620

# S T #

Berichte betreffend

die Genfer Verfassungsgeseze.

# S T #

Bericht der

Minderheit der ständeräthlichen Kommission, betreffend die dem Verfassungsgeseze des Kantons Genf vom 19. Februar 1873 über den katholischen Kultus zu ertheilende eidgenössische Gewährleistung.

(Vom 19. Juli 1873.)

Tit.!

Die Minderheit Ihrer Kommission hat nach Kenntnißnahme von dem Ihrer Ratifikation unterstellten Verfassungsgeseze sich sofort überzeugen müssen, daß dieses Gesez, unter dem Vorwande, den katholischen Kultus im Kanton Genf zu reorganisiren, zum eigentlichen Zweke hat, die Ernennung der Seelsorger der Pfarrgemeinden der Staatsbehörde in die Hände zu spielen, so daß dieselbe der geistlichen Behörde ganz entzogen wird; indem mit einem Federauge der Art. 130 der gegenwärtigen Verfassung ausgemerzt wird,

621 der diese Ernennung der gemeinsamen Aktion dieser beiden Behörden gewährleistet. Im Weitern erblikte sie darin die Errichtung eines katholischen Bisthums, dessen Bischof nur diejenigen Befugnisse haben wird, die ihm vom Staate zuerkannt oder die durch das bürgerliche Gesez definirt sein werden.

Berufen, Ihnen über die Frage Bericht zu erstatten, ob diese neuen Bestimmungen im Einklang mit der Bundesverfassung stehen, konnten wir in uuserm Gewissen nur eine verneinende Antwort finden. Nicht nur sind diese Bestimmungen die offenbarste Verlezung des Art. 44, welcher die freie Ausübung des Gottesdienstes der christlichen Konfessionen gewährleistet, sondern sie stehen überdieß in evidentem Widerspruche mit dem Art. 2 des Verfassungsgesezes von Genf vom 28. September 1868, welcher festsezt: ,,Die Freiheit der Kulte ist im ganzen Umfang des Kantonsgebiets gewährleistet.

,,Alle Kulte haben Anspruch auf gleichen Schuz von Seite des Staates; sie sind gehalten, die allgemeinen Geseze, sowie die Polizeiverordnungen über die äußere Kultusausübung zu beobachten.tt Durch sie wird von Grund aus eine Situation umgestürzt, welche nicht nur auf der unverlezlichen Gewährleistung der Bundesund der Kantonsverfassung, sondern zudem auf der Beachtung der Verträge beruht, denen der Kanton Genf seine Existenz verdankt.

Um die wahre Tragweite der den Genfer Katholiken zugesicherten Gewährleistung der Ausübung ihres Kultus zu würdigen, und um zu ermitteln, ob ein Kultus wie derjenige, um dessen Organisirung es sich handelt, dieser Garantie entspricht, sind wir, wie auch der Bundesrath in seiner Botschaft vom 2. Dezember 1868, auf welche in derjenigen von 18. Juni 1873 verwiesen wird, veranlaßt, die Verträge zu prüfen, welche eingegangen wurden, als die katholischen Gemeinden von Savoyen losgetrennt und dem Gebiete der Genfer Republik einverleibt wurden, Verträge, welche die Rechte und die Lasten dieser Einverleibung festsezen, welche die Grundlage der öffentlichen Freiheiten der einverleibten Bevölkerungen bilden, und welche in der Folge, wie wir nachweisen werden, ein Bestandteil des konstitutionellen Rechts des Kantons Genf wurden.

Oeffnen wir das Protokoll über die nachträglichen Verfügungen zum fünften Artikel der Erklärung des Wiener Kongresses, den Kanton Genf betreffend, vom 29. März 1815, so lesen wir darin (Art. 3):

622 - ,,Weil anderseits Seine Majestät Sich nicht entschließen können, ,,zuzugeben, daß ein Theil Ihres Gebietes einem Staate einverleibt ,,werde, worin eine andere Religion herrschend ist, ohne den Ein,,wohnern des von ihnen abzutretenden Landes Gewißheit zu ver.,,schaffen, daß ihnen die freie Hebung ihrer Religion forthin zu .,,Theil werde, daß sie die Fortdauer der bisherigen Mittel für die ,,Bestreitung ihres Kultus werden zu genießen haben, und daß sie ,,hinwieder auch selbst den vollen Genuß der bürgerlichen Rechte ^erhalten werden, -- so ist verabredet worden, was folgt : ,,1) Die katholische Religion soll aufrecht erhalten und geschüzt ^bleiben auf gleiche Weise, wie gegenwärtig in allen Gemeinden, ,,welche von Sr. Majestät dem König von Sardinien abgetreten und ,,mit dem Kanton Genf vereinigt sind.

