638

# S T #

Bericht der

Minderheit der Kommission des Nationalraths über das Verfassungsgesez von Genf vom 19. Februar 1873, betreffend den katholischen Kultus.

(Vom 26. Juli 1873.)

Tit. !

Als Minderheit der Kommission haben wir die Ehre, in vorliegendem Berichte die Gründe auseinanderzusezen, welche uns veranlaßt haben, uns von der Mehrheit zu trennen.

Wir verhehlen uns nicht, Tit., die Schwierigkeit einer solchen Aufgabe ; nicht etwa, weil unsere Sache -- sie ist die Sache der ·Gewissensfreiheit und interessirt in der Schweiz mehr als eine Million Katholiken -- unstichhaltig wäre, sondern weil sie in die konfessionellen Fragen einschlägt, welche immer brennender Natur sind, die Leidenschaften der Menschen aufregen und bisweilen ihre Vernunft so verdunkeln, daß bei ihnen Willkür an die Stelle der Gerechtigkeit und Wahrheit tritt.

Wenn es uns also, Tit., an Talent gebricht, eine so edle Sache so zu verfechten, wie sie es verdient, und wiewohl es nicht leicht ist, 'sich von einiger Vehemenz frei zu machen, die selbst bis zur Indignation sich versteigen kann angesichts der Uebertretung der heiligsten Freiheiten und der unbestreitbarsten Menschenrechte, so werden wir uns doch bemühen, zum Leitsterne die Gelassenheit und Unparteilichkeit zu nehmen, welche bei allen Berathungen dieser hohen Versammlung walten sollen.

639 Das Genfer Verfassungsgesez vom 19. Februar 1873 verlezt in offenbarer Weise die Kantonsverfassung, die Bundesverfassung, die internationalen Verträge und die Rechte des Gewissens, wie wir nachzuweisen im Begriffe sind.

Zunächst also involvirt dieses Gesez eine Verlezung der Verfassung des Kantons Genf, welche leztere durch den Art. 5 der Bundesverfassung gewährleistet erscheint.

Der Art. 130 der Genfer Verfassung von 1847 besagt nämlich: ,,Der Staatsrath ist, unter Vorbehalt der Ratifikation des Großen Raths, beauftragt, mit der geistlichen Oberbehörde dasjenige zu regeln, was auf die von der Regierung zu ertheilende Genehmigung der Ernennung der Pfarrer und andern Pfrundinhabern Bezug hat.a Sind nun die Vorschriften dieses Artikels erfüllt worden? Befolgte man die von ihm auferlegten Formen, mittelst vorausgehender Verständigung mit der geistlichen Behörde? Nein! man fand es bequemer, ihnen auszuweichen, indem man die Frage umging und sodann die Aufhebung des Artikels beantragte; allein diese unlogische Verfahrungsweise ist in den Augen der Unparteiischen nicht statthaft.

Der Art. 2 des Genferischen Verfassungsgesezes vom 26. August 1868 sezt fest : Die Kultusfreiheit ist im ganzen Umfange des Kantonsgebietes gewährleistet.

Nun, meine Herren! Dieses Gesez vom 19. Februar abbin, welches den Kultus einer Religion organisirt ohne die Zustimmung derjenigen, welche dieser Religion angehören ; welches diesem Kultus neue Formen auferlegt, die sie, die Religion, als ihrem Wesen und ihren Traditionen zuwiderlaufend verwirft ; welches die Pfarrer ohne jede Mitwirkung der geistlichen Behörde und vielleicht selbst außer ihrem Schöße wählen läßt; welches sie dem Bürgereide unterwirft, sie nach Belieben abberufbar macht; dieses Gesez, welches mit dem heil. Stuhle bricht und als Bischof nur denjenigen anerkannt, der vom Staate anerkannt wird, und welches -- bittere Ironie! -- nach Anerkennung und Acceptirung desselben erklärt, daß er nicht im Kanton residiren dürfe; dieses Gesez, mit einem Worte, welches die Organisation eines ganzen Kultus über den Haufen wirft, welches seine dogmatische Hierarchie zerbricht und ihn bis zur Unkenntlichkeit entstellt; dieses Gesez, meine Herren, sollte (wäre dieß wohl möglich?) die durch die Verfassung von Genf gewährleistete Kultusfreiheit nicht verlezen? In diesem Falle erlauben wir uns die Frage: Was verstehen Sie unter Kultusfreiheit?

