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Schweizerisches Bundesblatt.

XXV. Jahrgang. II.

Nr. 15.

12. April 1873.

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in dor ganzen Schweiz): 4 Franken.

E i n r ü k u n g s g e b ü h r per Zeile 15 Rp. -- Inserate sind franto an die Expedition einzusenden.

Druk nnd Expedition der Stämpflischen Buchdrukerei in Bern.

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Bericht des

schweizerischen Bundesrathes an die h. Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahr 1872.

Tit.!

Der schweizerische Bundesrath hat die Ehre, nach Vorschrift des Art. 90, Ziffer 16 der Bundesverfassung, Ihnen hiemit den Bericht über seine Geschäftsführung im Jahr 1872 zu erstatten.

Geschäftskreis des Justiz- und Polizeidepartements.

A. Gesezgebung, Verträge etc.

I. Gesezgebung.

1. Nachdem durch die Volksabstimmung vom 12. Mai 1872 die vorübergehend in Aussicht gestandene. Möglichkeit der Kodifikation des Zivilrechtes dahin gefallen, und damit auch der Grund beseitigt war, welcher die Suspension der weitern Berathungen über die bestehenden Entwürfe des schweizerischen O b l i g a t i o n e n - und V e r k e h r s r e c h t e s , sowie des schweizerischen Betreibungs- und K o n k u r s r e c h t e s veranlaßte, wurde im Juli 1872 das Departement vom Bundesrathe ermächtigt, die seit Januar 1869 bestehenden zwei Kommissionen zur Fortsezung ihrer Berathungen wieder Bundesblatt Jahrg. XXV. Bd. II.

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einzuberufen. Beide Kommissionen traten in den ersten Ttigen des Monates Oktober zusammen. Diejenige für das Betreibungs- und Konkursrecht beendigte ihre Arbeiten, indem sie den Entwurf definitiv festsezte und dem Redaktor, Hrn. Professor Dr. A. H eu s leiin Basel, die Ausarbeitung der Motive übertrug. Nach Beendigung dieser Arbeit wird der Entwurf mit den Motiven der Oeffentlichkeit übergeben und die Form des weitern Vorgehens geprüft werden.

Was den Entwurf des Obligationen- und Verkehrsrechtes betrifft, so hat die Kommission den Abschnitt über das Wcchselrecht an den Redaktor, Hrn. Professor Dr. M u n z i n g e r in Bern, zurükgewiesen, um ihn mit dem deutschen Wcchselsystcm in Harmonie zu bringen. Alle anderen Abschnitte dieses Entwurfes sind ebenfalls berathen worden. Der Redaktor wird die Resultate der Diskussion an den entsprechenden Stellen verwerthen, worauf die Kommission zur Schlussberathung zusammentreten wird.

2. Am 18. Dezember 1872 hat der Nationalratb den Bundesrath eingeladen, die Präge zu prüfen, ob eine Ergänzung von § 19 des eidgenössischen Wahlgesezes vom 19. Juli 1872 nüthig sei, um für die Behandlung derjenigen Stimmzettel, welche weniger Namen tragen, als Stellen zu besezcn sind, ein gleichmäßiges Verfahren bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen zu erzielen.

Für eine richtige Lösung dieser Frage waren zunächst die nöthigcn Materialien zu sammeln; die Kantone wurden daher um Bericht darüber ersucht, wie in dem erwähnten Falle verfahren worden sei, und welches System angemessen scheine.

II. Verhältnisse zu auswärtigen Staaten, a. V e r t r ä g e und K o n v e n t i o n e n .

3. Die im lezten Bericht« in Aussicht gestellten Verhandlungen mit England behufs eines Vertrages über A u s l i e f e r u n g von V e r b r e c h e r n und A n g e s c h u l d i g t e n haben wirklich begonnen, konnten aber bis zum Ende des Jahres 1872 nicht zu einem definitiven Abschlüsse kommen. Ein von den Bevollmächtigten vorläufig vereinbartes Projekt liegt zu näherer Prüfung in London.

4. Auf Antrag der Regierung des d e u t s c h e n Reiches wurden auch mit ihr Unterhandlungen eröffnet, betreffend den Abschluß eines Ausliefef u n g s v e r t r a g e s mit dem deutschen Reiche.

Die diesfälligen Verhandlungen finden in Berlin statt. Eä hat aber eine definitive Vereinbarung ebenfalls noch nicht erzielt werden können.

3 5. Ferner wurde von dar Regierung des deutschen Reiches der Abschluß eines Vertrages angetragen über Niederlassungsverhältnisse. Der Bundesrath erklärte sich einverstanden. Die Unterhandlungen über diesen Vertrag finden in Bern statt und sind bereits weit vorgerükt. Einige spezielle Fragen, die noch nicht zu beidseitiger Zufriedenheit gelöst werden konnten, verzögerten jedoch den definitiven Abschluß.

6. Auch von Rußland ist der Abschluß eines Auslieferungsvertrages angeregt worden. Die Unterhandlungen haben indoli noch nicht eröffnet werden können.

7. Die Regierung von Belgien wünschte, aus Gründen, dio in der Strafgesezgebung dieses Staates liegen, daß in einem Nachtrage zu dein neuen Auslieferungsvertrage mit diesem Staate vom Jahr 1869 ausdrüklich noch die gegenseitige Auslieferung zugesichert werde wegen Verheimlichung von Gegenständen, die Jemand im Bewußtsein, daß sie gestohlen sind etc., erhalten und verheimlicht hätte. Da es sich nur um eine Interpretation des Vertrages handelte, und nach Art. l desselben die Auslieferung aller Mitschuldigen, also auch der Begünstiger eines Verbrechens, gegenseitig zugesichert ist, so glaubte der Bundesrath dem Wunsche von Belgien, daß eine förmliche Erklärung darüber ausgestellt werden möchte, von sich aus entsprechen zu können. Der Wortlaut dieser Erklärung befindet sich in der offiziellen Sammlung Band X, Seite 886.

8. Eine Vereinbarung zwischen Deutschland und Italien mit den betheiligten Kantonen, betreffend den Durchtransport dar zwischen jenen beiden Staaten gegenseitig auszuliefernden Individuen, ist dein Abschlüsse nahe.

9. Die im Jahr 1868 zwischen der Schweiz und dem Königreiche Preußen abgeschlossene Vereinbarung, betreffend die Gestattung der direkten Korrespondenz der beidseitigen Gerichtsstellen (Bundesblatt 1868, Bd. I, S. 8 und Bd. II, S. 759) wurde auf Antrag der deutschen Reichsregierung auch auf Elsaß-Lothringen ausgedehnt.

b.

S p e z i a l f ä 11 e.

10. Infolge der Vereinigung von Elsaß-Lothringen mit dem deutschen Reiche entstanden Zweifel über dasHeimatrechtt der Angehörigen dieses Geb. êtes, welche in der Schweiz wohnen, und zwar insbesondere hinsichtlich der Frage, ob sie zur Option für Frankreich verpflichtet seien, wenn sie Franzosen bleiben

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wollten. Mittelst zwei Kreisschreiben vom 24. Januar und 31. Mai 1872 wurden den Kantonen die nöthigen Aufklärungen gegeben, auf welche hier lediglich verwiesen wird. (Bundesblatt 1872, Bd. I, S. 173 und Bd. II, S. 458.)

11. Der Franzose Joseph D e b r u y è r e , wohnhaft in Jougne, Frankreich, wünschte die Wohlthat des A r m e n r e c h t e s , um vor dem kompetenten Gerichte des Kantons Waadt einen Prozeß gegen einen Waadtländer anheben zu können. Es entstand jedoch die Fraga, ob Angesichts von Art. 14 des Vertrages mit Frankreich von 1869 und von Art. 81 des Zivilprozeßgesezes des Kantons Waadt das Armenrecht auch einem nicht im K a n t o n domizilirten Franzosen bewilligt werden müsse.

Diese Frage wurde dahin beantwortet, daß nach der Ansicht des Bundesrathes der Art. 14 des Vertrages mit Frankreich vom 15. Juni 1869 auch auf den Fall sieh beziehe, wo der Kläger nicht im Lande wohne, aus dein einfachen Grunde, weil sonst verschiedene Bestimmungen des Vertrages nicht erfüllt werden könnten. Dagegen sei der Bundesrath nicht im Falle,' für einen O O Franzosen Schritte zu thun, um zu erfahren, ob die französische Regierung die gleiche Ansicht hege. Es möge dem Kläger einfach aufgegeben werden, die in jenem Art. 14 vorgesehenen Ausweise durch seine heimatlichen Behörden der schweizerischen Gesandtschaft in Paris einzureichen, damit sie von dieser gemäß Vorschrift des Schlußsazes von Art. 14 legalisirt und an den Bundesrath gesandt werden können.

12. Der Graubündner Seleban starb in dem österreichischen Kreise Spalato und hinterließ neben beweglichem auch unbewegliches Vermögen am Sterbeorte, sowie anderes bewegliches Vermögen im Kanton Graubünden. Die Behörden dieses Kantons wollten nun die Theilung des g a n z e n Nachlasses an sich ziehen.

Die Regierung von Oesterreich eröffnete jedoch dem Bundesrathe zuhanden der Regierung von Graubünden, daß nur die beweglichen Nachlässe von Graubündnern, weche in Oesterreich gestorben seien, den Behörden Graubündens zur Regulirung überlassen werden, daß jedoch in Gemäßheit des im internationalen Verkehr maßgebenden und auch im § 300 des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesezbuches festgehaltenen Grundsazes, daß unbewegliche Sachen den Gesezen des Bezirkes unterworfen seien, wo sie liegen, die Regulirung des in Oesterreich befindlichen unbeweglichen
Nachlasses des Seleban den Behörden von Graubünden nicht überlassen werden könne, so daß bezüglich dieses unbeweglichen Nachlasses die von dem Kreisgerichte von Spalato, als der kompetenten Be-

5 hörde, getroffenen Verfügungen nicht durch internationale Reklamationen beseitigt, sondern nur von den Betheiligten in Oesterreich und auf dem zuläßigen Instanzenzuge in materieller Beziehung angefochten werden können.

Die Regierung von Graubünden anerkannte zwar dieses Verfahren für den Spezialfall, behielt sich aber für die Zukunft die Vorschrift des graubündnerischen Privatrechtes vom Jahr 1862 vor, wonach dieses Gesez auf alle (auch im Auslande eröffneten) Erbschaften von Kantonsangehörigen Anwendung finde, sofern ebenfalls Kantonsangehörige dabei betheiligt seien.

Die österreichische Regierung ihrerseits erklärte dieser Eröffnung gegenüber, daß sie nicht im Falle sein werde, eine Verfügung ausländischer Behörden über in Oesterreich gelegene unbewegliche Sachen anzuerkenen.

13. Die Frage der M i l i t ä r p f l i c h t der Söhne von Franzosen, die sich in der Schweiz haben naturalisiren lassen, bot, bezüglich ihrer prinzipiellen Bedeutung, infolge des lezten Krieges längere Zeit suspendirt bleiben müssen. Die bezüglichen Verhandlungen beschränkten sich deßhalb, wie auch aus dem lezten Geschäftsberichte zu ersehen ist, auf einzelne Spezialfälle. Im Mai 1872 machte jedoch die Regierung des Kantons Genf darauf aufmerksam, daß die französische Bevölkerung in Genf anhaltend sich mehre, und daß mau genöthigt werden könnte, diesen zahlreichen Angehörigen von Savoyen und Elsaß-Lothringen in einer ausgedehnten Weise (dans une large, mesure) die genferische Nationalität zu gewähren, wodurch neue Schwierigkeiten entstehen könnten, infolge der Prätention der französischen Regierung, die Söhne derselben fortwährend als Franzosen zu behandeln und sie als solche der Konskription zu unterstellen. Die Regierung von Genf machte deßhalb die Anregung, es möchten die Verhandlungen über diesen Gegenstand wieder aufgenommen werden.

Da zu jener Zeit die französische Nationalversammlung gerade die neue Militärorganisation in Behandlung hatte, und bei diesem Anlasse eine entsprechende Modifikation der Gesezgebung möglich schien, so zögerte der Bundesrath nicht, abermals entsprechende Schritte bei der französischen Regierung zu thun. Es konnte sich zwar fragen, in welcher Richtung dieses geschehen soll, ob im Sinne einer materiellen Lösung nach den vom Bundesrathe im Jahr 1863 schon gemachten Vorschlägen (Bundesblatt
1864, Bd. i, S. 335), oder auf dem Wege eines modus vivendi, wodurch forme 1 der französischen Regierung am wenigsten zugemuthet und doch dem praktischen Bedürfnisse genügt würde. Es wurde die leztere

Alternative gewählt, in der Hoffnung, die französische Republik dürfte endlich einem so billigen Begehren geneigtes Gehör schenken.

Der erstere Vorschlag beruht auf dem Prinzipe, daß in Fällen von Doppelbürgerrechten nur derjenige Staat das Recht auf den Militärdienst oder auf den Bezug der bezüglichen Steuern der betreffenden Person haben sollte, in welchem diese Person, wann sie in das militärpflichtige Alter tritt, ihr gese/liches Domizil hat, oder, falls sie in einem dritten Staate wohnen würde, das leztc Domizil, gehabt hat. Dadurch würde allerdings den so häufigen Konflikten am sichersten abgeholfen sein. Allein Frankreich prätendirt beharrlich, daß, wer als Franzose geboren ist, j e d e n f a l l s in Frankreich militärpflichtig sei, und will keinerlei Rüksicht nehmen auf die Rechte eines andern Staates, in welchem das nämliche Individuum auch Bürger geworden ist, und es werden konnte, selbst nach dem klaren Wortlaute des Code Napoléon. Beide Staaten sind aber, vermöge des Grundsazes der Parität, gleichberechtigt, sowohl dem betreffenden Bürger gegenüber, als auch gegen einander.

Es fragte sich deßhalb, ob eine Form gefunden werden könne, in welcher diese Gleichberechtigung unangetastet bleiben und doch eine Lösung des Konfliktes erzielt würde. Dieser Zwek schien erreichbar, wenn nur der Zeitpunkt, in weichern das Recht des einen oder andern Staates praktisch wirksam werden sollte, etwas hinausgeschoben würde, damit auch das Recht des betreffenden Individuums, bei Eintritt seiner Majorenuität für den einen oder andern Staat zu optiren, geschüzt bleibe. Nach der französischen Gesezgcbung tritt nämlich die Militärpflicht mit dem 20. Altersjahre ein, die Majorennität aber erst mit dem 21. Altersjahre ; das Recht zu einer gültigen Option dagegen wird nur dem majorennen Bürger während der Dauer des 21. Altersjahres zugestanden.