,,5) Die Regierung wird für die Kosten des Unterhalts der ,,Geistlichen und des Kultus das Nämliche beitragen, was die gegen,,wärtige Regierung dazu liefert.

,,6) Die wirklich in Genf bestehende katholische Kirche soll ,,auf Staatskosten, so wie sie gegenwärtig besteht, daselbst bei,,behalten werden, in Gemäßheit der deßhalb bereits auch durch ,,die eventuellen Geseze der Verfassung von Genf erlassenen Be^schliisse. Der Seelsorger soll angemessenen Gehalt und Wohnung ,,erhalten.

,,7) Die katholischen Gemeinden des Kantons, sowie die katho.,,lische Pfarre der Stadt Genf, sollen fernerhin dem Diözesansprengel ,,der Provinzen Chablais und Faucigny angehören, dasjenige vorgehalten, was darüber von dem heiligen Stuhl anders verordnet ,,werden möchte."

In Folge dieser Bestimmungen wurde unterm 16. März 1816 zwischen dem König von Sardinien einerseits, und der schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Kanton Genf anderseits, ein unter dem Namen Turiner Vertrag bekannter Vertrag abgeschlossen.

Derselbe bestätigt den Art. 3 des von uns soeben zitirten Protokolls vom 29. März 1815 und fügt bei: ,,Art. 12. Auf alle jene Gegenstände, worüber durch das ,,Wienerprotoll vom 29. März 1815 Fürsorge getroffen ist, sollen ,,die eventuellen Geseze der Verfassung von Genf nicht anwendbar ,,sein.

,,Und in Betracht, daß das erwähnte Protokoll im dritten Ar,,tikel und dessen ersten Absaz verordnet hat: ,,es soll die katho,,,,lische Religion in allen von Sr. Majestät dem Kqnig von Sar,,,,dinien abgetretenen und dem Kanton Genf einzuverleibenden ,,,,Gemeinden auf gleiche Weise wie bis dahin gehandhabt und

623 ^,,geschüzt werden," -- so ist einverstanden, daß die am 29. März ,,1815 hinsichtlich der katholischen Religion in allen abgetretenen ,,Landestheilen in Kraft bestandenen Geseze und Uebungen gehand,,habt werden sollen, mit Vorbehalt dessen, was durch die Gewalt ,,des heiligen Stuhles darin abgeändert würde.a Die Ratifikationsurkunde vom 15. Juni 1816 ist in Ausdrüken abgefaßt, welche laut die Gesinnung bezeugen, von welcher diejenigen beseelt waren, welche für die schweizerische Eidgenossenschaft unterzeichneten : ,,Wir Bürgermeister und Rath des Kantons Zürich, Vororts der schweizerischen Eidgenossenchaft, thun durch Gegenwärtiges kund: Nachdem der am 16. März 1816 zu Turin unterzeichnete Vertrag zwischen etc. etc., . . . bekunden wir . . . daß der besagte Vertrag . . . . seinem ganzen Inhalte nach von der Schweiz und vom Kanton Genf angenommen worden ist. Wir erklären denselben für genehmigt und gutgeheißen, und versprechen, daß er getreu und gewissenhaft beobachtet werden soll. Kraft dessen etc,tt Im Jahr 1847 nahm der Kanton Genf eine Revision seiner politischen Verfassungsbestimmungen vor. Die Stipulationen der Verträge wurden in die neue Charte aufgenommen, um sie unter die den Rechten und den Freiheiten der Bürger gebührende konstitutionelle Gewährleistung zu stellen.

Diese Verfassung enthielt folgende Bestimmungen: ,,Art. 10. Die Freiheit der Kulte ist gewährleistet. Jeder derselben hat Anspruch auf den gleichen Schuz von Seite des Staates.

