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Berichte betreffend

den Rekurs der Pastoralkonferenz von Solothurn

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Mehrheitsbericht der

ständeräthlichen Kommission über den Rekurs der katholischen Pfarrgeistlichkeit des Kantons Solothurn.

(Vom 15. Juli

1873

Tit.!

Der Kantonsrath von Solothurn hat unterm 28. November letzten Jahres ein Gesetz über die periodische Wiederwahl der Geistlichen erlassen, welches hierauf am 22. Dezember vom Volke mit 7585 gegen 6083 Stimmen genehmigt worden ist. Nach den Bestimmungen dieses Gesetzes sollen die Pfarrgeistlichen jeweilen auf eine Amtsdauer von sechs Jahren gewählt werden und zwar findet die Wahl in der Weise statt, daß die betreffende Kirchgemeinde einen doppelten Vorschlag macht und hierauf die Wahlbehörde, bestehend aus dem Regierungsrathe und 10 vom Kantonsrathe aus seiner Mitte gewählten Zuzügern, einen der beiden Vorgeschlagenen wählt. Was die bereits angestellten Geistlichen betrifft, so soll für sie die Amtsdauer von sechs Jahren von dem Tage an zu laufen beginnen, mit welchem das Gesetz in, Rechts-

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kraft getreten ist ; doch soll auch schon vor Ablauf der sechs Jahre den Kirchengemeinden das Recht zustehen, die Vornahme einer Neuwahl beim Regierungsrathe zu beantragen.

Gegenüber diesem Gesetze hat sich nun die Pastoralkonferenz des Kantons Solothurn, handelnd im Namen und aus Auftrag der gesammten katholischen Pfarrgeistlichkeit mit Ausnahme des Pfarrers Gschwind von Starrkirch, veranlaßt gesehen, unterm 28. Februar 1. J. an den Bundesrath das Rechtsgesuch zu stellen, es sei dasselbe ,,von Bundes wegen aufzuheben und der frühere, staatsund kirchenrechtlich, verfassungs- und vertragsgemäß sanktionirte Rechtszustand hinsichtlich der auf Lebenszeit der Beneficiaten ertheilten Beneficien aufrecht zu erhalten1*. Die sehr ausführliche Beschwerdeschrift des Herrn Fürsprech Amiet sucht dieses Petitum theils aus dem schweizerischen Staatsrechte, theils aus dein Kirchenrechte zu begründen; in ersterer Beziehung sucht sie nachzuweisen, daß das Gesetz einerseits nicht in verfassungsmäßiger Weise zu Stande gekommen sei, anderseits aber in seinem Inhalte der Bundesund Kantonsverfassung, der solothurnischen Gesetzgebung, dem Diözesanvertrage und dem Gewohnheitsrechte zuwiderlaufe. Wir werden die von Herrn Amiet angeführten Gründe, soweit sie uns überhaupt für den Rekursentscheid in Betracht zu kommen scheinen, in unsrer Rechtserörterung näher prüfen. Nach eingeholter Antwort der Regierung von Solothurn hat der Bundesrath unterm 4. April den Rekurs als unbegründet abgewiesen, gestützt darauf,/ daß der o O > O Kantonsrath und das Volk von Solothurn einen vollkommen erlaubten Gebrauch von der Staatshoheit gemacht haben, als sie das Gesetz über die Wiederwahl der Geistlichen erließen und sanktionirten. Gegen diesen Entscheid des Bundesrathes hat nun Herr Fürsprech Amiet, Namens seiner Committenten mittels einer zweiten, nachträglichen Beschwerdeschrift vom 20. Juni den Weiterzug an die Bundesversammlung ergriffen. Nach reiflicher Prüfung der Sache stimmt die Mehrheit Ihrer Kommission, Tit., der Anschauungsweise, des Bundesrathes vollkommen bei und es wird daher in der Aufgabe des Berichterstatters liegen, die gegen das solothurnische Gesetz in den beiden Rekursschriften angebrachten Gründe zu widerlegen. Dabei schickt er jedoch die Bemerkung voraus, daß er sich einzig auf den für die Bundesversammlung allein
maßgebenden staatsrechtlichen Standpunkt stellen und dem Anwalte der Rekurrenten, der sich mit Vorliebe auf dem Felde des kanonischen Rechtes bewegt, auf dieses den eidgenössischen Räthen fremde Gebiet nicht folgen wird. Wenn Herr Amiet behauptet, es dürfe die vorliegende, rein katholische Frage auch von den protestantischen Mitgliedern der Bundesversammlung nicht vom protestantischen Standpunkte aus aufgefaßt werden, so ist hierauf lediglich zu

585 erwiedern, daß wir weder als Katholiken noch als Protestanten, sondern als Abgeordnete des Volkes und der Kantone, denen die gewissenhafte Handhabung der Bundesverfassung obliegt, unser Urtheil abzugeben haben.

