auf eine Ersatzlösung besteht jedoch schon ab Inkrafttreten des Gesetzes. Es wird ab Inkrafttreten gleichzeitig auch eine präventive Wirkung auf Anbieter von Dienstleistungen und auf Grundeigentümer haben. Damit dürfte das Konfliktpotential eher gering sein; es ist nicht mit einer Flut von Beschwerden zu rechnen.

Das Beschwerderecht, das den Behindertenorganisationen eingeräumt wird, ermöglicht den Berechtigten, in einem frühen Verfahrensstadium (Plangenehmigung, Fahrzeugzulassung) einzugreifen. Es gewährleistet, dass die Anliegen Behinderter von Anfang an in die Ausgestaltung von Dienstleistungen einbezogen werden. Dadurch kann die Zahl der Beschwerden betroffener Personen im Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Dienstleistungen (subjektive Rechte gemäss Art. 7) auf einem sehr tiefen Niveau gehalten werden. Quantitative Schätzungen über die Zahl der zu erwartenden Beschwerden und die dadurch bedingte Mehrbelastung der Beschwerdeinstanzen sind in diesem Bereich zur Zeit zwar nicht möglich. Die Erfahrungen mit der Verbandsbeschwerde im Umweltschutzbereich zeigt indessen, dass von diesem Instrument massvoll und überdurchschnittlich oft mit Recht Gebrauch gemacht wird 187. Mit dem Beschwerderecht wird im Übrigen ein Instrument eingesetzt, an dessen Stelle sonst entsprechende Konstrollinstanzen der Verwaltung aufgebaut werden müssten.

Programme und Beratung Mit Artikel 12 und 13 soll der Bund beauftragt werden, in den verschiedenen Bereichen Programme zur Integration Behinderter selbst zu lancieren und durchzuführen wie auch mit Dritten gemeinsam an die Hand zu nehmen. Erfahrungsgemäss sind für eine nachhaltige Integrationspolitik auch entsprechende Informations- und Sensibilisierungsmassnahmen erforderlich. Um hier eine wirkungsvolle Aufbauarbeit leisten zu können, sind anfänglich finanzielle Mittel von rund 5­8 Millionen Franken jährlich zur Verfügung zu stellen.

Evaluationen Die ergriffenen Massnahmen sollen periodisch in einer Evaluationsexpertise auf ihre Wirksamkeit und Treffgenauigkeit untersucht werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden es den politischen Organen erlauben, die Behindertenpolitik zielgerichtet weiterzuentwickeln. Für
die Evaluation ist mit jährlichen Kosten von etwa Fr. 250 000.­ zu rechnen.

Öffentlicher Verkehr Vom Behindertengleichstellungsgesetz soll ein Impuls ausgehen, der eine beschleunigte Anpassung der Infrastrukturen namentlich auch im öffentlichen Verkehr bewirkt. Die ordentlichen Ersatz- und Renovationsrhythmen sind in diesem Bereich mit bis zu 50 Jahren eindeutig zu langsam. Der öffentliche Verkehr ist über weite Strecken auf die finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen.

Deshalb werden sich Bund und Kantone auch an den Mehrkosten beteiligen müssen, die durch die Umstellung auf behindertengerechtere Bauten, Anlagen und Fahrzeuge in der Übergangsphase nach Artikel 16 entstehen.

187

Vgl. die Untersuchung von A. Flückiger, Ch. A. Morand, Th. Tanquerel, Evaluation du droit de recours des organisations de protection de l'environnement, BUWAL, Bern 2000

1799

Am Verteilschlüssel der Kosten im öffentlichen Verkehr zwischen Bund und Kantonen soll im Rahmen dieser Vorlage grundsätzlich nichts geändert werden. Artikel 17 verpflichtet in diesem Sinn sowohl den Bund als auch die Kantone, den Verkehrsunternehmen im Bereich ihrer Zuständigkeit Finanzhilfen zu gewähren. Für den Bund wird ein Zahlungsrahmen von 300 Millionen Franken verteilt auf die Dauer von 20 Jahren vorgesehen. Weitere Ausführungen zu den Kosten im öffentlichen Verkehr vgl. Ziff. 5.4.2.

Sozialversicherung Die individuellen Leistungen nach den Artikeln 16­19 und 21 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung 188 werden durch den bundesrätlichen Gegenentwurf nicht tangiert. Hingegen ergeben sich Überschneidungen des kollektiven Bereichs der Invalidenversicherung (Art. 73 f. IVG) und den in den Artikeln 12 und 13 des Gesetzesentwurfs vorgesehenen Massnahmen (Programme, Information und Beratung). Da mit dem Gegenentwurf eine Ergänzung der IVG-Massnahmen angestrebt wird, ergeben sich keine finanziellen Auswirkungen auf die Invalidenversicherung.

Auf Verordnungsebene ist indessen für die Koordination der Massnahmen zu sorgen, die sich auf diese beiden Gesetze stützen189.

Mit einer stärkeren Integration Behinderter im Arbeitsprozess wird unter Umständen nicht nur die Invalidenversicherung entlastet, sondern auch nicht unwesentlich die Arbeitslosenversicherung. Stellenlose Behinderte, die vermittlungsfähig sind, gelten wie auch Nichtbehinderte als arbeitslos und haben somit Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung.

Steuereinnahmen Die vorgeschlagenen Änderungen im Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer führen zu einer Steuerentlastung behinderter Steuerpflichtiger. Es fehlen die statistischen Grundlagen, um die Grössenordnung dieser Entlastung genau zu quantifizieren. Der Ausfall von Steuereinnahmen dürfte jedoch insgesamt sehr gering sein.

Die verschiedenen im Behindertengesetz vorgesehenen Massnahmen sollen dazu führen, dass Behinderte vermehrt in die Gesellschaft und damit auch in den Arbeitsprozess integriert werden können. Die damit erzielten Einkommen werden eine Zunahme der Einnahmen bei den direkten und indirekten Steuern bewirken. Auch hier lassen sich zur Zeit keine verlässlichen quantitativen Angaben machen.

Informatik Auf die Informatik sind keine Auswirkungen zu erwarten.

5.2.2

Personelle Auswirkungen

Verschiedene Verwaltungseinheiten haben bereits Fachstellen für Behindertenfragen eingerichtet, so beispielsweise das Bundesamt für Verkehr. Für umfassende Fragen und Aufgaben (Vollzug im Allgemeinen, Beratung, Betreuung der Förderungsprogramme) drängt sich indessen eine neue, in der allgemeinen Bundesverwaltung integrierte Verwaltungsstelle auf, der unter anderem auch die Koordination der Ar-

188 189

IVG, SR 831.20 Vgl. auch Ziff. 4.3 (zu Art. 12) und Ziff. 4.3.5

1800

beiten und der Kriterien in den verschiedenen schon bestehenden Fachstellen obliegen müsste. Die Bewältigung dieser Aufgaben verlangt die Schaffung zusätzlicher drei bis vier Stellen. Es ist vorgesehen, diese Verwaltungseinheit dem EDI (wahrscheinlich dem Bundesamt für Sozialversicherung) anzugliedern, das mit den entsprechenden Mitteln auszustatten ist190.

5.2.3

Übersicht über die finanziellen Auswirkungen

Die jährlichen finanziellen Mehraufwendungen des Bundes lassen sich wie folgt zusammenfassen: Massnahmen

Kostenschätzung (in Mio. Fr. jährlich)

Bauten des Bundes Subventionen für die vom Bund mitfinanzierten Bauten Genossenschaftswohnungen des Bundes Bauten, die der ETH unterstellt sind191 Programme und Beratung Evaluationen Finanzhilfen an den öffentlichen Verkehr192

4­10 3­8 2­4 2 5­8 0,25 15

Total

31,25­47,25

5.2.4

Ausgabenbremse

Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor, dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen, die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkehrende Ausgaben von mehr als zwei Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder bedürfen. Artikel 17 des Gesetzes und der Bundesbeschluss über die Finanzierung der Massnahmen im öffentlichen Verkehr zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen unterstehen demzufolge der Ausgabenbremse.

5.3

Auswirkungen auf die Kantone und die Gemeinden

5.3.1

Finanzielle Auswirkungen

190 191

Vgl. auch Ziff. 4.3.5 Es sind Gesamtkosten von 10 Millionen Franken zu erwarten, die sich je nach Renovationsrhythmus auf die nächsten Jahren verteilen. In der Tabelle wird von der Verteilung auf 5 Jahre ausgegangen.

192 Vorgesehen ist ein Zahlungsrahmen von 300 Millionen Franken für eine Zeitspanne von 20 Jahren (vgl. Art. 16 f.)

1801

Bauliche Anpassung der Gebäude und Anlagen Die Baugesetzgebung der Kantone ist in Bezug auf die Berücksichtigung der Anliegen Behinderter fortschrittlich193. Es kann davon ausgegangen werden, dass für die Anpassung der öffentlich zugänglichen Bauten der Kantone und Gemeinden keine grossen Zusatzkosten entstehen, da die Baugesetze bereits heute für Neubauten und oft auch schon für Renovationen die Beachtung der Anliegen der Behinderten vorsehen. Dasselbe gilt für die Anlagen, für die die Kantone oder die Gemeinden verantwortlich sind (Parks, Schwimmbäder, Stadien usw.).

Ein gewisser Handlungsbedarf ist bei den Fusswegen gegeben. Das Behindertengesetz greift aber auch hier nur bei Neubauten und bei umfassenden Sanierungen.

Kantone und Gemeinden sind also nicht gezwungen, die bestehenden Fusswege sofort den Bedürfnissen Behinderter anzupassen.

Es ist absehbar, dass künftig immer mehr Dienstleistungen elektronisch angeboten werden (Handelsregisterauskünfte, Kontakte mit der Einwohnerkontrolle, elektronische Abstimmungen usw.). Diese Entwicklung wird die Situation hinsichtlich der noch nicht behindertengerecht gestalteten Altbauten entschärfen.

Anpassung der Dienstleistungen der Kantone Die Kantone und Gemeinden erbringen verschiedene Dienstleistungen, die einem breiten Publikum angeboten werden. Zu erwähnen sind beispielsweise die Registerämter (Grundbuch, Handelsregister, Zivilstandsregister), Freizeit- und Sportanlagen, Museen, Theater usw. Die Dienstleistungen dieser Institutionen müssen Menschen mit Behinderungen grundsätzlich zugänglich sein. Quantitative Angaben für allfällige Anpassungen lassen sich im heutigen Zeitpunkt nicht machen.

Schulen Das Behindertengesetz verlangt von den Kantonen insbesondere, dass sie hör- und sehbehinderten Kindern im Rahmen des Grundschulunterrichts die Gebärdensprache beziehungsweise die Blindenschrift lehren. Auch hier soll die Integration in die Gesellschaft im Normalfall Vorrang haben vor möglicherweise kostengünstigeren Lösungen durch Sonderschulung.

Verfahrenskosten Für die Auswirkungen der neu eingeführten Klage- und Beschwerdemöglichkeiten im Sinne von Artikel 7 kann auf die Aussagen in Ziff. 5.2.1 verwiesen werden.

Öffentlicher Verkehr Wie schon in Ziffer 5.2.1 dargelegt, sind im Bereich des öffentlichen Verkehrs zusätzliche Mittel der Gemeinwesen
nötig, um den gewünschten Erneuerungsimpuls verwirklichen zu können. Am Verteilschlüssel der Kosten im öffentlichen Verkehr zwischen Bund und Kantonen soll im Rahmen dieser Vorlage jedoch grundsätzlich nichts geändert werden. Artikel 17 verpflichtet in diesem Sinn sowohl den Bund als auch die Kantone, den Verkehrsunternehmen im Bereich ihrer Zuständigkeit Finanzhilfen zu gewähren. Die Höhe der Mehrkosten dürfte sich für die Kantone bei einer Übergangsfrist von 20 Jahren in einer ähnlichen Höhe bewegen wie für den Bund, also etwa 300 Millionen Franken, verteilt auf diese Übergangsfrist. Weitere Ausführungen zu den Kosten im öffentlichen Verkehr vgl. Ziff. 5.4.2.

193

Vgl. Ziff. 2.3.2.3

1802

5.3.2

Personelle Auswirkungen

Das Behindertengesetz setzt keine besonderen Verwaltungseinheiten in den Kantonen oder Gemeinden voraus. Es ist mit keinen nennenswerten Mehrbelastungen zu rechnen.

5.4

Volkswirtschaftliche Auswirkungen

5.4.1

Zugang zu Gebäuden und Anlagen

Die bauliche Anpassung öffentlich zugänglicher Gebäude und Anlagen kommt in erster Linie den mobilitäts- und sehbehinderten Personen, die im Sinne des Gesetzesentwurfs als Personen mit Behinderungen zu betrachten sind, zugute. Darüber hinaus dienen diese Änderungen auch Betagten, deren Geh- und Sehfähigkeit abgenommen hat, sowie Erwachsenen mit Kleinkindern.

Zu beachten ist, dass das Baurecht in fast allen Kantonen schon heute Vorschriften für behindertengerechtes Bauen kennt194. Mit dem Behindertengesetz wird also nicht ein Bauteuerungsschub in der vollen Höhe der Kosten ausgelöst, die durch bauliche Massnahmen zu Gunsten Behinderter verursacht werden; der Zusatzaufwand dürfte sich angesichts der fortschrittlichen kantonalen Gesetzgebung auf einen Bruchteil dieser Summe beschränken.

Der vom Bund geförderte Wohnungsbau entspricht schon seit den Achtzigerjahren weitgehend den Anforderungen an behindertengerechtes Bauen. Deshalb ergeben sich durch die Vorlage nur bescheidene Mehrkosten. Betroffen sind etwa 20% der Gebäude. In diesen Bauten ist mit zusätzlichen Kosten vor allem durch den Einbau von Aufzügen (4% Mehrkosten) sowie durch Umgebungsarbeiten bei Bauten in Hanglagen oder bei speziellen Baugrundverhältnissen (felsiger Untergrund, hoher Grundwasserspiegel usw.; 4­6% Mehrkosten) zu rechnen. Mehr Gebäude sind im freitragenden Wohnungsbau betroffen, der staatlich nicht mitfinanziert wird: Handlungsbedarf besteht bei etwa 60% der Gebäude, da in diesem Segment die Norm SN 521 500 bis heute nur zögerlich umgesetzt wurde. Im Einzelfall dürften dieselben Mehrkosten anfallen wie beim geförderten Wohnungsbau (bis 4­10%). Zusammenfassend und gesamthaft betrachtet kann festgehalten werden, dass sich die Anlagekosten (Kosten inklusive Land) von Neubauten und umfassenden Renovationen durch die baulichen Massnahmen zu Gunsten Behinderter im Wohnungsbau um durchschnittlich 2½% verteuern.

Die Verpflichtung, öffentlich zugängliche Bauten behindertengerecht auszugestalten, erhöht die Baukosten der betroffenen Gebäude um 1­5%, wovon die Bauwirtschaft (Baumeister, Aufzughersteller, Gartenbauer, Umgebungsgestalter) profitiert.

Mieterinnen und Mieter von Wohnungen in Gebäuden mit mehr als acht Wohneinheiten kommen in den Genuss von Komfortsteigerungen (Liftanlagen, schwellenund treppenfreie Zugänge). Der Vermieter
kann die Mehrkosten für die Anpassung an die Bedürfnisse der Behinderten grundsätzlich, und soweit es die Marktlage erlaubt, auf die Mieten überwälzen.

Vermieter sind vom Behindertengesetz insofern betroffen, als Ersteller von Wohnbauten mit mehr als acht Wohneinheiten verpflichtet werden, diese behindertengerecht zugänglich zu machen. Die gleiche Pflicht gilt für umfassende Renovationen.