Es schien also die Lösung des Konfliktes am einfachsten erreicht werden zu können, wenn Frankreich diese beiden Termine verschmelzen und den Eintritt der Militärpflicht solcher Individuen, die in beiden Staaten Bürger sind, auf denjenigen Zeitpunkt hinausschieben würde, an welchem diese Individuen majorenn geworden und für Frankreich optirt haben, Herr Minister Kern erhielt daher in diesem Sinne neue Instruktionen; eine definitive Antwort ist jedoch von Seite der
französischen Regierung noch nicht erfolgt.

Im Uebrigen wurde der früher gestellte Antrag keineswegs gänzlich fallen gelassen, vielmehr wurde Hr. Kern eingeladen, jenen im geeignet scheinenden Zeitpunkte aufzunehmen und überhaupt dieser Angelegenheit seine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden, damit sie in der einen oder andern Art ihre definitive Lösung erhalte.

Im Weitern wurden im Laufe des Jahres 1872 noch zwei Spezialfälle mit Frankreich verhandelt, wovon jedoch nur der eine unter die Fälle der oben erwähnten Art zählt. Der andere Fall betrifft den in Frankreich gebornen Sohn eines ebenfalls in Frankreich gebornen Schweizers (Hr. Imer), auf welchen der Art. 9 des Code Napoléon und die zwei bezüglichen Spezialgeseze von 1849 und 1851 angewendet werden wollen, indem die von dem Sohne gegebene Erklärung, daß er Schweizer .bleiben wolle, nicht als gültig anerkannt wird, weil er nach der französischen Gesezgebung noch nicht majorenn gewesen, als er jene Erklärung unterzeichnet habe.

Die Nothwendigkeit einer definitiven Regulirung dieser Angelegenheit ergibt sich übrigens aus dem Umstände, daß von Neujahr 1873 bis zur Redaktion dieses Berichtes 35 neue Reklamationen bei der französischen Regierung eingeleitet werden mußten, bei welchen Anlässsen natürlich immer auch die prinzipielle Frage in Erinnerung gebracht und zur beförderlichen Lösung empfohlen wurde. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß große Schwierigkeiten bestehen, indem es sich nicht bloß um eine Modifikation der Ansichten der Regierung und der Kriegsvcrwaltung handelt, sondern auch um eine Aenderung der Praxis der Gerichte, die in solchen Fällen zu entscheiden haben.

14. Gegenüber Italien wurden im Laufe des Jahres 1872 drei Reklamationen ähnlicher Art anhängig gemacht, wovon die eine im gewünschten Sinne ihre Erledigung fand. Die zwei andern ·dagegen sind noch pendent. Es wäre zu wünschen, daß die in Italien gebornen Söhne von Schweizern aufmerksamer die Vorschriften von Art. 4 des Vertrages mit Italien über die Niederlassungsverhältnisse vom 22. Juli 1868 (Offiz. Sml. Bd. IX, S. 624) und von Art. 8 und Art. 323 des italienischen Zivilgesezbuches beobachten und rechtzeitig diejenigen Sehritte thun würden, die nur von ihnen persönlich gethan und nicht durch diplomatische Intervention ersezt werden können.

15. Der Italiener T r a v e r s o verlangte bei dem Staatsrathe des Kantons Waadt die Bewilligung zur V o l l z i e h u n g eines rechtskräftigen i t a l i e n i s c h e n Zivilurtheiles. Die Behörden des Kantons Waadt verlangten daher, es möchte der Bundesrath eine Erklärung der italienischen Regierung auswirken, dahin gehend, daß in Italien bezüglich der Vollziehung rechtskräftiger
Zivilurtheile von kompetenten schweizerichen Gerichten Reziprozität werde beobachtet werden. Diesem Begehren wurde nicht entsprochen, weil es Sache der interessirten Partei sei, den Beweis zu führen, daß in ihrem Heimatstaate in solchen Fällen Reziprozität geübt werde.

8 lin Ue.brigen wurde au Art. 941 und folgende des neuen italienischen Zivilprozeßgesezes, in Kraft seit 1. Januar 1866, verwiesen, wonach unter Beobachtung verschiedener dort angegebener Vorschriften die Urtheile fremder Gerichte in Italien zur Vollziehung kommen können.

16. Ein Konflikt zwischen dem K a n t o n W a a d t und Eng1 & n d , betreffend das von ersterm beanspruchte Recht zum Bezüge dei- Erbschaftssteuer von dem ganzen Vermögen einer längere Zeit im Kanton Waadt wohnhaft gewesenen und dort verstorbenen Miss E n g l a n d veranlaßte vielfache Verhandlungen. Er wurde indeß.

gütlich beigelegt, nachdem zwischen Waadt und der britischen Regierung diejenige Uebereinkunft betreffend den gegenseitigen Bezug von Erbschafts- und Vermächtnißsteuern zu Stande gekommen, welche im Berichte des politischen Departements erwähnt und in der Offiziellen Sammlung Bd. IX, S. 1011 abgedrukt ist.

17. Die im lezten Geschäftsberichte erwähnten Verhandlungen beireffend die Aufhebung der von Frankreich infolge des Krieges mit Deutschland wieder eingeführten P ä s s e und V i s a g e b ü h r e n wurden im Laufe des Jahres 1872 mit dem der Sache angemessenen Eifer fortgcsezt. Sie hatten jedoch noch nicht dasjenige Resultat, worauf die Schweiz nach der in Vertragsform ausgestellten Erklärung betreffend die Reisepässe, vom 30. Juni 1864, gerechten Anspruch hat, insbesondere seit Frankreich im April 1872 aus eigenem Antrieb sich veranlaßt sah, die Pässe gegenüber von England und Belgien vollständig aufzuheben, denn nach Inhalt jener" Erklärung ist hiermit für die Schweiz das Recht erwachsen, die gleiche Behandlung, wie die beiden genannten Staaten, zu verlangen. Allerdings wurde erreicht, daß mit dem 1. Juli 1872 wenigstens die Visagebühren aufgehoben wurden (Bundesbl. 1872, Bd. II, S. 702 und 812; Bd. III, S. 164); die Pässe dagegen blieben, ungeachtet aus den Verhandlungen des Jahres 1866 nachgewiesen wurde, daß die Schweiz die in der Erklärung von 1864 enthaltenen Voraussezungen in ausgedehntem Maße erfüllt, und daß die damalige kaiserliche Regierung dieses unumwunden anerkannt habe, während nun die republikanische Regierung Zweifel zu erheben und die Aufenthaltsgebühren neuerdings in den Kreis der Unterhandlungen zu ziehen suchte. Dieser Versuch wurde indeß entschieden zurükgewiesen als schon lange im Sinne
der Wünsche der französischen Regierung erledigt.

Daneben wurde zur Rechtfertigung der Notwendigkeit der Pässe auch auf die Anwesenheit von französischen Kommunarden in Genf hingewiesen, obschon keinerlei Thatsachen mitgetheilt werden konnten, welche ein größeres Mißtrauen gegen jene Freni-

den in der Schweiz rechtfertigen würden, als es bei der französischen Regierung besteht gegenüber England und Belgien bezüglich der in diesen beiden Staaten lebenden zahlreichem Kommunarden.

Es wurden überhaupt diesfalls gar keine Reklamationen gemacht.

Gleichwohl versäumte der Bundesrath nicht, seine Bereitwilligkeit zu erklären, jede vermeintliche Säumuiß von Seite der Genfer Polizei zu untersuchen und von sich aus auf Abhülfe Bedacht zu nehmen.

Im weitem Verlauf dei- Verhandlungen wurde zwar allerdings die Aufhebung der Pässe in Aussicht gestellt, aber im Austausche damit die Einführung von Paßkarten angeregt, welche ein Jahr gültig sein, von der Lokalbehörde am Wohnorte des schweizerischen Reisenden ausgestellt werden und dessen Tauf- und Geschleehtsnamen, sein Alter, seinen Geburtsort und Beruf, sowie die gehörig legalisirte Unterschrift des Inhabers enthalten sollten.

Der Bundesrath konnte sieh jedoch nicht entschließen, auf das System von Paßkarten einzutreten und zwar sowohl aus formellen, wie aus materiellen Gründen.

In formeller Beziehung würde darin eine Modifikation des auf die Pässe bezüglichen Schlußprotokolles zu dem Vertrage vom 30. Juni 1804 gefunden werden können. Wenn die Paßkarten der Art erweitert würden, daß sie die Pässe vollkommen zu ersezen vermöchten, so würde der praktische Werth jenes Protokolles verschwinden. Dieses Protokoll hat aber gleiche Kraft, wie der Vertrag, zu dem es gehört, und ist auch in gleicher Weise durch die schweizerische Bundesversammlung genehmigt worden. Der Bundesrath konnte sich daher nicht als kompetent betrachten, einen Theil jenes Vertrages aufzugeben. Er hätte auch diese Modifikation um so weniger der Bundesversammlung empfehlen können, als im Jahr 1864 die Aussicht auf Befreiung des persönlichen Verkehres zwischen der Schweiz und Frankreich von allen lästigen Formalitäten ein wesentliches Motiv für die Annahme der damals vereinbarten Verträge von Seite der Schweiz gebildet hat. Es mußte vielmehr daran festgehalten werden, daß durch die gegenseitige Vereinbarung vom Jahr 1864 der Schweiz p r i n c i p i e l l die Aufhebung der Pässe (also auch jeder andern Legitimation) und die Gleichstellung mit England und Belgien zugesichert sei, und daß wenn Frankreich aus politischen Gründen hicvon abgehen zu sollen glaube, dieses nur v o r ü b e r
g e h e n d geschehen dürfe, so daß die Schweiz, welche ihrerseits die Voraussezung jener Vereinbarung erfüllt hat, berechtigt sei, die beförderlichste Aufhebung dieser vorübergehenden Maßregel zu verlangen.

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In materieller Beziehung konnte auch darum auf die Einfuhrung von Paßkarten nicht eingetreten werden, weil damit wesentlich die gleichen Kalamitäten fortgesezt würden, die mit den Pässen verbunden sind, zumal bei dem Bestreben der französischen Grenzpolizei, jedes kleine Versehen oder jeden untergeordneten Mangel in einer Legitimation als verdächtig für den Inhaber zu behandeln. Ferner würde die Einführung von Paßkarten so ziemlich identisch sein mit der Anerkennung der Notwendigkeit einer Legitimation für alle Zeiten hin. Endlich würde mit den Paßkarten keinerlei erhebliche Erleichterung erzielt, da die vorgeschlagene Form zu komplizirt und darum auch zu verschiedenartigen Plakereien geeignet wäre.

Es ist oben erwähnt worden, daß gegenüber England und Belgien die Pässe im April 1872 wieder aufgehoben worden seien.

Dies geschah indeß nur in der Weise, daß die Angehörigen dieser beiden Staaten noch genöthigt sind, den französischen Grenzbeamten ihre Namen und Nationalität anzugeben. In zweifelhaften Fällen können Icztere den Nachweis der Nationalität verlangen, was jedoch selten geschehen soll.

Da Frankreich gegenüber Deutschland die Pässe noch festhielt, so führte sie auch Deutschland ein, jedoch nur für die Franzosen und nur auf der elsnß-lothringenschen Grenze, indem es auch gleichzeitig das obligatorische Visum vorschrieb und die entsprechenden Taxen forderte. Diese Maßregel führte mit dem 1. Januar 1873 zur gegenseitigen Aufhebung aller Paßformalitäten.

Es versteht sich von selbst, daß die gerechten Begehren der Schweiz für gänzliche Aufhebung der Legitimationsvorschriften auch fernerhin nachdrüklich bei der französischen Regierung geltend gemacht werden.

18. Als einer auffallenden Erscheinung muß hier noch die Thatsache erwähnt werden, daß die französischen Gerichte in Zivilprozessen mehr und mehr wieder vorgehen,. als ob der Vertrag über die zivilrechtlichen Verhältnisse zwischen · der Schweiz und Frankreich vorn 15. Juni 1869 nicht bestünde. Es wurde in sechs Fällen die Intervention des Bundesrathes angerufen zum Schuze des vertragsmäßigen Gerichtsstandes. Er sah sich deßhalb veranlaßt, die französische Regierung auf diese den schweizerischen Beklagten im höchsten Grade nachtheilige Erscheinung aufmerksam zu machen und zu verlangen, daß den französischen Gerichten die genauere Beobachtung des Vertrages anbefohlen werde.

Auf der andern Seite muß aber auch darauf aufmerksam gemacht werden, daß die schweizerischen Beklagten sich nicht bloß

11 auf die Rüksendung der Zitation vor ein nach ihrer Ansicht inkompetentes französisches Gericht beschränken, sondern unter allen Umständen so schnell als möglich und bevor ein Kontumazurtheil gefällt wird, die im Schlußprotokoll zu jenem Vertrage (Art. 11) gegebene Anleitung befolgen sollten.

III.

Mitwirkung zur Bundesreehtspflege.

Der im lezten Berichte erwähnte Konflikt zwischen den Kantonen A a r g au und B e r n ist dadurch erledigt worden, daß Bern die Kompetenz des Bundesgerichtes zum Entscheid über das Heimatrecht des Kindes Zaugg anerkannte.

B. Justiz.

I. Allgemeines und Statistik.

Wie wir in unserm Berichte pro 1871 angegeben haben, blieben am Schlüsse desselben Jahres 19 Rekurse pendent. Während des Jahres 1872 sind 154 neue Rekurse eingegangen, so daß im Ganzen 173 zu behandeln waren. Davon wurden 153 erledigt und 20 waren am 31. Dezember 1872 noch hängig, und zwar befanden sich diese lezterri in. ihrer Mehrzahl noch bei den betreffenden Kantonen zur Beantwortung.

Bei der Gesammtzahl der 173 Rekurse waren vorzugsweise folgende Kantone betheiligt: Freiburg mit 17, Waadt mit 13, Baselland mit 12, Luzern mit 11, Bern und Aargau mit je 10, Zürich, Solothurn, Graubünden und Wallis mit je 9, Uri, Baselstadt, St. Gallen und Genf mit je 8, Neuenburg mit 7, Thurgau mit 6, Appenzell A. Rh. und Tessin mit je 4, Obwalden mit 3, Nidwaiden, Schaffhausen, Schwyz und Zug mit je 2. Mit Ausnahme von Glarus und Appenzell I. Rh. waren alle Kantone betheiligt.