,,Durch diese Freiheit darf den Verträgen, sowie den Bedingungen, welche in gegenwärtiger Verfassung die Ausübung der beiden vom Staate anerkannten und salarirten Kulte regeln, kein Abbruch geschehen. Alle Kulte sind gehalten, sich nach den allgemeinen Gesezen sowie den Polizeiverordnungen über ihre äußere Ausübung zu richten.

,,Art. 129. Die Verfassung gewährleistet den Bürgern des Territoriums, welches durch den Pariser Vertrag vom 20. November .1815 und durch den Turiner Vertrag vom 16. März 1816 mit dem Kanton Genf verbunden worden, die Beibehaltung der freien Ausübung und die Unterhaltung des katholischen Kultus.

,,Art. 134. Durch vorstehende Artikel geschieht den Bestimmungen des Protokolls des Wiener Kongresses vom 29; März 1815 keinerlei Abbruch; dieselben bleiben vielmehr in ihrem ganzen Umfange in Kraft, wie es im Art. 129 gesagt ist."

624

Bald nachher jedoch suchte man den Katholiken begreiflich zu machen, daß es besser wäre, aus der Verfassung jede Gebieteunterscheidung, jede Rechtsungleichheit auszumerzen, welche, sei es aus den Verträgen, sei es aus einer Heimatverschiedenheit zwischen den Bürgern eines nämlichen Kantons herfließen könute. Man überredete sie, daß sie für sich in der allgemeinen Gewährleistung der gemeinen Rechte und der freien Institutionen von Genf bessere Garantien finden würden, als die aus den Verträgen geschöpften.

So haben denn die Katholiken, im Vertrauen auf die ihnen in dieser Weise kundgegebenen Gesinnungen, und nur ihrer Vaterlandsliebe Gehör gebend, keinen Anstand genommen, zu dem Verfassungsgeseze vom 28. September 1868 die Hand zu bieten, um, wie man damals sagte, zur Annäherung von bis dahin durch verschiedene Interessen ^mehr oder weniger getrennten Bürgern und zur Konstituirung der großen Genfer Familie mitzuwirken.

Die Bestimmungen des Art. 10 der Verfassung von 1847 wurden beibehalten und im Art. 2 des neuen Gesezes reproduzirt, nur entfernte man aus demselben das auf die Verträge Bezügliche.

Allein es blieb wohl verstanden, und jeder gab zu, daß den Katholiken in Bezug auf ihren Kultus die Wohlthat der nämlichen Garantien verbleibe, daß diese Garantien eher verstärkt als abgeschwächt seien.

Diese Seite der Frage hatte in der That eine große Wichtigkeit und lenkte die ganze Aufmerksamkeit des Bundesrathes auf sich, welcher erst nach gewonnener voller Ueberzeugung, daß die Katholiken unter der Herrschaft des Gesezes von 28. September 1868 den nämlichen Schuz erlangen werden, wie unter derjenigen der Verträge, sich entschloß, der Bundesversammlung dessen Ratifikation zu beantragen.

Gestatten Sie uns, meine Herren, Ihnen hier einige Betrachtungen vorzubringen, an die sich diese hohe Behörde bei Stellung des genannten Antrages hielt. Sie dürften wohl geeignet sein^ Ihnen die zu fassende Schlußnahme an die Hand zu geben.

Wie um uns begreiflich zu machen, wie viel daran gelegen ist, die Aufrechthaltung des Friedens unter den verschiedenen Konfessionen in Genf zu sichern, und daß nicht ohne Grund die Verträge so sorgfältige Vorkehrungen hiefür trafen, macht uns der Bundesrath darauf anfmerksam, daß schon im Jahre 1823 der eidgenössische Vorort bei der Regierung von Genf, behufs Respektirung der Verträge, auf eine Reklamation von Sardinien hin interveniren mußte, was mit Erfolg geschah.

625 Der Bundesrath anerkennt, daß die Aktionsfreiheit der Kantone, selbst in Verfassungssachen, durch die internationalen Verträge beschränkt werden kann. Er anerkennt die Theorie nicht, derzufolge diese Verträge von der einten der Vertragsparteien willkürlich abgeändert werden könnten. Wenn für den Kanton Genf diesfällige Restriktionen seiner Souveränetätsrechte bestehen, so liegt dieß an der reichlichen Kompensation, die er durch die so bedeutende Ausdehnung seines Gebiets erlangte. Wenn die katholischen Bevölkerungen sich darein fanden, sich spezieller an die in die neue Kantonsverfassung eingeschriebenen Rechte zu halten, so geschah es, um in ihrem Vaterlande, bei ihren eigenen Mitbürgern, in der Fülle ihrer politischen und religiösen Freiheiten, den nämlichen Schuz zu haben, wie denjenigen, den sie von einem auswärtigen Fürsten empfingen.

