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Aus den Verhandlungen der schweizerischen Bundesversammlung.

Am 3. November 1873 sind die eidgenössischen Räthe zur III. Abtheilung der ordentlichen Session zusammengetreten.

Der Nationalrath wurde von seinem Präsidenten, Hrn. RegieTungsrath G. Ziegler von Winterthur, mit folgender Ansprache eröffnet : ,,Meine Herren !

,,Die Bundesversammlung hat auf heute den Beginn einer be.sondern Abtheilung der ordentlichen Sizung der Räthe angesezt, um insbesondere und zunächst die Revision unserer Bundesverfassung neuerdings durchzuberathen. Die Notwendigkeit einer solchen Revision ist von den Räthen schon zweimal in Berathung .gezogen und --' das zweite Mal vom Nationalrath fast einmüthig -- feierlich anerkannt worden, und es sind die Gründe dafür in monatlanger einläßlichster Berathung von allen Seiten entwikelt und in's Licht gesezt worden. Es wäre daher wohl weder nothwendig, noch selbst passend, wenn von dieser Stelle nochmals diese Gründe einläßig auseinandergesezt werden wollten, und so erlaube ich mir denn beim Beginne der erneuten Arbeit lediglich, von der tiefen Ueberzeugung getragen, daß wir gut thun, im gegenwärtigen Moment der Ruhe, dem nur allzubald der Sturm folgen kann, das Baus der Eidgenossenschaft neu zu stüzen und zu verwahren, den Wunsch auszusprechen, daß die Berathungen, zu denen wir uns anschiken, ein Werk zu Tage fördern möchten, welches, von acht eidgenössischem Geiste erzeugt, fähig sei, das täglich tiefer werdende Bedürfniß des vorwärtsstrebenden Theiles des Schweizervolkes zu befriedigen und zugleich zu einer Quelle neuer Kraft und Wohlfahrt unsers theuern Vaterlandes zu werden.

,,Damit erkläre ich diese Abtheilung der ordentlichen Sizung des Nationalrathes für eröffnet."

227 Der Präsident des Ständerathes^ Hr. Regierungsrath A. Ko p p von Luzern, hielt folgende Eröffnungsrede : ,,Meine Herren!

,,Gemäß Bundesbeschluß vom verflossenen Juli versammeln sich die eidgenössischen Räthe heute zur dritten Abtheilung der diesjährigen Session. Ich heiße Sie Alle von Herzen willkommen.

,,Außer den gewöhnlichen Geschäften werden Sie sich mit der Berathung eines neuen Entwurfes der Bundesverfassung abermals zu befassen haben.

,,Wer mit vorurteilsfreiem Blike auf die lezten 25 Jahre zurükschaut, wird nicht leugnen können, daß unser Vaterland unter der gegenwärtigen Bundesverfassung im Ganzen glüklicüe Zeiten verlebt hat. Während die Länder um uns herum der wilde Kriegsgott mit ehernem Tritte durchzog, während Throne stürzten, die für Jahrhunderte aufgerichtet schienen, und die Länderkarte Europas durch kühne Striche an einigen Stellen gänzlich verändert wurde, so daß große Provinzen neue Herrscher erhielten und alte Staaten verschwanden. genoß unser Vaterland stetsfort des Friedens, der Ruhe, der Freiheit; blieb einig und stark nach Innen und war geachtet nach Außen. Es war ein wohlthuendes, um nicht zu sagen, stolzes Gefühl, von diesem stillen friedlichen Eiland weg in die wilde Brandung der europäischen Politik hinauszuschauen.

,,Und, meine Herren! .Sie werden mich kaum eines Irrthums zeihen, wenn ich die Ansicht ausspreche, daß zu diesen schönen und glüklichen Zeiten nicht wenig die Klugheit, weise Mäßigung und verständnißvolle Rüksichtnahme auf die Bedürfnisse des Volkes beigetragen, welche die Männer an den Tag legten, die das schweizerische Grundgesez vom Jahre 1848 geschaffen. Die Schöpfer der gegenwärtigen Bundesverfassung verstanden es, beim Uebergange vom losen Staatenbunde zum Bundesstaate dem Bunde zuzuweisen, was dieser besser als die Kantone besorgen konnte, ohne indessen die Kantone in ihrer Selbständigkeit in einer Weise zu beschränken, daß bei denselben ein kräftiges Leben' nicht mehr möglich gewesen wäre. Indem wir dieses anerkennen, dürfen und sollen wir aber auch nicht vergessen zu erwähnen, daß diese Periode ruhiger Entwiklung nur bei der Mäßigung der Parteien möglich war, welche sich in ihren Bestrebungen strenge auf dieser allgemein anerkannten O O O Grundlage hielten.

,,Allerdings ist nun unverkennbar, daß während einem Vierteljahrhundert die Verhältnisse sich mannigfach ändern konnten. Neue Zeiten bringen neue Bedürfnisse. Was vor zwei Dezennien fut

228 unsere Verhältnisse passend war, reicht gegenwärtig nicht mehr aus.