36 19 16 15

Dem Objekte nach bezogen sich diese Rekurse: auf Gerichtsstandsfragen.

,, Niederlassungsverhältnisse.

,, Eheverweigerung, wovon 7 gemischte Ehen.

,, das Stimmrecht in eidgenössischen, kantonalen und Gemeindeangelegenheiten.

12 14 auf Rechtsverweigerung in Zivil- und Strafsachen.

12 ,, Verlezung verfassungsmässiger Rechte.

10 ,, Rükhaltung der Lcgitimationsschriften durch Behörden des Heimat- und Wohnortes.

10 n Steuerverhältnisse.

6 ,, vormundschaftliche Verhältnisse.

4 ,, Vollzug von Ziyilurtheilen. -- Die übrigen Beschwerden bezogen sich auf sehr verschiedenartige zum Theil unklare oder nicht leicht bestimmbare Verhältnisse.

Die eidgenössischen Räthe hatten sich im Jahre 1872 mit 32 Beschwerden und Rekursen zu befassen (1871: 19). Von jenen 32 wurden 26 erledigt und 6 blieben pendent. Von den erledigten Rekursen wurden 21 abgewiesen, 3 begründet erklärt und 2 zurükgezogen.

Bezüglich der vom Bundesrathe behandelten Beschwerden und Rekursen ergibt sich das weitere Detail aus folgender Uebersicht:

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Kantone.

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Zürich . . . .

Bern . . . .

Luzern . . . .

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Schwyz Obwaldeu Kidwaiden . .

Zu».

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"o Freiburg . . .

Solothuru .

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Basel-Landschaft Schaffhausen . .

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St. Gallen . . .

Graubünden .

Aargau . . .

Thurgau . . .

Tessin . . . .

Waadt . . . .

Wallis . . . .

Neuenburg Genf . . . .

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II. Entscheide über Anwendung der Bundesverfassung.

1. Rechtsverweigerung.

1. Der hieher gehörige Entscheid in Sachen Paul E g g m a n n und Konsorten in Basel ist durch den Bericht des Bundesrathes (Bundesblatt 1872, Bd. I., S, 209) und durch den Bericht der ständeräthlichen Kommission (S. 762) bekannt. Die Beschwerde wurde abgewiesen.

2. Niederlassungsverhältnisse.

2. Christian Michel, von Bümptitz, Kts. Bern, Knecht dea Jean Louis Gorjat in Grandvaux, Kts. Waadt, beschwerte sich, daß er durch Urtheile des Bezirksgerichtes Lavaux und des Kassationsgerichtes des Kantons Waadt in Anwendung eines Gcsezes betreffend die Dienstboten vom 13. Mai 1825 zu einer Buße verurtheilt worden war, verbunden mit dem Verbote, während drei Monaten in Grandvaux in einen neuen Dienst zu treten, weil er einen frühern Dienstherrn verlassen und den Dienst bei Gorjat angetreten habe, ohne dem erstem in gehöriger Weise zu kündigen und dem leztern ein Entlassungszeugniß zu präsentiren. Es liege hierin eine Beeinträchtigung des Niederlassungsrechtes, zumal nicht eine Strafsache im Sinne von Art. 41, Ziff. 6 der Bundesverfassung vorliege.

Die Beschwerde wurde am 9. August 1872 aus folgenden Gründen abgewiesen: 1) Dem Rekurrenten wird durch die in Frage liegenden Urtheile der fernere Aufenthalt weder im Kanton Waadt überhaupt, noch in irgend einer Gemeinde dieses Kantons untersagt, vielmehr steht es ihm frei, seinen Wohnsiz in Grandvaux auch ferner beizubehalten. Es kann daher von Verlezung des Art. 41, Ziff. 6 der Bundesverfassung keine Rede sein, weil überhaupt keine Wegwcisung verfügt wurde.

2) Es liegt einzig in Frage, ob die polizeiliche Verordnung, wonach einem Dienstboten, der einen eingegangenen Dienstvertrag bricht, untersagt werden könne, während einer gewissen Zeitfrist in der gleichen Gemeinde in einen andern Dienst zu treten, -- mit den eidgenössischen Vorschriften im Widerspruch stehe. Es bestehen aber keine Vorschriften, nach welchen solche Polizeiverordnungen der Kantone als unzulässig -zu betrachten sind.

3. Der Rekurs des Franzosen Peter Massen gegen seine Ausweisung aus dem Kanton Genf wurde behandelt wie derjenige

15 eines Schweizers, und er machte auch von der Berufung an die Bundesversammlung Gebrauch. Er wurde indeß aus materiellen Gründen überall abgewiesen. Bundesblatt 1872, Bd. IL, S. 557 und 989.

3. S t e u e r r e c h t .

4. Hr. Eugen von Erlach, Bürger von Bern und Neuenburg, hatte bis 1862 mit seiner Familie den Wohnsiz in der Stadt Neuenburg. Gegen Ende des erwähnten Jahres verlegte er seinen Wohnsiz nach Gerzensee, Kts. Bern, und gab den Lokalbehörden von Neuenburg hievon Kenntniß. Ende März 1863 verfiel jedoch Hr. von Erlach in Geisteskrankheit und wurde in die Irrenanstalt zu Préfargier, Kts. Neuenburg, gebracht, während die Ober-Waisenkaminer der Stadt Bern ihm einen Vormund bestellte. Seither verbrachte die Familie vou Erlach den Sommer auf dem Schlosse Gerzensee, den Winter in der Stadt Neuenburg. Im Oktober 1866 starb Hr. v. Erlach zu Préfargier; die Witwe v. Erlach starb im Mai 1970 zu Neuenburg. Bis zum Tode des erstem wurden die Vermögens- und Einkommensteuern von dem Vormunde in der Stadt Bern entrichtet und dasselbe that später die Witwe von Erlach bis zu ihrem Tode.

Dessau ungeachtet wurde Hr. von Erlach im Jahre 1863 zur Bezahlung der gleichen Steuern auch in Neuenburg aufgefordert.

Sie wurde jedoch verweigert und die Zentralsteuerkommission erklärte diese Weigerung als begründet. Dennoch wurde die Forderung später immer erneuert, aber auch regelmässig mit einer Protestation beantwortet. Ein definitiver Entscheid von Seite des Staatsrathes erfolgte erst am 25. August 1871, womit die Familie von Erlach, gestüzt auf Art. 4 des Gesezes über die direkten Steuern im Kanton Neuenburg, in diesem Kanton als steuerpflichtig erklärt wurde.

Gegen diesen Beschluß rekurrirten die Erben der Witwe von Erlach an den Bundesrath. Sie anerkannten, daß ihre im Kanton Neuenburg befindlichen Liegenschaften dort steuerpflichtig seien.

Die Steuer vom beweglichen Vermögen " und vorn Einkommen glauben sie nur am Wohnorte bezahlen zu müssen. Der regelmässige Wohnsiz der Familie sei aber im Kanton Bern, seit Hr.

von Erlach die Verlegung seines Dorniziles in diesen Kanton angezeigt habe.

Der Bundesrath erklärte am 30. August 1872 diesen Rekurs als begründet, gestüzt auf folgende Motive: 1) Eine direkte Doppelbesteuerung der nämlichen Person für die gleichen Vermögensobjekte ist nach vielfachen Entscheiden der Bun-

16 desversammlung unzulässig. Vermöge dieses Grundsazes kann daher die Familie von Erlach nicht angehalten werden, in zwei Kantonen die Jahressteuer vom Vermögen und Einkommen zu bezahlen.

2) Da aber die Familie von Erlach zwei Wohnsize hatte, und einen Theil des Jahres im Kanton Neuenburg, den andern im Kanton Bern zubrachte, so ist jedem dieser beiden Kantone das Recht erwachsen, den Steuerpflichtigen für diejenige Zeit in Besteuerung zu ziehen, während welcher er unter der betreffenden Steuerhoheit wohnte. Die Frage, wo der Vormund gewohnt habe, ist ohne Bedeutung, weil nicht dieser, sondern das Vermögen der Familie von Erlach in Betracht fällt (vide Entscheid des Bundesrathes in Sachen der Witwe Röthlisberger, Geschäftsbericht pro 1869, und in Sachen des Hrn. von May, Geschäftsbericht pro 1871).

3) Dagegen ist klar, daß solche Steuerreklamationen in nüzlicher Frist geltend zu machen sind, ansonsten im Steuerwesen eine Rechtsunsicherheit eintreten müsste, welche nicht nur die betreffenden Privaten schädigen, sondern dem Staate und den Gemeinden große Verlegenheiten bereiten könnte.

4) Aus den Akten ergibt sich, daß während mehreren Jahren der Familie von Erlach die Steueraufforderungen in Neuenburg zwar zugestellt, von derselben aber jeweilen bestritten wurden, und daß selbst die Zentral-Steuerkommission diese Reklamation für begründet fand. Es ist daher begreiflich, daß die Familie von Erlach die ganze Jahressteuer in Bern bezahlte, was sie nicht gethan haben würde, wenn Neuenburg auf das gleiche Vermögen ernstlich eine Steuerreklamation pro rata des Aufenthaltes in Neuenburg zur Geltung gebracht hätte.

5) Der angefochtene Entscheid des Staatsrathes von Neuenburg datirt aber erst vom 25. August 1871, während Frau von Erlach schon mehr als ein Jahr vorher gestorben und die lezte Steuer pro 1870 schon längst in bisheriger Weise entrichtet war. Das Steuergesez des Kantons Neuenburg schreibt jedoch vor, daß Reklamationen gegen auferlegte Steuern in demselben Steuerjahr behandelt und entschieden werden müssen, damit ohne weitere Zögerung festgestellt wird, ob und in wie weit ein Bürger der neuenburgischen Steuerhoheit unterworfen sei, oder derjenigen eines andern Kantons.

6) Unter diesen umständen kann dem Kanton Bern nicht zugemuthet werden, längst bezogene Steuern wieder zurükzuerstatten.
Um eine solche Zurükerstattung würde es sich aber in Wirklichkeit handeln, wenn der Beschluß der Regierung von Neuenburg bestehen bliebe, da die Familie von Erlach eine Doppelbesteuerung sich nicht gefallen zu lassen braucht.

17

5. Der im lezten Geschäftsbericht (Bundesblatt 1872, Bd. II, 8. 482) erwähnte Rekurs des Hrn. Julius Wyler gegen seine doppelte Besteuerung in den Kantonen Luzern und Aargau ist an die Bundesversammlung gezogen und von dieser begründet erklärt worden. Bundesblatt 1872, Bd. H, S. 709 und 989, Bd. III,s.. 27, 31 und 35.

4. A r r e s t .

6. Der im Bundesblatt 1872, Bd. III, S. 781 gedrukte Entscheid in Sachen Stephan Krieg von Schübelbach, Kts. Schwyz, wurde von der Bundesversammlung am 23. Dezember 1872 bestätigt.

7. Hier wird auch der bei der Bundesversammlung noch pendente Rekurs der Vormundschaftsbehörde N i e d e r u r n e n und der Konkursmassa dea Wilhelm Scheu daselbst noch zitirt. Die bezüglichen Akten sind gedrukt im Bundesblatt 1872, Bd. II, S. 572 und 839. Bd. III, S. 805.

5. G e r i c h t s s t a n d , a. Gerichtsstand des Wohnortes.

8. Hieher gehören folgende, durch die Weiterziehung an die, Bundesversammlung bereits bekannte Entscheide: a. in Sachen des Hrn. Paul Foffa in Fornasette, Tessin, Bundesblatt 1872, Bd. II, S. 580. Wurde im Dezember 1872 von der Bundesversammlung zur Vervollständigung der Akten an den Bundesrath zurükgewiesen, aber seither durch Anerkennung des schwyzerischen Gerichtsstandes erledigt.

b. in Sachen der Frau Elise M ü l l e r geb. Nigg in Rorschach, Bundesblatt 1872, Bd. III, S. 237. Dieser Entscheid ist in Rechtskraft erwachsen, indem der Rekurs an die Bundesversammlung zurukgezogen wurde.

c. in Sachen Tobias S c h i n i d h e i n e und Baptist Rustaller.

Bundesblatt 1872, Bd.III,, S. 233. Der Rekurs des Rustaller gegen diesen Entscheid wurde von der Bundesversammlung abgewiesen.

d. in Sachen der Société des C h a r b o n n a g e s et HautsF o u r n e a u x du Valais. Bundesblatt 1872, Bd. III, S. 525.

Die Bundesversammlung bestätigte diesen Entscheid.

e. der Rekurs des Hrn. Rudolf von Bergen (Bundesblatt 1872, Bd. II, S. 713), welcher durch Rükzug seine Erledigung fand, und endlich Bundesblatt. Jahrg.XXV. Bd.II.

2

18 f. der Rekurs des Hrn. H. H. Jansen in Hamburg, welcher im lezten Geschäftsbericht unter Nr. 13 aufgeführt ist und auch von der Bundesversammlung als unbegründet abgewiesen wurde.

Bundesblatt 1872, Bd. ÏI, S. 485, 821. Bd. III, S. 132,198.

9. Gegen Peter Binz, Arbeiter in der Uhrenfabrik zu Münster, Kts. Bern, wurde bei dem Gerichtspräsidenten dieses Ortes eine Forderung für gelieferte Waaren eingeklagt. Binz bestritt die Kompetenz des bernischen Gerichtsstandes, weil er seinen festen Wohnsiz im Kanton Solothurn habe, indem er in Welschenrohr (Kts. Solothurn) die Niederlassung besize, dort eine eigene Haushaltung führe und dort auch jeweilen den Sonntag und Montag bei seiner Familie zubringe. Der Gerichtspräsident erklärte sich jedoch für zuständig und verurtheilte Binz zur Bezahlung des eingeklagten Betrages.

Der gegen dieses Urtheil ergriffene Rekurs wurde vom Bundesrath unterm 17. Juni 1872 begründet erklärt, gestüzt auf folgende Gesichtspunkte : 1) Rekurrent hat unbestritten seinen Wohnsiz in Welschenrohr.

Dort ist er förmlich niedergelassen, dort wohnt auch ununterbrochen seine Familie, mit welcher er in gemeinschaftlicher Haushaltung lebt und welcher er als Familienvater vorsteht.