Noch mehr: Der Bundesrath konstatirte, daß der Große Rath von Genf sehr einsichtig gehandelt habe, indem er den Katholiken die Versicherungö ertheilte.' daß durch dieses Gesez in den Beziehungen des Kultus zum Staate nichts geändert werde, da der Staat gegenüber den beiden Konfessionen die nämlichen Verpflichtungen wie früher beibehalte. Damit war der Absicht des Königs von Sardinien ein volles Genüge gethan, welcher alle möglichen Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte, um seine ehemaligen Unterthanen vor allfälligen Vergewaltigungen des kalvinistischen Genf zu schüzen.

So spricht sich die Botschaft vom 2. Dezember 1868 aus. Es war also wohl erlaubt, zu behaupten, daß die neue Verfassung des Kautous Genf dem annuxirten Gebiete sogar mehr Garantien gewähre, als der König von Sardinien ihm zu sichen: gedachte.

In diesem Sinne, meine Herren, ist die Genehmigung des Verfassungsgesezes vom 28. September 18G8 der Bundesversammlung vorgeschlagen worden und in diesem Sinne ist die Sanktion desselben zu verstehen.

Der Art. 2 dieses Gesezes, der in seiner vollen Gültigkeit aufrechterhalten ist, kann heute keine andere Tragweite und Bedeutung haben, als die im Jahr 1868 ihm zuerkannte. Lassen Sie uns nun die Frage a.n Sie stellen: Hat der Kultus, wie er nach den Ihnen soeben verlesenen Vorschriften der Art. l, 2 und 3 des Gesezes vom 19. Februar 1873 organisirt werden .wird, noch irgend eine Aehnlichkeit mit demjenigen, der heute durch den Art. 2 des Gesezes vom
28. September 1868 gewährleistet ist? Ist dieß nicht vielmehr eine Verstümmelung, eine vollständige Desorganisation dieses Kultus?

Ist der neue Kultus nicht auf einen ganz entgegcngesezten Grundsatz basirt, geradezu eine Negation des bisherigen?

626

An die Stelle einer von der geistlichen Behörde, im Einvernehmen mit der staatliehen, gewählten Geistlichkeit wird eine solche treten, an deren Ernennung die geistliche Behörde keinen Theil mehr wird nehmen können, eine Geistlichkeit, welche keine andere Mission haben wird, als diejenige, die sie von der Mehrheit der Wähler empfangen wird. Statt eines Bisthums, dessen Organisation wesentlich dem heil. Stuhle zukommt, wird ein katholisches Bisthum errichtet werden, dessen Bischof lediglich von einer protestantischen Regierung abhängt, und das seine Machtbefugnisse nicht anders als nach dem Gutdünken dieser Regierung delegiren kann; ein katholisches Bisthum, dessen Bischof keine andern Befugnisse wird ausüben können, als diejenigen, welche ihm durch eine protestantische Mehrheit übertragen werden. Der Geistliche, der solche Bedingungen annehmen könnte, wird niemals etwas Anderes als der demüthige Diener des Staates sein. Es war demnach, wie uns scheint, durchaus unnöthig, im Geseze noch besonders zu bestimmen, dieser Bischof könne nicht auf kantonalem Gebiete rcsidiren. Nein, meine Herren, eine so konstituirte Kirche wird nie eine katholische Kirche sein können. Es ist dieß nicht bloß eine Antastung der Freiheit des katholischen Kultus, nein: es ist einfach die Unterdrükung derselben.

Um die Anwendung des Gesezes vom 19. Februar 1873 möglich zu machen, ohne in Widersprüche zu verfallen, genügte' es nicht, nur die Art. 130 und 133 der Verfassung von 1847 zu abrogiren ; man hätte auch noch den Art. 2 des Verfassungsgesezes vom 28. September 1868 außer Kraft sezen müssen, ein Artikel, welcher den Kulten das Recht gewährleistet, den gleichen Staatsschuz zu verlangen, während das Gesez vom 19. Februar 1873 dem Staate ein unbedingtes Recht gibt, sich dem katholischen Kultus zu imponiren, und der dahin geht, daß die Kulte nur zur Nachachtung von allgemeinen Gesezen gehalten seien, während das Gescz vom 19. Februar 1873 Anspruch macht, den katholischen Kultus Ausnahmsgesezen zu unterwerfen.