194

Vgl. Ziff. 2.3.2.3

1803

Dies wird sich tendenziell preiserhöhend auswirken. Für den privaten Wohnungsbau wurden etwa 17 Milliarden Franken, für den übrigen privaten Bau 10 Milliarden Franken aufgewendet. 1998 wurden 3437 Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 20 305 Wohnungen erstellt.

Wer als Eigentümer ein Hotel, ein Restaurant, ein Tearoom oder eine Bar betreibt oder betreiben lässt 195, wird durch die Pflicht belastet, neue oder total erneuerte Bauten und Anlagen behindertengerecht auszugestalten. In welchem Ausmass die Gastwirtschaftsbetriebe durch die verbesserten Angebote neue Gäste gewinnen und wegen der Überwälzung der Mehrkosten Kunden verlieren, lässt sich nicht genau schätzen.

Eigentümer von anderen öffentlich zugänglichen Gebäuden (z.B. Einkaufszentren, Gebäude für öffentliche Veranstaltungen, Banken) unterliegen ebenfalls der Pflicht, diese behindertengerecht zu bauen bzw. bei Totalsanierungen behindertengerecht zu erschliessen. Nicht angepasste Bauten werden mit der Zeit als nicht mehr zeitund standardgemäss beurteilt werden und entsprechend schlechtere Marktchancen haben.

Das verarbeitende Gewerbe dürfte vom Behindertengesetz durch Zusatzaufträge zusätzlich Aufträge an die Betriebe, die im Maschinenbau (z. B. Lifte), in der Herstellung von elektrischen und elektronischen Geräten zur Folge haben.

5.4.2

Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln

Zentraler Wirkungsbereich des Behindertengesetzes ist der öffentliche Verkehr.

Oftmals sind Lösungen mit individuellen statt öffentlichen Verkehrsmitteln denkbar.

Ziel des Gesetzes ist es jedoch, die Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft möglichst den nicht Behinderten gleichzustellen und sie zu integrieren. Soweit es wirtschaftlich vertretbar ist, sollen deshalb Transporte mit dem öffentlichen Verkehr bevorzugt werden, auch wenn die direkten Kosten mit speziellen individuellen Verkehrsmitteln möglicherweise tiefer wären.

Die konzessionierten Eisenbahnen einschliesslich der SBB haben 1996 329,6 Millionen Personen befördert, mit den Spezialbahnen zusätzliche 183,7 Millionen. Auf der Strasse werden mit öffentlichen Verkehrsmitteln jährlich etwa 1,1 Milliarden Personen befördert. Der Gesamtaufwand der SBB belief sich 1997 auf 6631,4 Millionen Franken, wobei die Abgeltungen 2360,6 Millionen Franken ausmachten. Der Gesamtaufwand der konzessionierten Bahnen betrug 1997 1552,8 Millionen Franken, die Abgeltungen beliefen sich auf 640,2 Millionen Franken.

Zur Abschätzung der Gesamtkosten im Bereich öffentlicher Verkehr hat das Bundesamt für Verkehr eine Umfrage bei den Transportunternehmen aller Kategorien (Eisenbahnen mit Normal- und Schmalspur, Busse, Tram, Seilbahnen, Schiffe) durchgeführt. Die weitaus höchsten Kosten entstehen bei den Eisenbahnen. Die nachfolgenden Zahlen basieren auf der Annahme, dass pro Zug ein Fahrzeug behindertengerecht ausgerüstet ist, dass die Perrons in den Stützbahnhöfen sowie in ausgewählten Bahnhöfen und Haltestellen bei Normalspurbahnen eine Höhe von 55 cm, bei Schmalspurbahnen von 35 cm aufweisen. Im Weiteren wird davon aus195

Anzahl Hotels (1999): 5826 Betriebe; Anzahl Restaurants, Tearooms und Bars (1998): 20 577.

1804

gegangen, dass Fahrzeuge mit geringer Laufleistung (Reserve) nicht besonders ausgerüstet werden. Unter diesen Annahmen sind für die Umsetzung des beantragten Gesetzes Gesamtkosten für alle Verkehrskategorien zusammen in der Grössenordnung von zwischen 264 Millionen Franken (25-jährige Anpassungsfrist) und 985 Millionen Franken (15-jährige Anpassungsfrist) zu erwarten 196. Die Anpassungen der Haltestellen allein beträgt dabei je nach Frist etwa 185 bzw. 488 Millionen Franken, die Verbesserung der Informationssysteme 2,5 bzw. 20 Millionen Franken.

Diese Zahlen veranschaulichen, dass die erwähnten Anpassungskosten stark davon abhängen, in welchem Zeitrahmen die Anpassungen vorgenommen werden. Sie steigen oder fallen mit einer Verkürzung beziehungsweise einer Verlängerung des Zeitraumes überproportional. Ohne zusätzliche Finanzhilfen des Bundes an die Verkehrsunternehmen müssten diese die Zusatzkosten durch weitere Rationalisierungsmassnahmen, vermutlich aber auch durch Leistungsabbau und/oder Erhöhung der Billettpreise auffangen. Damit würde der öffentliche Verkehr im Verhältnis zum Privatverkehr an Attraktivität verlieren.

Die Pflicht zur behindertengerechten Ausgestaltung von Bauten gilt auch für den Zugang zu Dienstleistungen des Flugverkehrs. Dem Flugverkehr und dem Betrieb der Flughäfen erwachsen aus dem vorgeschlagenen Gesetz keine nennenswerten Mehrkosten. Alle Fluggesellschaften haben ein besonderes Konzept für den Empfang und die Betreuung behinderter Flugpassagiere. Die Flughafengebäude sind schon heute weitgehend behindertengerecht ausgestaltet.

5.4.3

Bau und Ausrüstung der Fahrzeuge

Neu wird der Bund die Strassenverkehrsgesetzgebung, namentlich die Vorschriften über den Bau und die Ausrüstung von Fahrzeugen, besser auf die Bedürfnisse ausrichten können.

Die behindertengerechte Ausgestaltung von neuen Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs auf der Strasse (seitliches Absenken, elektrische Behindertenrampe, Rollstuhlplatz) verursachen zusätzliche Kosten in der Grösse von ca. Fr. 15 000.­ pro Fahrzeug. Bei einem Fahrzeugbestand von rund 5000 Bussen und 900 Tramfahrzeugen mit einer Lebenserwartung von 15 Jahren hätte dies Kosten von jährlich etwa 6 Millionen Franken zur Folge. Eine Anpassung bestehender Fahrzeuge wäre teurer und aus ökonomischer Sicht kaum verhältnismässig.

Das verarbeitende Gewerbe dürfte vom Behindertengesetz durch Zusatzaufträge profitieren. Die behindertengerechte Ausgestaltung von Fahrzeugen wird zusätzliche Aufträge an die Betriebe, die im Maschinenbau, in der Herstellung von elektrischen und elektronischen Geräten sowie im Fahrzeugbau (Schienenfahrzeuge, Busse) tätig sind, zur Folge haben.

196

Mit 25-jähriger Anpassungsfrist entfallen davon 8,8 Mio. Fr. auf die Busunternehmungen, 1 Mio. Fr. auf die Post, 190 Mio. Fr. auf die Normalspurbahnen, 59,7 Mio.

Fr. auf Schmalspurbahnen, 4 Mio. Fr. auf die Seilbahnen, 720 000 Fr. auf die Schiffe.

Mit 15-jähriger Anpassungsfrist entfallen davon 48 Mio. Fr. auf die Busunternehmungen, 19,2 Mio. Fr. auf die Post, 3,9 Mio. Fr. auf Tramunternehmungen, 609 Mio. Fr. auf die Normalspurbahnen, 294,2 Mio. Fr. auf Schmalspurbahnen, 8 Mio. Fr. auf die Seilbahnen, 2,4 Mio. Fr. auf die Schiffe.

1805

5.4.4

Dienstleistungen

Das Behindertengesetz hat Auswirkungen auf die privaten Anbieter allgemein zugänglicher kommerzieller und kultureller Dienstleistungen (Kinos, Theater, Restaurants, Hotels, Fernsehen, Sportstadien, Detailhändler, Internetprovider usw.). Vom Geltungsbereich erfasst werden unter anderem die über 20 regelmässig subventionierten Theater, die rund 450 kommerziellen Kinoräume und die gut 900 Museen.

Wer entsprechende Dienstleistungen öffentlich anbietet, darf Menschen mit Behinderungen nicht auf Grund ihrer Behinderung benachteiligen und ihnen beispielsweise generell den Zutritt verweigern. Die Dienstleistung selbst muss nicht behindertengerecht ausgestaltet werden. Dies bedeutet beispielsweise, dass ein Film weder untertitelt gezeigt noch der Vorführraum mit akustischen Hilfsmitteln für Menschen mit Hörbehinderung versehen werden muss. Ebenso wenig müssen Zeitungen auch in Brailleschrift angeboten werden.

Die Bauten, in denen Dienstleistungen angeboten werden, sind vom Eigentümer bei ihrer Erstellung oder bei Totalsanierungen behindertengerecht auszugestalten. Zur baulichen Seite gehören neben der Gestaltung des Eingangs auch die Erschliessung aller dem Publikum zugänglichen Bereiche wie Foyer, Toilettenanlagen usw. Eigentümer von Bauten, in denen Detailhandel betrieben wird, müssen beispielsweise dafür sorgen, dass die Verkaufsräume und die Kassen eines Warenhauses rollstuhlgängig sind und die Liftanlage eines Einkaufszentrums auch für Menschen mit Sehbehinderungen tauglich ist.

Die Tourismusbranche wird durch die Verbesserungen beim öffentlichen Verkehr von der erhöhten Mobilität Behinderter indirekt profitieren, andererseits wegen erhöhter Kosten möglicherweise andere Kunden verlieren.

Zu den Dienstleistungen des Gemeinwesens vgl. Ziff. 5.2.1 und 5.3.1.

5.4.5

Informatik

Die wachsende Verlagerung von Dienstleistungen auf informatiklastige Infrastrukturen wie das Internet bieten für viele Behinderte Erleichterungen im Alltag. Die Informatik eröffnet neue Möglichkeiten der Kommunikation und der Beschaffung von Gütern, was insbesondere Mobilitätsbehinderten zugute kommt. Über besondere Hilfsmittel sind auch Sehbehinderte grundsätzlich in der Lage, Bildschirmtexte zu lesen und zu verfassen. Der Dienstleistungsbegriff des Behindertengesetzes erfasst auch Internet-Dienstleistungen. Bei entsprechenden Angeboten ist deshalb darauf zu achten, dass diese nicht ausschliesslich über die Bildsprache aufgebaut werden, die sich für sehbehinderte Personen kaum erschliessen lässt. Auch im Bereich der Informatik gilt für das Gemeinwesen die Pflicht, seine Dienstleistungen behindertengerecht anzubieten, während Private Anbieter bloss das Diskriminierungsverbot zu beachten haben. Die schweizerische Rechtsordnung stösst beim international aufgebauten Internet zudem schnell an ihre Grenzen.

5.4.6

Fernmeldedienstleistungen

Die Einrichtungen der Telekommunikation sind gerade auch für Menschen mit Behinderungen von grosser Bedeutung; sie sollen deshalb möglichst unbehinderten 1806

Zugang zu entsprechenden Dienstleistungen haben. Wer die Dienste der Grundversorgung anbietet, muss ein Netz von öffentlichen Sprechstellen betreiben. Zurzeit findet eine Konzentration und eine Verdünnung des Angebots statt. Ein minimales Angebot soll aber bestehen bleiben. Die Verordnung vom 6. Oktober 1997 über Fernmeldedienste (FDV) sieht vor, dass öffentliche Sprechstellen an Orten aufgestellt werden, an denen ein ausgewiesenes Bedürfnis besteht, mindestens aber in jeder politischen Gemeinde eine197. Diese Sprechstellen sollen auf die Bedürfnisse sensorisch oder Bewegungsbehinderter ausgerichtet werden, soweit dies nicht ohnehin schon geschehen ist.

Die öffentlichen Sprechstellen der Swisscom sind alle mit Hörverstärkern ausgerüstet und erlauben die induktive Ankoppelung von akustischen Hörgeräten sowie die Benützung eines Telefonschreibgerätes. Ein Defizit besteht lediglich hinsichtlich der Ausrüstung Bewegungsbehinderter in Rollstühlen: Zurzeit sind etwa 30% der öffentlichen Sprechstellen für Personen im Rollstuhl zugänglich. Würden im üblichen Ersatzrhythmus jährlich 300 der etwa 5700 sanierungsbedürftigen Sprechstellen erneuert, so wäre erst in knapp 20 Jahren ein flächendeckendes Angebot von behindertengerechten Sprechstellen vorhanden. Eine umgehende Sanierung dieser Sprechstellen würde etwa 35 Millionen kosten. Denkbar wäre auch, Mobilitätsbehinderte mit einem Mobiltelefon auszurüsten. Die entsprechenden Kosten für eine Erstausrüstung belaufen sich ­ geht man von etwa 35 000 anspruchsberechtigten Personen aus ­ auf rund 10 Millionen Franken. Da die Mobiltelefone aber nicht von allen Behinderten gleichermassen gut benützt werden können und höhere Gesprächstaxen anfallen, dienen sie nur bedingt als Alternative. Dazu kommen vergleichsweise hohe Kosten für den Unterhalt und den Ersatz dieser Geräte.

5.4.7

Sendungen für Hörgeschädigte

Um Sendungen des Fernsehens auch Menschen mit Hörbehinderungen zugänglich zu machen, soll eine repräsentative Auswahl der Sendungen der nationalen oder sprachregionalen Fernsehveranstalter mit Untertiteln versehen werden oder simultan in die Gebärdensprache übersetzt werden. Die Kosten für die Untertitelung bei der SRG von 2,55 Millionen Franken werden heute zum Teil (1,15 Mio. Fr.) von der Invalidenversicherung übernommen. Die Ausdehnung des Angebots von Sendungen für Menschen mit Hörbehinderung auf alle Veranstalter mit nationalen und sprachregionalen Programmen (Ziff. 4.4.5) würde diesen Veranstaltern Mehrkosten verursachen, die sich mit jenen der SRG vergleichen lassen.

5.4.8

Auswirkungen auf private Arbeitgeber

Der bundesrätliche Entwurf eines Behindertengesetzes sieht noch keine Massnahmen vor, welche die privaten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verpflichten, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, oder durch Anreize dazu anregen. In dieser Fassung sind deshalb vom Behindertengesetz keine nennenswerten Auswirkungen auf die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu erwarten. Im Rahmen der IV-

197

Art. 15 Bst. e, SR 784.101.1

1807

Revision sind bereits Anreizsysteme geprüft 198, in diesem Zusammenhang jedoch vor allem aus Kostengründen und wegen Unklarheit über die Wirkung der Instrumente nicht weiterverfolgt worden. Eine interdepartementale Arbeitsgruppe prüft die Frage vertieft und wird im Sommer 2001 einen Bericht zu dieser Thematik vorlegen199.

5.5

Praktische Aspekte des Vollzugs

Das neue Gesetz definiert die Minimalstandards für Sachbereiche (öffentlicher Verkehr, Bauwesen, Fernmeldewesen, Schulwesen), die bereits einer staatlichen Regelung von Bund oder Kantonen unterworfen sind. Es erfasst weder neue Bereiche noch definiert es neue Verfahren. So bringt die Definition der Benachteiligungen, auch wenn sie den bestehenden Regelungen eine offenere Perspektive verleiht, weil ihre Anwendung inskünftig auch den Bedürfnissen der Behinderten Rechnung tragen muss, keine neuen Verfahren, sondern perfektioniert die bereits bestehenden.