Fragt es sich nun, welche Bestimmungen der Bundesverfassung durch das solothurnische Wiederwahlgeseta verletzt sein sollen, so führt die Rekursschrift die Artikel 5 und 44 au. Auf den letztern, welcher den anerkannten christlichen Konfessionen die freie Ausübung des Gottesdienstes gewährleistet, wird indessen kein besonderes Gewicht gelegt, offenbar aus dem Grunde, weil der entspechende Artikel der Solothurner Verfassung für die katholische Kirche noch etwas stärkere Garantien /u enthalten scheint. Es handelt sich also wesentlich nur um die Frage, ob der Art. 5 der Bundesverfassung im vorliegenden Falle in dem Sinne zutreffe, daß verfassungsmäßige, d. h. durch die solothurnische Kantonsverfassung gewährleistete Rechte des Volkes oder der Bürger verletzt worden seien. Hier müssen wir zuerst die Behauptung der Rekurrenten, daß die Volksabstimmung über das angefochtene Gesetz nicht in verfassungsmäßiger Weise erfolgt sei, berücksichtigen. Der Bundesrath ist zwar in der Motivirung seines Beschlusses über diese Behauptung, wahrscheinlich weil sie ihm als ganz unstichhaltig erschien, mit Stillschweigen hinweggegangen und auch in der nachträglichen Rckursschrift ist sie nicht mehr stark betont ; dessenungeachtet müssen wir die einmal erhobene Einwendung gegen die formelle Gültigkeit des Gesetzes um so eher prüfen, je mehr wir das staatliche Gesetzgebungsrccht über die Wahlart und Amtsdauer der Geistlichen zu wahren geneigt sind und je weniger wir auf die kirchenrechtlichen Erörterungen der Rekurrenten uns einlassen können. Der Art. 32 der Solothurner Verfassung sagt: ^Alljährlich findet, und zwar in der Regel im Frühling und im Herbst, eine Volksabstimmung (über Gesetze u. s. w.) statt." Die Rekurrenten wollen nun uns diesen Worten folgern, es dürfe nur in Nothfällen zu einer andern Jahreszeit eine Volksabstimmung über Gesetze vorgenommen werden und es sei die auf den 22. Dezember angeordnete Abstimmung um so eher als ungültig anzusehen, als die Anordnung erst durch Regierungsbeschluß vom 12. Dezember erfolgte und es daher dem Volke an Zeit gefehlt habe, sich mit den Gründen, welche für und
gegen das Gesetz angeführt werden konnten, gehörig vertraut zu machen. Es ist indessen klar, daß die Fassung des Art. 32 so elastisch gehalten ist, daß von einer Verfassungsverletzung nicht gesprochen werden kann, wenn auch in einem nicht gerade dringlichen Falle eine Volksabstimmung im Sommer oder im Winter gehalten wird; es ist zudem in unserm Falle zu berücksichtigen, daß, wie uns mitgetheilt wurde, die Ab-

586 Stimmung vom 22. Dezember die einzige war, welche überhaupt im Jahr 1872 stattfand. Im Uebrigen mag man es allerdings als nicht sehr demokratisch betrachten, wenn auf die Publikation eines Gesetzesentwurfes allzurasch die Volksabstimmung über denselben folgt; aber eine positive Vorschrift über den hiefür einzuhaltenden Zeitraum findet sich in der Solothurner Verfassung nicht.

Weit mehr Gewicht als auf diese formelle Einwendung gegen die Gültigkeit des Gesetzes legen die Rekurrenten auf ihre zweite Rechtsbehauptung, dasselbe widerstreite in seinem Inhalte dem Art. 3 der Kantonsverfassung, welcher also lautet: ,,Die Ausübung der christlichen Religion nach dem römisch-katholischen und evangelisch-reformirten Glaubensbekeuntniß steht unter dem besondern Schütze des Staates. Die freie Ausübung des Gottesdienstes ist den übrigen anerkannten christlichen Konfessionen gewährleistet."