640

Der nämliche Art. 2 des Gesezes von 1868 stellt ferner den Grundsaz auf: .,,Alle Kulte sind gehalten, den allgemeinen Gesezen nachzukommen.a Dasjenige aber, das man Ihnen vorschlägt, ist kein allgemeines Gescz, sondern ein spezielles und ausnahmsweise^ das nur für eine Kategorie von Bürgern erlassen ist; ein Gesez, dem die Protestanten, welche es votirt haben, nicht unterworfen sind. Dieß ist eine weitere Verlezung der Kantonsverfassung.

Die Unterhaltung des katholischen Kultus ist durch den Art. 3 des nämlichen Gesezes von 1868 und durch die Verträge gleich dem Kultus selbst gewährleistet. Von dieser Unterhaltung befreit man sich nun dadurch, daß die Katholiken, welche dem neuen Geseze nicht beitreten, d. h. also welche nicht Apostate werden wollen, kein Anrecht mehr darauf haben sollen. Der offizielle nnd schismatische Kultus wird allein die betreffenden Vorrechte genießen.

Es ist dieß eine dritte Verlezung der Genfer Verfassung.

Das organische Gesez, welches kürzlich im Großen Rathe von Genf als Ergänzung des Verfassungsgesezes, dessen Genehmigung man nun bei Ihnen nachsucht, erlassen wurde, schreibt vor: ,,Wähler sind alle katholischen Bürger, welche die organischen Formen des Kultus, wie sie durch das Verfassungsgesez und durch gegenwärtiges Gesez bestimmt sind, annehmen." Sie sehen nun, meine Herren Abgeordneten: Die unheilvollen Folgen des Ihnen unterbreiteten Gesezes kommen sogar noch vor der Ratifikation desselben zum Vorschein, denn es erhellt aus dieser Bestimmung klar, daß die Katholiken, welche die von diesen näm liehen Gesezen auferlegten organischen Formen nicht annehmen wollen, nicht Wähler sind und nicht der katholischen Religion angehören, wie sie vom Staate, der sich zum Reformator aufwirft, anerkannt wird. Und doch, wie wir bereits bemerkt haben, können die Katholiken so subversiven Gesezen nicht beitreten, ohne ihrem Glauben zu entsagen. Ist das nicht ein Verfahren, welches nicht nur ein Schisma Schafft und die 'bestehende Religion durch eine Staatsreligion ersezt, sondern das auch in flagranter Weise die religiöse Freiheit antastet? Und dieses unerhörte Attentat sollte hoffen dürfen, sich sanktionirt zu sehen durch die eidgenössische gesezgebende Behörde, welche die Wächterin aller individuellen Rechte sein soll?

Das sind, meine Herren, die traurigen Früchte der unzeitigen
und unstatthaften Einmischung der Civilgewalt in das religiöse Gebiet, welches ganz außerhalb seiner Kompetenz und seiner Cognition liegt!

Ist es nicht in der That etwas Außerordendtliches, im 19. Jahrhundert den Großen Rath eines der aufgeklärtesten Kantone der

641

Schweiz über kanonisches Recht, Theologie, Kultusfragen, Sakramente, Dogmen diskutiren zu hören ; zu sehen, wie er sich zu einem Konzile aufwirft, vielleicht Ansprüche erhebt auf Unfehlbarkeit und gewaltige Anstrengungen macht, um eine Doktrin aufzustellen, welche niemand befolgen will und die gewiß auch er selbst nicht befolgen wird? Es wäre dieß komisch, wenn es nicht schmerzlich wäre.

Wohlan, meine Herren! man erlasse dieses Gesez, man beraube uns unserer Tempel, man übergebe sie einigen Dissidenten, welche nichts Katholisches mehr haben als den Namen: und es werden diese Tempel veröden; die beeidigten Priester, Apostaten (wenn sich vielleicht solche finden) werden sich ohne Getreue sehen; die Freiheit wird sich das Gesicht versehleiern, aber der zurükgedrängte Glaube wird im Innersten der Herzen Zuflucht nehmen und dort fester und unerschütterlicher als je herrschen.