Der Gesetzesvollzug erfordert somit keine besonderen Verwaltungsinstanzen oder -verfahren; sie würden bloss Doppelspurigkeiten zu den bereits bestehenden verursachen. Im Gegenteil, die Interessen der Behinderten werden im Rahmen der ordentlichen Verfahren berücksichtigt, namentlich bei den Baubewilligungs- und Plangenehmigungsverfahren sowie bei der Konzessionserteilung. Der Grundsatz der Koordination der Verfahren wird insofern gewahrt, als die mit der Grundsatzfrage befasste Behörde auch die Angemessenheit und die Konformität der Anlagen hinsichtlich der Bedürfnisse der Behinderten zu prüfen hat.

Was die Verfahrensdauer anbelangt, sollte sie nach einer gewissen Übergangszeit nicht allein deswegen länger werden, weil den neuen gesetzlichen Erfordernissen im Baubereich oder im Bereich des Leistungsangebots Rechnung zu tragen ist. In dieser Hinsicht erlaubt die Handhabung der grosszügigen Übergangsfristen den Unternehmern, die konkret zu ergreifenden Massnahmen vorzuziehen, um ihre Bauten rechtzeitig den Bedürfnissen der Behinderten anzupassen.

Es ist vorgesehen, dass der Bund neue technische Normen erlässt. Diese Bestimmungen werden nach Anhörung mit den betroffenen Kreisen (Kantone, Transportunternehmen, Behindertenorganisationen) ausgearbeitet. Der Bund kann auch auf technische Normen privater Organisationen verweisen.

Was die subjektiven Rechte anbelangt, ist ihre Umsetzung Sache der ordentlichen zuständigen Behörden nach den Verfahren der verschiedenen betroffenen Gemeinwesen (kantonale Gerichte, Verwaltungsbehörden der Kantone oder des Bundes).

Das Gesetz verlangt keine Schaffung einer besonderen Vollzugsinstanz. Auf Bundesebene obliegt der Vollzug in erster Linie den Stellen der zentralen Verwaltung im Rahmen ihres ordentlichen
Zuständigkeitsbereichs (Verkehr, Bau und Logistik, Fernmeldebereich, sozialer Schutz, Bundespersonal usw.).

Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass das den Behindertenorganisationen eingeräumte Beschwerderecht es erlauben wird, die Verfahren auf die zentralen Fragen zu

198

«Mécanisme d'incitation à l'emploi des personnes handicapées», Rapport du groupe de travail «Anreizsysteme» vom 26.3.1999 199 Vgl. Ziff. 4.4.4

1808

konzentrieren; dies wird dazu beitragen, eine Flut von Einzelklagen und die Verzettelung der Anstrengungen zu verhindern.

6

Legislaturplanung

Die rechtliche Gleichstellung zwischen den behinderten Personen und den anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft sowie die Beseitigung der Benachteiligungen, welche die Behinderten beeinträchtigen, bilden Gegenstand der Richtlinien R20 der Legislaturplanung 1999­2003200, und die Präsentation von Gesetzesentwurf und Botschaft ist im Anhang 2 (Abschnitt 3.1 «Soziale Sicherheit und Gesundheit», Rubrik «Richtliniengeschäfte»)201 angekündigt worden.

7

Völkerrecht

7.1

UNO

7.1.1

Empfehlungen und Programme

Die Rechte der Behinderten beschäftigen die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen schon seit längerem. In den Siebzigerjahren verabschiedete die Generalversammlung der UNO zwei Deklarationen202 zu den Rechten Behinderter. Ein Jahr nach dem internationalen Jahr der Behinderten (1981) nahm sie das «Weltaktionsprogramm für behinderte Personen»203 (Programme Mondial d'Action (PMA) concernant les personnes handicapées) an.

Um den Staaten und Organisationen einen zeitlichen Rahmen zur Umsetzung des Weltaktionsprogramms zu geben, proklamierte die Generalversammlung die Jahre 1983­1992 zur «Dekade der Vereinten Nationen für die Behinderten»204. Eines der wesentlichsten Ergebnisse der Dekade war die Verabschiedung der «Grundsätze für die Gleichstellung Behinderter»205 (Règles Standards sur l'Egalisation des Opportunités pour les Personnes Handicapées) durch die Generalversammlung im Jahre 1993. Diese Grundsätze sind zwar rechtlich unverbindlich, doch verpflichten sie die Regierungen zumindest politisch und moralisch, Massnahmen zur Gleichstellung Behinderter zu treffen.

7.1.2

Konventionen

7.1.2.1

Allgemeine Diskriminierungsverbote der UNO-Pakte

Es gibt heute kein rechtlich verbindliches internationales Menschenrechtsinstrument, welches sich ausschliesslich den Rechten der Behinderten widmet. Vor allem 200 201 202

BBl 2000 2299; vgl. auch 2315 BBl 2000 2327 «Declaration on the Rights of Disables Persons» vom 9. Dezember 1975 (Resolution 3447 (XXX)) und «Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons» vom 20. Dezember 1971 (Resolution 2856 (XXVI).

203 Von der Generalversammlung verabschiedet am 3. Dezember 1982, Resolution A/37/52.

204 Resolution 37/53 205 Annex zur Resolution A/48/96 der Generalversammlung vom 20. Dezember 1993.

1809

neuere Übereinkommen nehmen aber punktuell Bezug auf die Behinderten. Die älteren UNO-Pakte aus dem Jahre 1966 enthalten noch keine Bestimmung, die sich ausdrücklich mit den Rechten Behinderter auseinander setzt. Die Artikel, die das allgemeine Diskriminierungsverbot beinhalten206, nennen die Behinderung nicht ausdrücklich unter den Diskriminierungsmerkmalen, doch können sich selbstverständlich auch die Behinderten darauf berufen.

7.1.2.2

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Pakt I)

Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verabschiedete 1994 zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte207 eine Allgemeine Bemerkung, die sich mit den Rechten Behinderter befasst208. Mehrere der dort formulierten Forderungen werden durch den Entwurf erfüllt.

Im Zusammenhang mit Artikel 6, der das Recht jedes Einzelnen garantiert, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte oder angenommene Arbeit verdienen zu können, wird in Anlehnung an die oben erwähnten Grundsätze gefordert, dass den Behinderten die gleichen Möglichkeiten einer produktiven und entlöhnten Arbeit auf dem Arbeitsmarkt offen stehen müssen. Damit dies zutreffe, müssten zuerst die Hindernisse beseitigt werden, welche den Zugang zu einer Arbeitsstelle verhinderten (Ziff. 22). Dabei wird nicht bloss die Rollstuhlgängigkeit des Arbeitsplatzes genannt, sondern die Regierungen werden auch aufgefordert, darauf zu achten, dass die Transportmittel den an einer Behinderung leidenden Personen zugänglich sind.

Denn der Zugang zu geeigneten und allenfalls den individuellen Bedürfnissen speziell angepassten Transportmitteln sei für an einer Behinderung leidende Personen zur Verwirklichung praktisch aller im Pakt anerkannten Rechte unerlässlich (Ziff. 23).

Bezüglich Artikel 7, der das Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen festhält, stellt der Ausschuss fest, dass die an einer Behinderung leidenden Arbeitnehmerinnen und -nehmer in keiner Weise diskriminiert werden dürften, weder bezüglich des Lohnes noch bezüglich der anderen Arbeitsbedingungen, wenn sie gleiche Arbeit ausführen wie die übrigen Arbeitnehmer (Ziff. 25).

Ein anderes wichtiges Recht im Zusammenhang mit dem vorliegenden Entwurf ist das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben und auf Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt (Art. 15). Schon die Grundsätze sahen vor, dass «die Staaten dafür besorgt sein sollten, dass die Behinderten die Möglichkeit haben, ihr schöpferisches, 206

Art. 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Pakt I) sowie Art. 2 und 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Pakt II).

207 Pakt I, SR 0.103.1 208 Allgemeine Bemerkung 5 [11] (1994). Der Ausschuss nennt darin die Verpflichtung der Vertragsstaaten, «konkrete Massnahmen zur Verminderung struktureller Nachteile zu treffen und den an einer Behinderung leidenden Personen eine geeignete bevorzugte Behandlung zukommen zu lassen, um zu erreichen, dass diesen Personen die volle, uneingeschränkte Teilnahme und die Gleichbehandlung im Rahmen der Gesellschaft gewährleistet wird» (Ziff. 9). Dabei streicht er hervor, dass nicht nur der öffentliche Sektor, sondern auch der private Sektor in geeignetem Umfang einer Regelung unterstellt ist, welche die Gleichbehandlung der an einer Behinderung leidenden Personen garantieren soll (Ziff. 11).

1810

künstlerisches und intellektuelles Potenzial zur Geltung zu bringen». Die Staaten müssen ferner darauf achten, dass die Behinderten Zugang zu den kulturellen Aktivitäten haben sowie zu den Freizeit-, Sport- und Tourismusanlagen (Ziff. 36). Zudem muss die Bevölkerung allgemein darauf aufmerksam gemacht werden, dass die an einer Behinderung leidenden Personen dieselben Rechte wie alle anderen haben, Restaurants, Hotels, Freizeitanlagen und kulturelle Stätten aufzusuchen (Ziff. 39).

7.1.2.3

Übereinkommen über die Rechte des Kindes

Das Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes209 nennt in Artikel 2 ausdrücklich die Behinderung als diskriminierendes Motiv. Zusätzlich bestimmt Artikel 23, dass «ein geistig oder körperlich behindertes Kind ein erfülltes und menschenwürdiges Leben führen soll unter Bedingungen, welche die Würde des Kindes wahren, seine Selbstständigkeit fördern und seine aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft erleichtern».

7.1.3

Internationale Arbeitsorganisation

Die Internationale Arbeitsorganisation hat bezüglich der Rechte der Behinderten im Bereich der Arbeit insbesondere das Übereinkommen Nr. 159 und die Empfehlung Nr. 168 über die berufliche Rehabilitation und die Beschäftigung der Behinderten verabschiedet210. Die Schweiz hat das Übereinkommen am 20. Juni 1985 ratifiziert und es ist ein Jahr später für die Schweiz in Kraft getreten211. Durch den vorliegenden Gesetzesentwurf wird ein beachtlicher Beitrag zur Erfüllung des Ziels dieses Übereinkommens geleistet, nämlich sicherzustellen, «dass geeignete Massnahmen der beruflichen Rehabilitation allen Gruppen von Behinderten offen stehen, und Beschäftigungsmöglichkeiten für Behinderte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefördert werden» (Art. 3).

7.2

Europarat

7.2.1

Empfehlung

Auch der Europarat hat sich mit den Rechten der Behinderten auseinander gesetzt.

So verabschiedete das Ministerkomitee 1992 die Empfehlung Nr. R (92) 6 bezüglich kohärenten Politik für Behinderte. Darin werden die Regierungen u.a. aufgefordert, die Behinderten soweit als möglich in die Berufswelt sowie in das soziale und kultu-

209 210

SR 0.107 Vgl. auch Empfehlung Nr. 99 (1955) über die berufliche Rehabilitation und die Beschäftigung der Invaliden.

211 SR 0.822.725.9, Botschaft in BBl 1984 II 419.

1811

relle Leben zu integrieren, was auch den Zugang zu Gebäuden und Transportmitteln beinhaltet212.

7.2.2

Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Zusatzprotokoll Nr. 12

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Fall Botta gegen Italien213 die Frage zu beurteilen, ob Italien verpflichtet sei, dafür zu sorgen, dass eine private Badeanstalt Behinderten den Zugang zu Strand und Meer ermöglicht und die sanitären Anlagen für Behinderte zugänglich macht. Der Gerichtshof verneinte eine solche Verpflichtung aus Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)214, dem Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens215. Im Fall X. und Y. gegen die Niederlanden216 hingegen nahm er eine aus Artikel 8 EMRK fliessende sog. positive Verpflichtung des Staates in der Form an, dass der Gesetzgeber die Vergewaltigung geistig Behinderter unter Strafe stellen muss.

Artikel 14 EMRK verbietet die Diskriminierung bei der Ausübung der durch die EMRK und ihren Zusatzprotokollen garantierten Rechten. Die dort genannten Diskriminierungsmerkmale sind nur Beispiele. Eine Differenzierung auf Grund einer Behinderung, die nicht sachlich gerechtfertigt ist, würde unter den generalklauselartigen Begriff «sonstiger Status» fallen, der sich auf alle individuellen Anknüpfungsmerkmale bezieht. Diese Bestimmung hat keinen selbstständigen Charakter und kann daher nur im Zusammenhang mit anderen in der Konvention und in den Zusatzprotokollen garantierten Rechten angerufen werden. Bis heute hat sich der Gerichtshof unter dem Gesichtspunkt von Artikel 14 materiell noch nicht mit Fällen von Diskriminierungen Behinderter auseinander gesetzt217.

Durch das Zusatzprotokoll Nr. 12 zur EMRK soll nun aber der Anwendungsbereich von Artikel 14 EMRK verallgemeinert werden. Es wurde am 27. Juni 2000 durch das Ministerkomitee verabschiedet und liegt seit dem 4. November 2000 zur Unterschrift bereit. Es wird nach einer Ratifikation durch 10 Mitgliedstaaten in Kraft treten. Im heutigen Zeitpunkt ist noch offen, wie sich der Gerichtshof in Anwendung des 12. Zusatzprotokolls zu den Rechten behinderter Personen äussern wird. Im Hinblick auf eine künftige Unterzeichnung und Ratifikation des Protokolls wird der 212

213 214 215

216 217

Die Diskriminierung Behinderter ist auch zur Zeit wieder Gegenstand von Arbeiten des Europarats. Der Lenkungsausschuss für die Wiedereingewöhnung und Integration behinderter Menschen (CD-P-RR) und eine seiner Arbeitsgruppen befassen sich mit einer Zusammenstellung und vergleichenden Analyse der einschlägigen Gesetzgebungen in den Mitgliedstaaten (die Arbeitsgruppe hat im Oktober 2000 einen Bericht dazu verabschiedet).

Urteil vom 24. Februar 1998, Recueil des arrêts et décisions 1998, 412 ff.

SR 0.101 «Or en l'espèce, le droit revendiqué par M. Botta, à savoir celui de pouvoir accéder à la plage et à la mer loin de sa demeure habituelle pendant ses vacances, concerne des relations interpersonnelles d'un contenu si ample et indéterminé qu'aucun lien direct entre les mesures exigées de l'Etat pour remédier aux omissions des établissements de bains privés et la vie privée de l'intéressé, n'est envisageable» (Ziff. 35 des Urteils).

Urteil vom 26. März 1985, Serie A Nr. 91.

Auch nicht in den oben angeführten Urteilen, vgl. Urteil Botta c/Italien, Ziff. 39, sowie Urteil X. und Y. c/Niederlande, Ziff. 32.

1812

Bundesrat eine genaue Analyse der Gesetzgebung vornehmen und gegebenenfalls bei den Kantonen eine Vernehmlassung durchführen. Sicher ist aber, dass der vorliegende Gesetzesentwurf den heutigen Anforderungen der EMRK nachkommt.

7.2.3

Europäische Sozialcharta

Die von der Schweiz am 6. Mai 1976 unterzeichnete, aber noch nicht ratifizierte Europäische Sozialcharta erwähnt die Behinderten ausdrücklich im Zusammenhang mit dem Recht auf berufliche Ausbildung (Art. 10). Artikel 15 zählt die Massnahmen auf, die zu treffen sind, um das Recht der körperlich, geistig oder seelisch Behinderten auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung zu gewährleisten.

7.3

Europäische Gemeinschaft

Das vom Bundesrat vorgeschlagene Behindertengesetz befindet sich auch in weitgehender Übereinstimmung mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaft (EG), welches seit Inkrafttreten des Unionsvertrags von Amsterdam im Jahre 1999 über eine ausdrückliche Kompetenzbefugnis im Behindertenbereich verfügt218 und dabei von einem neuen menschenrechtsbezogenen Behindertenkonzept ausgeht219. Im Unterschied zum früher geltenden Fürsorgeprinzip sollen nach diesem neuen Ansatz, welcher sowohl auf Prävention als auch auf die Beseitigung von konkreten Hindernissen abstellt, Menschen mit Behinderungen dieselben Grundrechte wie andere Bürgerinnen und Bürger sowie Chancengleichheit hinsichtlich ihrer Teilhabe am Gemeinschaftsleben haben.