2) Wenn dagegen behauptet wird, er habe noch ein zweites Domizil in Münster, so ist es allerdings richtig, daß er den größten Theil der Woche dort zubringt. Hieraus folgt aber nicht, daß dadurch in rechtlicher Beziehung für ihn ein Forum begründet werde, vor welchem er für persönliche Ansprachen belangt werden könnte.

3) Es ergibt sich nämlich aus den thatsächlichen Verhältmissen, daß er dort kein selbstständiges Gewerbe treibt, sondern als Fabrikarbeiter im Lohn arbeitet, und nur wegen weiter Entfernung von seiner Wohnung während der Wochentage am Abend nicht nach Hause zurükkehrt, sondern am Arbeitsort für diese Tage Kost und Logis nimmt, wie dieses bei Arbeitern häufig der Fall ist. Daß er in Münster für seinen Verdienst auf die Steuerkontrole gestellt wurde, ändert an der Gerichtsstandsfrage nichts.

4) Rekurrent hat auch in der Audienz vor Gerichtspräsident am 22. April 1872 die Einrede des unrichtigen Forums geltend gemacht und keineswegs freiwillig den Gerichtsstand anerkannt.

Wenn er aber nach Verwerfung dieser forideklinatorischen Einrede in der gleichen Audienz auch in der Hauptsache seine
Vertheidigungsgründe anbrachte, so liegt darin noch keineswegs eine Unterwerfung unter den bernischen Gerichtsstand, zumal er sich auf den materiellen Streitgegenstand gar nicht hätte einlassen müssen.

19 l. Gerichtsstand des Vertrages.

10. Hieher gehört der Rekurs des Franzosen S. B. Bernard für sieh und Namens des Handelshauses Dord
S. 37. 42 und 222.).

c. Gerichtsstand in Ehesachen.

11. Paul Maria Pera, wohnhaft in Monthey, Kautons Wallis, beschwerte sich, daß der Bischof von Sitten mittelst Kontumazurtheil die Trennung seiner Ehe mit Rosalia geb. Reynold ausgesprochen und zugleich auch über die ökonomischen Folgen geurtheilt; habe. Er sei Italiener und könne den Gerichtsstand des Bischofs von. Sitten um so weniger anerkennen, "als seine Ehe nicht im Kanton Wallis, sondern in Piémont eingesegnet worden sei.

Aus den von der Regierung von Waliis eingesandten Akten ergab es sich jedoch, daß Pera schon seit langer Zeit im Kanton Wallis wohnte, Bürger der Gemeinde Colombey-Muraz wurde und im Jahr 1849 die. Naturalisation im Kant ou Wallis erhielt.

Der Bundesrath fand daher, daß unter solchen Umständen der Gerichtsstand für Behandlung der Ehescheidung zwischen dem Rekurrenten und seiner Frau im Kauton Wallis sei, und wies am 14. Juni 1872 den Rekurs als unbegründet ab.

12. Rudolf Gallmann von Maseli wände n, Kantons Zürich, beschwerte sich wie folgt : Er sei mit einer katholischen Freiburgerin verheirathet und habe bis in die neueste Zeit mit seiner Familie in Romont Kantons Freiburg, gelebt. In Folge religiöser Umtriebe der dortigen Geistlichkeit in seiner Familie, habe er sich dann veranlaßt gefunden, seinen Aufenthalt in den Kanton Waadt zu verlegen. Von dort aus habe er seine Frau und Kinder aufgefordert, zu ihm zu kommen. Inzwischen sei er mm vor den bischöflichen Gerichtshof wich Freiburg zitirt worden, um auf eine Scheidungsklage seiner Frau Ani wort zu geben. Da es sich aber um eine gemischte Ehe. handle,, so könne er nach Maßgabe des Bundesgesezes vom 3. Februar 1862 die, Kompetenz dieses Gerichtshofes nicht anerkennen.

I) e erwähnte Vorladung ist von der bischöflichen Kanzlei in Freibung erlassen worden; sie enthält die Androhung, daß im Falle Gallmann nicht erscheinen sollte, in contumaciam vorgegangen

20 würde. Gallmann hat boi der genannten Kanzlei gegen die Vorladung protestirt, und es ist ihm der Empfang des Protestes angezeigt worden mit der Bemerkung, dc.r bischöfliche Hof behalte sich seine Rechte vor, und halte seine Kompetenz in Ehesachen der katholischen Bisthumsangehörigen aufrecht.

Auf den Rekurs gab der Kanzler des Bischofs in Freiburg zu Händen der dortigen Justizdirektion die Erklärung ab, daß der bischöfliche Gerichtshof über die Scheidungsklage der Frau Gallmann kein Urtheil erlassen habe. Die Regierung des Kantons O O Frei bürg war daher der Ansicht, daß der Rekurs eines Gegenstandes entbehre, und sonach von selbst dahinfalle.

Am 1. Juli 1872 erklärte der Bundesrath, daß Galmann allfälliger weiterer Zitation vor das bischöfliche Gericht keine Folge zu leisten habe, und daß ihm, wenn ein Kontumazurtheil gesprochen werden polite, das Recht zur Kassationsbeschwerde bei dem Bundesrathe ausdrüklich gewahrt bleibe. Dieser Entscheid wurde auf folgende Erwägung ge.stüzt: Das Nachtragsgesez betreffend die gemischten Ehen vom 3. Februar 1862 bestimmt ausdrüklich, daß" die Kluge auf Scheidung einer gemischten Ehe vor den bürgerliehen Richter gehöre, und zwar hat entweder das kantonale Gericht, dessen Jurisdiktion der Ehemann in Statusfragen unterworfen ist, oder unter bestimmten Voraussezungen das Bundesgericht zu entscheiden, in keinem Falle aber ein geistliches Gericht.

d. Gerichtsstand des Konkurses.

13. Hieher kann gerechnet werden der bei dar Bundesversammlung noch pendente Rekurs, den die Regierung des Kantons Aargan angehoben hat gegen den bundesräthlichen Beschluß in Sachen des Hrn. Banquier Riggenbach und der Witwe Rigg e n b a c h in Basel. Dieser Beschluß ist gedrukt im Bundesblatt, 1872. Bd. m. S. 914.

14. Charles Aimé V i a t t e betrieb bis zum Juli 1868 gemeinschaftlich mit seiner Ehefrau, Marie Ursule, geb. Biétry, in Pruntrut, Kantons Bern;j ein Fabrikationsgeschäft.. Unterm 17. Juli 1868 ermächtigte e r jedoch seine Frau, i n L a Chaux Rechnung sich zu etabliren, und überließ ihr zu diesem Ende die Hälfte der hausräthlichen Effekten, sowie einen Theil der vorhandenen zum Geschäft nöthigen Gerätschaften. Frau Viatte eröffnete hierauf in La Chaux-de-Fonds ein Atelier und erwarb dort die Niederlassung, während ihr Mann inPruntrutt zurükblieb.

21 Der leztere erhob jedoch schon ini Mai 1871 bei dem Gerichte von La Chaux de. Fonds gegen seine Frau eine Klage, womit er die Rükgake jener Mobilieri und Geräthschaften, sowie einen provisorischen Sequester auf dieselben verlangte. Diese Klage wurde mit Urtheil des Appellationshofes des Kantons Neuenburg vom 8. Dezember 1871 für begründet erklärt, worauf Viatte den Sequester vollzog.

Kurze Zeit nachher erklärte Frau Viatte ihre Insolvenz, AVO" rauf am 13. Januar 1872 der Konkurs über sie eröffnet wurde.

Gegen diese Konkursverfügung beschwerte sieh nun der Ehemann Viatte beim Bundesrathe, indem er geltend machte, daß seine Frau mit der Anhebung der Klage und jedenfalls in Folge des Urtheiles vom 8. Dezember 1871 den Charakter einer Handelsfrau verloren, und seither kein selbstständiges Domizil in La Chaux de Fonds mehr gehabt Habe, es habe also dort der Konkurs über dieselbe nicht eröffnet werden können. Sodann werde auch ihm selbst der natürliche Richter entzogen. Er hafte nämlich in Folge der zwischen ihm und seiner Frau bestehenden Gütergemeinschaft für die Schulden der lezten, und wäre, wen» die Konkurserkanntniß bestehen bliebe-, genöthigt, mit den Gläubigern vor den Neuenburgischen Gerichten zu verhandeln, während er im Kanton Bern wohne.

Der Bundesrath wies unterm 10. Juni 1872 die. Beschwerde ab, aus folgenden Gründen: 1) Das Urtheil des Appellationshofes des Kantons Neuenburg vom 8. Dezember 1871 ist für die Frage, ob das Gericht von La Chaux do Fonds zuständig sei, den Konkurs über die Frau Ma.rie Ursule Viatte geb. Biétry zu eröffnen, nicht maßgebend, weil dieses Urtheil nur streitige Rechtsverhältnisse zwischen dem Rekurrenten und seiner Frau beschlägt, ohne daß damals Ansprachen Dritter an die Frau mit in Betracht kamen.

2) Dieses Verhältniß hat sich aber wesentlich geändert, seit Frau Viatte am 9. Januar 1872 sich insolvent erklärte, und das Gericht am 13. gleichen Monates den Konkurs über dieselbe, eröffnete. Wenn ohne dieses neu eingetretene Verhältniß der Rekur rent nach Inhalt des erwähnten Urtheiles berechtigt gewesen wäre, die seiner Frau überlassenen Gegenstände wieder unter seine. Verwaltung zu nehmen, so kann er jezt gegenüber den Kreditoren seiner Frau "dieses Recht nicht mehr beanspruchen, und diese nicht nöthigen, ihre Ansprachen vor seinem Gerichtsstand geltend zu machen.

22 3) Frau Viatte hat mit Zustimmung ihres Mannes im Kanton Neuenburg eine selbständige Niederlassung erworben, und dort als marchande publique auf ihren Namen ein Geschäft eröffnet und betrieben. Sie hatte also dort eine Handelsniederlassung und damit für alle Geschäfte Wohnsiz und Gerichtsstand begründet. Wer sieh mit ihr in Geschäfte einließ, that es unter der stillschweigenden Voraussezung, daß das daselbst geltende Recht auch für ihre geschäftliehen Beziehungen maßgebend sei: wer ihr kreditirte, kreditirte ihr nach neuenburger und nach keinem andern Recht.

4) Die Gläubiger der Frau Viatte haben deßwegen auch ein ganz natürliches Recht, das Maß der Sicherheit, welche ihnen die Schuldnerin bietet, die Garantie, welche ihnen für ihre Forderungen gewährt wird, nach den Gesezen der Handelsniederlassung zu beurtheilen. Das Maß .aller Sicherheit und aller Garantie aber liegt schließlich in den Konkursgesezen, in der Rangordnung der Gläubiger und in der Art und Weise der Distribution der Massa (vide Bericht der Mehrheit der nationalräthlichen Kommission in Sachen Kübler-Troll).

5") Es kann daher einem Gläubiger nicht zugemuthet werden, für seine Anforderung an die Schuldnerin an einem andern Orte Recht zu nehmen, als wo er Kredit gewährte, und wo das Falliment ausgebrochen ist, und zwar im vorliegenden Falle noch um so weniger, weil der Rekurrent seinen frühern Wohnsiz aufgegeben und kein anderes festes Domizil nachgewiesen hat.

e. Gerichtsstand in Erbschaftssachen.

15. Im Juni 1871 starb ohne Nachkommen zu Danis, Kantons Graubünden, ein Remigius Camenzind von Gersau, Kantons Schwyz. Er war viele Jahre als Färber zu Danis niedergelassen, weßhalb seine Verlassenschaft wesentlich aus dort befindlichen Liegenschaften und aus Forderungen aus seinem Geschäfte bestand.

Als Erben traten auf: einerseits ein Bruder vom Vater des Erblassers, Franz Camenzind in Gersau, und andererseits die Nachkommen von vier andern bereits verstorbenen Brüdern des Vaters des Erblassers. Zwischen diesen Erbsprätendenten entstand Streit darüber, ob die Erbstheilung in Gersau und nach dem Rechte des Kantons Schwyz, oder in Danis und nach dem Rechte des Kantons Graubünden, vorzunehmen sei. Das erstere wurde von Franz Kamenzind behauptet, indem er nach schwyzerischem Rechte als nächster Verwandter einziger Erbe geworden wäre; nach graubündnerischem Rechte aber konnten die andern Prätendenten Miterben sein.

22" Einer der leztern, nämlich Joseph Maria Camenzind in Gersaar bewirkte die Aufnahme des Inventars in üanis, Kreis Disentis, und den Aufruf an die Erben zur Geltend machung' ihrer Ansprüche.

Franz Camenzind erhol) jedoch Einsprache und reichte dem Bezirksgerichte Gersau eine Provokatioasklage gegen Jos. Maria Camenzind und Mithafte ein, womit er verlangte, daß die leztern während einer peremptorischen Frist ihre Ansprüche bei dem Gerichte in Gersau geltend zu machen haben. Die Beklagten bestritten jedoch die Kompetenz dieses Gerichtes und das leztere erklärte mit Urtheil vom 28. Oktober 1871 diese Einrede als begründet. Franz Camenzind ließ dieses Urtheil in Rechtskraft erwachsen, bewirkte aber eine Verwendung der Regierung des Kantons Schwyz bei derjenigen des Kantons Graubünden um Ablieferung der Verlassenschaft an den Kanton Schwyz, oder doch eventuell um Gestaltung der Theilung nach schwyzerischen Gesezon, zumal keine Angehörigen des Kantons Graubünden dabei interessirt seien. Die Regierung von Graubünden erklärte sich hißmit einverstanden, insofern die Rechte der Witwe Camenzind nach Maßgabe der Gesezgebung des Kantons Graubünden anerkannt werden. Franz Camenzind war hiezu bereit, allein die übrigen Erbsprätendenten lehnten eine solche Erklärung ab. Sie erhoben vielmehr bei dem Vermittleramt Truus, Kreis Disentis, eine Klage gegen Franz Camenzind, um diesen anzuhalten, sie als Miterben anzuerkennen. Lezterer erhob nun seinerseits die Einrede der Inkompetenz der graubündischen Gerichte, und rekurrirte gleichzeitig an den Bundesrath. Er machte geltend, daß der Kanton Schwyz dem Heimatspriuzipe huldige und aus diesem Grunde dem Konkordate vom 15. Juli 1822 beigetreten sei. Die Verlasseuschaft eines Graubündners, der im Kanton Schwyz gestorben, würde daher nach graubündischen Gesezen behandelt. Der Kanton Schwyz habe aber das Recht zu verlangen, daß seine Angehörigen im Kanton Graubünden gleich behandelt werden. Es gestatte auch Art. 1. Ziff. 4. des privatrechtlichen Gesezbuches des Kantons Graubünden die Ausnahme von dem dort geltenden Territorialprinzip, daß die Erbschaften von Niedergelassenen nach den Gesezen der Heimat der leztern behandelt werden können, wem» diese Geseze es verlangen. Sodana sei der Gerichtsstand des Kantons Schwyz zugleich der Wohnort aller Erbsprätendenten, also auch
der allein praktische und naturgemäße. Endlich spreche die Prävention für diesen Gerichtsstand.