Man steige sogar herunter bis zur Verfolgung, um dem Staatskultus Anerkennung zu verschaffen, -- von dem moralischen Zwange bis zum physischen ist nur ein Schritt, -- so wird man doch nicht viele Adepten gewinnen. Aber man wird leider eine jener unseligen Epochen eröffnen, wo religiöse Kämpfe den Haß zwischen den Bürgern nähren, erbitterte, unversöhnliche und endlose Kämpfe, deren trauriges Morgenroth wir bereits über unser geliebtes Vaterland sich erheben sehen; Kämpfe, bei denen diejenigen, welche fallen, sich stärker erheben, und wo die Schwächsten niemals besiegt sind.

Wir sagen zweitens : Das Genfer Gesez vom 19. Februar 1873 ist auch eine Verlezung der Bundesverfassung, welche im Art. 44 erklärt, die freie Ausübung des Gottesdienstes der christlichen Konfessionen sei in der ganzen Eidgenossenschaft gewährleistet.

Es ist also unbestreitbar, daß kraft dem Bundesvertrage jede Konfession das Recht hat, ihren Gottesdienst allein zu regeln, sich organische Geseze zu geben, wie sie den Gruudsäzcn ihrer Institution entsprechen, und ohne Hilfe Anderer die ihr eigene Lebensweise festzusezen.

Was macht man nun aber statt dessen? Sie sehen es, meine Herren, der Große Kath von Genf, die protestantische Mehrheit desselben diktirt der katholischen Bevölkerung Geseze und drängt ihr eine Organisation auf, welche ihrem Glauben und ihren Sitten zuwider ist; --· und man sollte noch behaupten dürfen, die Bundesverfassung sei nicht offenbar übertreten !

Wenn etwa einem Kanton mit vorwiegend katholischer Bevölkerung einfiele, den reforniirten Gottesdienst zu organisiren, --

642 welcher Protestant würde dadurch nicht sein Gewissen empört fühlen, wie es nun das unscrige ist angesichts dieser oppressiven Prätensionen? Würde man nicht schreien über Verlezung der Verfassung und unserer kostbarsten Freiheit, derjenigen nämlich, an das zu glauben, was wir als Wahrheit behaupten, und durch äußere Akte diesen Glauben nach unserm Belieben kundgeben zu können? Sollten wir in diesem Falle beauftragt sein, die Sache des Protestantismus zu vertheidigen, so würden wir es nicht minder eifrig thun, denn im Grunde handelt es sich nicht darum, ob mehr diese oder jene Religion in Frage sei, sondern es handelt sich einzig um den Grundsaz der Unverlezlichkeit des Gewissens und der Kultusfreiheit, welche man an der Wurzel untergräbt.

Wir sagen im Weitern, daß auch die Verträge verlezt sind.

Als die sardinischen Gemeinden im Jahre 1815 von Savoyen losgetrennt wurden, um sie mit der Republik Genf zu vereinigen und sie der Ehre theilhaftig werden zu lassen, in die schweizerische Eidgenossenschaft einzutreten, nahmen die Wiener und Turiner Vertragsmächte die Bestimmung in das Protokoll auf, daß die in Bezug auf die katholische Religion bestehenden Geseze und Gebräuche aufrecht erhalten bleiben sollen. Folgendes sind die sachbezüglichen Textstellen dieser Verträge.

Im Protokolle des Wiener Kongresses vom 29. März 1815 heißt es: ,,Art. 3. Weil anderseits Se. Majestät Sich nicht entschließen können, zuzugeben, daß ein Theil Ihres Gebiets einem Staate einverleibt werde, worin eine andere Religion herrschend ist, ohne den Einwohnern des von Ihnen abzutretenden Landes Gewißheit zu verschaffen, daß ihnen die freie Uebung ihrer Religion forthin zu Theil werde, daß sie die Fortdauer der bisherigen Mittel für die Bestreitung ihres Kultus werden zu genießen haben, und daß sie hinwieder auch selbst den vollen Genuß der bürgerlichen Rechte erhalten werden, -- so ist vei'abredet worden, was folgt: 1) Die katholische Religion soll aufrecht erhalten und geschüzt bleiben. auf gleiche Weise, wie gegenwärtig in allen Gemeinden, welche von Sr. Majestät dem König von Sardinien abgetreten und mit dem Kanton Genf vereinigt sind.