Gemäss der neuen Nicht-Diskriminierungsklausel von Art. 13 EG-Vertrag kann der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehren treffen, um Diskriminierungen unter anderem aus Gründen einer Behinderung zu bekämpfen. Gemäss der zum Amsterdamer Vertrag abgegebenen Erklärung Nr. 22 zu Personen mit einer Behinderung soll zudem bei der Angleichung von Rechtsvorschriften zur Verwirklichung des Binnenmarkts den Bedürfnissen von Personen mit einer Behinderung Rechnung getragen werden.

218

Die zahlreichen früheren Entschliessungen, Beschlüsse, Entscheidungen, Berichte, Schlussfolgerungen und Mitteilungen der Gemeinschaftsorgane zur Beseitigung von Diskriminierungen und zur besseren Integration und Förderung von Behinderten waren nicht rechtsverbindlich. Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über bestimmte Massnahmen der Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierungen, KOM(1999) 564 endg. vom 25.11.1999, Anhang II.

219 Vgl. die Entschschliessung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 20. Dezember 1996 zur Chancengleichheit für Behinderte, ABl 1997 C 12, S. 1. Gemäss diesem neuen Konzept sollen die verschiedenen Barrieren, die die Chancengleichheit behinderter Menschen und deren vollständige Teilhabe an allen Aspekten des Lebens verhindern, ermittelt und beseitigt werden.

1813

Artikel 13 EG-Vertrag gibt damit einzelnen Behinderten keine direkten Ansprüche und Rechte, auf die sie sich vor Erlass entsprechender Beschlüsse vor nationalen Gerichtsinstanzen berufen könnten. Demgegenüber gewährleistet nun der Entwurf für eine Europäische Grundrechtscharta in Artikel 21 ein allgemeines Diskriminierungsverbot unter anderem auch mit Bezug auf Behinderungen, und Artikel 26 garantiert Behinderten ihre soziale und berufliche Integration sowie ihre Teilhabe am Gemeinschaftsleben220. Bereits die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. Dezember 1989 sieht in Nummer 26 vor, dass alle Behinderten unabhängig von der Ursache und der Art ihrer Behinderung konkrete ergänzende Massnahmen, die ihre berufliche und soziale Eingliederung fördern, in Anspruch nehmen können müssen, wobei sich diese Massnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen je nach den Fähigkeiten der Betreffenden auf berufliche Bildung, Ergonomie, Zugänglichkeit, Mobilität, Verkehrsmittel und Wohnung erstrecken müssen.221 Auslegungshilfen für die Nicht-Diskriminierung von Behinderten ergeben sich schliesslich auch aus der Sozialpolitik (Art. 136­145 EG-Vertrag) und dem Gesundheitsschutz (Art. 152 EG-Vertrag).

Gestützt auf Artikel 13 EG-Vertrag hat der Rat mit Datum vom 27. November 2000 die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf erlassen222. Diese neue Richtlinie, welche zusammen mit der Richtlinie zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft223 und einem Aktionsprogramm zur unionsweiten Bekämpfung von Diskriminierungen224 Teil eines entsprechenden Massnahmepakts ist, gewährleistet nach ihrer Umsetzung in nationales Recht nach drei bzw. sechs Jahren Personen in der EU ein einklagbares Recht auf Nichtdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt unabhängig von ihrer Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Ausrichtung225. Der Geltungsbereich der Richtlinie umfasst den Zugang zu einer Beschäftigung oder einem Beruf (Kriterien der Selektion und der Einstellung), die Beförderung, die Berufsausbildung und Weiterbildung, die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen (Kündigung, Entlöhnung) sowie die Zugehörigkeit zu Arbeitnehmer- oder
Arbeitgeberorganisationen, und zwar sowohl in öffentlichen als auch in privaten Bereichen. Mit Bezug auf den Rechtsschutz (Art. 9) wird Personen, die sich in ihren Rechten verletzt fühlen, die Möglichkeit gegeben, ihren Anspruch auf Gleichbehandlung auf dem Gerichts- und/oder Verwaltungsweg sowie in Schlichtungsverfahren geltend zu machen, selbst wenn das Beschäftigungsverhältnis beendet ist. Einzelstaatliche Vorschriften über eine zeitliche Begrenzung des Rechts auf Klageerhebung werden jedoch nicht berührt226. Der Anspruch auf Rechtsschutz wird durch die 220

221 222 223

224 225

226

«L'Union reconnaît et respecte le droit des personnes handicapées à bénéficier de mesures visant à assurer leur autonomie, leur intégration sociale et professionnelle et leur participation à la vie de la communauté.» Vgl. ABl 1997 C 12, S. 1 ABl. 2000 L 303, S. 16 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180, S. 22 ABl. 2000 L 303, S. 23 Ausgenommen bleibt lediglich die Diskriminierung auf Grund des Geschlechts, die bereits durch weitreichende Rechtsvorschriften der Gemeinschaft aus den Siebzigerjahren abgedeckt ist und eine spezifische Rechtsgrundlage für Massnahmen im Bereich der Beschäftigung hat (Art. 141 EG-Vertrag).

Vgl. das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-185/97, Coote gegen Granada Hospitality Ltd., Slg. 1998, I­5199.

1814

Möglichkeit verstärkt, dass interessierte Organisationen die diesbezüglichen Rechte im Namen der beschwerten Person ausüben können (Verbandsbeschwerderecht).

Mit Bezug auf die Beweislast muss der Beklagte bei glaubhaft gemachtem Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung seinerseits beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat (Art. 10).

Im Vordergrund der Bemühungen der Gemeinschaftsorgane um eine Beseitigung von Diskriminierungen von Behinderten standen neben den allgemeinen Integrations- und Förderungsmassnahmen bis anhin die Schaffung gleicher Beschäftigungschancen und die Eingliederung in den Arbeitsmarkt227. Demgegenüber finden sich trotz zahlreicher parlamentarischer Anfragen nur wenige Massnahmen und Rechtsgrundlagen zur Beseitigung der Diskriminierung bzw. zur Förderung der Mobilität von Behinderten im öffentlichen und privaten Verkehr228.

8

Rechtliche Grundlagen

8.1

Verfassungsmässigkeit

8.1.1

Artikel 8 Absatz 4

Der Gesetzesentwurf setzt Artikel 8 BV um, d.h. den Auftrag an den Gesetzgeber in Absatz 4.

Absatz 4 richtet sich sowohl an den kantonalen Gesetzgeber als auch an den Bundesgesetzgeber; jeder ist beauftragt, in seinem Zuständigkeitsbereich tätig zu werden. Eine bundesrechtliche Garantie eines Grundrechtes allein schafft hingegen nach herrschender Praxis229 und Lehre230 keine neue Bundeskompetenz. Mit andern Worten: Soweit die Garantie eines Grundrechts als Auftrag an den Gesetzgeber zu betrachten ist ­ wie dies Artikel 35 Absatz 1 BV generell für alle Grundrechte be-

227

Vgl. die Entschliessung des Rates vom 17. Juni 1999 betreffend gleiche Beschäftigungschancen für behinderte Menschen (ABl 1999 C 186, S. 3); Entschliessung des Rates vom 22. Februar 1999 zu den beschäftigungspolitischen Leitlinien für 1999 (ABl 1999 C 69, S. 2).

228 Vgl. z.B. Empfehlung des Rates vom 4. Juni 1998 betreffend einen Parkausweis für Behinderte (ABl 1998 L 167, S. 25). Die Kommission arbeitet derzeit an der endgültigen Fassung eines Vorschlags für eine Richtlinie über Bauvorschriften für Kraftomnibusse, welche Vorschriften über die bessere Zugänglichkeit für Personen mit eingeschränkter Mobilität enthalten soll (vgl. ABl 1972 C 72, S. 22).

229 Vgl. beispielsweise die bundesrätliche Botschaft zum BG über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz) vom 24. Februar 1993, BBl 1993 I 1248, 1323 (wo die Kompetenz des Bundesgesetzgebers auch auf Art. 34ter und 64 der alten BV gestützt wurde). Gleichermassen wurde festgehalten, dass ein Bundesgesetz über die Presseförderung sich nicht auf die Pressefreiheit stützen könne, sondern dass ­ um ihm eine Grundlage zu geben ­ eine neue Bestimmung einzufügen sei (was bis heute nicht der Fall war); vgl. D. Barrelet, Droit de la communication, 1998, S. 15­16, Rz. 46­48.

230 Vgl. F. Fleiner / Z. Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1949, S. 90­91, 242­243 (es stimmt, dass Z. Giacometti vom heute bestrittenen Gedanken ausging, dass ein Grundrecht keiner Ausführungsgesetzgebung bedürfe, weil es direkt anwendbar sei); Y. Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, II, 1982, S. 55; U. Häfelin/ W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 4. Aufl., 1998, S. 99, Rz. 282. Eine differenziertere, weniger ablehnende Meinung findet man bei P. Saladin in Kommentar BV, zu Art. 3, Rz. 182; J. F. Aubert, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, I, 1991, Rz. 699, S. 500­501; J.P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 127.

1815

stimmt231 ­, ändert sie die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen nicht und der Bundesgesetzgeber wird nur in jenen Bereichen tätig, welche die Bundesverfassung in seine Zuständigkeit verweist; es bleibt den kantonalen Gesetzgebern überlassen, in den übrigen Bereichen tätig zu werden232.

Diese Konzeption, die sich aus der Sorge heraus erklärt, die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen nicht zu unterlaufen, bezieht sich vor allem auf die traditionellen Grundrechte (z.B. Pressefreiheit, Glaubensfreiheit, Versammlungsfreiheit, die nicht mit einem spezifischen Gesetzgebungsauftrag versehen sind. Für sie gilt nur der allgemeine Gesetzgebungsauftrag von Artikel 35 Absatz 1 BV. Ist das Grundrecht hingegen von einem spezifischen, auf auslegungsbedürftigen Begriffen beruhenden Gesetzgebungsauftrag begleitet, die einer Interpretation bedürfen, kann es problematisch sein, die Auslegung solcher Begriffe im konkreten Anwendungsfall den Organen der Rechtsanwendung zu überlassen (kantonale Behörden, Gerichte, Bundesrat im Rahmen seiner Aufsichtsbefugnisse). Es entspricht dem demokratischen Grundsatz, der Einheitlichkeit des Bundesrechts und seiner Vorhersehbarkeit besser, den Bundesgesetzgeber damit zu beauftragen.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das Parlament über die Frage der Konkretisierung eines Grundrechts in Verbindung mit einem Gesetzgebungsauftrag bereits im letzten Jahrhundert debattiert hat. Der Anlass dazu war der Begriff des «genügenden» Grundschulunterrichts, wie er in Artikel 27 Absatz 2 aBV (Art. 19 und 62 Abs. 2 BV: «ausreichend») verwendet wurde. Wenn 1874 die ausdrückliche Absicht einer Bundesregelung fallen gelassen wurde, dann aus dem Grunde, weil das Parlament aus politischen Gründen einen präventiven und zentralisierenden Eingriff befürchtet und eine durch Richter und Aufsichtsbehörden ausgeübte Kontrolle einem derartigen Eingriff vorzog233. Die Frage wurde jedoch ein paar Jahre später wieder aufgenommen. Ein Bericht des Eidgenössischen Departements des Innern von 1878 erachtete eine wenigstens fakultative Gesetzgebungskompetenz des Bundes als gegeben. Der Bundesrat schloss sich dieser Auffassung in einer Botschaft vom 3. Juni 1880 an, und die Bundesversammlung übernahm sie in einem Beschluss von allgemeiner Tragweite vom 14. Juni 1882234. Wohl wurde der
Beschluss dann in einer Volksabstimmung vom 26. November 1882 verworfen, doch dieses negative Votum, welches wiederum durch eine politische Reaktion erklärbar ist (Befürchtung dessen, was die Gegner den «Schulvogt» nannten), berührte die Frage der Verfassungsmässigkeit einer Bundesregelung keineswegs. Umgekehrt sind

231 232 233

BBl 1997 I 191 BBl 1997 I 136 f.

W. Burckhardt, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung, 3. Auflage, 1931, zu Art. 27, S. 203 f.

234 L.R. von Salis, Schweizerisches Bundesrecht, 2. Auflage 1904, Bd. V, Nr. 2460, S. 558­561: Der Bericht der Kommissionsmehrheit des Nationalrates ist zu diesem Thema sehr klar (in Ermangelung des Gesetzes können die ihrer Natur nach zufälligen Beschlüsse im Einzelfall höchstens gewisse Verfassungsverletzungen korrigieren; sie genügen nicht, um die durch diese Verfassung vorgeschriebenen Verpflichtungen generell zu definieren).

1816

in der Doktrin die Meinungen geteilt, was die Verfassungsmässigkeit einer Bundesregelung, die den Begriff des Grundschulunterrichts konkretisiert, angeht235.

Im vorliegenden Fall denken wir in Anbetracht der Auslegungsprobleme bezüglich der unbestimmten Rechtsbegriffe von Artikel 8 Absatz 4 BV (insbesondere was die Begriffe «Behinderte» und «Benachteiligungen» anbelangt), dass es rechtlich möglich ist, dass der Bundesgesetzgeber sie selbst und vorgängig konkretisiert. Wenn er sein Handeln jedoch auf die Konkretisierungsarbeit begrenzt, greift er nicht in den Zuständigkeitsbereich der Kantone ein, welche ihre ursprüngliche Zuständigkeit bewahren, selbst eine mit den Grundrechten im Einklang stehende Ordnung aufzustellen.

Artikel 8 Absatz 4 BV gibt dem Gesetzgeber den Auftrag, zu Gunsten einer bestimmten Gruppe von Personen tätig zu werden und Massnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Benachteiligungen auszuräumen, deren Opfer sie sind. Zu diesem Zweck sollen Bedingungen geschaffen werden, die den behinderten Personen gestatten, ein Leben zu führen, das mit demjenigen nichtbehinderter Personen vergleichbar ist; das kann die Durchführung positiver Massnahmen mit sich bringen.

Diese Massnahmen, die mit dem Ziel ergriffen werden, bestehende Nachteile auszugleichen oder zu beseitigen, stellen keine Verletzung der rechtlichen Gleichstellung dar, selbst wenn riskiert wird, dass damit indirekt Nachteile für andere Mitglieder der Gesellschaft verbunden sind. Anreizmassnahmen können somit über eine einfache Beseitigung eines Nachteils hinausgehen: Sie können, wenn allenfalls auch nur vorübergehend, in den Bereichen, in welchen die Notwendigkeit von Ausgleichsmassnahmen besonders stark spürbar ist, eine Vorzugsbehandlung vorsehen. Dieser Gleichstellungsaspekt wurde namentlich bei der Gleichstellung der Geschlechter untersucht236.

8.1.2

Andere Verfassungsgrundlagen

Ohne dies im Ingress ausdrücklich zu erwähnen, basiert der Gesetzesentwurf auch auf Artikel 62 Absatz 2 BV, um die Gleichstellung der Behinderten im Bereich des Grundschulunterrichts zu konkretisieren. Beim Primarschulunterricht kann der Bund nur den Begriff des ausreichenden Grundschulunterrichts präzisieren (vgl. oben). So wurden Bundesrat und Bundesgericht mehrfach angerufen, dies zu tun. Wenn auch mit der gebotenen Zurückhaltung, haben sie sich dennoch über die vernünftige Distanz von Schulwegen oder über die Angemessenheit einer Verfügung betreffend

235

M. Borghi in Kommentar der Bundesverfassung, zu Art. 27 (1988), Rz. 83­84; J. Schollenberger, Kommentar der Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft, 1905, zu Art. 27, S. 260­261; F. Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1923, S. 46, Rz 23; W. Burckhardt, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung, 3. Auflage, 1931, zu Art. 27, S. 204; F. Fleiner ­ Z. Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1949, S. 90­91, Rz. 73 (der die von F. Fleiner 1923 geäusserte Meinung übernimmt).