Die Rekurrenten gehen hier von der Ansicht aus, es beziehe sich der der katholischen Kirche zugesicherte staatliche Schutz nicht bloß auf ihre Dogmen, sondern auch auf ihre ganze Verfassung in ihrer gegebenen Gestalt; wolle man das Glaubensbekenntnis schützen, so müsse man auch das Lehramt schützen und dieß könne nicht anders geschehen, als daß man der Priesterschaft diejenigen Rechte und Kompetenzen garantire, welche die jeweilige Kirchenverfassung ihr im Laufe der Zeit als feste Norm gegeben habe.

Es schließt sich hieran im kirchenrechtlichen Theile der Rekursschrift die Ausführung, daß der Pfarrgeistliche sein Amt als ein Beneücium aus der Hand des Bischofs empfange, und daß das Recht des Beneficiaten als ein lebenslängliches zu betrachten sei./ ö welches nur durch Verzicht, durch Versetzung auf ein anderes Amt oder durch Privation wegen eingetretener Unwürdigkeit des Pfrundiuhabers von Seite des Bischofs erfolgen könne. -- Wir müssen nun freilich mit aller Bestimmtheit erklären, daß wir, übereinstimmend mit dem Bundesrathe, die Auslegung, welche die Rekurrenten dem Art. 3 der solothurnischen Kantonsverfassung zu geben bemüht sind, als eine über den Wortlaut, wie über den Sinn und Geist dieser Bestimmung weit hinausgehende betrachten, welche, einmal zugegeben, in ihren Konsequenzen zur vollständigen Unterordnung des Staates unter die Kirche in allen den zahlreichen Materien, wo die beiden Gebiete sich berühren,
führen müßte. Eine so weit gehende Verpflichtung von Seite des Staates, wie die Anerkennung und Gewährleistung der ganzen, ohne sein Zuthun entstandenen und noch fortwährend durch Konzilsbeschlüsse und päpstliche Dekrete sich fortentwickelnden katholischen Kirchenverfassung mit Inbegriff der Lebenslänglichkeit der Pfründen es wäre, müßte, um auf den Schutz des Bundes Anspruch machen zu können, mit den klarsten und ausdrücklichsten Worten in einer Kantonsverfassun
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sein, statt daß sie gegenwärtig auf die künstlichste Weise hineininterpretirt werden will. Denn wenn die Ausübung der christlichen Religion nach dem katholischen Glaubensbekenntnisse in der Solothurner Verfassung unter den besondern Schutz des Staates gestellt wird, so können wir darin nichts Anderes finden als einen etwas energischem Ausdruck für die auch in der Bundesverfassung der katholischen Konfession gewährleistete freie Ausübung ihres Gottesdienstes. Es ist allerdings nicht sowohl das Dogma oder die individuelle Glaubensansicht, welche des staatlichen Schutzes bedarf, als vielmehr die äußere gottesdienstliche Handlung; daß aber im vorliegenden Falle der katholische Kultus durch das solothurnische ·Gesetz in keiner Weise beeinträchtigt wird, geht schon aus der einfachen Thatsache hervor, daß ein auf sechs Jahre gewählter Pfarrer gewiß ebensogut Messe lesen oder jede andere priesterliche Funktion verrichten kann wie ein Geistlicher, der sich der Lebenslänglichkeit seines Beneficiums erfreut. Will man aus der Gewährleistung der freien Ausübung eines Glaubensbekenntnisses die weit gehende Folgerung ziehen, daß damit auch die ganze äußere Verfassung der betreffenden Konfession von selbst und schon zum voraus anerkannt sei, so bedarf dann auch eine reformirte Synodalverfassung nicht mehr der besonderen staatlichen Genehmigung ; fiir die katholische Kirche aber hat alsdann der Staat die weitgehendsten Verpflichtungen übernommen. Ohne Zweifel nimmt in der Organisation der Hierarchie das bischöfliche Amt eine sehr wichtige Stelle ein ; wie sollte nun der Bund, wenn er nach der Auffassung der Rekurrenten mit den Verfassungen der katholischen Kantone implicite auch die katholische Kirchenverfassung garantirt hätte, sein Einschreiten ablehnen können, wenn vielleicht ein Kanton wähi'end längerer Zeit der bischöflichen Oberleitung entbehrt? Man sieht aus diesem Beispiele, daß die einmal zum Grundsatze erhobene Garantie der Kirchenverfassung den Bund weiter in die kirchlichen Händel hineinführen würde, als vielleicht den Rekurrenten selbst erwünscht wäre. Wenn wir somit jede direkte oder indirekte Gewährleistung der katholischen Kirchenverfassung von unserm Bundesstaate ablehnen müssen, so kann uns auch nicht zugemuthet werden, die Quellen des Kirchenrechtes bis zu dem, wie der Hr.