Mit Beschluss vom 18. November 1872 wurde dieser Rekurs abgewiesen, gestüzt auf folgende Gründe:

24 1) Der Bundesrath hat nach Anleitung des Art. 90 Ziff. 2 der Bundesverfassung die Bürger davor zu schüzen, dass sie nicht gegen ihren Willen gezwungen werden, von einem inkompetenten Richter beurtheilt zu werden. Dagegen ist für den Bundesrath keine Veranlassung vorhanden, einem Richter die Kompetenz zur Beurtheilung eines Prozesses aufzudrängen, die er nach seiner Rechtsüberzeugung nicht zu haben glaubt.

2) Hiezu ist um so weniger Veranlassung vorhanden, als der schwyzerische Richter mit vollem Rechte seine Zuständigkeit abgelehnt hat. Für diejenigen Kantone, welche dem Konkordate vom 15. Juli 1822 nicht beigelreten sind, besteht die Berechtigung, über die in ihrem Gebiete vorkommenden Erbfälle nach Maßgabe ihrer Gesezgcbung zu verfügen.

3) Der Kanton Graubünden ist dem genannten Konkordate nicht beigetreten, und somit ist ein Erbstreit über einen auf seinem Gebiete angefallenen und dori, liegenden Nacklaß eines seit vielen Jahren Niedergelassenen auch bei den zuständigen Behörden dieses Kantons auszutragen. Ob bei der Entscheidung nach Vorechrift des Art. 1. Ziff. 4. lit. b. des bürgerlichen Gesezbuches das Gesez des Kantons Graubüuden oder dasjenige des Kantons Schwyz anzuwenden sei, liegt dermalen nicht in Frage, sondern es ist einfach zu bestimmen, vor welchem Forum dieser Erbstreit auszutragen sei, und hiefür ist unzweifelhaft der Gerichtsstand des Kantons Graubünden anzuweisen.

4) Was die Berufung auf das Gegenrecht betrifft, so ist dieselbe ohne alle Bedeutung, seit der Art. 48 der Bundesverfassung die gleiche Behandlung aller Sehweizerbürger in der Gesezgebung und im gerichtlichen Verfahren eingeführt hat.

16. Im Frühjahr 1864 starb VVitwe Regina K r i e g von Schübelbach, Kantons Schwyz. Ihre Hinterlassenschaft wurde im Mai gleichen Jahres in Schübelbach unter ihre Kinder vertheilt. Im folgenden Jahre starb auch einer dieser Erben, nämlich Martin Alois Krieg, der in Basel niedergelassen gewesen war. Dessen Verlassenschaft fiel seinen Geschwistern, also seinen Miterben im Nachlasse der Witwe Krieg, zu. Die Theilung fand ebenfalls in Schübelbach statt; es wurden jedoch 10 Prozente der Buchforderungen zur Dekung allfälliger Verluste und Kosten unvertheilt als Reservefond zurükbehalten.

Bei der Theilung der Verlassenschaft seiner Mutter waren diesem Martin Alois Krieg verschiedene in die Erbschaft gehörige Forderungen an seinen Bruder und Miterben Johann Melchior Krieg

25 als Erbtheil angewiesen worden. Diese Forderungen wurden auch in dem Nachlasse des Martin Alois wieder als Guthaben aufgenommen und unter die Erben vertheilt. Joh. Melchior Krieg behauptete jedoch nachträglich, daß er diese Posten nicht schuldig sei, und verlangte Dekung aus dem erwähnten Reservefond. Sein» Geschwister weigerten sich dessen, worauf er dieselben im September 1871 vor das Bezirksgericht der March, Kantons Schwyz, zitirte zur Verhandlung über das Rechts begehren, daß sie,, als Erben der Mutter Krieg und des Bruders Martin Alois, ihm (Joh.

Melchior) cimai Betrag von Fr. 612. 08 Cts. sammt Zinsen seit 1865 zu bezahlen haben.

Kaspar Alois Bamert in Mosnang, Kantons 8t. Galleu, Ehemann einer Schwester des Klägers, stellte nun beim Bundesrath das Gesuch, es möchte erkannt werden, daß er nicht pflichtig bei, auf diese Klage vor den Gerichten des Kantons Schwyz zu antworten. Es handle sich um eine ac'tio indebiti, also um eine persönliche Klage, welche, soweit sie gegen ihn gerichtet sei, nur vor dem Richter seines Wohnortes geltend gemacht werden könne.

Eventuel könnte nur der Gerichtsstand von Basel, als derjenige des lezten Wohnortes des Martin Alois Krieg, in Frage; kommen.

Der Kläger dagegen machte geltend, seine Klage qualifizire, sich als eine Erbschaftsklage. Die Theilung des Nachlasses des Martin Alois Krieg sei nämlich noch nicht beendigt, da der Reservefond noch unvertheilt sei und die TheilungsVerhandlungen die.

hier nothwendige Genehmigung der Waisenbehörden noch nicht erhalten haben. Gemäß § 14 der Zivilprozeß-Ordnung des Kantons Schwyz können aber Klagen gegen eine Erbsmassa bis zur gänzlichen Beendigung der Theilung vor dem Richter des Erblassers angebracht werden.

Mit Entscheid vom 19. April 1872 wies der Bundesrath den Rekurs ab, Gründe: 1) Die Klage des Johann Melchior Krieg gegen seine Miterben bezieht sich auf Geltendmachung von Erbrechten; sie ist daher keine persönliche Klage im Sinne des Art. 50 der Bundesverfassung.

2) Dieser Charakter der Klage wird dadurch nicht geändert, daß die Verlassenschaft der Witwe Krieg früher gänzlich getheilt wurde, indem die Erbsmassa des Martin Alois Krieg gesezlich noch nicht vollständig liquidirt ist, und die leztere Theilung auf die erste zurükgreift, weßhalb der Kläger seine Geschwister als Miterben beider Verlassenschaften belangt und in einem gewissen Sinne eine Revision der daherigen Verhandlungen anstrebt.

26 3) Der Gerichtsstand von Basel kann schon deßwegen nicht in Frage kommen, weil beide Erbtheilungen im Einverständnis sämmtlicher Erben im Kanton Sohwyz und unter Mitwirkung der dortigen Behörden stattgefunden haben. Eine Bestreitung der Kompetenz der schwyzerisehen Gerichte auf Grundlage des Art. 50 der Bundesverfassung ist daher nicht gerechtfertigt.

17. Im Juni 1871 starb in Hefenhofen, Kantons Thurgau, wo sie in der Familie ihres Stiefvaters wohnhaft gewesen, JgfrLisette Bingesser von Muolen, Kantons St. Gallen. Ihre Verlassenschaft bestand in einigen Mobilien und Kleidern am Wohnorte und in etwelchen Kapitalien am Heimatsorte, wo sie bevogtet war.

Es entstand nun die Frage, nach welchem Geseze diese Verlassenschaft getheilt werden müsse, -ob nach St. Gallischem Rechte, wie das heimatliche Waisenamt, die Mutter und die Stiefgeschwister der Erblasserin prätendirten, oder nach dem Rechte des Kantons Thurgau, wie die Elisabeth Kruger geb. Oswald in Hefenhofen, Geschwisterkind der Erblasserin, glaubte.

Leztere, unterstüzt von der Regierung des Kantons Thurgau, rekuvrirte an den Bundesrath, indem sie sich darauf bezog, daß Lisette Bingesser ihr Domizil im Kanton Thurgau gehabt, und daß die vormundschaftliche Verwaltung im Kanto.n St. Gallen nicht mehr gerechtfertigt gewesen, da die Erblasserin schon mehrere Jahre vor ihrem Tode volljährig geworden sei. In beiden Kantonen gelte aber in Erbschaftssachen das Territorialprinzip und hiernach komme für die Theilung das Recht des Ortes zur Anwendung, an welchem der Erblasser zulezt gewohnt habe.

Dieser Konflikt wurde unterm 22. April 1872 im Sinne folgender Erwägungen entschieden: 1) Der Bundesrath hat in Betreff der Frage, wo und nach welchen Gesezen der Nachlaß eines Verstorbenen getheilt werden soll, in einer Reihe von Entscheidungen an dem Grundsaze festgehalten , daß in Ermanglung abweichender Bestimmungen durch Konkordate der Gerichtsstand begründet sei, in dessen Jurisdiktionskreis die Erbsgegenstände liegen.

2) Es kommt daher nichts darauf an, wo die Lisette Bingesser ihr gesezliches Domizil gehabt, sondern darauf, wo die Hinterlassenschaft liegt. Diese ist, außer einigen unbedeutenden Effekten, im Kanton St. Gallen, wo die von der Verstorbenen hinterlassenen Werthtitel unter der unmittelbaren und ausschließliehen Aufsicht des Waisenanates von Muolen unbeanstandet ver, waltet wurden.

27 3) Waä die an ihrem Wohnorte zurükgelassenen Mobilien und Kleidungsstüke betrifft, so werden die Erbsprätendenten sich über die Theilung derselben, bei dem jedenfalls nicht hohen Werth derselben, wohl freiwillig verständigen können, ansonsten sie die Mitwirkung der thurgauischen kompetenten Ortsbehörden in Anspruch nehmen mögen.

18. Am 25. September 1868 starb in Genf die Handelsfrau Henriette Cuénoud, geb. Monnier, Bürgerin von Genf. Die gesezlichen Erben waren ein Bruder der Erblasserin, und dessen Schwester Emma Cogit geb. Monnier, durch Heirat französische Bürgerin und mit ihrem Ehemanne in Allaman, Kantons Waadt, angesessen.

Diese beiden Erben sehlugen jedoch mit Akt vom 21. April 1869 bei der Gerichtsschreiberei in Genf die Erbschaft aus. .

Mehrere Kreditoren und der Ehemann der Erblasserin fochten jedoch den Verzicht der Frau Cogit an, indem sie behaupteten, daß diese schon vorher über einzelne Theile der Verlassenschaft verfugt und somit die Erbschuft angetreten habe. · Es entstand hierüber bei dem Zivilgerichte des Kantons Genf ein Prozeß, in welchem die Kläger dahin schlössen, daß Frau Cogit als alleinige Erbin der Henriette Cuénoud zu erklären sei.

Frau Cogit bestritt jedoch die Competenz der Genfer Gerichte.

Die Frage, ob sie Erbin sei, bilde den Gegenstand einer persönlichen Klage,,zumal keine Immobilien in der Verlassenschaft liegen.

Gemäß Art. l des zwischen der Schweiz und Frankreich abgeschlossenen Staatsvertrages vom 15. Juni 1869, betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse, können aber persönliche Ansprüche gegen sie nur vor dem Richter ihres Wohnsizes, also im Kanton Waadt, eingeklagt werden. Das Gleiche folge auch aus Art. l des Niederlassungsvertrages mit Frankreich von 1864, wonach ihr der Schuz des Art. 50 der Bundesverfassung zukomme.

Das Zivilgericht von Genf wies diese Einrede ab, indem es davon ausgieng, daß eine Erbschaftsklage vorliege. Die erste und hauptsächlichste der Erbschaftsklagen soi gerade diejenige, welche bezweke zu bestimmen, wer Erbe sei. Also könne über die Natur (1er Klage kein Zweifel walten. Für den Entscheid der Kompetenzfrage sei der Staatsvertrag mit Frankreich vom 15. Juni 1869 maßgebend. Gemäß Art. 5 desselben s seien aber die Erbschaftsklagen bei dem Gerichte des Ortes auszutragen, wo die Erbschaft eröffnet worden. Da nun die Eröffnung der Erbschaft der FrauCuénouii in Genf stattgefunden, so gehöre die fragliche Klage v o r d i e Gerichte dieses Kantons.

Uebrigens habe d i e

'28 in Genf erklärt; es müsse also auch diesem Gerichte zukommen, über den rechtlichen Werth dieses Aktes zu urtheilen.

Frau Cogit hielt jedoch ihren Standpunkt aufrecht und rekurrirte an den Bundesrath. Von der Gegenpartei wurde in Antwort auf diesen Rekurs besonders hervorgehoben, daß die Klage auf Theilung der Erbschaftsmassa gerichtet sei, und daß der Einwand der Frau Cogit, sie sèi nicht Erbin, als eine gewöhnliche Prozeßeinrede sich gestalte, welche von dem zur Hauptsache; zuständigen Richter zu beurtheilen sei. Rüksichtlich der Legitimation zur Klage wurde beigefügt, daß der Ehemann Cuénoud in Folge der ehelichen Gütergemeinschaft, welche zwischen ihm und seiner Frau bestanden, für die von lezterer eingegangenen Schulden ebenfalls verpflichtet worden sei, und daß die Gläubiger gemäß dem Genfer Gesez berechtigt seien, alle Rechte ihres Schuldners selbst zur Geltung zu bringen, also auch mit dem Ehemanne auf Theilung zu klagen.

Der Bundesrath erklärte mit Beschluß vom 26. Januar 1872 den Rekurs für begründet und hob das Urtheil des Zivilgerichtes von Genf auf, gestüzt auf folgende Erwägungen: 1) Vorab ist die rechtliche Natur der Klage festzustellen, weil es davon abhängt, vor welchen Gerichtsstand die Behandlung derselben gehöre.

2) Die Klage, welche gegen Madame Cogit erhoben wird, ist ihrer Natur nach keine Erbschaftsklage, weil sie nicht darauf gerichtet ist, Erbesansprüche der Kläger zur Geltung zu bringen und denselben den Besiz der Erbschaft ganz oder theilweise zu sichern.

ö" Es liegt vielmehr im Streit, ob die beklagte Madame Cogit die Erbschaft angetreten und somit allfällige Verbindlichkeiten derselben zu erfüllen habe, zu welchem Ende sie gerichtlich als,Erbin erklärt werden soll. Der Zwek der Klage geht also in Wirklichkeit dahin, die Madame Cogit verbindlich zu erklären, die Passiven der Erbschaft Cuénoud zu bezahlen.