236 BGE 125 I 21, 25­26; für eine neuere Synthese dieser Probleme, siehe A. Auer, G. Malinverni, M. Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, Les droits fondamentaux, Bern 2000, N. 1069 ff.; vgl. auch Caroline Klein, La discrimination des personnes handicapées, Diss. , S. 80­112

1817

Sonderschulung ausgesprochen237. Aus rechtlicher Sicht dürfen die Bundesbehörden aber auch die Verfassungsbestimmungen über andere Punkte konkretisieren.

Die Artikel 87 und 92 Absatz 1 BV bilden die Verfassungsgrundlage für die Massnahmen im Bereich der Eisenbahnen und des übrigen regelmässigen und gewerbsmässigen Personentransports. Es handelt sich dabei um umfassende Bundeskompetenzen238.

Der Gesetzesentwurf stützt sich auch auf Artikel 112 Absatz 6 BV, soweit er den Bund ermächtigt, verschiedene Förderungsmassnahmen zu ergreifen. Diese Bestimmung entspricht Artikel 34quater Absatz 7 der alten Verfassung, der von Anbeginn an sehr weit ausgelegt wurde, und die Integration Behinderter nicht nur in beruflicher Hinsicht, sondern auch in der Gesellschaft ganz allgemein erfasste239. Diese Massnahmen können nicht nur über die Sozialversicherung (Art. 112 Abs. 6 Satz 2), sondern auch über die allgemeinen Bundesmittel finanziert werden (Art. 112 Abs. 6 Satz 1). Die Bestimmung führt zusammen mit Artikel 8 Absatz 4 BV zur Bejahung einer Kompetenz des Bundes, Förderungsmassnahmen zu Gunsten der Behinderten in einem weiteren Anwendungsfeld als bloss der Invalidenversicherung finanziell zu unterstützen.

Bestimmungen des Entwurfs, die Beziehungen zwischen Privatpersonen zum Gegenstand haben, stützen sich auf Artikel 122 Absatz 1 BV, während die Regeln über das Bundespersonal als Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs zu betrachten sind.

8.2

Gesetzgebungsdelegationen

Artikel 10 Absatz 1 und 2 des Gesetzesentwurfs sieht eine Gesetzgebungsdelegation an den Bundesrat vor; er wird ermächtigt, Vorschriften über technische Normen zu erlassen, die auf Bauten, die dem Bund gehören oder die der Bund mitfinanziert, sowie auf Infrastrukturen des öffentlichen Verkehrs Anwendung finden. Der Bundesrat ist damit auch ermächtigt festzulegen, welche Bauten, Anlagen und Fahrzeuge in welchem Umfang anzupassen sind. Die Delegation rechtfertigt sich wegen des rein technischen Charakters dieser Bestimmungen; es ist notwendig, dass sie rasch an den jeweiligen Stand der Technik und ihre schnellen Fortschritte angepasst werden können.

8.3

Form des zu erlassenden Akts

Im Bundesbereich bestimmt Artikel 164 Absatz 1 BV, dass alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen in der Form des Bundesgesetzes zu erlassen sind. Das neue Gesetz über die Gleichstellung der behinderten Personen muss somit nach dem für die Bundesgesetze vorgesehenen Verfahren erlassen werden.

237

Vgl. VPB 44.19; 56.38; 58.71; 63.59; BGE 117 Ia 27, Erw. 6, S. 31 ; A. Auer, G. Malinverni, M. Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Bern 2000, Bd. II, S. 691ff., N. 1519 bis 1522.

238 Botschaft des Bundesrates vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung (BBl 1997 I 271) 239 Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 10. November 1971 zum Entwurf betreffend Änderung der Bundesverfassung auf dem Gebiete der Alter-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, BBl 1971 II 1597.

1818

8.4

Rechtsgrundlage des Bundesbeschlusses über die Finanzierung der Massnahmen im öffentlichen Verkehr zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen

Der Entwurf des Bundesbeschlusses stützt sich auf Artikel 17 des Gesetzesentwurfs eines Behindertengleichstellungsgesetzes, das die Bundesversammlung ermächtigt, in der Form eines einfachen Bundesbeschlusses den Höchstbetrag der Finanzhilfen im Bereich des öffentlichen Verkehrs festzulegen, die für die Umsetzung der Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen Behinderter in den 20 Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verfügung gestellt werden.

Dieser Beschluss ist ein blosser Kredit- und Finanzierungsbeschluss. Er enthält keine rechtsetzenden Normen. Die Zuständigkeit der eidgenössischen Räte ergibt sich aus der allgemeinen Budgetkompetenz nach Artikel 167 BV.

1819

Anhang 1

Daten über Gebrechensgruppen, Funktionsausfälle und Ursachen Invalidenrenten-Bezügerinnen und -Bezüger in der Schweiz im Januar 1999, nach Gebrechensgruppen bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40% (IV-Statistik 1999, Tabelle 6.15.4, S. 67) Tabelle 1 Gebrechensgruppen

Haut Nervensystem Sinnesorgane Infektionen, Parasiten Neubildungen Allergien, Stoffwechsel, Innere Sekrete Blut, Blutbildende Organe Psychosen, Psychoneurosen Kreislaufsystem Atmungsorgane Verdauungsorgane Harn-, Geschlechtsorgane Knochen, Bewegungsorgane nicht zuordnungsfähig Total

Anzahl Personen

504 13 102 3 215 2 606 5 455 3 300 276 56 061 11 232 1 930 2 225 1 283 40 098 274 141 561

Prozent

0,4 9,3 2,3 1,8 3,9 2,3 0,2 39,6 7,9 1,4 1,6 0,9 28,3 0,2 100

Invalidenrenten-Bezügerinnen und -Bezüger in der Schweiz im Januar 1999, nach Funktionsausfällen bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % (IV-Statistik 1999, Tabelle 6.16.4, S. 79) Tabelle 2 Gebrechensgruppen

Anzahl Personen

Prozent

Keine Paraplegie, Tetraplegie Obere Extremitäten Untere Extremitäten Obere und untere Extremitäten Stamm Stütz- und Bewegungsapparat Allgemeinzustand Sehbehinderung Hörbehinderung Kiefer-, Mundfunktion Sprachstörungen Hirn, Motorische Störungen Verhaltensstörungen Atem und Blutgasaustausch

893 223 2 285 5 211 1 339 16 565 3 560 35 822 2 331 591 41 558 1 323 18 280 1 729

0,6 0,2 1,6 3,7 0,9 11,7 2,5 25,3 1,6 0,4 0,0 0,4 0,9 13,0 1,2

1820

Gebrechensgruppen

Anzahl Personen

Nieren Verdauungstrakt, Leber Mehrfache Störungen körperlicher Art Mehrfach geistige und körperliche Störungen Nicht definiert Unklar

627 966 10 243 17 872 1 21 101

Total

141 561

Prozent

0,4 0,7 7,2 12,6 0,0 14,9 100

Ursachen der Gebrechen bei den Bezügern und Bezügerinnen von IV-Renten (IV-Statistik 1999, Tabelle 3.4.5.1, S. 21) Tabelle 3: Invaliditätsursachen

Männer

Frauen

Total

Total in%

Geburtsgebrechen Krankheit ­ davon psychische Leiden Unfälle

14 000 81 000 (30 000) 15 000

12 000 61 000 (26 000) 6 000

26 000 142 000 (56 000) 20 000

14 76 (30) 11

Total

109 000

79 000

188 000

100

Wahrscheinlichkeit, eine IV-Rente zu beziehen, 1999 nach Altersklassen in der Schweiz (IV-Statistik 1999, Grafik 3.4.4.2, S. 21) Grafik 1 M änner Frauen

18 16 14

Prozent

12 10 8 6 4 2 0 <20

20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 A lter

1821

Anhang 2

IV-Versicherte und erbrachte Leistungen (Auszug aus der IV-Statistik 1999) Die Invalidenversicherung zählt fast 7,5 Millionen Versicherte, wovon 4,1 Millionen Versicherungsprämien einzahlen.

1

Übersicht

Im Jahre 1998 sind in fast 500 000 Fällen Invaliditätsleistungen erbracht worden (siehe IV-Statistik 1999, S. 37): Leistungen

Bezüger und Bezügerinnen

Abklärungsmassnahmen Individuelle Massnahmen Hilflosenentschädigung (der IV und der AHV) Renten Individuelle Massnahmen + Hilflosenentschädigung Individuelle Massnahmen + Renten Renten + Hilflosenentschädigung Alle Massnahmen + Renten

64 331 188 832 36 791 157 063 3 609 9 536 14 942 6 647

Total

481 751

Anmerkung zur obigen Tabelle: Diese Zahl kann nicht mit der Anzahl Personen gleichgesetzt werden, welche Leistungen erhalten haben, weil an einzelne Personen mehrere unterschiedliche Leistungen, z.B. eine IV-Rente und eine Hilflosenentschädigung, ausgerichtet werden können.

2

Anzahl der Bezüger und Bezügerinnen von Hilflosenentschädigung

Die Hilflosenentschädigung (HE) ist eine Geldleistung für Invalide, die zwischen 18 und 62/65 Jahre alt sind und die für die alltäglichen Verrichtungen auf die Hilfe Dritter angewiesen sind oder der persönlichen Überwachung bedürfen240. Die Hilflosenentschädigung wird nicht nur an Bezüger und Bezügerinnen von Leistungen der IV, sondern auch an AHV-Rentner und rentnerinnen ausbezahlt. Unter der Altersgrenze von 65 Jahren (Männer) bzw. 62 Jahren (Frauen) waren es im Jahre 1998 rund 23 000 Personen, welche in ihrer Fähigkeit der Alltagsbewältigung so eingeschränkt waren, dass sie mehr als zwei Stunden pro Tag regelmässig auf Hilfe angewiesen waren und eine Hilflosenentschädigung der IV bezogen.

Die Anzahl der Personen, welche im Sinne der Invalidenversicherung als hilflos gelten und auf Dritthilfe angewiesen sind, und deshalb eine Hilflosenentschädigung HE erhalten haben, belief sich im Jahre 1998 auf total 55 342 Personen. Diese Gesamtzahl der Bezüger einer Hilflosenentschädigung ergibt sich aus der Anzahl der Leis240

Vergleiche Art. 42 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) sowie BGE 124 II S. 241 ff., Erw. 4c) S. 247 und 248. Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sieht eine leicht geänderte Definition vor (vgl. Art. 9 und Aufhebung von Art. 42 Abs. 2 IVG; BBl 2000 5041).

1822

tungsbezüger einer Hilflosenentschädigung (36 791) zuzüglich der Anzahl Personen, welche eine individuelle Leistung in Kombination mit einer Hilflosenentschädigung beziehen, nämlich 3609 Personen, sowie zuzüglich die Anzahl Personen, welche eine IV-Rente in Kombination mit einer Hilflosenentschädigung erhalten.

3

Bezüger und Bezügerinnen von Eingliederungsmassnahmen und Invalidenrenten

Von den 390 000 in der Schweiz wohnhaften IV-Leistungsbezügern und -bezügerinnen haben rund 50 000 Personen lediglich eine Abklärungsmassnahme ihres Falles in Anspruch genommen. Die restlichen 340 000 Personen teilen sich zu je der Hälfte in Bezüger und Bezügerinnen von Eingliederungsmassnahmen sowie Rentner und Rentnerinnen auf241. Im Januar 1999 hatten in der Schweiz 188 000 Personen Anspruch auf eine Invalidenrente242. Die meisten Leistungsbezüger und Leistungsbezügerinnen von IV-Leistungen leben in der Schweiz, 9 % der Bezüger und Bezügerinnen von Renten im Jahre 1999 hielten sich im Ausland auf; IV-Statistik 1999, Tabelle 3.1, S. 3.

241

Die am häufigsten angeordneten Eingliederungsmassnahmen waren die medizinischen (145 000), die seltensten die beruflichen Massnahmen (11 000).

242 Ungefähr drei Viertel davon bezogen eine ganze Rente. Die monatliche Summe dieser Leistung betrug ohne Einbezug allfälliger Zusatzrenten durchschnittlich 1500 Franken.

1823

Anhang 3

Anspruch auf Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen im Zivilrecht und im Sozialversicherungsrecht; Berücksichtigung der Behinderung im Steuerrecht 1

Ansprüche und Lebenshilfen im Zivilrecht

1.1

Allgemeine Lebenshilfen im Familienrecht

Die Familie ist eine Solidar- und Wirtschaftsgemeinschaft. Sie spielt für das physische und psychische Wohlbefinden, für die Sicherheit und die Entfaltung wie auch für die Existenzsicherung des einzelnen Menschen eine zentrale Rolle. Insbesondere sind Menschen mit Behinderungen auf die materielle und immaterielle Hilfe der Familie angewiesen. Die wertvollste und wichtigste Erfahrung für Kinder, namentlich auch für Kinder mit Behinderungen, ist das Gefühl des Angenommen-Seins.

Selbstwertgefühl und psychische Stabilität können nur durch Bestätigung, menschliche Wärme und Zuneigung wachsen. Familienrechtliche Normen des Zivilrechtes drücken diese Werte durch den Gedanken der Solidarität und der Beistandspflicht aus, welche zwischen den Ehegatten sowie zwischen Eltern und Kindern geschuldet ist (Art. 159 Abs. 3 und Art. 272 ZGB). Die Verwandtenunterstützungspflicht dehnt die materielle Form der Solidarität generationenübergreifend auf Enkel und Grosseltern aus (Art. 328 ZGB). Materielle Hilfe sowie immaterielle Hilfe in Form von Kinderbetreuung kann gerade in Familien mit einem von einer Behinderung betroffenen Elternteil oder mit einem Kind mit Entwicklungsschwierigkeiten geboten und lebensdienlich sein. Die Grosseltern können unter Umständen die Rolle von Pflegeeltern übernehmen (Art. 300 ZGB). Andererseits pflegen Eltern betagte und behinderte Eltern oder Schwiegereltern.

Über die effektiv geleistete familieninterne Hauspflege aus gesundheitlichen Gründen, bei zeitweiliger oder ständiger Invalidität eines Familienmitgliedes, hat das Bundesamt für Statistik auf Grund der 1. Schweizerischen Gesundheitsbefragung 1992/93 folgende Fakten veröffentlicht243: Innerhalb der Familie wird im Bedarfsfall am häufigsten der Partner oder die Partnerin beigezogen, wobei zwischen den Geschlechtern ein deutlicher Unterschied festzustellen ist. 41,6% der befragten Männer nannten ihre Partnerin als Person, welche die benötigte Hilfe leistet, während nur halb so viele Frauen ­ 19,1% ­ ihren Partner nannten. Was die Hilfeleistung durch Kinder betrifft, so hat die Gesundheitsbefragung Folgendes ergeben: Anteilsmässig werden mehr Mütter als Väter von ihren Kindern betreut (14% Mütter und 6,1% Väter). Weiter sind es vor allem die Töchter, die den Müttern beistehen (9%). Die stärkere Betreuung durch die Töchter nimmt bei den Müttern ab 55 Jahren noch zu244.

243

Roland Calmonte, Brigitte Herren, Thomas Spuhler, Christophe Koller, Bundesamt für Statistik: Gesundheit und Gesundheitsverhalten in der Schweiz. Detailergebnisse der 1. Schweizerischen Gesundheitsbefragung 1992/93 S. 96.

244 Roland Calmonte u.a., a.a.O., S. 96. Nicht zu übersehen ist zudem der Zusammenhang zwischen Witwenschaft und Betreuung der Mütter durch ihre Töchter. Ab 65 Jahren leben die Frauen weitaus häufiger allein als die Männer, 47 % der Frauen im Vergleich zu 19,6 % der Männer (S. 95).

