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Bericht des

Schweiz. Generalkonsuls in Turin (Hrn. Ulrich Geiser von Altstätten, St. Gallen) über das Jahr 1872.

(Vom 30- Mai 1873.)

An den hohen Schweiz. Bundesrath.

Ackerbau und Ackerbaugewerbe.

Der bis dahin so gänzlich vernachläßigte Ackerbau, welcher trotzdem zu einer wichtigen Rolle in der ökonomischen Zukunft des Landes berufen ist, hat mit den Ueberlieferungen der Vergangenheit gebrochen. Dieses Ergebniß verdankt man größtentheils den Kreisversammlungen der Landwirthe (Comices agricoles des Circondaires), welche als Vereinigungsmittel dienten und wo sie ihre Bedürfnisse und Ansichten sich gegenseitig mittheilen konnten. Die großen Grundbesitzer, welche früher sich wenig oder gar nicht mit der Bewirtschaftung ihrer Domänen beschäftigten, beginnen heutzutage persönlichen Antheil daran zu nehmen und bemühen sich, deren Ertrag zu vermehren, indem sie die Anleitung der Wissenschaft und die Erfahrungen rationelleren Betriebes befolgen.

Sechs landwirtschaftliche Stationen und zwei höhere Ackerbauschulen sind gegründet worden, die eine in Mailand, die andere in Portici.

In unseren Provinzen haben mächtige Gesellschaften die Urbarmachung und Entsumpfung ganzer Länderstrecken in großem Maß-

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stab an die Hand genommen; man hofft in nicht ferner Zukunft einen mit den darauf verwendeten Summen im Verhältniß stehenden Ertrag.

Die Oelproduktion, welche für den Exporthandel von so enormer Bedeutung ist, wird bereits besser besorgt und gewinnt an Ausdehnung, und zwar nicht nur durch die Eigenthümer selbst, sondern auch durch specielle Gesellschaften und große Etablissemente.

Andere Gesellschaften haben sich gebildet, sowohl um Hanf und Flachs zu verarbeiten, als auch hauptsächlich zur Gründung von Spinnereien, in welchen die besten und neuesten Maschinen, welche bei der größten Arbeitsersparniß das bestmögliche Fabricat erzeugen, eingeführt werden. Auch läßt sich hoffen, die befremdliche Erscheinung verschwinden zu sehen, daß in Italien Erzeugnisse eingeführt werden, welche mit italienischem Rohstoff im Ausland fabricirt werden.

Der Weinbau gewinnt in Italien ebenfalls an Bedeutung; die Rebenbesitzer vergrößern ihre Weinberge und verbessern sowohl Quantität als Qualität ihrer Weinstöcke, indem sie die althergebrachten Weisen des Weinbaues und der Weinerzeugung verlassen.

In Piémont zählte man bereits im Jahr 1872 sechs mit großen Kapitalien gegründete weinbauende Gesellschaften, deren Zweck die Erzielung von Exportweinen ist, und zum erstenmale im Jahr 1872 wurden große nach Frankreich bestimmte Ankäufe dieses Erzeugnisses gemacht. Alles dies berechtigt zu den schönsten Hoffnungen für diesen Theil der Landwirthschaft, und man darf erwarten, daß der Ertrag von 34 Millionen Hektoliter, welche gegenwärtig erzeugt werden, bald übersehritten sein wird.

Die Viehzucht wurde sichtlich durch den großen hauptsächlich nach Frankreich gehenden Export und die hohen Preise des Schlachtviehs ermuthigt; indessen befindet sich diese Industrie noch lange nicht auf der Höhe, welche sie verhältnißmäßig einnehmen könnte, wie aus folgender Statistik des Viehbestandes ersichtlich ist : Großvieh.

Kleinvieh.

Arten.

Hornvieh. Pferde nnd Esel. Schafe und Ziegen.

Schweine.

Stücke 3,708,635 1,391,626.

13,040,339 3,886,731 Der Verkauf von Staats- und Kirchendomänen war ebenfalls von großem Nutzen für die Landwirthschaft und von ungemeiner Bedeutung für den Zuwachs des Nationalreichthums ; denn durch diesen Verkauf hat sich die Zahl der Grundbesitzer bedeutend ver-

843 vermehrt, und ausgedehnte Bezirke sind der Bewirtschaftung wiedergewonnen worden.

Handel, Banken.

Was die Kapitalien am meisten anzieht, das sind die verschiedenen Industriezweige und die Spéculation.