3) Diese Klage nun ist ihrer Natur nach eine persönliche.

Es kann sich deßhalb nur fragen, ob Madame Cogit durch die Verzichtserklärung auf der Gerichtsschreiberei in Genf den dortigen Gerichtsstand anerkannt habe. Diese Frage muß verneint werden.

Der Verzicht hatte gerade den Zwek, sich der Qualität als Erbin zu entledigen und bei der gerichtlichen Liquidation der Massa unbetheiligt zu bleiben. Will man aber diesen Verzicht als ungültig anfechten, so hat dieses allerdings vorgängig und unabhängig von der Liquidation zu geschehen, woraus aber keineswegs folgt, daß

2!)

der Richter des Ortes, wo die Erbschaft angefallen und wo die Liquidation stattlinden soll, auch darüber zu entscheiden habe, ob ein auswärts Wohnender gezwungen werden könne, gegen seinen ausgesprochenen Willen als Erbe angesehen und behandelt zu werden (vide Ullmer, Nr. 558).

4) Wenn sieh die Parteien weiter darüber streiten, ob Art. \ oder Art. 5 des Staat3Vertrages zwischen der Schweiz und Frankreich vom Jahr 1869 zur Anwendung komme, so ist dieses ein überflüssiger Streit, weil dieser Vertrag überhaupt nicht zur Anwendung kommt. Der Art. l dieses Vertrages bezwekt nur, einerseits die Schweizer gegenüber von Urtheilen der französischen Gerichte und andererseits die Franzosen gegenüber von Urtheilen schweizerischer Gerichte bei ihrem natürlichen Gerichtsstände zu schüzen ; er bezieht sieh also nicht auf Fälle, wo ein Konflikt zwischen Gerichten beider Staaten gar nicht vorkommen kann.

Was den Art. 5 betrifft, so bezieht sich dieser nur auf die internationalen Fälle, wo die Erbschaft eines Franzosen, der in der Schweiz gestorben, oder die Hinterlassenschaft eines Schweizers, der in Frankreich gestorben, in Frage liegt, keineswegs aber auf den Fall der Successionseröffnung eines in der Schweiz gestorbenen Schweizers.

5) Dagegen kann sich Madame Cogit auf den Vertrag vom Jahr 18(54 berufen, welcher den in der Schweiz wohnhaften Franzosen in Bezug auf Personen und Eigenthum die nämliche Behandlung zusichert, wie den Angehörigen anderer Kantone. Die in Art. l dieses Vertrages verlangte Gleichstellung bezieht .sich nicht blos auf Niederlassung und Gewerbsbetrieb, sondern auf die. ganze persönliche Rechtsstellung.

6) Diese Auffassung des Vertrages führt zu der Annahme, daß ein in der Schweiz wohnhafter Franzose auch den Art. 50 der Bundesverfassung für sich in Anspruch nehmen kann. So wenig daher ein in einem andern Kanton wohnhafter Schweizerbürger gezwungen werden könnte, sich vor den Gerichten des Kantons Genf zu stellen, um dort gegen seinen ausgesprochenen Willen darüber zu prozessiren, ob er als Erbe einer verschuldeten Verlassenschaft betrachtet werden könne, ebenso gut kann die im Kanton Waadt niedergelassene Madame Cogit verlangen, daß man sie bei dem Gerichtsstände ihres Wohnsizes belange.

/. Gerichtsstand in Paternitätssachen.

H). Louis Cornuz in Mur, Kts. Waadt, beschwerte sich weil ihm durch Urtheil des Zivilgerichtes des Seebezirkes, Kanton Freiburg, ein von der Henriette Cornuz in Mur gebornes Kind zu

30 gesprochen, und weil er durch das gleiche Urtheil verpflichtet worden war, der Klägerin einen Beitrag an dieKindbettkosten und Alimentationen für das Kind zu befahlen.

Die Ortschaft Mur liegt auf der Grenze zwischen den Kantonen Freiburg und Waadt. Der auf waadtländischer Seite liegende Theil bildet eine besondere Gemeinde; der freiburgische Theil gehört zur Gemeinde Haut-Vuilly. Das erwähnte Urtheil konstatirte nun, daß die Klägerin und der Beklagte in beiden Gemeinden Mur Bürger seien, daß aber die erstere in der freiburgischen Gemeinde, lezterer in der waadtländischen Gemeinde wohne. Das Urtheil verfügte ferner, dass das Kind in die Bürgerregister beider Gemeinden eingeschrieben werden müsse.

Louis Cornuz stüzte seinen Rekurs darauf, daß nach frciburgischer Gesezgebung eine Paternitätsklage gegen einen Nichtkantonsbürger vor freiburgischen Gerichten unzuläßig sei, und daß die Alimentationsklage nach Art. 50 der Bundesverfassung an seinem Wohnorte; angehoben werden müsse. Uebrigens seien auch prozessualische Vorschriften verlezt worden, da er nicht gehörig vorgeladen worden sei.

Die Beschwerde wurde unterm 24. Januar 1872 abgewiesen, gestüzt auf folgende Erwägungen : 1) Sowohl der Rekurrent, als die Geschwächte sind Bürger des Kantons Freiburg. Da Statusfragen vom Gerichtsstande der Heimat zu beurtheilen sind, so steht es den Gerichten des Kantons Freiburg zu, den bürgerlichen Stand des unehelichen Kindes der Henriette Coraux nach den Vorschriften der kantonalen Geseze zu bestimmen.

2) Die Klage der Geschwächten und das gerichtliche Urtheil beschlagen aber nicht allein die Zusprechung des Kindes an den Vater, sondern auch ökonomische Leistungen, zu welchen Rekurrent verurtheilt wurde. Es fragt sich also, ob der im Kanton "Waadt wohnende Beklagte zu verlangen berechtigt sei, dass wenigstens die, Alimentationsklage vor den waadtländischen Richter gebracht werden müsse.

3) Es ist richtig, daß die Alimentations- und Entschädigungsklage aus Paternität persönlicher Natur ist. Insoweit also Ansprüche solcher Art selbständig geltend gemacht werden wollen, müssen sie bei dem Richter des Wohnortes des Beklagten eingeklagt werden. Anders verhält es sich dagegen, wenn solche Fragen konnex mit der Hauptklage, der Statusfrage, zu behandeln sind.

Nach Vorschrift der Freiburger Geseze sind wirklich die Statusfrage und die Frage über die ökonomischen Leistungen des Vaters im

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Zusammenhang zu behandeln. Es ist also hier eine Konnexität vorhanden, die im Gesez und in der Natur der Sache begründet ist.

4) Es kommt noch in Frage, ob der Ausspruch des freiburgischen Richters, daß das Kind dem Vater auch in dem Bürgerrecht der waadtländischen Gemeinde Hur folge, gültig sei. Regel ist, dass kein Gericht eines Kantons einem ausserehelichen Kinde die Angehörigkeit oder das Bürgerrecht eines andern Kantons zusprechen kann, sofern nicht hierüber Bundesvorschriften oder Konkordate bestehen.

5) Zwischen der freiburgischen Gemeinde Haut Vuilly und der waadtländischen Gemeinde Mur ist aber wirklich im Jahr 18(!(5 eine von beiden Kantonsregierungen bestätigte Uebereinkunft abgeschlossen worden, wonach ein uneheliches Kind, welches von einem in beiden Gemeinden verbürgerten Vater erzeugt und ihm m zugesprochen wird, auch in beiden Gemeinden das Bürgerrecht erwirbt. Es rechtfertigt sich also das angegriffene Urtheil auch in diesem Punkt.

"Ö" 6) Wenn Rekurrent sich über ein ungehöriges Prozessverfahren glaubt beschweren zu können, so hat er eine diesfallsige Beschwerde nicht boi dem Bundesrathe, sondern bei der betreffenden obern gerichtlichen Instanz des Kantons Freiburg anzubringen.

20. Lucie Pau c h a u d , von Bottens, Kts. Waadt, beschwerte sich, unterstüzt von der Munizipalität ihrer Heimatgemeinde,, wie folgt : Sie sei im Jahr 1870 in Fétigny, Kts. Freiburg, wo sie bei ihrer Mutter gewohnt, von einem Xaver Fontaine,, Bürger des genannten Ortes, schwanger geworden, und haha hievon dem Præsidenten des Gerichtes von Estavayer (Freiburg) die nach dem Geseze .dieses Kantons vorgeschriebene Anzeige gemacht. In Folge dessen sei sie aus dem Kanton Freiburg weggewiesen worden, worauf sie nach ihrer Heimat sich begeben habe,. Nach der Geburt des Kindes habe sie den Schwangerer vor den erwähn! en Gerichtspräsidenten zitiren lassen, um über die Zusprechung des Kindes und über die ökonomischen Folgen der Paterni tat zu verhandeln.

Allein auf Antrag des Beklagten sei ihre Klage in beiden Instanzen abgewiesen worden. Gemäss Art. 3 des freiburgischen Paternitätsgesezes seien aber die Freiburgerinnen in a l leu Fällen berechtigt, die V a t e r s c h a f t s k l a g e anzuheben. Das gleiche Recht müsse nach Vorschrift der Bundesverfassung auch den Bürgerinnen anderer Kantone zustehen.

Der Rekursbeklagte suchte die angefochtenen Urtheile, wie folgt, zu rechtfertigen : Laut Art. l des Paternitäsgesezes des Kan-

32 tons Freiburg seien die Vaterschafsklagen vor dem Präsidenten desjenigen Gerichtes anzuheben, in dessen Bezirk die Mutter eines ausserehelich geborenen Kindes wohne. Nun habe gemäß der Gesezgebung von Freiburg auch die auswärts wohnende Bürgerin dieses Kantons in demselben immer ein Domizil und zwar unter gewöhnlichen Verhältnissen in ihrer Heimatgemeinde; sie könne also die Paternitätsklage vor dem Gerichte ihrer Heimatgemeinde anheben. Die Rekurrentin aber habe kein Domizil im Kanton; sie müßte ein solches beweisen, bevor sie Gleichstellung mit den Bürgerinnen dieses Kantons verlangen könnte.

Der Bundesrath erklärte unterm 22. April 1872 die Beschwerde als begründet und hob die rekurrirten Urtheile auf, gestüzt auf folgende Erwägungen : 1) Es wird von den freiburgischen Gerichten anerkannt, daß die Rekurrentin, sofern sie Alimentations- und Entschädigungsansprüche, als selbstständige persönliche Klage, gegen den Beklagten geltend machen will, berechtigt sei, diesen vor den dortigen Gerichten zu belangen. Dagegen wird ihr das Recht bestritten, eine Paternitätsklage gegen denselben anzuheben, weil sie nie legalen Wohnsiz im Kanton besessen habe, oder wenn dieses der Fall gewesen wäre, denselben durch den gezwungenen Wegzug aufgegeben hätte.

2) Die Frage des Wohnsizes kann aber nicht entscheidend sein, sondern es ist zu untersuchen, ob durch das Vorgehen der freiburgisehen Gerichte nicht der Art. 48 der Bundesverfassung verlezt sei, welcher vorschreibt, daß alle Schweizer in jedem Kanton nach dem gleichen Rechte, wie die Bürger dieses Kantones, behandelt werden sollen.

3) Es steht der Gesezgebung der Kantone allerdings zu, die Paternitätsklagen in weiterm oder beschränktem! Umfange zuzulassen, oder auch gänzlich auszuschliessen, aber es darf dabei die Gleichstellung der Schweizerbürger mit den eigenen Kantonsbürgern nicht beeinträchtigt werden.

4) Es will zwar behauptet werden, eine solche Ungleichheit liege nicht vor. Allein wenn man von dem formollen Schein absieht und sieh auf den Boden der Wirklichkeit stellt, so muss man zu der Ueberzeugung kommen, daß die Klägerin thatsächlich in eine schlechtere Stellung versezt wäre, als im gleichen Falle eine Freiburgerin sich befinden würde.

5) Es wird nämlich nicht bestritten werden können, daß eine Angehörige des Kantons Freiburg, die unter den ganz gleichen Verhältnissen ausser dem Kanton gewohnt hätte, mit der Paterni-

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tätsklage gegen Fontaine hätte zugelassen werden müssen und zwar in der Weise, dass sie auf die Thatsache der Vaterschaft gestüzt, nach Vorschrift der Geseze die Statusfrage und die Frage über die ökonomischen Leistungen des Vaters im Zusammenhang hätte zur Behandlung bringen können. Das gleiche Recht} das einer Freiburgerin zusteht, kann aber nach Art. 48 der Bundesverfassung auch eine nichtkantonsangehörige Schweizerin beanspruchen.

6) Mit diesem Entscheid der Gerichtsstandsfrage soll aber dem Urtheile des Richters über die materiellen Fragen in keiner Weise vorgegriffen sein.

6. V o l l z i e h u n g von Z i v i l u r t h e i l e n .

21. Heinrich Knecht in Hinweil, Kts. Zürich, kaufte von einem Hrn. Fritschi im Kanton St. Gallen ein Quantum Brennholz, für dessen Preis Hr. Stationsvorsteher D. Müller in Schmcrikon, Kts. St. Gallen, sich verbürgte. Die Zahlung wurde jedoch am festgesezten Termine nicht geleistet, weßhalb der Verkäufer seine Forderung . vor dem Gerichte des Seebezirkes (St. Gallen) gegen den Bürgen einklagte. Zu diesem Prozesse wurde auch der Hauptschuldner Knecht adzitirt. Dieser lehnte den St. Gallischen Gerichtsstand ab und eröffnete im Uebrigea, daß der Klage die Einrede des nicht gehörig erfüllten Vertrages entgegen /u sezen sei.

Er behalte sich vor, diese Einrede bei einer Regreßklage auch gegen den Bürgen geltend zu machen.

Das Gericht sprach dem Kläger die Forderung zu und erklärte gleichzeitig den Regreß des Hrn. Müller an Knecht als begründet.

Hr. Müller erhob nun, gestüzt auf dieses Urtheil, für die betreffenden Summen in Hinweil die Betreibung gegen Knecht. Dieser erwirkte jedoch Reehtsvorschlafg, indem er nur einen Theil der Hauptforderung anerkannte. Der hierüber entstandene Prozeß wurde sowohl von dem Bezirksgerichte Hinweil, als auch von dem Obergerichte des Kantons Zürich dahin entschieden, daß die Betreibung nur für den anerkannten Betrag zulässig sei; dagegen wurde Hr. Müller mit seiner weiteren Forderung in das ordentliche Prozeßverfahren verwiesen.