6) Die wirklich in Genf bestehende katholische Kirche soll auf Staatskosten, so wie sie gegenwärtig besteht, daselbst beibehalten werden, wie die eventuellen Geseze der Verfassung von Genf es bereits dekretirt hatten. Der Seelsorger soll angemessen logirt und besoldet werden.tt ·

643

Der zwischen dem König von Sardinien einerseits und der schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Kanton Genf anderseits abgeschlossene Turiner Vertrag vom 16. März 1816 besagt: ,,Art. 12. Auf alle jene Gegenstände, worüber durch das Wiener Protokoll vom 29. März 1815 Fürsorge getroffen ist, sollen die eventuellen Geseze der Verfassung von Genf nicht anwendbar sein.

Und in Betracht, daß das erwähnte Protokoll im dritten Artikel und dessen ersten Absaz verordnet hat: ,,es soll die katholische Religion in allen von Sr. Majestät dem König von Sardinien abgetretenen und dem Kanton Genf einzuverleibenden Gemeinden auf gleiche Weise wie bis dahin gehandhabt und geschüzt werden," -- so ist einverstanden, daß die am 29. März 1815 hinsichtlich der katholischen Religion in allen abgetretenen Landestheilen in Kraft bestandenen Geseze und Hebungen gehandhabt werden sollen, mit Vorbehalt dessen, was durch die Gewalt des heiligen Stuhls dariii abgeändert würde.a Ist der Text dieser Verträge nicht ein ganz formeller? Wie man sieht, sind die savoyischen Gemeinden nur unter der ausdrükliehen Bedingung an Genf abgetreten worden, daß der katholische Kultus respektirt und so wie er in jenem Zeitpunkte war aufrecht erhalten werde. Es liegt hier ein synallagmatischer Vertrag vor, dessen Uebertretung von Seite einer der vertragschließenden Parteien schwere Complikationen hervorrufen könnte.

Die Magistrate von Genf haben bei Besizergreifung der neuen Gemeinden geschworen, die Freiheit der katholischen Religion aufrechtzuhalten und zu beschüzen, und sie erklärten es in ihrer Proklamation an ihre neuen Mitbürger, wir sollten sagen, Unterthanen, denn heute will man sie bis in das Forum ihres Gewissens hinein unterwerfen.

Auch später noch, bei einer Berathung des Staatsraths, hat die Behörde von Genf diese Verträge und diese Verpflichtungen erwähnt, ,,als Richtschnur und Grundlage ihrer Pflichten.a Gewiß kann man nicht behaupten, diese Verträge seien nicht gebrochen, da ja der Gesezentwurf lauter Bestimmungen enthält, die mit den Stipulationen der erstem unvereinbar sind, und da er die Ausübung des Kultus einer Reform unterwirft, während die Beibehaltung' desselben, wie er damals war, ausdrüklieh gewährleistet worden ist. Uebrigens erklären alle annexirten Gemeinden sich durch diesen Entwurf verlezt, indem sie an der Ha.nd dieser Verträge die Respektirung ihrer Rechte und eben dieser Verträge anrufen.

644

Man hat behauptet, so positive Bestimmungen seien durch das Verfassungsgesez vom 26. August 1868 abrogirt. Allein Verträge sind zweiseitige Vereinbarungen, und es kommt nicht einer der Parteien KU(.

ohne die Zustimmung der andern davon zurükzutreten.