1824

Die Pflicht zur Mithilfe an der Deckung des Lebensbedarfes in der ehelichen Gemeinschaft, einschliesslich der Gesundheits- bzw. der Krankheitskosten, stellt die materielle Seite der Solidarität dar (Art. 163 ZGB). Massstab sind die persönlichen Möglichkeiten und die finanziellen Verhältnisse.

Ausdrücklich spricht das Kindesrecht die Rechtsstellung des behinderten Kindes an.

Die Eltern sind gehalten, nicht nur die allgemeine Erziehungspflicht in körperlicher, geistiger und sittlicher Hinsicht zu erfüllen (Art. 302 Abs. 1 ZGB). Überdies obliegt ihnen die Pflicht, die für das Kind angemessene, seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende allgemeine und berufliche Ausbildung zu verschaffen, insbesondere auch dem «körperlich oder geistig gebrechlichen Kind» (Art. 302 Abs. 2 ZGB). Dabei müssen die Eltern das Anhörungsrecht des Kindes respektieren und soweit tunlich auf die Meinung des Kindes Rücksicht nehmen (Art. 301 Abs. 2 ZGB). Das behinderte Kind hat grundsätzlich den gleichen Anspruch auf allgemeine und berufliche Ausbildung wie das nichtbehinderte. Ist es nicht in der Lage, dem ordentlichen Schulbetrieb zu folgen, so müssen die Eltern gegebenenfalls den Besuch von Hilfskursen oder Spezialschulen ermöglichen oder das Kind in einer besonderen Fördereinrichtung unterbringen245. Zum Zwecke der Förderung des Kindes sollen die Eltern mit der Schule und, wo es die Umstände erfordern, mit der öffentlichen und gemeinnützigen Jugendhilfe zusammenarbeiten (Art. 302 Abs. 3 ZGB). Diese Pflicht der Eltern zur Kooperation tritt ein, wenn sich die Eltern untereinander oder mit dem Kind nicht einigen können oder wenn das behinderte Kind schulische oder erzieherische Schwierigkeiten verursacht. Die Pflicht besteht namentlich darin, sich mit der Lehrkraft in Kontakt zu setzen, den Rat fachkundiger Stellen der öffentlichen und gemeinnützigen Jugendhilfe (z.B. heilpädagogische Früherfassung) sowie der Schule (Schulpsychologischer Dienst, heilpädagogische Unterstützung usw.)

und der Vormundschaftsbehörde einzuholen246.

Die elterliche Pflicht zur Zusammenarbeit mit öffentlichen Institutionen ist gerade für die Früherfassung von körperlich oder geistig behinderten Kindern von grosser Bedeutung, weil durch ein spezielles Training oder durch eine frühe Therapie sich Entwicklungsrückstände und Defizite effizienter und
erfolgreicher auffangen lassen als in einem späteren Kindesalter.

Hervorzuheben ist die gleiche Stellung jedes Kindes innerhalb der Geschwisterreihe: Auch das Kind mit einer Behinderung besitzt die gleiche Rechtsstellung in der Geschwisterreihe hinsichtlich seines Anspruches auf eine optimale, seinen Möglichkeiten entsprechende Bildung und Ausbildung247. Die Frage der Angemessenheit der Ausbildung stellt sich bei Kindern mit Behinderungen mindestens so ernsthaft

245 246

BGE 117 Ia 34; RegRat AG AGVE 1991, 524 Nr. 26.

Ingeborg Schwenzer, Kommentar zu Art. 302 ZGB, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Schweizerisches Zivilgesetzbuch I, Basel 1996, S. 1556.

247 Was als «angemessene, berufliche Ausbildung» erscheint, muss im Einzelfall abgeklärt werden. Der Begriff unterliegt der Interpretation angesichts dem gesellschaftlichen Wandel, den neuen Anforderungen im Erwebsleben und den in den letzten Jahren erweiterten Ausbildungs- und Therapiemöglichkeiten. Vergleiche ausführlich zur Frage nach der Angemessenheit der Ausbildung, Forni, S. 433 ff., in: Hausheer/Spycher/ Kocher/Brunner, Handbuch des Unterhaltsrechts, Bern 1997, S. 340 ff. Vergleiche zur Problematik des Ausbildungsplanes und des beruflichen Lebensplanes, zur Rücksichtsund Zusammenwirkungspflicht zwischen Eltern und Kind bei der Ausbildung: Peter Breitschmid, Kommentar zu Art. 277 ZGB, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Schweizerisches Zivilgesetzbuch I, Basel 1996, S. 1454­1460.

1825

wie bei gesunden Kindern, weil ihnen eine spätere Umschulung eher weniger leicht fallen dürfte als anderen Jugendlichen.

Die Familiensolidarität soll auch in Krisensituationen wirksam sein. Spezielle Normen sichern vor allem die materielle Unterstützung zwischen den Ehegatten und zwischen den einzelnen Elternteilen und ihren Kindern. Im Vordergrund stehen die Unterhaltsregelungen während der Trennung als Massnahme des Eheschutzes (Art. 175 f. ZGB) und als vorsorgliche Massnahme während eines Scheidungsverfahrens (Art. 137 ZGB). Wenn der Richter bzw. die Richterin Eheschutzmassnahmen oder Massnahmen in einem Scheidungsverfahren anordnet, muss bei der Zuteilung der Kinder und der Festlegung der Unterhaltsbeiträge das Gericht eine Behinderung und ihre konkreten Auswirkungen mit berücksichtigen. Über die Dauer einer Ehe hinaus, welche durch Scheidung aufgelöst wird, besteht die Familiensolidarität weiter. Dabei werden die Unterhaltsbeiträge für den unterstützungsberechtigten Ehegatten so festgelegt, dass seine Gesundheit, einschliesslich einer allfälligen physischen oder psychischen Behinderung, berücksichtigt werden. Diese Rücksichtnahme wirkt in zweifacher Hinsicht: sowohl bei der Frage der Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit wie auch bei der Festlegung der Höhe des nachehelichen Unterhaltsbeitrages248. Wenn ein Ehegatte in der Vereinbarung ganz oder teilweise auf seinen Anspruch auf die zu teilenden Austrittsleistungen der beruflichen Vorsorge verzichtet, prüft das Gericht von Amtes wegen, ob eine entsprechende Alters- und Invalidenvorsorge auf andere Weise gewährleistet ist (Art. 141 Abs. 3 ZGB).

1.2

Besondere Lebenshilfen

Das Vormundschaftsrecht stellt eine Reihe von Massnahmen zur Verfügung, welche für die betreute Person eine Lebenshilfe darstellen, um das Bestehen in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Jedoch wird die Autonomie der betreffenden Person tangiert, vor allem wenn Massnahmen angeordnet werden, welche die rechtliche Handlungsfreiheit beschränken (Mitwirkungs- oder/und Verwaltungsbeiratschaft Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB) oder die rechtliche Handlungsfähigkeit durch die Entmündigung gar aufheben (Art. 368 ff. ZGB). Im Zusammenhang mit der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen stehen Kindesschutzmassnahmen im Vordergrund, welche im Sinne des Kindeswohls die Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützen. Überdies bietet die Rechtsgemeinschaft durch das Vormundschaftsrecht Lebenshilfen für Erwachsene an, welche beispielsweise wegen ihrer Behinderung physischer, psychischer oder geistiger Art besondere Mühe bekunden, mit den Anforderungen des Lebens zu Rande zu kommen.

248

Die geschuldeten Unterhaltsbeiträge werden entweder durch eine richterlich genehmigte Konvention vereinbart (Art. 140 f. ZGB) oder durch einen gerichtlich festgesetzten nachehelichen Unterhaltsbeitrag bestimmt, sofern es einem Ehegatten nicht zuzumuten ist, dass er für den ihm gebührenden Unterhalt unter Einschluss einer angemessenen Altersvorsorge selber aufkommt (Art. 125 f. ZGB). Beim Entscheid, ob ein Beitrag zu leisten sei und gegebenenfalls in welcher Höhe und wie lange, sind mehrere Umstände zu berücksichtigen, namentlich auch Alter und Gesundheit des Ehegatten (Art. 125 Abs. 2 Ziff. 4 ZGB). Die Unterhaltsregelungen für die Kinder bei der Scheidung der Eltern finden sich in Art. 133 Abs. 1 ZGB und Art. 143 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB.

1826

1.2.1

Kindesschutzmassnahmen (Art. 307 ff. ZGB)

Vernachlässigen die Eltern die Erziehung ihrer Kinder im Sinne der Fürsorgepflichten oder fühlen sie sich in der Erziehung und Förderung eines behinderten Kindes überfordert, stellt sich die Frage nach dem Kindesschutz. Dafür stellt das Zivilrecht eine Stufenfolge von Massnahmen zur Verfügung. Die Vormundschaftsbehörde hat, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern (oder die Pflegeeltern) nicht für Abhilfe sorgen oder dazu nicht imstande sind, geeignete Vorkehren zu treffen (Art. 307 ZGB). Als erste Massnahme nennt das Gesetz Weisungen für die Pflege, Erziehung oder Ausbildung. Ein sprachbehindertes Kind sei beispielsweise einer fachärztlichen Behandlung oder einer entsprechenden Therapie bei einer Logopädin oder bei einem Logopäden zu unterziehen. Es kann die Einsetzung eines Beistandes angeordnet werden, der die Eltern in ihrer Sorge um das Kind mit Rat und Tat unterstützt (Art. 308 ZGB). Als Beistand kommen beispielsweise Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterinnen, Heilpädagogen und Heilpädagoginnen in Betracht.

Die Beistandschaft versteht sich als Erziehungshilfe.

Einschneidendere Kindesschutzmassnahmen sind die Wegnahme des Kindes und die Unterbringung in ein geeignetes Heim (Aufhebung der elterlichen Obhut, Art. 310 Abs. 1 ZGB). Bei besonderen schwerwiegenden Versäumnissen oder wegen Unvermögens (z.B. wegen eines Gebrechens physischer oder psychischer Art) seitens der Eltern ist der Entzug der elterlichen Sorge zu erwägen und ­ falls keine weniger einschneidende Massnahme möglich ist ­ von der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde durchzuführen. Gleichzeitig ist die elterliche Sorge auf einen gesetzlichen Vormund zu übertragen (Art. 311 ZGB). Die Eltern können aus wichtigen Gründen von sich aus darum ersuchen (Art. 312 Ziff. 1 ZGB).

1.2.2

Vormundschaftsrechtliche Lebenshilfen für Erwachsene

Das Vormundschaftsrecht unterscheidet drei Massnahmen, welche als Lebenshilfen für Menschen gedacht sind, welche ohne diese Hilfe mit dem Leben nicht oder schwerlich zu Rande kommen: die Beistandschaft, die Beiratschaft und die Vormundschaft. Die Beistandschaft belässt der Person die volle rechtliche Handlungsfähigkeit, während die Beiratschaft sie partiell einschränkt. Die Vormundschaft ist die einschneidenste Massnahme insofern sie die rechtliche Handlungsfähigkeit der betreffenden Person aufhebt. Nur unter bestimmten Voraussetzungen und unter Beachtung der Verhältnismässigkeit sowie bei Vorliegen bestimmter Gründe können Mündige unter Vormundschaft gestellt werden. Als ersten Grund nennt das Gesetz Geisteskrankheit und Geistesschwäche, welche so ausgeprägt sein muss, dass die Person ihre Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, zu ihrem Schutz dauernd des Beistandes und der Fürsorge bedarf oder die Sicherheit anderer gefährdet (Art. 369)249. Die Entmündigung kann auch auf eigenes Begehren der betreffenden Person erfolgen, wenn sie infolge Altersschwäche oder eines Gebrechens oder wegen Unerfahrenheit ihre Angelegenheiten nicht gehörig zu besorgen vermag (Art. 372 ZGB). Die Entmündigung führt zum vollständigen Entzug der Handlungsfähigkeit. In der Regel vertritt ein Vormund das Mündel in allen rechtlichen 249

Der im Zivilgesetzbuch verwendete Begriff der Geisteskrankheit deckt sich nicht mit der medizinischen Bezeichnung, welche als Sammelbegriff von «psychische Krankheiten» spricht. Jede Person, welche nach Art. 369 ZGB geisteskrank ist, ist im medizinischen Sinne psychisch krank, jedoch ist nicht notwendigerweise jede psychisch kranke Person im medizinischen Sinne auch rechtlich geisteskrank.

1827

Angelegenheiten. Diese Form der Vormundschaft kommt für Menschen in Frage, welche wegen ihrer schweren Geisteskrankheit oder Geistesschwäche nicht in der Lage sind, die Rahmenbedingungen ihres Lebens zu gestalten. Nicht eingeschränkt werden können allerdings die höchstpersönlichen Rechte, die jedem Menschen zustehen. Darunter versteht man beispielsweise das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Erfordernis der Zustimmung zu einem ärztlichen Eingriff wie die Sterilisation) oder das Recht auf die Errichtung eines Testamentes. Diese Rechte kann die betroffene Person in eigener Verantwortung wahrnehmen, soweit sie die Tragweite ihrer Handlung zu verstehen vermag, d.h. urteilsfähig ist. Da die absoluten höchstpersönlichen Rechte «vertretungsfeindlich» sind, ist es nicht möglich, dass der Vormund stellvertretend für das Mündel solche Entscheidungen trifft. Die Einwilligung in ärztliche Eingriffe zählt zu den relativ höchstpersönlichen Rechten250. Das bedeutet, dass im Falle von Urteilsunfähigkeit eine Vertretung zugelassen ist251. Für die Eheschliessung braucht die entmündigte Person die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters (Art. 94 Abs. 2 Satz 1 ZGB). Dessen Verweigerungsrecht, beispielsweise als Vormund, ist jedoch beschränkt; dies ergibt sich aus dem wohlverstandenen Interesse des Mündels, welches im Rahmen der Fürsorgepflicht des Vormundes strikte zu wahren ist. Die entmündigte Person kann gegen die Verweigerung dieser Zustimmung das Gericht anrufen (Art. 94 Abs. 2 Satz 2 ZGB). Gemäss höchstrichterlicher Rechtsprechung dürfen die Anforderungen an die Urteilsfähigkeit für die Eheschliessung nicht allzu hoch gesetzt werden252. Das Recht, um Aufhebung der Vormundschaft zu ersuchen oder ein Scheidungsbegehren gerichtlich anhängig zu machen sowie eine letztwillige Verfügung zu erlassen oder einen Erbvertrag abzuschliessen, gehören zu den absolut persönlichen Rechten253.

Als ordentliche oder als dringende Massnahme kann durch eine vormundschaftliche Behörde ein fürsorgerischer Freiheitsentzug geboten sein. Geisteskrankheit und Geistesschwäche, Suchterkrankung, schwere Verwahrlosung sind Gründe, welche einen fürsorgerischen Freiheitsentzug und die Unterbringung in eine geeignete Anstalt rechtfertigen, wenn der betroffenen Person die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann (Subsidiarität
des fürsorgerischen Freiheitsentzuges). Die Belastung der Umgebung ist bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Massnahme zu berücksichtigen (Art. 397a ZGB). Bei einer dauernden Anstaltsunterbringung kann für die fürsorgebedürftige Person ein Vormund (volle Beschränkung der Handlungsfähigkeit Art. 367 Abs. 1 ZGB) oder ein Beirat (nur teilweise Beschränkung der Handlungsfähigkeit Art. 395 ZGB) ernannt werden.

In der Praxis wird heutzutage auf die Bevormundung verzichtet, weil sie als zu einschneidend empfunden wird (Entzug der rechtlichen Handlungsfähigkeit). Hingegen werden bei altersschwachen Personen oder bei Personen mit einer geistigen Behinderung Beistandschaften angeordnet.