Hierüber beschwerte sich Hr. Müller unter Berufung auf den Art. 49 der Bundesverfassung bei dem Bundesrathe, indurn er besonders betonte, daß ein Endurtheil gemäß Art. 42 der St. Galler Zivilprozeßordnung auch gegenüber dem Litisdenunziaten in Rechtskraft erwachse, und also auch diesem gegenüber voll/.iehbar sein müsse.

' Der Bundesrath wies mit Beschluss vom 20. März 1872 den, Rekurs ab. Gründe: Bundesblatt. Jahrg. XXV. Bd. II.

3

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1) Der Art. 49 der Bundesverfassung schreibt nur die Vollziehung rechtskräftiger Urtheile vor, und daher muß der angegangenen Behörde das Recht zustehen, die Existenz der für die Rechtskraft erforderlichen formellen Bedingungen eines Urtheiles, z. B. die Kompetenz des Gerichtes, zu prüfen.

2) Da Hr. Knecht unbestrittenermaßen zur Zeit des Prozesses im Kanton Zürich wohnhaft und solvent war, so konnte er nach Art. 50 der Bundesverfassung in keine? Weise (also weder als Streitgenosse des Beklagten, noch als Litisdenunziat) für eine persönliche Forderung vor die St. Gallischen G eri eh te geladen und von diesen verurtheilt werden.

3) Daß aber hier eine rein personliche, nicht durch Pfänder gedckte ' Forderung vorliegt, kann keinem Zweifel unterliegen. Das St. Gallische Gericht war nun allerdings zuständig, über die Forderung des Hrn. Fritschi gegen den Bürgen zu entscheiden, aber wenn der leztere das Rükforderungsrecht gegen den in einem andern Kanton wohnenden Hauptschuldner geltend machen will, so ist nur das Gericht des Wohnortes des Beklagten und nicht das St. Gallische Gericht zuständig, auf das Verhältniß zwischen dem Bürgen und dem Hauptschuldner einzutreten.

4) Wenn auch Hr. Knecht dein Gerichte im Kanton St. Gallen gewisse Erklärungen abgab, wozu er als Streitbetheiligter befugt war, so kann daraus keineswegs auf Anerkennung des St. Gallischen Gerichtsstandes ihm gegenüber geschlossen werden, wie er übrigens auch ausdrüklich diesen Gerichtsstand abgelehnt hat.

5) Da somit eine Verurtheilung des Litisdenunziaten des Beklagten wegen Inkompetenz des Gerichtes verfassungsmässig nicht stattfinden konnte, so hat das fragliche Urtheil nicht die Eigenschaft, um behufs seiner Vollziehung die Intervention der Bundesbehörden zu begründen.

22. Charles Frédéric B u ë c h e in Münster, Kts. Bern, machte als Beistand des landesabwesenden Frédéric Louis Rossé von Court, gleichen Kantons, folgende Beschwerde anhängig : Zwischen Rossé und Hrn. Max Obermüller von Karlsruhe habe früher unter der Firma Obermüller und Comp. in La Chaux-de-Fonds eine Handelsgesellschaft bestanden. Im Jahre 1862 sei diese Gesellschaft aufgehoben und die Liquidation sei Hrn. Obermüller übertragen worden, zu welchem Zweke er die Geschäftsbücher der alten Firma erhalten habe. Nun werde von einem Dritten gegen Rossé vor dem Gerichte
zu Münster (Bern) eine Forderung eingeklagt, die aber nicht den Rossé persönlich, sondern die ehemalige Firma Obermüller und Comp. betreffe. Im Interesse der Verteidigung

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sei die Prüfung der Korrespondenzen und der Geschäftsbücher nöthig. Es sei jedoch von Obermüller, der sich noch immer iii La Chaux-de-Fonds aufhalte, nur ein Auszug aus dem Hauptbuch erhältlich gewesen. Buëche habe deßhalb die Intervention des Gerichtes von Münster angerufen und dieses habe entschieden, es sei das Gericht in La, Chaux-de-Fonds eingeladen, ihm die Handelsbücher der erwähnten Firma einzusenden. Der Juge d'ordre, des Kantons Neuenburg habe jedoch die Vollziehung verweigert, weil kein förmliches Urlheil vorliege. Nach Vorschrift von Art. 49 der Bundesverfassung müsse aber jener Entscheid seine Vollziehung im Kantou Neuenburg erhalten, zumal die fraglichen Gesellschaftsbücher Miteigentum des beklagten Rossé seien, auch Interessen des Hrn. Obermüller in Frage liegen, und nicht nöthig sei, diesen in La Chaux-deFonds mit einer besondern, auf die Herausgabe der Bücher gerichteten Klage zu verfolgen.

Hr. Obermüller machte in seiner Antwort geltend, daß Rosse in seinem eigenen Namen, nicht aber als ehemaliger Gesellschafter der Firma Obermüller und Comp., belangt worden sei. In diesem Prozesse sei weder die alte Firma, noch er, Obermüller, persönlich betheiligt. Ueberdieß könnte das bernische Gericht weder gegen jene, noch gegen ihn ein rechtskräftiges Urtheil über eine persönliche Klage aussprechen. Diese Ansicht wurde von dem Präsidenten des Appellationsgerichtes von Neuenburg unterstüzt, der noch besonders betonte, daß der, fragliche Beschluss des Gerichtes von Münster kein Urtheil sei.

Der Bundesrath entschied unterm 11. November 1872 im Sinne folgender Erwägungen : 1) Der Art. 49 der Bundesverfassung findet hier keine Anwendung, weil es sich nicht um die Vollziehung eines rechtskräftigen Zivilurtheiles handelt, sondern um eine prozessualische Maßregel, die zum Zweke hat, vor Ausfallung eines Endurtheiles bessere Aufklärung über faktische Verhältnisse zu erlangen.

2) Wenn zu diesem Zweke die Gerichtsbehörden anderer Kantone angegangen werden müssen, so hat dieses mittelst eines Rogatoriums zu geschehen, welchem die angesprochene Behörde gewiss jederzeit in der durch die eigenen Geseze vorgeschriebenen Form entsprechen wird. Es ergibt sich wirklich aus der Antwort des Präsidenten des Appellationshofes des Kantons Neuenburg, daß man dort von Seite des Gerichtes und des Hrn. Obermüller
stets bereit war, die Bücher zur Einsicht und zur Anfertigung der nöthigen Auszüge einem Experten des Gerichtes von Münster vorzulegen, kurz dasjenige zu thun, was der Rekurrent vor diesem Gerichte

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selbst verlangte. Die Handelsbücher in Original an einen fernen Ort zu .schiken und sich derselben auf eine bestimmte Zeit zu eritäussern, kann jedoch rechtlich nicht verlangt werden.

3) Was über die Stellung des Hrn. Obermüller in diesem Prozeß gesagt worden, ist schon deßhalb ohne alle Bedeutung, weil er weder als Partei vorgeladen, noch als Intervenient aufgetreten ist.

Es ist daher auch nicht nöthig, .auf die Frage weiter einzutreten, welches Forum das zuständige wäre, wenn die alte Firma oder Hr. Obermüller persönlich belangt werden wollte.

23. Im Konkurse des Anton Küster in 8t. Gallen war ein Hr. J. Biedermann in Veitheim, Kts. Zürich, mit einer Forderung von Fr. 279 zu Verlust gekommen. Später belangte Biedermann seinen Schuldner neuerdings für die gleiche Forderung vor dem Bezirksgerichte St. Gallen, wurde aber unterm 23. November 1864 abgewiesen und zugleich zu einer Prozeßentschädigung von Fr. 30 an Küster verurtheilt.

Der leztere zedirte dieses Guthaben an einen David K ü h n in St. Gallen, welcher dann im August 1871 die Betreibung gegen Biedermann anhob. Dieser machte jedoch die Einrede der Kompensation geltend, und der Präsident des Bezirksgerichtes von Winterthur sowohl, als die Zivilabtheilung des Obergerichtes von Zürich verweigerten die Bewilligung zur Betreibung, weil die Forderung des Küster im Momente, da fragliches Urtheil in Rechtskraft erwachsen, durch gesezliehe Reduktion der grössern Forderung des Hrn. Biedermann getilgt worden sei, also nicht mehr habe zcdirt werden können.

Namens des Kühn beschwerte sich nun Hr. Rechtsagent Schö.nenberger-Frey in St. Gallen und stellte unter Berufung auf Art. 49 der Bundesverfassung das Gesuch, es möchte dem Urtheile des Bezirksgerichtes von St. Gallen die Vollziehung im Kanton Zürich verschafft werden.

Der Bundesrath 'wies unterm 1. Juli 1872 diesen Rekurs ab, unter folgender Begründung: 1) Die Rechtskraft und Vollziehbarkeit des Urtheiles des Bezirksgerichtes von St. Gallen vom 23. November 1864 ist von der 'ivilal/theilung des Obergerichtes des Kantons Zürich ausdrüklich icrkanut worden. Wenn aber dieser Gerichtshof gefunden hat, ,-i dürfe der Rekursbeklagte der vom Rekurrenten gemachten Formung eine ebenfalls gärichtlich anerkannte und olso liquide, aber .ogen Mangels an Vermögensobjekten zur Zeit nicht realisirbare Gegenforderung entgegenstellen, oder mit andern Worten, wenn der Gerichtshof von der Ansicht ausging, es sei die Hauptforderung mit

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dem Momente der Rechtskraft des Erkanntnisses des Gerichtes von St. Gallen um Fr. .''0 re.duzirt worden, so kann darin unmöglich eine Verlezung von Bundesvorschriften liegen.

O J 2) Daß der Zessionär sich die gleiche Einrede der Tilgung durch Kompensation muß gefallen lassen, wie der Zedent, ist rechtlich nicht zu bestreiten.

III. Anwendung der Bundesgeseze.

a.

B u n d e s g e s e z b e t r e f f e n d die A u s l i e f e r u n g von V e r b r e c h e r n und Angeschuldigten.

24. Im Oktober 1868 wurde im Kanton Frei bürg gegen Notar Basile Bise in Estavayer (Freiburg) wegen einer Reihe von Betrügereien, Fälschungen und Unterschlagungen im Wechselver" kehr eineStrafuntersuchungg eröffnet, in welche auch NotarJaque C osandey pierre (Freiburg) verwikelt wurden. Nach Schluß der Voruntersuchung wurden Bise, Cosandey u n d BarbeyAnklagezustand Cosandey vor dieses Gericht zitirt wurde, weigerte er wich zu erscheinen, woraufder Staatsrathi von Freiburg bei der Regierung- des Kansons Waadt dessen Auslieferung verlangte. Die leztere lehnte jedoch mit Schreiben vom 7. Juni 1870 die Auslieferung ab, erklärte sich dagegen bereit, den Cosandey vor den waadtländischen Gerichten bestrafen und zur Gerichtsverhandlung nach Freiburg fuhren zu lassen, wenn sicheres Geleit angeboten werde.

Die Hauptverhandlung vor den Assisen in Freiburg wurde so dann auf den 27. Oktober 1870 angesezt. Zu dieser wurde, auch Cosandey zitirt, einerseits von dem Präsidenten des Assisenhofes zur Konstatirung des Thatbestandes, und andererseits von mehreren Privatklägern, um auf ihre Zivilansprüche Antwort zu geben, indem sie. auf Vernichtung der ihnen veruntreuten Wechsel schließen werden. Cosandey bestritt jedoch die Kompetenz des Gerichtes hinsichtlich der Zivilfragen, worauf die Kläger die Zitation gegen ihn zurükzogen , aber ihre Klagen gegenüber Barbey festhielten.

Cosandey erneuerte seine gerichtsablehnende Einrede, weil die Zivilklage persönlicher Natur sei und nur gegen ihn gerichtet sein könne, da e r der Eigenthümer der Wechsel sei. Die erste und zweite- Instanz des Kantons Freiburg wiesen jedoch diese Einrede ab, weil sie befugt seien, neben der Strafklage auch über die zivilrechtlichen Folgen zu urtheilen und nach Vorschrift des Strafprozesses über beide Punkte in einem und demselben Urtheile. endgültig abgesprochen werden müsse. Da nun im Spezialfalle sowohl

Paye

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von dem Staatsanwalt, als von der Zivilpartei gegen Bise, der Antrag auf Schadensersaz gestellt, worden sei, so könne über die Strafklage nicht abgeurtheilt werden, ohne gleichzeitig auch die zivilrechtlichen Fragen zu regeln. Es stehe dem Cosandey frei, bei der Verhandlung über diese Fragen sich zu betheiligen oder nicht, und im leztern Falle baba der Entscheid für ihn personlich keine Wirkung.

Cosandey beschwerte sich nun bei dem Bundesrathe, indem er geltend machte : der Beschluß, wodurch er in Anklagezustand versezt worden, sei immer noch in Rechtskraft. In Folge dessen dürfe er den Kanton Freiburg nicht betreten. Er habe zwar bei den freiburgischen Behörden verlangt, daß die Untersuchungsakten an die waadtländischen Gerichte gesendet werden, damit diese über die gegen ihn erhobene Anklage urtheilen können. Allein es sei ihm nicht entsprochen worden, und eine Verwendung im gleichen Sinne bei dem Staatsrathe von Waadt sei ebenfalls ohne Erfolg geblieben. Dieser unerträgliche Zustand stehe im Widersprüche mit dem Rechte der Bürger zur freien Bewegung innert der Schweiz, sowie mit dem Art. 1 des Bundesgesezes über die Auslieferung.

Es seien daher die freiburgischen Behörden von Bundeswegen anzuhalten,, die Strafklage segen ihn vor den waadtländischen GeO O ö ' richten zu verfolgen. Sodann seien durch die Entscheide des Assisenhofes und des Kantonsgerichtes von Freiburg die Artikel 50 und 53 der Bundesverfassung verlezt, da die Klage der Zivilpartei nur vor dem Zivilrichter seines Wohnortes, eventuell vor demjenigen Strafrichter geltend gemacht werden könnte, der für die Kriminalklage gegen ihn zuständig wäre.

Der Bundesrath entschied unterm 5. April 1872 im Sinne folgender Erwägungen.

Bei dem Entscheide dieser Beschwerde sind zwei Fragen auseinander zu halten : a. Die Frage über die Auslieferung des Rekurrenten ; b. die Stellung des Rekurrenten vor den freiburgischen Assisen, soweit zivilrechtliche Fragen in Behandhing liegen.