Verfasser der
Rekursschriften sagt, ,,für die Diözese Basel maßgebenden" Wormser Konkordate vom Jahr 1122 zurück zu studiren.

Selbst die für uns ungleich interessantere Frage, ob die katholischen Orte der Eidgenossenschaft die Beschlüsse des tridentinischen Konzils auch mit Bezug auf die 'Kirchenverfassung angenommen haben, können wir um so eher unerörtert lassen, als Herr Amiet selbst zugibt, daß diese Annahme jedenfalls nur unter Vorbehalt ihrer hergebrachten Rechte und Freiheiten erfolgt sei. Zu diesen Rechten

588 und Freiheiten in kirchlichen Dingen gehörte nun namentlich in den demokratischen Kantonen nicht bloß die freie Wahl der Pfarrgeistlichen durch die Gemeinden, unter Vorbehalt der Bestätigung durch den Bischof, sondern auch die alte Gewohnheit, daß die Geistlichen alljährlich sich vor der Gemeinde stellen und wieder um ihre Pfründe ^anhalten" mußten. Mag auch diese Uebung im Laufe der Zeit allmählig zur Formalität herabgesunkcn sein, so liegt doch in derselben die schlagendste Anerkennung des Grundsatzes, daß der Geistliche nur so lange sein Amt ausüben dürfe, als er der Gemeinde, die ihn berufen, genehm sei. Es legte daher auch das Volk der Urkantone den größten Werth auf dieses Herkommen, wie insbesondere aus dem Konflikte sich ergibt, welcher wegen der Weigerung des Pfarrers Stadier, sich demselben zu unterziehen, zu Ende des 17. Jahrhunderts zwischen dem Kanton Uri und den kirchlichen Behörden entstand. Auch in Nidwaiden wahrte, wie wir aus den, in der Rechtsschrift der Regierung von Solothurn angeführten Protokollsauszügen ersehen, der Landrath eifersüchtig die Rechte der Gemeinden gegenüber ihren Pfarrgeistlichen; so beschloß er am 21. Jänner 1671: ,,Wenn der eint oder andere Geistliche in unserm Land auf der Kanzel oder sonsten redte oder thäte, daß sie nit schuldig seien, jährlich um ihre Pfründen anzuhalten oder zu bitten, dem solle von Stund an die Pfrund abgesagt vnd dero entäußert sein, vnd wenn ein solcher Geistlicher nit Landmann wäre, ohnverzoglich aus unserm Lande verwisen sein, sich auch stracks davon machen solle."

Es spricht diese energische Ausdrucksweise gewiß deutlich genug dafür, daß die jährliche Bitte um Bestätigung eine in den Urkantonen allgemein anerkannte Rechtssitte war und die obige, sowie andere Stellen der Rathsprotokolle, aus welchen hervorgeht, daß hin und wieder einem Geistlichen seine Stelle gekündet wurde, sich keineswegs bloß auf Curtisane und fremde Eindringlinge bezogen, wie der Hr. Verfasser der Rekursschriften in höchst willkürlicher Weise dieselben zu deuten sucht. Wir können endlich auch noch Appenzell-Innerrhoden anführen, wo nach dem, ebenfalls in der Rechtsschrift der Regierung von Solothurn angerufenen Zeugnisse unsers Collegen, Herrn Dr. Rusch, im 18. Jahrhunderfc jeder Pfarrer beim Amtsantritt ein Verpflichtungsheft unterzeichnen mußte, in
-welchem nicht bloß das Wahlrecht, sondern auch das Abberufungsrecht der weltlichen Behörden ausgesprochen war, und wo noch gegenwärtig dieses letztere Recht als im Collaturrechte Inbegriffen betrachtet wird. Daß eine Abberufung der Geistlichen aus bestimmten Gründen nicht vollkommen identisch ist mit einer