Handel und Verkehr haben -- Dank den freien Institutionen unseres republikanischen Gemeinwesens, Dank den Segnungen des Friedens, Dank den verbesserten Verkehrsmitteln, welche die einzelnen Theile unseres Vaterlandes unter sich und mit den benachbarten Staaten verbinden -- einen Aufschwung genommen, wie er vor _ zwei Jahrzehnten noch kaum geahnt werden konnte. Bei diesem Aufschwünge von Handel und Verkehr mußte selbstverständlich auch das Niederlassungswesen in einem früher nicht gekannten Maße sich entwikeln. Es ist daher nichts weniger als auffallend, daß vielseitig das Bedürfniß nach Vereinheitlichung der auf das Verkehrswesen bezüglichen gesezlichen Bestimmungen sich fühlbar, machte und daß die Schranken, welche die gegenwärtige Bundesverfassung und in Uebereinstimmung mit ihr die meisten Kantonsverfassungen der freien Niederlassung gezogen, Vielen zu enge erscheinen mußten.

Auch dürfte es schwer zu rechtfertigen sein, wenn man troz der riesigen Fortschritte im gesammten Kriegswesen die Frage ungeprüft von sich weisen wollte, ob unser Wehrwesen auf derjenigen Stufe sich befinde, welche eine erfolgreiche Wahrung unserer Selbständigkeit und Neutralität ermöglichet.

,,In allen diesen Beziehungen kann und wird jeder aufrichtige Vaterlandsfreund gerne die Hand bieten zu Verbesserungen, welche mit dem Wesen des Bundesstaates vereinbar sind.

,,Findet man weiter noch, auch die Verhältnisse zwischen Staat und Kirche bedürfen einer Regelung, so dürfte dies zum Wohle der Betheiligten und zur Beruhigung des Landes wohl nur auf jenem Boden geschehen, aus welchem unser gesundes kräftiges Volksleben in seiner Schönheit und Mannigfaltigkeit herausgewachsen, und auf welchem unser Staatswesen von jeher sicher geruht hat, auf dem Boden der Freiheit, die aber nach beiden Seiten gleichmäßig vertheilt sein muß.

,,Andere Fragen von geringerer Bedeutung übergehe ich, um Ihre Geduld nicht in unzulässiger Weise in Anspruch zu nehmen.

,,Bei all' diesen Veränderungen dürfte der Wunsch gerechtfertigt sein, daß die Grenze des wirklichen Bedürfnisses nicht allzusehr überschritten werde. Soll der Bundesstaat in Wirklichkeit und nicht nur dem Namen nach fortbestehen, so darf die Sphäre selbständiger Thätigkeit der Kantone nicht mehr beschränkt werden,
als der Zweck des Ganzen, das Wohl des Gesammtvaterlandes es erheischt; wenn der Baum, unter dessen Schatten wir Alle seit zwei Dezennien uns wohl befunden, auch fernerhin gedeihen soll, so darf den einzelnen Zweigen nicht Luft und Licht entzogen werden.

229 ,,Verhehlen wir es uns nicht, es können Tage kommen, in welchen neue Stürme durch Europa brausen, neue Erschütterungen durch die Nachbarstaaten zittern und ihre Oszillationen über die Marken bis in das Innere unseres Landes treiben; es können Tage kommen, wo jederEidgenosse, gehöre er dieser oder jener Partei, dieser oder jener Konfession an, sei er dieser oder jener Zunge, für die Freiheit, für die Selbständigkeit unseres theuern Vaterlandes einstehen muß. Schäzen wir uns daher glüklich, wenn es uns durch gegenseitiges Entgegenkommen gelingt, vorher das Revisionswerk in einer Weise zum Abschlüsse zu bringen, daß den berechtigten Anforderungen der Zeit an das Gesamm t Vaterland Rechnung getragen wird, ohne daß das Einzelleben der Kantone verkümmert oder ein großer Theil der schweizerischen Bevölkerung in ihren Gefühlen verlezt wird.

,,Gehen wir mit weiser Mäßigung, mit freundeidgenössischer Gesinnung an die Arbeit; möge dieselbe zum Wohle und Gedeihen unseres theuren Vaterlandes ausfallen!

,,Ich erkläre die diesjährige Wintersession des schweizerischen Ständerathes für eröffnet."

Dem Nationalrathe wurden vom Bundesrathe als neugewählte Mitglieder angezeigt : Herr Johann Amberg, Großrath und Fürsprecher, von Büron, in Sursee, gewählt vom 13. eidg. Wahlkreise am 19. Oktober 1873, an der Stelle des am 8. September gl. J. zurükgetretenen Hrn. Jost Peyer von Willisau; Herr Carlo Battaglini, Advokat, von Cagiallo, in Lugano; ,, Massimiliano Magatti, Adovkat, von und in Lugano, gewählt vom 39. eidg. Wahlkreise am 19. Oktober d. J.

,, Martino P e d r a z z i n i , Advokat, vom Campo (Maggiathal), in Locamo ; ,, Carlo V o n m e n t l e n , von und in Bellinzona, gewählt am 19. Oktober 1873 vom 40. eidg. Wahlkreise.

(Die Wahl je des dritten Mitgliedes in den leztgenannten zwei Kreisen steht noch aus.)

Im Ständerathe erschien als neugewählter Abgeordneter des Standes Schwyz: Hr. Karl R e i c h l i n , Kantonsrath und Für.sprecher, von und in Schwyz.

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