Am 30. November 1871 zählte mau in Italien außer dea Eisenbahngesellschaften 492 industrielle und Handels-Gesellschaften mit einem nominellen Kapital von L. 1,941,000,000 und 109 Creditund Volksbank - Institute mit einem nominellen Kapital von L. 331,000,000. Im Jahr 1872 nahm diese Associations- und Spekulationstendenz noch fortwährend zu in einem in der öconomischen Geschichte Italiens bis dahin unerhörtem Maße, sowohl hinsichtlich der Anzahl der neugegründeten Gesellschaften, als des Betrages der dahin verwendeten Kapitalien.

In dieser Bewegung nehmen die Banken und Credit-Institute den ersten Rang ein, indem sich ihre Anzahl von 109 auf 179 mit einem nominellen Kapital von 694 Millionen vermehrt hat; ihnen folgen die Gesellschaften für öffentliche und private Unternehmungen, endlich die industriellen und kommerziellen Gebellschaften, welche zum Zwecke Erstellung neuer und Vergrößerung bisheriger Manufakturen gegründet werden. Meiner Ansicht nach hat man diese Bewegung zu weit getrieben, indem sie die Bedürfnisse des Landes übersteigt und im Falle kritischer Zeitereignisse finanzielle Katastrophen befürchten läßt. Der Zinsfuß der Nationalbank für Papierwerthe mit 3 Unterschriften betrug während des ganzen Jahres 5 Procent.

Der Transithandel nimmt ebenfalls jedes Jahr zu. Im Jahr 1870 betrug er L. 99 Millionen, im Jahr 1871 L. 128 Millionen, die größte Ausdehnung indessen wird er erst dann gewinnen, wenn der Durchstich des St. Gotthard den Handelsverkehr von Centraleuropa mit detn Orient über Italien vermitteln wird.

Hier folgt die Tabelle der Ein- und Ausfuhr während der letzten drei Jahre : Einfuhr Ausfuhr allg. Bewegung zu 1000 Fr.

1870 1871 1872

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895.718 963,698 1,186,611

zu 1000 Fr.

756,277 1,085,470 1,167,201

zu 1000 Fr.

1,651,995 2,049,158 2,353,812

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Aus dieser Tabelle ersehen wir, daß im Jahr 1872 die Einfuhr von Neuem die Oberhand über die Ausfuhr gewonnen hat, allein dies ist nur die Folge vorübergehender Umstände, nämlich : 1) in Folge schlechter Ernten, besonders der Getreideernte, deren Ausfall durch große Ankäufe im Auslande gedeckt werden mußte ; 2) der schlechten Nachfrage nach Seide, welche immer dea Hauptreichthum von Italien ausmacht, und von welcher im Jahr 1872 für mehr als L. 80 Millionen weniger verkauft wurde.

Bessere Ernten und die Wiederbelebung der Seidenfabrikation im Auslande sind die Grundlagen, auf welchen man eine dem Jahr 1871 verhältnißmäßige Verbesserung der Handelsbewegung wieder zu erlangen hofft.

Eisenbahnen.

Im Jahr 1872 sind 355 Kilometer Eisenbahnen dem Verkehr übergeben worden, welche die Länge des ganzen italienischen Eisenbahnnezes auf 6733 Kilometer bringen; mehrere Linien sind in baldiger Beendigung begriffen, so diejenige von Turin nach Savona, deren Bedürfniß je länger je fühlbarer wird. Die Einnahmen sind im Jahr 1872 auf L. 123 Millionen gestiegen, im Jahr 1871 betrugen sie nur L. 107 Millionen.

Steuern.

Die Zunahme der Thätigkeit und des nationalen Reichthums in Italien wird auch durch die immer höhere Steuereinnahme bewiesen; in der That ergaben dieselben i m Jahr 1872 .

.

.

L . 1,296,598,000 ,, ,, ' 1871 nur .

.

,, 1,193,548,000 daherige Zunahme .

L. 103,050,000 "welche hauptsächlich von den direkten Steuern herrührt, ohne daß deren Betrag erhöht worden wäre.

Diese Vermehrung zeigt sich auch im 1. Trimester des Jahres 1873 ; allein sie ist noch erhöhter Steigerung fähig, wenn die Verwaltung upd der Bezug der Steuern in stetigerer und geordneterer Weise geschehen wird.

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Bevölkerung.

Dem ziemlich befriedigendem Bilde des gegenwärtigen Zustandes Italiens muß man die Bevölkerungszunahme beifügen. Die durch dje Regierung angeordnete Volkszählung ergab am 31. Dez.