Noch mehr: Das Gesez von 1868, weit entfernt, sie zu abrogiren, bekräftigt sie vielmehr, indem es die Rechte der Katholiken erweiternd interpretirt, -wie dieß die sachbezügliche Botschaft des Bundesraths vom 2. .Dezember 1868 beweist, indem sie sich wie folgt ausspricht: ,,Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß durch das WienerProtokoll und den Tunnervertrag faktisch, und wenigstens bis auf einen gewissen Punkt auch rechtlich, Beschränkungen der Staatshoheit von Genf herbeigeführt wurden. Diese Beschränkungen beschlagen verschiedene Theile der Gesezgebung und Verwaltung, und haben unter Anderm die Folge, daß die Bewohner des von Savoyen losgetrennten Gebietes theilweise unter andern Gesezen stehen, als die Bewohner des übrigen Kantonstheiles, ja, daß .sogar die Bürger derselben Konfession, nämlich der katholischen, in Matrimonialsachen verschieden behandelt werden. In dieser Ausscheidung eines kleinen Kantons gleichsam in zwei Gemeinwesen lag von jeher eine Quelle von vielen Uebelständen und Reibungen; es erhoben sich Anstände zwischen Staat und Kirche, welche sogar dahin führten, daß im Jahre 1823 der eidgenössische Vorort auf eine Beschwerde Sardiniens seine Verwendung zum Schuz der Verträge bei der Regierung von Genf mit Erfolg eintreten ließ. Einerseits diese Abhängigkeit nach Außen und andererseits die Ueberzeugung, daß ein verderblicher Partheigeist seine Nahrung in diesen Zuständen finde, haben schon längst auf die Wünsch barkeit der Aenderung solcher Zustände hingewiesen. Allein andererseits stund die Ueberzeugung entgegen, daß internationale Verträge nicht durch die Verfassung oder die Geseze eines Landes einseitig geändert werden können, daher man sich selbst veranlaßt fand, in der noch bestehenden Verfassung von 1847 diese Verträge als normgebend anzuführen, obwohl ihre Bestimmungen mit dem Geist und Wesen der Verfassung keineswegs in voller Harmonie stehen. Also nicht nur angenommen, sondern selbst zugegeben, was Niemand wird bestreiten wollen, daß diese Verträge beschränkende Bestimmungen enthalten, welche mit den Grundsäzen der Bundes-
und Kuntonsverfassung nicht wohl vereinbar sind, so folgt hieraus noch nicht das Recht der einseitigen Abänderung. Es dürfte wohl kaum einen Staat geben, der nicht durch internationale Verträge in irgend einer Richtung beschränkt wäre.

645

,,Bei solchen Beschränkungen darf man aber nicht nur das Lästige im Auge haben und- noch viel weniger den Nebenbegriff des Zwanges damit verbinden, denn sie sind durch freiwillige Zustimmung entstanden und gewöhnlich mit einer Kompensation verbunden. Diese Kompensation liegt für Genf und für die Schweiz in.

der Gebietsvergrößerung durch die ehemals savoyischen Gemeinden, und die Beschränkungen des Turinervertrages sind die Bedingungen, unter denen die Abtretung des Gebietes stattgefunden, Bedingungen, welche die Schweiz und Genf genehmigt haben.

,,Wir haben es in unserer Stellung erachtet, dießfalls klar unsere Anschauungsweise auszusprechen; einerseits, damit Niemand im Zweifel sei, wie der Bundesrath über internationale Verträge denkt, auch wenn sie in vielen Bestimmungen nicht gefallen, und andererseits, weil in diesen Verträgen uns Zusicherungen gegeben sind, die wir nicht preiszugeben gesonnen sind.

,,Es war nach unserer Ansicht vom Großen Ratlie sehr klug» daß er im Art. 3 des Gesezes die Versicherung gab, daß gegenüber dem Staate nichts an der Stellung der Kulte geändert werde, daß in diesem Punkte der gegenwärtige Zustand bleibe, indem der Staat seine Verpflichtungen gegenüber beiden Konfessionen, wie bisher, beibehalten werde. Mit dieser Bestimmung ist eigentlich den Intentionen des Turiner Vertrages ein Genüge geleistet. Wenn mau sich in die damaligen Zeitverhältnisse zurükversezt, so wird man leicht begreifen, daß der König von Sardinien seine ehemaligen katholischen Unterthanen vor allfälligen Vergewaltigungen des cajlvinistischcn Genf schüzen.wollte.

,,Der Bundesrath erklärt nun von vornherein, daß er nicht der Theorie huldigt, daß völkerrechtliche Verträge durch einseitige Schlußnahmen einer Vertragspartei willkürlich abgeändert werden können."