Ohne die Diskussion wieder aufnehmen zu wollen, welche vor diesem Rathe über den Rekurs der Solothurner Pastoralkonferenz stattfand, könaen wir uns doch der Bemerkung nicht enthalten, daß man schon damals in Bezug auf die Ernennung der Seelsorger der katholischen Pfarrgemeinden nicht hinlänglich unterschieden hat zwischen
dem Wahlrechte, welches die kirchliche Behörde bisweilen der bürgerlichen und selbst Privaten einräumt, und dem Rechte der Konsekration, d. h. dem Rechte, dem Gewählten die Ermächtigung zu ertheilen, priesterliche Funktionen auszuüben.

621 So lange der Staat nur bei der Wahl interveniren wollte, hat die Kirche sich stets zu dem herbeigelassen, was Zeit- und Ortsunistände zwekmäßig erscheinen ließen. Sobald aber der Staat die Macht beansprucht, dem Gewählten von sich aus die Weihe zu ertheilen, d. h. die Einsegnung, welche die Seelsorge in sich schließt, hat die Kirche widerstehen müssen. In diesem Punkt sind die Autoren über kanonisches Recht einstimmig. Die Kirchengeschichte beweist dieß.

Eine Grundregel der katholischen Kirche, eine Glaubenswahrheit ist, daß sie von ihrem göttlichen Stifter die Macht empfangen hat, seine Doktrin zu lehren, seine Sakramente zu ertheilen; daß diese Macht nur von dem Geistlichen ausgeübt werden kann, dem sie dieselbe verliehen hat und daß ihr allein diese Verleihung zukommt.

Es ist dieß übrigens leicht begreiflich, wenn man bedenkt, daß ein zum Wesen der katholischen Kirche gehörendes Unterscheidungsmerkmal eben die Einheit im Glauben ist, und daß diese Einheit nur möglich ist, wenn man die Lehre aus einer und derselben Quelle herfließen läßt.

.

.

Allein warum die Vorschriften des kanonischen Rechts betonen ?

Muß der durch Art. 44 der Bundesverfassung sanktionirte Grundsaz der Kultusfreiheit nicht alle Bürger gegen die Antastungen der Gewissensfreiheit, von welcher Seite sie auch kommen mögen, schüzen?

Es ist evident, daß in bürgerlichen oder politischen Fragen, welche alle Bürger gleich interessiren, welche ihnen die nämlichen Verpflichtungen auferlegen, welche ihre Freiheit im nämlichen Maße beschränken, das Gesez entsprechend der Mehrheit ausfallen muß.

In den auf den Grundsaz des allgemeinen Stimmrechts gegründeten Staaten kann dieß nicht anders sein. Will man aber den nämlichen Grundsaz auf religiöse Fragen anwenden, so darf man nicht mehr von Gewissensfreiheit reden. Es wird geschehen, was in Genf geschah. Eine Mehrheit von Bürgern wird einer Minderheit Vorschriften diktiren, welche nur diese Minderheit angehen, Vorschriften, von denen die Mehrheit oft für sich selbst nichts wollen wird.

Gestatten Sie mir, meine Herren, anzuführen, was ein ausgezeichneter Publizist im Monat April abhin im Genfer Journal schrieb : ,,Es ist möglich, daß in einem Augenblike der Verblendung eine Mehrheit sich hinreißen läßt, die Garantien zu schwächen, die z. B. die Gewissensfreiheit umgeben. Thut sie es, so stimmt sie damit einfach für ihren Verfall und Ruin, denn es besteht zwischen

628

den Nationen eine sehr regsame Konkurrenz, welche einer einzelnen derselben nicht gestattet, einen einzigen Schritt rilkwärts zu thun, ohne daß sie sofort ihre Vortheile und ihren Rang verliert. Der Sieg, d. h. der Friede, die Ehre und die Wohlfahrt gehören den Völkern, welche bei ihnen die größte Summe geistiger und materieller Fortschritte zu verwirklichen wissen, indem sie doch dabei allen Formen der. individuellen Freiheit die größte Achtung zu Theil werden lassen."