In der laufenden Revision des Vormundschaftsrechts sind massgeschneiderte Massnahmen vorgesehen, welche die individuelle Situation der betreffenden Person stärker berücksichtigen. Auch im neuen «Erwachsenenschutzrecht» wird das Verhältnismässigkeitsprinzip und das Prinzip der Subsidiarität der Massnahmen von Bedeutung sein.

250 251

BGE 114 Ia 350.

Vgl. Margrith Biggler-Eggenberger in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Schweizerisches Zivilgesetzbuch I, Art. 19, N 37 und N 41, S. 187, Basel 1996.

252 BGE 109 II 273 E. 2 und.3 253 Biggler-Eggenberger, a.a.O., N 40.

1828

1.3

Kein Anspruch auf Anstellung im Arbeitsrecht ­ Arbeitsrechtliche Schutzvorschriften

Das Arbeitsrecht befasst sich als Sonderrecht mit dem Lebenssachverhalt der abhängigen Arbeit, welche auf Grund eines privatrechtlichen Verhältnisses erbracht wird254. Obschon im Arbeitsrecht zwingende Bestimmungen zu beachten sind, ist die Abschlussfreiheit bzw. die Vertragsfreiheit beider Vertragspartner gewährleistet.

Sie wird als wesentlicher Teil der persönlichen Freiheit betrachtet255. Sie umfasst neben der Freiheit zur Gestaltung des Vertragsinhaltes innerhalb der gesetzlichen Schranken auch die Abschlussfreiheit, d.h. die Freiheit, einen Vertrag abzuschliessen oder nicht, sowie die Freiheit, den Vertragspartner auszuwählen. Die Gesetzgebung des Bundes schränkt die Vertragsfreiheit und somit das Recht auf Wahlfreiheit des Arbeitgebers bei Vertragsschluss lediglich punktuell ein. So verbieten beispielsweise die Bestimmungen des Artikels 3 Absatz 1 und 2 des Gesetzes über die Gleichstellung von Mann und Frau vom 24. März 1995256 direkte oder indirekte Benachteiligungen auf Grund des Geschlechts bei der Anstellung257. Spezielle gesetzliche Rücksichtnahmen sind bei Anstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen nicht geboten. Das Gemeinwesen vertraut auf die Freiheit des Arbeitgebers, sich auch freiwillig zur Anstellung eines Menschen mit einem Handicap zu entschliessen oder einen solchen Arbeitnehmer bzw. eine solche Arbeitnehmerin trotz einer eingetretenen Behinderung und allenfalls eingeschränkter Leistungsfähigkeit weiterhin in geeigneter Weise zu beschäftigen.

Um das Klischee der Hilfsbedürftigkeit bei jedem Behinderungsfall zu durchbrechen, ist zu unterstreichen, dass Behinderung nicht notwendigerweise eine Einschränkung der kreativen und wirtschaftlichen Leistungskraft bedeutet. Beispiele von Menschen, welche trotz ihrer augenfälligen oder verborgenen Behinderung ihren Mann oder ihre Frau stellen, widersprechen den gängigen Vorurteilen von Hilflosigkeit und Abhängigkeit.

Als eine der zwingenden Bestimmungen im Arbeitsrecht gilt die Pflicht des Arbeitgebers, die Persönlichkeit der Arbeitnehmer zu schützen (Art. 328 Abs. 1 OR). Die Arbeitgeber sind verpflichtet, präventiv und aktuell die Persönlichkeit jedes Arbeitnehmers und jeder Arbeitnehmerin zu schützen und im Rahmen des Arbeitsverhältnisses entsprechende Eingriffe von Vorgesetzten, Mitarbeitern oder Dritten (Kunden, Lieferanten)
abzuwehren. Zu den Persönlichkeitsgütern gehören insbesondere Leben und Gesundheit, körperliche und geistige Integrität, persönliche und berufliche Ehre, Stellung und Ansehen im Betrieb, Geheimsphäre, die Freiheit der persön-

254

Dem Arbeitsrecht kommt grosse Bedeutung zu, da die eigene Arbeitskraft für die meisten Menschen in der Schweiz die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz bildet. In der Schweiz sind über 90% der Erwerbstätigen Arbeitnehmende. Vgl. Charlotte Gysin, Der Schutz des Existenzminimums in der Schweiz, Basel 1999, S. 210. Rehbinder berechnet für das Jahr 1996 die Zahl von 3,8 Millionen, bzw. nach Abzug des öffentlichen Dienstes 2,8 Millionen Menschen in der Schweiz, die ihre Existenzgrundlage in abhängiger Arbeit fanden. Manfred Rehbinder, Schweizerisches Arbeitsrecht, 14. Aufl., Bern 1999, S. 19.

255 BGE 80 II 39 256 Gleichstellungsgesetz (SR 151.1) 257 Das Verbot der direkten und indirekten Benachteiligung erstreckt sich überdies auf die Aufgabenzuteilung, Gestaltung der Arbeitsbedingungen, Entlöhnung, Aus- und Weiterbildung, Beförderung und Entlassung.

1829

lichen Meinungsäusserung und die Freiheit der gewerkschaftlichen Organisation258.

Der Arbeitgeber hat die Pflicht, Verhaltensweisen, welche gegenüber Menschen mit Behinderungen als verletzend, abwertend und ausgrenzend wirken, entgegenzutreten und zu unterbinden.

Die Erfahrungstatsache, dass der Eintritt in die Gruppe der IV-Rentener und IVRentnerinnen hauptsächlich auf Grund von Krankheit erfolgt (76% aller IV-Rentner und Rentnerinnen), deren Wahrscheinlichkeit mit dem Alter ansteigt, wogegen Eintritte auf Grund von Geburtsgebrechen (14%) und Unfällen (11%) nur eine untergeordnete Rolle spielen, unterstreicht die Bedeutung der präventiven Sorge um die Gesundheit zur Erhaltung der Erwerbskraft, sowohl von Seiten der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen wie auch von Seiten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.

Das Arbeitsrecht verpflichtet die Arbeitgeber in Artikel 328 Abs. 2 OR, zum Schutz von Leib und Leben geeignete Massnahmen zu treffen. Die Arbeitgeber müssen für die einwandfreie Beschaffenheit der Arbeitsräume und anderer von den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zu benutzender Räume sorgen, Maschinen und Geräte mit den erforderlichen Schutzvorrichtungen versehen lassen und den Arbeitsablauf möglichst gefahrenlos gestalten. Ferner müssen sie die Arbeitskräfte auf Gefahren hinweisen, sie instruieren und für geeignete Überwachung auf Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen sorgen259. Grenze dieser Schutzpflichten ist jedoch das technisch Mögliche und wirtschaftlich Zumutbare. Dieses ist als Mindeststandard geschuldet (Art. 362 Abs. 2 OR). In Arbeitsverhältnissen, die dem öffentlichem Arbeitsschutzrecht unterliegen, ist das technisch Mögliche und das wirtschaftlich Zumutbare dort näher konkretisiert. Der Gesundheitsschutz ist im Zuge der Revision des Arbeitsgesetzes260 verstärkt worden, so für schwangere Frauen (Art. 35ArG) und für Jugendliche261.

2

Ansprüche im Sozialversicherungsrecht

2.1

Das System der sozialen Sicherheit im Sozialstaat und das Invaliditätsrisiko

Die Sozialstaatlichkeit ist ein tragendes Strukturelement unseres Staates. Dies ergibt sich aus Artikel 2 Abs. 2 und 3 der Bundesverfassung (Wohlfahrtsförderung und Chancengleichheit) sowie aus weiteren Sozialbestimmungen der Verfassung. Hauptpfeiler der Sozialstaatlichkeit sind die Alters- Hinterlassenen und Invalidenversicherung (Art. 111 und 112 BV), die berufliche Vorsorge (Art. 113 BV), die Arbeitslosenversicherung (Art. 114 BV), die Familienzulagen und die Mutterschaftsversicherung (Art. 116 BV)262, die Kranken- und Unfallversicherung (Art. 117 BV) sowie die kantonale Fürsorge (Art. 115 BV). Zu den typischen Risiken der Sozialversiche258

Manfred Rehbinder, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht, Basel 1996, Art. 328, N 3, S. 1631 und 1632.

BGE 102 II 18­22 Bundesgesetz vom 13. März 1964 über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (ArG, SR 822.111) 261 Die Liste der für Jugendliche bis zum vollendeten 19. Lebensjahr und die Liste der für Jugendliche unter 16 Jahren verbotenen Tätigkeiten (vgl. die Verbotsliste in Art. 47 der Verordnung I) wurde erweitert. Lehrlinge bis zum vollendeten 20. Lebensjahr dürfen gewisse gefährliche Arbeiten nicht verrichten. Bei der Beschäftigung von Jugendlichen unter 15 Jahren müssen erhebliche Einschränkungen beachtet werden, bezüglich der Dauer der Beschäftigung und der Art der Tätigkeit (vgl. Art. 52­55 der Verordnung 1).

262 Die Mutterschaftsversicherung ist bislang nicht verwirklicht worden.

259 260

1830

rung wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Familienlasten, Alter sowie Tod des Versorgers zählt die Invalidität. Das soziale Sicherungssystem kommt zum Tragen, wenn ein bestimmtes Risiko eingetreten ist. Die Sozialversicherung knüpft «kausal» an der Ursache für den Ausfall der Selbstversorgung an. Unabhängig von einer konkreten Bedürftigkeit entsteht ein Anspruch auf eine typisierte, klar bestimmbare Versicherungsleistung263. Bei der Invalidenversicherung wie auch bei der Altersversicherung wird bei einer allfälligen Unterdeckung der Lebenshaltungskosten bis zu einem sozialen Existenzminimum die Rente aufgestockt (Ergänzungsleistungen).

2.2

Die Deckung des Invaliditätsrisikos

Das Risiko der Invalidität wird durch verschiedene Sozialversicherungen gedeckt: durch die Invalidenversicherung, die Unfallversicherung bei unfallbedingter Invalidität, die Militärversicherung und die berufliche Vorsorge. Im Vordergrund steht die Invaliditätsversicherung. Das Gesetz über die Invalidenversicherung definiert in Artikel 4 IVG Invalidität ursachen- und wirkungsbezogen als «die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit» 264. Im Vernehmlassungsentwurf der vierten IV-Revision werden die Formen der Behinderung präzisiert: neben den körperlichen oder geistigen Gesundheitsschäden werden die psychischen als eigene Kategorie aufgezählt265.

Die Gesetzgebung der Invalidenversicherung betrachtet Behinderung unabhängig von den Ursachen und Formen als ein vornehmlich ökonomisches Lebensbewältigungsproblem. Das Ausmass der Behinderung bestimmt sich deshalb nach den ökonomischen Auswirkungen im Erwerbsleben266. Die Renten werden für erwachsene Menschen nach dem Ausmass der Behinderung berechnet, welche nach den ökonomischen Auswirkungen bemessen wird. Ist der Versicherte zu mindestens 40 Prozent invalid, so hat er Anspruch auf eine Rente. Um den Invaliditätsgrad zu bestimmen, werden zwei hypothetische Erwerbseinkommen zueinander in Beziehung gesetzt: Das hypothetische Erwerbseinkommen nach Eintritt der Invalidität wird ins Verhältnis gesetzt zum hypothetischen Erwerbseinkommen ohne Invalidität (vgl.

Art. 28 Abs. 2 IVG)267. Die Rente wird nach dem Grad der Invalidität abgestuft und in drei Anspruchskategorien unterteilt: ein Invaliditätsgrad von mindestens 40 Prozent ergibt eine Viertelsrente, ein Invaliditätsgrad von mindestens 50 Prozent bedeutet eine halbe Rente und ein Invaliditätsgrad von mindestens 662/3 Prozent löst eine ganze Rente aus (Art. 28 Abs. 1 IVG).

263

Lediglich die Hilfe der kantonalen Fürsorge ist «final» ausgerichtet in dem Sinne, dass ausschliesslich die Bedürfnisse der antragsstellenden Person massgeblich sind.

BG vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung, SR 831.20. Das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) gelangt durch die Verbindung seines Art. 8 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 des IVG, den es abändert (vgl. Ziff. 8 des Anhangs) zu einem vergleichbaren Ergebnis (BBl 2000 5041).

265 Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 des Vernehmlassungsentwurfes über die vierte IV-Revision vom 4. Juli 2000. Die Aufzählung der Diskriminierungstatbestände in Art. 8 Abs. 2 BV, welche von Verfassungs wegen verboten sind, enthält ebenfalls die drei Behinderungsarten: körperliche, geistige und psychische Behinderung.

266 Vergleiche dazu die Ausführungen in Ziff. 3.3 über den Wehrpflichtersatz.

267 SR 831.20; vgl. auch. Art. 16 ATSG und die Aufhebung von Art. 28 Abs. 2, IVG (Ziff. 8 des Anhangs; BBl 2000 5041.

264

1831

Bei Invalidität, welche durch einen Unfall verursacht wurde, kann auch ein Anspruch auf eine Invalidenrente gemäss dem Bundesgesetz über die Unfallversicherung (UVG)268 bestehen. Diese Renten werden auch bei einem kleinen Invaliditätsgrad gewährt. Neben der medizinischen Grundversorgung sind 80 Prozent des versicherten Lohnes gedeckt. Das Taggeld beträgt bei voller Arbeitsunfähigkeit 80 Prozent des versicherten Verdienstes. Bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit wird es entsprechend gekürzt (Art. 17 Abs. 1 UVG). Die Invalidenrente beträgt bei Vollinvalidität 80 Prozent des versicherten Verdienstes; bei Teilinvalidität wird sie entsprechend gekürzt (Art. 20 Abs. 1 UVG). Als invalid gilt, wer voraussichtlich bleibend oder für längere Zeit in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist. Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der unfallbedingten Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre (Art. 18 Abs. 2 UVG269). Der Plafond des versicherten Lohnes liegt bei Fr. 106 800.­.

Der Anspruch auf Invalidenleistungen nach dem Gesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG)270 haben Personen, die im Sinne der IV zu mindestens 50 Prozent invalid sind und bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur Invalidität geführt hat, versichert waren (Art. 23 BVG). Der Versicherte hat Anspruch auf eine volle Invalidenrente, wenn er im Sinne der IV mindestens zu zwei Dritteln, auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zur Hälfte invalid ist (Art. 24 Abs. 1 BVG).

Hilflosigkeit im Sinne der Invalidenversicherung liegt vor, wenn die versicherte Person in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist oder einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf. Daneben gibt es noch Sonderfälle von Hilflosigkeit 271.

3

Steuerrechtliche Berücksichtigung der Invalidität

3.1

Die Qualifizierung der IV-Leistungen und anderer Sozialversicherungsleistungen

Für natürliche Personen (wie auch für juristische Personen) gilt das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die direkten Steuern für natürliche Personen werden auf allen wiederkehrenden und einmaligen Einkünften aus selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit sowie der Einkünfte aus Vorsorgeleistungen erhoben (Art. 16 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer, DBG272; Art. 7 des Bundesgesetzes über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden, StHG273). Kapitalleistungen aus Vorsorge (2. Säule, Säule 3a) sowie Zahlungen bei Tod oder für bleibende körperliche Nachteile unterliegen einer vom übrigen Einkommen getrennt berechneten Jahressteuer zu einem privilegierten Satz (Art. 38 DBG und Art. 11 Abs. 3 StHG).

268 269 270 271 272 273

SR 832.20 Vgl. den neuen Art. 18 UVG, der durch das ATSG (Ziff. 12 des Anhangs) geändert wurde, und Art. 16 LPGA; BBl 2000 5041.