589 periodischen Wiederwahl derselben, wollen wir dem Hrn. Verfasser der Rekursschriften gerne zugeben; aber wenn er behauptet, daß die L c b e n s l ä n g l i c h k e i t der geistlichen Beneficien, mit einziger Ausnahme der Unwürdigerklärung durch den Bischof, eine Satzung der katholichen Kirche sei, welche der Staat anerkennen müsse, weil er ihr die freie Ausübung ihres Glaubensbekenntnisses garantirt habe, so ist durch die angeführten Beispiele gewiß sattsam bewiesen, daß in der Schweiz diese Satzung niemals unbedingt und allgemein anerkannt worden ist.

Wir glauben durch die bisherige Erörterung nachgewiesen zu haben, daß von einer Verletzung der Bundes- oder Kantonsverfassung durch das solothurnische Gesetz über die Wiederwahl der Geistlichen nicht die Rede sein kann. Damit haben wir eigentlich unsere Aufgabe erfüllt und könnten uns den weitern Ausführungen O O der beiden Rekurs.schriften gegenüber aller weitern Gegenbemerkungen enthalten. Wir werden auch in der That die Behauptung, daß das Gesetz dem Diözesanvertrage zuwiderlaufe, mit Stillschweigen übergehen, weil uns diese Frage nicht berührt, da der Bund jenen Vertrag nicht gleich der Kantonsverfassung unter seinen Schutz genommen hat. Dagegen ist es doch wohl angezeigt, daß wir mit einigen Worten noch den dem Gesetze gemachten Vorwurf besprechen, daß es gegen den allgemein anerkannten RechtsüTundsatz, es dürfe einem Gesetze niemals rückwirkende Kraft O ' gegeben werden, sich verstoße und somit in wohlerworbene Rechte eingreife. Es läßt sich in der That nicht leugnen, daß von einer rückwirkenden Kraft des Gesetzes insoferne wohl geredet werden kann, als es auch diejenigen Geistlichen, welche vor dem Erlasse desselben, unter der Herrschaft des Grundsatzes der Lebenslänglichkeit O"'cwählt wurden,i der Wiederwahl unterwirft. Allein abgesehen davon, daß die gemeinrechtliche Doktrin zwar den Satz, daß ein Gesetz keine rückwirkende Kraft haben könne, als Regel hinstellt, aber doch Ausnahmen zuläßt unter der Bedingung, daß der Staat für wohlerworbene Privatrechtc entschädige --,7 abgesehen O O ferner davon, daß das solothurnische Civilgesetzbuch hierüber keine so klare und unzweideutige Bestimmung enthält wie z. B. der Code civil, müssen wir auch hier wieder betonen, daß für uns einzig die Bundes- und die Kantonsverfassung maßgebend sind, in
welchen mau umsonst eine Vorschrift suchen wird, welche rückwirkende Gesetze unbedingt ausschließen würde. Fände sich in unserer Bundesverfassung eine ähnliche Bestimmung wie in der nordamcrikanischen, welche vorschreibt, es dürfe kein Staat Gesetze erlassen, welche die Wirkung der Verträge schwächen01, -- dann müßte, allerdings genau untersucht werden, ob das solothurnische

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Gesetz unter diese Kategorie falle, und die Beantwortung dieser Frage würde wesentlich davon abhängen, ob nach der im Kanton Solothurn herrschenden Rechtsanschauung die Anstellung eines Geistlichen den Charakter eines Vertrages ans sich trage oder nicht.

Da wir nun aber keine Verfassungsbestimmung wie in Nordamerika haben, welche die Bundesbehörden zum Einschreiten veranlagen könnte, so bleibt uns nichts anders übrig, als die durch die rückwirkende Kraft des Gesetzes betroffenen Geistlichen, welche im Falle der Nichtwiederwahl Anspruch auf eine Pension zu haben glauben, an den Richter zu verweisen, wie bereits der Bundesrath in seinen Motiven es gethan hat. An dem Richter wird es dann sein, die Frage zu entscheiden, ob wirklich das Gesetz in wohlerworbene Privatrechte der Geistlichen eingegriffen habe, wie dieses namentlich auch mit Berufung auf die Stiftungsbriefe für einzelne Pfründen behauptet wird.