Einer so freimüthigen und klaren Grundsazerklärung, welche gewiß dem damaligen Bundesrathe Ehre macht und die zugleich zeigt, wie skrupulös er die Verträge zu beobachten gedachte, wobei er die wahre Tragweite derselben, sowie des Gesezes von 1868 andeutete, hätten wir, da diese Erklärung den Anstand siegreich entscheidet, nichts beizufügen, wenn es nicht in unserer Pflicht läge, noch diese Frage zu stellen : Ist der gegenwärtige Bundesrath auch gesonnen, die Verträge von Wien und Turin pünktlich zu beobachten , oder glaubt er, das Recht zu haben, sie mit Füßen zu treten, vor den Augen ganz Europas, das seine Blike auf uns heftet ?

Bundesblatt. Jahrg. XXV. Bd. III.

44

646

Bevor wir die Antwort der geehrten Magistrate hören, in welche wir alles Vertrauen gesezt und denen wir die Sorge übertragen, haben, unsere Rechte und unsere Freiheiten zu schüzen, möge diese Antwort so oder anders ausfallen, wollen wir die unsrige darüber abgeben.

Wenn die Verträge, welche das europäische Staatsrecht bilden, ungestraft zerrissen werden können , und leider hat man traurige Beispiele dieser Art erlebt, so ist unser nationales Gebäude bis in seine Grundfesten erschüttert und unsere Existenz nur eine unsichere mehr, entblößt von jeder Gewähr und schuzlos gegen das Recht des Stärkern. Wenn wir dagegen diese Verträge respektiren müssen, welche für die Schweiz ein Pfand der Selbständigkeit und des Friedens sind, so ist es uns unmöglich, dieses Genfer Gesez, welches .sie offen verlezt, zu genehmigen.

Bedenken wir also, meine Herren, bevor wir uns aussprechen, die gewichtigen Folgen unserer Schlußnahme und die Verpflichtungen, die wir eingingen, als wir Gott und dem Vaterlande den Eid leisteten.

Endlich behaupten wir, Tit., daß der Gesezentwurf vom 19.

Februar im Weitern eine Verlezung der Gewissensfreiheit und des Naturrechts involvirt.

Was gibt es Heiligeres und Unveräußerliches als das Recht, das wir von der Natur haben, überall die Wahrheit zu erforschen und ihr in freier Weise durch äußere Handlungen Ausdruk geben zu können, wenn wir glauben, sie in den innersten Falten unseres durch' die Vernunft, die Erfahrung und die Geschichte erleuchteten Gewissens gefunden zu haben? Dieses gebieterische Bedürfniß, dem, was wir fühlen, Ausdruk zu geben, ist der Ursprung aller Kulte auf der Erde.

Wer darf also behaupten, ein Civilgesez, und wäre es das beste der Welt und einstimmig erlassen, könne das Gewissen des Menschen regieren und dasselbe vor seinen Anforderungen beugen? Die raffinirteste Gewaltthätigkeit vermag nicht bis in dieses innerste Heiligthum zu dringen, um Störung und Verwirrung in dasselbe zu tragen.

Keine Mehrheit wäre demnach im Stande, die Formen eines Kultus vorzuschreiben, um die Beziehungen zwischen dem Glauben und der Kundgebung desselben zu regeln, und dieß noch um so weniger, wenn diese Mehrheit nicht den gleichen Religionsglauben hat, wie diejenigen, deren Doktrin sie zu organisiren prätendirt. Die Gerechtigkeit, der gesunde Verstand., die Schiklichkeit und die Vernunft würden dieser Mehrheit die vollständigste Enthaltung vorschreiben.

647 Die Fragen des gemeinen Rechts und des Naturrechts stehen über dem allgemeinen Stimmrecht und der Volkssouveränetät.

Jedes Mal, wo hieran getastet wird, macht man einen Schritt der Anarchie zu.