1871 26,801,154 Einwohner (90,10 auf den Quadratkilometer), demnach 1,777,344 Einwohner mehr als im Jahr 1861, was eine mittlere Zunahme von 0,71 °/o ausmacht, während dieselbe für den Zeitraum vor 1861 auf ungefähr 0,51 °/o berechnet wurde.

Auf diesem für den Zustand des jungen Königreichs Italien erfreulichen Gemälde finden sich einige Schatten: Der Zwangskurs der Banknoten, das daherrührende Goldagio, das Finanzdeficit.

Zwangskurs.

Wenn der Zwangskurs der Banknoten für jedes Land ein Unglück genannt werden kann, so muß man indessen eingestehen, daß derselbe in Italien seine gute Seite hatte, denn durch seinen Bestand konnten mehrere neue Industriezweige entstehen, andere fanden eine neue Belebung, indem sie im Zwangskurs einen mächtigen Schutz gegen die fremden Erzeugnisse fanden. Ich möchte auch behaupten, daß, wenn wir einige gute Erntejahre hätten, der Zwangskurs sich kaum mehr fühlbar machen würde. Denn die Summe des im Umlauf befindlichen Papiergeldes, welches in der Mitte des Jahres 1872 L. 1.311,708,000 betrug, wird von kompetenten Männern für keine außerordentliche oder unverhältnißmäßige angesehen, in Betracht der Menge von Geschäften, welche täglich von einem Ende der Halbinsel zum andern abgeschlossen werden.

Uebrigens bezweifelt Niemand, daß Italien, sobald seine Finanzen in's Gleichgewicht kommen, sich beeilen wird, diesen Schaden zu heilen, und sicherlich wird es die Mittel dazu in dem großen Reichthum seines Bodens, in der Entwicklung seiner jungen Industriezweige finden, und zwar um so mehr, als die Regierung zudem über Eisenbahnen und Kanäle, welche deren Eigenthum sind, verfügen und sich durch Anlehen auf lange Verfallszeit die Mittel zu verschaffen mag, ihre Verbindlichkeiten gegenüber der Nationalbank zu erfüllen.

Goldagio.

Das Goldagio, welches im Beginn des Jahres 1872 7 °/o betrug, sties nach und nach im Verlauf des Jahres bis Ende December

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auf ll 8 /4°/o; gegen alle Erwartung fuhr dieses Steigen im Jahr 1873 fort und erreichte bis Ende April sogar die Höhe von 17*/2 °/o.

Wenn diese Steigerung des Goldagio's nicht als zufällige Folge meistentheils momentan wirkender Ursachen angesehen werden müßte, so wäre die gegenwärtige Höhe desselben jedenfalls beunruhigend; allein ich halte es für genügend, die Gründe, welche dasselbe hervorriefen, anzugeben, um alle ernstlichen Besorgnisse über die Dauer eines so gefahrlichen Zustandes der Dinge zu zerstreuen ; meiner Meinung nach sind dies folgende : 1) Die Sendung großer Mengen gemünzten Geldes in's Ausland zum Ankauf von Getreide in Folge der verfehlten Ernten.

2) Der verminderte Eingang gemünzten Geldes in Folge der verminderten Nachfrage nach Seide.

3) Der Ankauf einer großen Menge Rente und italienischer im Auslande befindlicher industrieller Wertpapiere von Seiten Italiens.

4) Die Zahlung italienischer Rentencoupons im Ausland, welche im Verhältniß zum Goldagio stetig zunimmt, indem die italienischen Besitzer von Rente sich hiedurch veranlaßt finden, ihre Coupons nach Paris oder London zur Einlösung zu schicken, so daß, wenn die Regierung früher hiefür 60 Millionen bezahlte, sie nunmehr 90 Millionen bezahlt.

5) Die Preiserhöhung verschiedener Erzeugnisse, welche Italien aus dem Auslande bezieht, wie Kohlen, Metalle etc.

6) Etwelche allgemein gefühlte Stockung des Handels.

Die unaufhörlichen Fortschritte, welche in der Landwirthschaft und Industrie gemacht worden, sind ein sicheres Pfand neuerwachten Lebens. Dieses neue Leben wird sich freilich in der Schweiz durch geringere Nachfrage nach unseren'Manufakturartikeln fühlbar machen; allein diese Verminderung wird reichlich durch die größere Anzahl der zwischen beiden Ländern abgeschlossenen Geschäfte und durch den jederzeit wichtigen Vortheil an seinen Grenzen einen ruhigem, reichern und gewerbfleißigen Nachbar zu haben, reichlich aufgewogen.