Nachdem wir nun die in den Rekursschriften angeführten Rechtsgründe hinlänglich beleuchtet zu haben glauben, wollen wir nur ganz kurz noch auf denjenigen Standpunkt zu sprechen kommen, welchen in der Berathung der Kommission die Mitglieder der Minderheit vorzugsweise eingenommen haben. Es ist dieses die streng katholische Anschauung, nach welcher überhaupt nicht auf das demokratische Prinzip der Volksmehrheit in kirchlichen Dingen abgestellt werden darf, sondern der Priester über der Gemeinde steht und nur vom Bisehof abhängt, welcher ihm die Pfründe verliehen hat. Diese Anschauung ist indessen in der Schweiz wohl nirgends zu konsequenter Durchführung gelangt, denn fast allenthalben sind es Mehrheitswahlen entweder der Gemeinden oder der weltlichen Behörden, denen der Pfarrgeistliche seine Anstellung verdankt und. ohne welche er nicht von dem Amte, um das er sich bewirbt, Besitz nehmen kann. Der Bischof hat nur die von weltlicher Seite getroffene Wahl zu bestätigen, und dieses Bestätigungsrecht bleibt ihm auch neben der periodischen Wiederwahl, so lange es nicht durch Diözesanverträge modiflzirt wird. Die Wiederwahl ist in neuerer Zeit in mehreren paritätischen Kantonen eingeführt worden, ohne daß dagegen Einsprache bei der Bundesbehörde erhoben worden wäre, und die Erfahrungen, die man damit gemacht hat, sind keineswegs ungünstige zu nennen. Es ist allerdings nicht zu wünschen, daß der Seelsorger
einer Gemeinde zum feigen Miethlinge herabsinke, dessen einzige Triebfeder die Sorge für Beibehaltung seiner Stelle ist; aber die Erfahrung hat gezeigt, daß gerade gewissenhafte, von den hohen Pflichten ihres Berufes durchdrungene und dieselben getreulich erfüllende Geistliche bei Erneuerungswahlen am wenigsten übergangen werden.

591 Wir schließen diesen Bericht, indem wir auf Abweisung des Rekurses der Pfarrgeistlichkeit des Kantons Solothurn und somit auf Bestätigung des Beschlusses des Bundesrathes vom 4. April antragen.

Bern, den 15. Juli 1873.

Namens der Mehrheit der Kommission, Der Berichterstatter:

Dr. J. J. Blâmer.

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Bericht der

Minderheit der ständeräthlichen Commission, betreffend den Rekurs der Pastoralkonferenz des Cantons Solothurn gegen einen Beschluss des Bundesraths vom 4. April 1873.

(Vom 15. Juli 1873.)

Herr Präsident ! Herren Ständeräthe ! Herr Advocat J. Amiet von Solothurn, als Bevollmächtigter der Pastoralkonferenz des genannten Cantons, führt mit Datum vom 20. Juni 1873 bei der Bundesversammlung Beschwerde gegen einen Beschluß des Bundesraths vom 4. April dieses Jahres, womit letztere Behörde eine Klage auf Verfassungsverletzung durch ein Solothurnisches Gesetz vom 28. November 1872, betreffend die Wiederwahl der Pfarrgeistlichkeit, als unbegründet abgewiesen hat. Die Mehrheit der von Ihnen niedergesetzten Commission hat Ihnen soeben beantragt, dieser Abweisung ebenfalls beizutreten, während eine Minderheit von 2 Mitgliedern Ihnen vorschlägt, den Rekurs begründet zu erklären und den Solothurnischen Cantonsrath zur Zurücknahme des in Frage liegenden, von uns als inconstitutionel betrachteten Gesetzes zu veranlaßen. Bezüglich des faktischen Theils, der Daten und des Inhalts dieses Wiederwahlgesetzes beziehen wir uns theils auf den bundesräthlichen Beschluß, theils auf den Bericht der Majorität, und gehen unserseits sofort zur rechtlichen Erörterung der Beschwerde über.

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Mehrheitsbericht der ständeräthlichen Kommission über den Rekurs der katholischen Pfarrgeistlichkeit des Kantons Solothurn. (Vom 15. Juli 1873)

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13.09.1873

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