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Kreisschreiben des

Bundesrathes an sämmtliche eidgenössische Stände, betreffend das Wirthschaftswesen.

(Vom 1. Juni 1880.)

Getreue, liebe Eidgenossen!

Gleichwie der Bundesrath sich veranlaßt sah, die Kantonsregierungen durch Kreisschreiben vom 11. Dezember 1874 (Bundesblatt 1874, III, 888) auf die Bedeutung des Art. 31 der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 für das W i r t h s c h a f t s w e s e n aufmerksam zu machen, so erachten wir es auch heute, nachdem der augeführte Verfassungsartikel zufolge des bundesbeschlusses vom 26. Juni 1885 und der Volksabstimmung vom 25. Oktober 1885 speziell mit Bezug auf das Wirthschaftswesen eine veränderte Fassung erhalten hat, als geboten, mit einigen Worten die Tragweite dieser Revision darzulegen.

Durch das bundesräthliche Kreisschreib in vom 11. Dezember 1874 wurde den Kantonsregierungen eröffnet, daß nach dem Inkrafttreten des Art. 31 der Bundesverfassung von '1874 die Bewilligung zum Betriebe einer Wirthschaft nicht vom Vorhandensein des öffentlichen Bedürfnisses abhängig gemacht werden dürfe, wesshalb die Beschränkung der Wirthschaften auf eine Normalzahl nicht mehr haltbar sei.

Diese aus Art. 31 der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 sich ergebende Rechtsfolgerung ist in der Rekurspraxis der Bundesbehörden von 1874--1885 konsequent t'es gehalten und geltend gemacht worden.

Nun behält aber der revidirte Artikel 31. der Bundesverfassung gegenüber der Gewährleistung der Handels- und Gewerbefreiheit

665 den Kantonen das Recht vor, ,, a u f dem W e g e der G e s e t z g e b u n g d i e A u s ü b u n g des W i r t h S c h a f t s g e w e r b e s u n d d e s K l ei n H a n d e l s m i t g e i s t i g e n G e t r ä n k e n d e n d u r c h das öffentliche Wohl geforderten Beschränkungen zu u n t e r w e r f e n . a Es unterliegt keinem Zweifel, daß durch die neue Bestimmung den Kantonsbehörden namentlich die rechtliche Möglichkeit verschafft werden wollte, der von ihnen als Volkskalamität erkannten stetigen Zunahme der Wirthschaften entgegenzutreten und bei der Beurtheilung von Wirthschaftspatentbegehren in Zukunft die Bedürfnißfrage zu stellen.

Der Bundesrath ist seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassungsbestimmung bereits mit Rekursen behelligt worden, in denen der Entscheid ausschließlich von der Beantwortung der Frage abhängt, ob die Errichtung einer neuen Wirthschaft in der betreffenden Ortschaft ein Bedürfniß sei.

Bei der Prüfung solcher Rekursbeschwerden hat sich gezeigt, daß vor Allem ein formellrechtlicher Punkt klargestellt werden muß.

Der revidirte Artikel 31 der Bundesverfassung sagt ausdrücklich, dass die Kantone ,, a u f d e m W e g e der G e setzgebung" die Ausübung des Wirthschaftsgewerbes beschränken können. Demnach kann es nicht in der Befugniß der kantonalen Administrativbehörden liegen, durch allgemeine Verfügungen oder durch Entscheidungen von Fall zu Fall in Anwendung der angeführten Bundesverfassungsbestimmung die Eröffnung von Wirthschaften wegen mangelnden Bedürfnisses nicht zu bewilligen. Es bedarf vielmehr einer kantonalgese tzlic h en Grundlage, auf welche gestützt die Gemeinde-, Bezirks- und Regierungsbehörden der Kantone in dieser Richtung und in gedachtem Sinne verfügen können.

Wir machen Sie auf diesen Punkt aufmerksam, um Ihnen und uns bei vorkommenden Wirthschaftsrekursen die Prüfung und Entscheidung der jeweilen in der Form einer Einrede sich aufdrängenden Vorfrage zu ersparen, ob die bundesverfassungsmäßige, rechtliche Voraussetzung des kantonalbehördlichen Entscheides erfüllt sei.

Diejenigen Kantone, deren Gesetzgebung nichts davon sagt, daß die Wirtlischaftsbewilligungen nach Maßgabe des durch Bevölkerung und Verkehr einer Ortschaft sich ergebenden öffentlichen Bedürfnisses ertheilt, bezw. verweigert werden, haben also diese Lücke auszufüllen, wenn sie inskünftig an Patentgesuche den erwähnten Maßstab anlegen wollen.

(666 Für die Kantone dagegen, deren Gesetzgebung bereits eine solche Bestimmung enthält, wird es sich (fragen, ob dieselbe bloß durch die bisher entgegenstehende Bestimmung der Bundesverfassung außer Kraft gesetzt, oder durch einen von der zuständigen Kantonsbehörde ausgegangeneu formellen Akt als dahingefallen oder aufgehoben erklärt worden sei. Im erstem Falle ist anzunehmen, daß mit dem Erlöschen der bisherigen und dem Inkrafttreten einer neuen, anders lautenden bundesrechtlichen Bestimmung die kantonalgesetzliche Vorschrift wieder auflebe und vollziehbar werde: im letztem Falle scheint uns, daß ein die Wiederherstellung des aufgehobenen kantonalen Rechts bezweckender und herbeiführender Erlaß der zuständigen kantonalen Behörde eintreten müsse.

Indem wir uns für heute auf die Erörterung dieses formellrechtlichen Punktes beschränken zu sollen glauben, benutzen wir den Anlaß, um Sie, getreue, liebe Eidgenossen, sammt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den \. Juni 1886.

Im Namen des schweizerischen Bundesrathes, D e r Bundespräsident:

Deucher.

Der Stellvertretei- des eidg. Kanzlers : Schatzmann.

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Kreisschreiben des Bundesrathes an sämmtliche eidgenössische Stände, betreffend das Wirthschaftswesen. (Vom 1. Juni 1886.)

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12.06.1886

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