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Uebersicht des

Standes der Viehseuchen in der Schweiz auf 16. September

1873.

Kanton.

Lungenseuche. Maul- u. Klauenseuche.

Ställe.

Ställe. "Weiden.

Zürich .

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-- 2 -- Bern .

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-- 22 l Luzern .

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-- 6 6 Uri . . . .

-- 6 18 Schwyz .

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-- 49 2 Unterwaiden ob dem Wald -- -- 6 ,, nid ,, ,, 12 Glarus .

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-- -- -- Zug .

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-- -- -- Freiburg .

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l l -- Solothurn .

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-- 9 8 Basel-Stadt .

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-- -- -- Basel-Landschaft .

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-- -- -- Schaffhausen .

, .

-- -- -- Appenzell A. Rh. .

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-- l -- Appenzell I. Rh. .

-- -- -- S t . Gallen .

.

.

l l -- Graubünden .

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-- (?)

(?)

Aargau .

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.

-- -- -- Thurgau .

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-- l -- Tessin .

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-- -- -- Waadt .

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2 l l Wallis .

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-- 9 4 Neuenburg .

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-- 17 -- Genf .

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-- -- -- Zahl der infizirten Ställe u. Weiden (soweit solche bekannt ist) auf 16. September 1873 4 auf 31. August 1873 l Vermehrung Verminderung

3

125 125

58 71

-- 13

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Bemerkungen.

Neue Fälle von L u n g e n s e u c h e sind zu verzeichnen in den Kantonen Freiburg, St. Gallen und Waadt. Infolge Einschleppung dieser Seuche aus Savoj'en im Monat März wurde alles dasjenige Vieh in den betreffenden Ortschaften der Kantone Freiburg und Waadt, welches mit dem aus Savoyen eingeführten Vieh in Berührung kam oder auch nur der Berührung mit jenem verdächtig war, mit strengem Stallbann und Gemeindesperre belegt und unter thierärztliche Aufsicht gestellt. Auf diese Weise verstrich eine geraume Zeit, bis Krankheitserscheinungen von Lungenseuchc bei 4 Kühen in einem Stall mit 14 Stüken der Gemeinde Cuschelmuth (Freibürg) sich zeigten. Sämmtliche 4 Kühe wurden sofort getödtet, und die Sektion ergab, daß die Krankheit bereits in hohem Grade vorgeschritten war. Die übrige Viehhabe des nämlichen Stalles mußte infolge dessen ebenfalls abgethan werden, und es wurde auch bei einigen von diesen das Vorhandensein der Krankheit konstatirt.

Die 14 Stüke zusammen wurden gewerthet zu Fr. 8000. Dieses nachträgliche Ausbrechen der Seuche hat durchaus nichts Beunruhigendes, bildet aber einen neuen Beleg zu der bekannten Thatsache, daß der Anstekungsstoff viele Wochen hindurch latent bleiben kann.

Der Fall in St. Gallen scheint nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen nur ein sporadischer gewesen zu sein.

Die Maul- und K l a u e n s e u c h e ist neuerdings aufgetreten, beziehungsweise hat ihre Weiterverbreitung gefunden in den Kantonen Bern, Luzern, Uri, Sehwyz, Unterwaiden, Solothurn, Appenzell A. Rh., Graubünden und Neuenburg; einige Fälle hievon lassen sich auf Einschleppungen vom Auslande her zurükführen, so aus dem Elsaß nach dem Kanton Bern, aus Oesterreich nach dem Kanton Appenzell A. Rh. In den bisher verseuchten 4 Bezirken des Kantons Graubünden ist der Stand der Seuche fast der nämliche geblieben, jedoch dürften die Bezirke Inn und Majoja bald wieder für den Viehverkehr freigegeben werden. Anderseits ist die Krankheit auf einen fünften Bezirk hinühergetreten ; der dortige Stand stellt sich gegenwärtig auf 37 Gemeinden mit Alpen und Weiden, ohne daß nähere Angaben über deren Anzahl gemacht werden können.

Außer den hievor verzeichneten Seuchefallen sind aus dem Kanton Zürich Fälle von Rothlauf unter den Schweinen, aus dem Kanton St. Gallen zwei Fälle von Rozkrankheit und aus dem Kanton Thurgau ein Fall von Milzbrand zur Anzeige gelangt.

Bern, den 19. September 1873.

Eidg. Departement des Innern.

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