SR 831.40 Art. 36 IVV, SR 831.201 SR 642.11 SR 642.14

1832

Menschen mit Behinderungen sind, wenn sie nicht mehr in das Erwerbsleben integriert werden können, auf «Ersatzeinkommen» angewiesen, d.h. auf Geldleistungen, welche als Ersatz oder als Ergänzung des Einkommens dienen. Als steuerbare Ersatzeinkünfte gelten auf Grund der Umschreibung der steuerbaren Einkünfte namentlich Taggelder und Renten der Sozialversicherungen, so der Militärversicherung, der AHV/IV, der Unfallversicherung sowie der beruflichen Vorsorge. Einige wenige Einkünfte sind aus sozialpolitischen Gründen steuerfrei. So sind Einkünfte auf Grund der Bundesgesetzgebung über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung steuerfrei (Art. 24 Bst. h DBG; Art. 7 Abs. 4 Bst. k StHG). Die Steuerbefreiung gilt auch für Unterstützungen aus öffentlichen oder privaten Mitteln (Art. 24 Bst. d DBG; Art. 7 Abs. 4 Bst. f StHG). Unterstützungsleistungen, welche in Erfüllung familienrechtlicher Verpflichtungen geleistet werden, sind ebenfalls steuerfrei; ausgenommen sind die von geschiedenen, gerichtlich oder tatsächlich getrennt lebenden Ehegatten erhaltenen Unterhaltsbeiträge sowie die Unterhaltsbeiträge für die Kinder (Alimente), welche ein Elternteil für die Kinder erhält, für die er die elterliche Sorge innehat (Besteuerung nach dem Zuflussprinzip bei dem Elternteil, dem die Leistungen zufliessen; Art. 24 Bst. e DBG, Art. 7 Abs. 4 Bst. g StHG).

Zu den steuerfreien einmaligen Einkünften zählen auch die Genugtuungsleistungen (Art. 24 Bst. g DBG; Art. 7 Abs. 4 Bst. 1 StHG). Sie werden geschuldet von Privaten, die Urheber einer widerrechtlichen Tötung eines Menschen, einer widerrechtlichen Körperverletzung oder einer Verletzung der Persönlichkeit sind (Art. 47 und 49 OR).

Von der Steuerbefreiung nach Artikel 24 Bst. g DBG und Artikel 7 Abs. 4 Bst. i StHG erfasst werden auch Integritätsentschädigungen, welche gestützt auf Artikel 24 UVG oder Artikel 48­50 MVG ausgerichtet werden274.

3.2

Die Berücksichtigung der Krankheits- und Invaliditätskosten im Steuerrecht

Von den gesamten steuerbaren Einkünften werden die zur Erzielung notwendigen Aufwendungen und die allgemeinen Abzüge abgerechnet, um das Nettoeinkommen des Steuerpflichtigen zu ermitteln275. Die Auslagen, welche eine Person mit Behinderung beispielsweise für den Transport zum Arbeitsort aufwendet, können als Gewinnungskosten von den Einkünften abgezogen werden. Zu den allgemeinen Abzügen zählen namentlich die Krankheits-, Unfall- und Invaliditätskosten des Steuerpflichtigen und der von ihm unterhaltenen Personen, soweit der Steuerpflichtige die Kosten selber trägt, sie 5% des steuerbaren Einkommens übersteigen, und diese einen vom kantonalen Recht bestimmten Selbstbehalt übersteigen (Art. 33 Abs.1 Bst. h DBG und Art. 9 Abs. 2 Bst. h StHG). Krankheits- und Invaliditätskosten sind also, abgesehen vom Selbstbehalt, in vollem Umfange abziehbar276.

Von Gesetzes wegen sind sowohl bei den Steuern des Bundes wie der Kantone die mit dem Beruf zusammenhängenden Weiterbildungs- und Umschulungskosten ab274

Markus Reich in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, I/1, Art.7 StHG, N. 105, S. 110.

275 Die zur Erzielung des Einkommens notwendigen Auslagen werden auch «Gewinnungskosten» genannt (Art. 26­32 DBG; Art. 9 Abs. 1 StHG).

276 Markus Reich in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, I/1, Art. 9 StHG, N.30, S. 145.

1833

ziehbar (Art. 26 Abs. 1 Bst. d DBG; Art. 9 Abs.1 Satz 2 StHG). Die Vorbereitung auf einen anderen, neuen Beruf erfüllt das Erfordernis des Zusammenhanges der Bildungsmassnahme mit dem angestammten Beruf, soweit die Umschulung auf Grund einer eingetretenen Behinderung notwendig und zur Erhaltung oder zur wesentlichen Verbesserung der Erwerbsfähigkeit unabdingbar ist. Diese Kosten werden zusätzlich auch von der IV unterstützt (Art. 17 IVG; Art. 6 Abs. 1 IVV). Wenn eine versicherte Person Anspruch auf Umschulung hat, so übernimmt die IV die Kosten für die Ausbildung sowie für die Unterkunft und die Verpflegung in der Ausbildungsstätte (vgl. Art. 6 IVV).

3.3

Wehrpflichtersatz

Grundsätzlich müssen gemäss Artikel 1 des Bundesgesetzes über den Wehrpflichtersatz (WPEG)277 alle Schweizer Bürger, die ihre Wehrpflicht nicht oder nur teilweise durch persönliche Dienstleistung (Militär oder Zivildienst) erfüllen, einen Ersatz in Geld leisten. Dies bedeutet, dass auch Schweizer Bürger mit Behinderungen, welche den Militärdienst nicht leisten können, grundsätzlich ersatzpflichtig werden. Dies erklärt sich dadurch, dass der Militärdienst eine Grundpflicht für alle Schweizer Bürger ist. Nur nach den Voraussetzungen von Artikel 4 WPEG wird der Betroffene von der Ersatzpflicht befreit, so namentlich wenn er von einer erheblichen körperlichen oder geistigen Behinderung betroffen ist und wenn zugleich sein Einkommen das betreibungsrechtliche Existenzminimum um nicht mehr als 100 Prozent übersteigt (vgl. Art. 4 Abs. 1 Bst. a WPEG), oder wenn er eine Rente oder eine Hilflosenentschädigung der IV oder der UV bezieht, oder wenn er zumindest eine der zwei erforderlichen Voraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung erfüllt (Art. 4 Abs. 1 Bst. abis und ater WPEG).

Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der IV besteht, wenn der Versicherte «in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist» (Art. 36 der Verordnung über die Invalidenversicherung, IVV)278. Für die Beurteilung, ob im Einzelfall eine erhebliche körperliche oder geistige Behinderung (Art. 4 Abs. 1 Bst. a WPEG) vorliegt, wird nicht auf den Mindestgrad an Invalidität abgestellt, welcher für die Zusprechung einer Invalidenrente erforderlich ist, weil es sich beim Invaliditätsgrad im Sinne der IV um einen wirtschaftlichen Begriff handelt279. Der Begriff ist im medizinischen Sinne zu verstehen280.

In der Praxis gilt eine Behinderung, die einer Integritätsentschädigung von 40 und mehr Prozent entspricht, wenn sie unfallbedingt wäre (Art. 24 UVG und Art. 36 UVV), als erheblich281.

11303

277 278

SR 661 SR 831.201. Als alltägliche Lebensverrichtungen gelten nach der Gerichtspraxis im Sinne einer abschliessenden Aufzählung folgende Aktivitäten: 1. Ankleiden und Ausziehen; 2. Aufstehen, Absitzen, Abliegen; 3. Essen; 4 Körperpflege; 5. Verrichten der Notdurft; 6. Fortbewegung, Kontaktaufnahme. Vergleiche BGE 121 V 88, 124 II 241, 247 und 248.

279 Vergleiche dazu die Ausführungen weiter vorn in Anhang 3 unter 2.2: Die Deckung des Invaliditätsrisikos sowie Art. 28 Abs. 2 IVG (SR 831.20).

280 BGE 124 II 247 281 BGE 126 II 275

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1 Text und Entstehungsgeschichte der Volksinitiative 1.1 Form und Gültigkeit 1.1.1 Wortlaut 1.1.2 Zustandekommen 1.1.3 Gültigkeit 1.1.3.1 Einheit der Form 1.1.3.2 Einheit der Materie 1.1.3.3 Durchführbarkeit der Initiative 1.1.3.4 Übereinstimmung mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts 1.2 Entstehungsgeschichte und Zweck der Initiative 1.2.1 Die Lancierung der Initiative 1.2.2 Der Gesichtspunkt der Urheber der Initiative 1.3 Behandlungsfristen

1719 1719 1719 1719 1719 1719 1720 1720

2 Allgemeines 2.1 Zur Situation der Behinderten in der Schweiz 2.1.1 Der Begriff der Behinderung 2.1.2 Behinderung als existenzielle Beeinträchtigung und besondere Herausforderung an die Lebensbewältigung 2.1.3 Menschen mit Behinderungen im Arbeitsprozess 2.1.3.1 Allgemeines 2.1.3.2 Geschützte Werkstätten 2.1.3.3 Neue Integrationsformen 2.1.4 Das statistische Bild von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz 2.1.4.1 Zur Datenlage 2.1.4.2 Gesamtzahl der behinderten Personen 2.1.4.3 Ursachen der Behinderungen 2.1.4.4 Wahrscheinlichkeit des Bezugs einer IV-Rente 2.1.4.5 Entwicklung der Invalidität seit 1992 2.1.4.6 Kinder und minderjährige Jugendliche mit Behinderungen 2.1.4.7 Mobilitätsbehinderung 2.2 Menschen mit Behinderungen als Träger von spezifischen Menschenund Freiheitsrechten 2.2.1 Allgemeine Rechtsentwicklung 2.2.2 Besondere Gefahr der Diskriminierung 2.3 Rechtsvergleich 2.3.1 Vergleich mit den Rechtsordnungen ausgewählter Staaten 2.3.1.1 Besondere Verfassungsbestimmungen und besondere Behindertengesetze 2.3.1.2 Arbeitsrecht 2.3.1.3 Bauliche Anpassungen von Gebäuden 2.3.1.4 Erziehungswesen

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2.3.1.5 Öffentlicher Verkehr 2.3.1.6 Kommunikation 2.3.2 Das Recht der Kantone 2.3.2.1 Allgemeines 2.3.2.2 Beschäftigung 2.3.2.3 Bauten 2.3.2.4 Ausbildung 2.3.2.5 Öffentlicher Verkehr 2.3.2.6 Steuern 2.4 Die Initiative Suter und die Vernehmlassung von 1999 2.4.1 Die parlamentarische Initiative Suter 2.4.2 Die Vernehmlassung von 1999 2.4.2.1 Allgemeines 2.4.2.2 Rechtsgrundlagen auf Verfassungsstufe 2.4.2.3 Künftige Gesetzgebung 3 Analyse und Würdigung der Volksinitiative 3.1 Rechtliche Analyse 3.1.1 Auslegung des Initiativtextes 3.1.1.1 Allgemeines 3.1.1.2 Das Diskriminierungsverbot (Abs. 1) 3.1.1.3 Der Gesetzgebungsauftrag (Abs. 2) 3.1.1.3.1 Erster Satz 3.1.1.3.2 Zweiter Satz 3.1.1.4 Gewährleistung eines subjektiven Rechts (Abs. 3) 3.1.2 Direkte Anwendung 3.2 Anpassung an die neue Verfassung 3.2.1 Eingliederung in die neue verfassungsmässige Systematik 3.2.2 Eingliederung von Absatz 1 3.2.3 Eingliederung von Absatz 2 3.2.4 Eingliederung von Absatz 3 3.2.5 An die neue Verfassung angepasster Text 3.3 Folgen der Initiative 3.3.1 Positive Aspekte 3.3.2 Negative Aspekte 3.4 Antrag: Ablehnung der Initiative und Vorlage eines indirekten Gegenentwurfs 4 Indirekter Gegenentwurf: Entwurf zu einem Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz) 4.1 Vorentwurf und Vernehmlassung 2000 4.1.1 Vorentwurf 4.1.2 Ergebnisse der Vernehmlassung 4.1.3 Überarbeitungen des Vorentwurfs 4.2 Ansatz des Gesetzesentwurfs 4.3 Erläuterungen zum Entwurf

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1744 1745 1747 1747 1748 1749 1750 1751 1752 1753 1753 1754 1754 1754 1754 1755 1755 1755 1755 1756 1756 1756 1758 1759 1761 1761 1761 1762 1762 1762 1763 1763 1763 1763 1766

1766 1766 1766 1767 1772 1773 1774

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

Allgemeine Präsentation 1774 Die einzelnen Bestimmungen 1775 Anpassungen geltenden Rechts 1788 Bundesbeschluss über die Finanzierung der Massnahmen im öffentlichen Verkehr zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen1789 4.3.5 Organisatorische Fragen 1790 4.4 Weitere Gesetzesrevisionen 1791 4.4.1 Allgemeines 1791 4.4.2 Revision des Bundesgesetzes über die Berufsbildung 1791 4.4.3 Revision der Invalidenversicherung 1792 4.4.4 Anreizmechanismen zur Beschäftigung 1793 4.4.5 Revision des Radio- und Fernsehgesetzes 1794 4.4.6 Revision des Bundesgesetzes über die Arbeitslosenversicherung 1794 4.4.7 Arbeiten an einem Bundesgesetz über die Amtssprachen des Bundes und über die Förderung der Verständigung zwischen den sprachlichen und kulturellen Gemeinschaften der Schweiz 1795 4.4.8 Neuer Finanzausgleich 1796 5 Auswirkungen des indirekten Gegenentwurfs 5.1 Allgemeines 5.2 Auswirkungen auf den Bund 5.2.1 Finanzielle Auswirkungen 5.2.2 Personelle Auswirkungen 5.2.3 Übersicht über die finanziellen Auswirkungen 5.2.4 Ausgabenbremse 5.3 Auswirkungen auf die Kantone und die Gemeinden 5.3.1 Finanzielle Auswirkungen 5.3.2 Personelle Auswirkungen 5.4 Volkswirtschaftliche Auswirkungen 5.4.1 Zugang zu Gebäuden und Anlagen 5.4.2 Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln 5.4.3 Bau und Ausrüstung der Fahrzeuge 5.4.4 Dienstleistungen 5.4.5 Informatik 5.4.6 Fernmeldedienstleistungen 5.4.7 Sendungen für Hörgeschädigte 5.4.8 Auswirkungen auf private Arbeitgeber 5.5 Praktische Aspekte des Vollzugs

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6 Legislaturplanung

1809

7 Völkerrecht 7.1 UNO 1809 7.1.1 Empfehlungen und Programme 7.1.2 Konventionen 7.1.2.1 Allgemeine Diskriminierungsverbote der UNO-Pakte 7.1.2.2 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Pakt I)

1809 1809 1809 1809 1810 1837

7.1.2.3 Übereinkommen über die Rechte des Kindes 7.1.3 Internationale Arbeitsorganisation 7.2 Europarat 7.2.1 Empfehlung 7.2.2 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Zusatzprotokoll Nr. 12 7.2.3 Europäische Sozialcharta 7.3 Europäische Gemeinschaft

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8 Rechtliche Grundlagen 8.1 Verfassungsmässigkeit 8.1.1 Artikel 8 Absatz 4 8.1.2 Andere Verfassungsgrundlagen 8.2 Gesetzgebungsdelegationen 8.3 Form des zu erlassenden Akts 8.4 Rechtsgrundlage des Bundesbeschlusses über die Finanzierung der Massnahmen im öffentlichen Verkehr zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen

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Anhänge 1 Daten über Gebrechensgruppen, Funktionsausfälle und Ursachen 1820 2 IV-Versicherte und erbrachte Leistungen (Auszug aus der IV-Statistik 1999) 1822 3 Anspruch auf Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen im Zivilrecht und im Sozialversicherungsrecht; Berücksichtigung der Behinderung im Steuerrecht 1824 Bundesbeschluss betreffend die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» (Entwurf)

1839

Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG (Entwurf)

1840

Bundesbeschluss über die Finanzierung der Massnahmen im öffentlichen Verkehr zu Gunsten von Menschen mit Behinderungen (Entwurf)

1849

1838