Die Geistlichkeit hat einstimmig protestirt und erklärt, daß sie das Ihrer Genehmigung unterstellte Gesez niemals annehmen könnte, weil es ein Schisma in der Kirche schafft; die Katholiken haben protestirt durch einen Rekurs an die Bundesversammlung, durch zahlreiche Petitionen, durch ihre allgemeine Stimmenthaltung; die Maires und die Municipalräthe aller Gemeinden haben ebenfalls protestirt; alle der katholischen Religion treuen Abgeordneten werden ihrerseits in dieser Versammlung protestiren. Sind so viele Protestationen nicht ein lautes Zeugniß dafür, daß dieses unselige Gesez dem katholischen Gewissen eine tiefe Wunde schlägt und dem öffentlichen Frieden von Genf gefährlich wird?

Was würde, wenn dasselbe unglüklicherweise ratifizirt werden sollte, daraus werden ? Dieß ist leicht vorauszusehen. Die Geistlichkeit und die Glaubensgetreuen werden, wie sie es Ihnen erklärt haben, sich diesem Geseze nicht unterwerfen, denn sie könnten es nicht, thun, ohne ihren Glauben abzuschwören, und wer sollte es wagen, sie hiem zu zwingen? Als ganzes Resultat hätten wir alsdann: das Bedauern, unnöthigerweise die Gewissen verlezt, die religiösen Leidenschaften aufgeregt, die Grundgeseze des Vaterlandes überschritten, zwei internationale Verträge verlezt und durch diese Verlezung einen Vorgang geschaffen zu haben, welcher die Grundlagen unserer nationalen Unabhängigkeit bedroht.

Wir wissen, meine Herren, daß wir vor einer protestantischen Mehrheit sprechen, was uns an die Erfolglosigkeit der von uns verfochtenen katholischen Grundsäze glauben lassen könnte. Doch nein, darin erbliken wir vielmehr ein Pfand des Heils, denn wir glauben an die rechtlichen und biedern Gesinnungen dieser Mehrheit. Wir glauben, dieselbe werde sich selbst saa;cn, daß es ihr O i O J nicht zukomme, einen ihr fremden Kultus zu organisiren, eine Religion, die nicht die ihrige ist, zu reglementiren, ihr Geseze aufzuerlegen, denen sie sich nicht fügen will ; gleichwie unter den nämlichen Umständen auch die Katholiken es halten würden. Nein, nein, im Schöße des Rathes der Nation werden nicht diese unwürdigen Worte gebraucht werden, die 'im Großen
Rathe von Genf gesprochen wurden: ,,Wir haben hier keine Rechtsfrage, sondern eine Mehrheitsfrage.u Indessen ist es nicht unmöglich, daß wir, aufrichtige Katholiken, uns dießfalls einer Illusion hingeben und daß wir im nächsten

648 Augenblike mit einem bitter enttäuschten Herzen diesen Saal verlassen werden. Wohlan, meine Herren ! . Diese Illusion ist unstheuer und wird erst vor der Wirklichkeit zerrinnen, denn, es ist für uns süß, an die Freiheit zu glauben, deren Wiege die Schweiz so lauge war, an diese Brüderlichkeit, welche unter den Bürgern dea nämlichen Vaterlandes herrschen soll, welche troz der Verschiedenheit ihrer politischen und religiösen Ansichten alle vor dem Feinde gleich sind. Es ist für uns süß, auch zu glauben an die gute Harmonie, welche zwischen den zwei Konfessionen, beide Töchter des Christenthums und auch beide zum nämlichen Schuze und zu den nämlichen Freiheiten berechtigt, bestehen soll.

D.eßhalb also, Herr Präsident, meine Herren !; im Namen der Genfer Verfassung und der Bundesverfassung, im Namen der Verträge, die uns binden, im Namen der Freiheit und des Gewissens, haben wir die Ehre, Ihnen zu beantragen, dem vom Großen Rathe des Kantons Genf am 19. Februar 1873 erlassenen Verfassungsgeseze über den katholischen Kultus die eidgenössische Gewährleistung zu versagen.

B e r n , 26. Juli 1873.

Die Minderheit der Kommission: L. GrOSS, Nationalrath.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht der Minderheit der Kommission des Nationalraths über das Verfassungsgesez von Genf vom 19. Februar 1873, betreffend den katholischen Kultus. (Vom 26. Juli 1873.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1873

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

41

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

13.09.1873

Date Data Seite

638-648

Page Pagina Ref. No

10 007 844

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.