Dem nämlichen Gedankengange folgend, haben die Genfer Katholiken bei der Votirung des Gesezes durch den Generalrath sich des Stimmens enthalten. Sie erklärten, einer protestantischen Mehrheit nicht das Recht zuerkennen zu können, ein Gesez für die Katholiken, troz den Katholiken und gegen die Katholiken zu erlassen. Sie wollen keinen anderen Kultus anerkennen, als denjenigen, der ihnen durch den Art. 2 des Gesezes vom 28. September 1868 gewährleistet ist, unter dessen Herrschaft sie stehen, und /war in Gemäßheit der Verträge. Wenn der Text des Art. 10 der Verfassung von 1847 modifizirt wurde, so ist, wie wir nicht genug wiederholen können, verstanden worden, daß die Katholiken in dem im genannten Artikel formulirten gemeinen Rechte den nämlichen Schuz finden sollen, wie den durch die Verträge ihnen gewährten.

Die gleichen Motive werden in den vorliegenden Petitionen und besonders in der Adresse der Geistlichkeit von Genf angerufen.

Dieselbe bittet Sie, meine Herren, zum Wohle des Vaterlandes und der Freiheit Aller, Einklang herzustellen zwischen dem Gewissen und dem Geseze, durch Verwerfung des verfassungswidrigen Gesezes vom 19. Februar 1873 und Aufrechthaltung der gegenwärtigen Verfassung. Sie betheuert ihre hingebende Gesinnung und verlangt nichts Anderes, als : der Kirche und dem Staate mit der nämlichen Loyalität dienen zu können und nicht in die peinliche Notwendigkeit versezt zu werden, dem Geseze den Gehorsam zu versagen, um Gott zu gehorchen.

Wir können, meine Herren, diesen Bericht nicht schließen, ohne Sie noch zu ersuchen, Ihre ganze Aufmerksamkeit den Folgen der von Ihnen zu fassenden Schlußnahme zu schenken. Wenn durch die Ereignisse, welche in neuerer Zeit Europa umgestaltet haben, das Ansehen der Verträge von 1815 bedeutend abgeschwächt worden ist, so wäre es gleichwohl nicht ohne Gefahr, wenn Sie Ihrerseits
dieselben antasten ließen. In allen Fällen sind wir der Ehre der Schweiz, ihrer altbekannten Loyalität schuldig, daß die Hand, die sie den nachbarlichen Nationen darbietet, eine Hand sei, welche nie

629 die geschworene Treue verlezt hat. Die Lage Genfs ist unverkennbar voll Schwierigkeiten. Wer kann alle Folgen voraussehen, die aus ·dem Ihnen behufs Ertheilung der eidgenössischen Gewährleistung unterbreiteten Geseze werden abgeleitet werden ? Wir unsererseits können uns nicht enthalten, über die Zukunft der Katholiken dieses Kantons die ernstlichsten Befürchtungen zu hegen. Wir können es nicht genug bedauern, daß die behufs einer Vereinbarung gemachten Eröffnungen keine günstige Aufnahme gefunden haben ; daß man, eitlen Empfindlichkeiten nachgebend und unbesiegliche Widerreden erhebend, in eine Bahn
Aus allen diesen Gründen hat die Minderheit Ihrer Kommission, von der Erwägung ausgehend, daß das Verfassungsgesez des Kantons Genf vom 19. Februar 1872 mit der Bundesverfassung im WiderSpruche steht, die Ehre, Ihnen zu beantragen, demselben Ihre Ratifikation nicht zu ertheilen.

B e r n , den 19. Juli 1873.

Der Berichterstatter der Minderheit der ständeräthlichen Kommission: Menoud.

Bundesblatt. Jahrg. XXV. Bd. IH.

43

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht der Minderheit der ständeräthlichen Kommission, betreffend die dem Verfassungsgeseze des Kantons Genf vom 19. Februar 1873 über den katholischen Kultus zu ertheilende eidgenössische Gewährleistung. (Vom 19. Juli 1873.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1873

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

41

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

13.09.1873

Date Data Seite

620-629

Page Pagina Ref. No

10 007 842

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.