Ad a. Was die Auslieferungsfrage betrifft, so ist das im Bundesgesez vom 24. Juli 1852, Art. 99 und 10, vorgeschriebene Verfahren maßgebend. Nachdem die Regierung von Freiburg bei derjenigen von Waadt die Auslieferung Cosandey's nachgesucht, diese leztere aber sie mit der Uebernahme der Verpflichtung, den Angeklagten vor die eigenen Strafgerichte zu stellen, abgelehnt hat, so kann es sich nur fragen, ob Freiburg mit dieser Zusicherung der Regierung von Waadt einverstanden sei. Es ist dieses anzu-

39 nehmen, da seit der Ablehnung von Waadt schon eine lange Zeit verflossen ist, ohne dass die Regierung von Freiburg dagegen die Entscheidung des Bundesrathes angerufen hätte, wozu doch hin' länglich Veranlagung gewesen wäre, wenn sie wirklich auf der Auslieferung hätte bestehen wollen.

Ad b. Was die zweite Frage betrifft, so ist dermalen noch nicht mit Sicherheit zu ersehen, welche Stellung dem Rekurrenten in Beziehung auf die in Frage liegenden zivilrechtlichen Punkte in dem entscheidenden Urtheile des Gerichtes wolle angewiesen werden, namentlich ob er als Interveniert, oder als Litisdenunziat, odor als ganz ausser dein Prozesse stehend angesehen werde, oder ob über Effekten entschieden werden will, deren Eigenthum der Rekurrent behauptet, und wobei ihm die Stelle als Zivil beklagter zufallen würde. Es muß daher dem Rekurrenten die Besehwerdefreiheit an die Bundesbehörden offen gehalten werden, sofern er sich durch das Urtheil des Gerichtes in seinen konstitutionellen Rechten verlebt glauben würde.

25. Hieher gehört auch der Rekurs des Staatsrathes von Genf gegen den Beschluß des Bundesrathes betreffend die Auslieferung des Sekretärs Ochsenbein an den Kanton Waadt. Die bezüglichen Akten sind gedrukt Bundesbl. 1872, Bd. I, S. 289 und 776; Bd. II, S. 987, Bd.III,, S. 9.

6. B u n d e s g e s e z ü b e r die gemischten Ehen.

26. Der Rekurs des Friedrich Curti von Rappersweil ist von diesem auch an die Bundesversammlung gezogen worden, und aus den diesfälligcn Verhandlungen bekannt. Bundesbl. 1872, Bd. II, S. 553; Bd. IU, S. 217!

IV. Anwendung von Konkordaten.

Konkordate über das Konkursrecht.

(Alte offiz. Samml., Bd. I, S. 284 und 285.)

27. Am 21. August 1871 wurde über die Firma Müller, P l ü ß und Comp. in Zofingen der Konkurs eröffnet, nachdem arn 18. gleichen Monates ein Wechsel auf diese Firma zu Gunsten des Speditionshauses Sebastian Crivelli und Comp. in Flüelen, Kts. Uri, im Betrag von Fr. 312. 70 Mangels Zahlung protestirt worden war.

Die Herren Crivelli und Comp. suchten nun auf anderm Wege Dekung, indem sie unter Berufung auf die Urnergesezgebung am 23. August die amtliche Bewilligung zu einem Sequester auswirkten und am 31. August diesen Sequester auf ein Ballot Waaren vollzogen, das im Auftrage von Müller, Plüß und Comp. durch ihre Vermittlung nach Lugano spedirt werden sollte.

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Das Bezirksgericht Zofingen, als Konkursbehörde, bestritt jedoch die Zulässigkeit dieses Sequesters und ve.ranlaßte eine Beschwerde der Regierung des Kantons Aargau, welche unter Berufung auf den Art. 8 des Konkordates vom 15. Juni 1804 und auf den Art. l des Konkordates v o m 7 . Juni 1810 d a s Gesuch stellte, d a ß Crivelli & den Konkurs abzuliefern.

Die leztern, unterstützt von der Regierung des Kantons Uri, weigerten sieh dessen. Die, Firma Müller, Plüß & Comp. sei schon am 18. August 1871 nicht mehr aufrechtstehend gewesen und hätte daher den Art. 50 der Bundesverfassung nicht mehr anrufen können. Es sei somit der Art. 146 des Landbuches von Uri in Wirksamkeit getreten, wonach Jemand, der eine richtige Forderung habe und Vermögensobjekte des Schuldners besize, diese behalten möge, bis er bezahlt sei. Gemäss dieser Vorschrift sei ein Faustpfandrecht konstituift. Wenn die Konkursbehörde dieses bestreiten wolle, so müsse sie, gemäss Art. '2 des Konkordates von 1810 den Prozeß bei dem Richter der gelegenen Sache anheben. Die Wirkung der Konkurseröffnung trete, für Crivelli & Cornp. erst mit dem Momente der amtlichen Mittheilung ein, d. h. mit dem 29. August 1871. ' Es liege somit ein Arrest v o r Ausbruch des Konkurses vor.

Der Bundesrath entschied am 3. April 1872 dahin, daß Crivelli & Comp. gehalten seien, das mit Arrest belegte Vermögensobjekt an die Konkursmasse von Müller, Plüss & Comp. in Zofingen abzuliefern. Gründe: 1) Es ist unzweifelhaft, daß die hier zur Sprache kommenden Konkordate vom 15. Juni 1804 und 7. Juni 1810 in gegebenen Fällen ihre Wirksamkeit vom Tage des ausgebrochenen Konkurses an äussern, so daß alle beweglichen Gegenstände, die an diesem Tage zum Vermögen des Falliten gehören, in die allgemeine Hauptmassa abzugeben sind, sofern nicht dingliche Rechte darauf bestehen.

2) Die Konkurserkanntniß und die Anordnung der öffentlichen Ausschreibung des Konkurses über die Firma Müller, Plüß & Comp.

ist durch das Gericht von Zofingen am 21. August 1871 erlassen worden. An diesem Tage aber hatten die Herren Crivelli & Comp.

noch keinen Arrest auf das damals noch nicht in ihren Händen liegende Ballot Baumwollenwaaren gelegt, so daß eine Berufung auf den Art. 2 des Konkordates vom 7. Juni 1810 hier nicht zutreffend ist.

8") Erst am 23. August, also zwei Tage nach Ausbruch des Konkurses, erwirkten die Herren Crivelli
41

Sequesters auf Eigenthum oder auf Guthaben der Schuldner, wo und bei wem solches gefunden würde. Nach Art. 3 des hier zutreffenden Konkordates vom 15. Juni 1804 dürfen aber nach ausgebrochenem Falliment keine Arreste mehr anders, als zu Gunsten der ganzen Schuldmassa, gelegt werden. Es konnte also diese, amtliehe. Bewilligung nicht mehr die vom Rekursbeklagten beanspruchte rechtliche Wirkung haben.

·4) Es tritt aber noch der Umstand hinzu, daß der Arrest auf das fragliehe Ballot Baumwollenwaaren erst am 31. August 1871 vollzogen wurde, während die Gerichtskanzlei Zofingen schon am 26. gleichen Monates denrrestlegernu die Anzeige vom ausgebrochenen Konkurse gemacht hatte, welche Anzeige zur Zeit der Arrestlegung auch in den Händen der Herren Crivelli & Comp. war. Es liegt daher außer allem Zweifel, daß die Maßregel nur noch im Interesse der ganzen Schuldmassa ergriffen werden konnte. (Vergi. Entscheid des Bundesrathes in Sachen der Gebrüder Käsli vom März 18(35.)

28. In den Jahren 1855 und 1857 machte F r i t z Perrenond von Sagne (Neuenburg) bei einem Herrn Ul. Ducommun-Fritschy zwei Darlehen, wofür sich auch die Frau Perrenoud als Solidarf Schuldnerin verpflichtete. Später gerieth Perrenoud in Konkurs und seine Frau starb.

Im Frühjahr 1872 fiel den Kindern des Perrenoud in Folge.

Ablebens ihrer Großmutter vonmütterlicherrSeite,,imi Bezirke Münster (Bern) eine Erbschaft an. Der jezige Kreditor der oben erwähnten, im Konkurs des Perrenoud unbezahlt gebliebenen Forderungen, Herr Adhémar Al. Liengme vonCormorett (Bern), suchte nun durch dieiese« Erbschaft gedekt zu werden und erwirkte zu diesem Ende im April 1872 bei dein Gerichtspräsidenten von Münster einen Arrest auf dieselbe.

Hiegegen beschwerte sich der Vater Perrenoud, weil einerseits ihm gegenüber ein Sequester nicht möglich sei, da jenes Vermögen nicht ihm angehöre, und weil andererseits der Arrest seinen Kindern gegenüber im Widerspruche stehe mit Art. 50 der Bundesverfassung.

Seine volljährigen Kinder seien außerhalb des Kantons Bern domizilirt und die minderjährigen leben in seiner Haushaltung in Neuenburg.

Herr Liengme dagegen machte geltend: Nach der neuenburgischen Gesezgebung stehe dem Vater Perrenoud an dem Vermögen seiner Kinder die Nuznießung zu. Da er Fallit sei, so könne auf dein Arrestwege gegen ihn vorgeschritten werden. Was die Kinder Perrenoud betreffe, so seien sie, als Erben ihrer Mutter, jezt neben dem Vater Schuldner geworden. Von Seite der volljährigen Kinder

42 liege keine Beschwerde vor, und die minderjährigen bieten keine Sicherheit, indem ihr Vater, als Vormund derselben, volles Verfügungsrecht über ihr Vermögen habe.

Der Bundesrath hob mit Beschluß vom Iß. September 1872 den Arrest auf, aus folgenden Gründen : 1) Der gelegte Sequester ist ungültig, es mag sich um Vermögen handeln, das den Kindern Perrenoud, oder um solches, das dem Rekurrenten angehört. Im erstem Falle kann eine persönliche Ansprache au die Kinder Perrenoud nach Art. 50 der Bundesverfassung nur beim Richter ihres Wohnortes geltend gemacht werden, während unter der zweiten Voraussezung nach Art. 3 des Konkordates vom 15. Juli 1804, bestätigt den 18. Juli 1818 -- welchem Bern und Neuenburg beigetreten sind nach ausgebrochenem Fallimente kein Arrest auf bewegliches Eigenthum dos Falliten anders, als zu Gunsten der ganzen Schuldmassa, gelegt werden darf.

2") So lange die Gläubiger des Perrenoud aus der Konkursmassa nicht befriedigt sind, bleiben die Rechte derselben unter sich und gegen den Schuldner die gleichen, und es kann somit nicht der eine Gläubiger zum Nachtheil der andern sich durch eigenmächtige Handlungen in ein günstigeres Verhältniß sezen. Es ist daher nicht nöthig, auf die Frage näher einzutreten, in wie weit auf fragliches Guthaben, soweit dabei die Rechte des Rekurrenten in Frage kommen, Sequester gelegt werden könne, da der erwirkte Arrest ohnehin ungültig zu erklären ist.

V. Anwendung von Kantonsverfassungen.

29. Folgende unter diese Rubrik gehörige Rekurse sind an die Bundesversammlung gelangt und daher aus den bezüglichen Verhandlungen bereits bekannt. Es wird deßhalb lediglich auf die gedrukten Akten verwiesen.

a. Rekurs des Joseph Anton Niederberger von Stans, betreffend Rechtsverweigerung. Wurde von dem Bundesrathe und von der Bundesversammlung abgewiesen. Bundesbl. 1872, Bd. U, S. 664.

6. Der Rekurs des Herrn Advokat Gendre in Freiburg gegen das Schulgesez des Kantons Freiburg ist noch bei den eidgenössischen Räthen pendent. Bundesbl. 1871, Bd. III, S. 391 -- 1872, Bd. DI, S. 975.

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Hierauf bezieht sich auch der Spezialbericht des Bundesrathes über das Verhältniß der U r s u l i n e r i n n e n zu dem Orden der Jesuiten. Bundesbl. 1872, Bd. 111, S. 549.

c. Der Rekurs des Joseph Maria Durrer in Wylen, bei Sarneu, ist ebenfalls bei den eidgenössischen Räthen noch pendent.

Bundesbl. 1872, Bd. III, S. 228 und 975.

d. Dagegen ist der Rekurs des Nikiaus Lüt hi in Häfelfingen, Kantons Baselland, und Mithat'te, betreffend Verfassungsverlezung durch Bestellung eines angeblich ausserordentlichen Gerichtes (Bundesbl. 1872, Bd. II, S. 549), durch Abweisung auch von Seite der Bundesversammlung erledigt.

30. Im Jahr 1868 starb in Palud, Gemeinde Bulle (Freiburg), der dort niedergelassene Anton B u e h e r von Entlebuch, Kantons Luzern. Seine Verlassenschaft bestand wesentlich in Liegenschaften zu Palud. Er hinterließ ein im Kanton Freiburg errichtetes Testament, womit er seinen Neffen Konstantin Bucher in Bulle zum Universalerben cingesezt hatte. Seine "Verwandten in Entlebuch (Geschwister und andere Geschwisterkinder) verlangten jedoch, auch als Erben zugelassen zu werden, und griffen zu diesem Ende, vor den freiburgischen Geliebten das Testament, an, indem sie geltend machten, daß Anton Bucher, obwohl er außerhalb seines Heimatkantons gewohnt habe, dennoch mit Rüksicht auf das Maß seiner Testirbefugniß den heimatliehen Gesezen unterworfen geblieben sei, nach welchen er unter den gegebenen Verhältnissen nur Über die Hälfte seines Vermögens hätte verfügen können. Sie verlangten daher, daß das Testament annullirt, eventuell soweit als nichtig erklärt werde, als über den nach luzernischem Gesez ihnen zukommenden Pflichttheil verfügt worden sei. Allein dieses Begehren wurde in beiden Instanzen abgewiesen, weil jeder Kanton berechtigt sei, auf die in seinem Gebiete vorkommenden Erbfälle, und namentlich auch bei derBeurtheilungg der Frage, in wie weit über ein Vermögen testamentarisch verfügt werden könne, seine eigeneGesez-gebung anzuwenden. Eine, Beschränkung könnte nur durch ein Konkordat oder durchundesrechtlichee Vorschriften nachgewiesen werden. Dieser l'ali liege- jedoch nicht vor. Nach den freiburgisehen Gesezen sei aber das Testament des Anton Bücher zuuu schüzen.

Die Luzerner Erbsprätendenten rekurrirten hiegegen an den Bundesrath, welcher jedoch mit Beschluß vom 19. April 1872
die Beschwerde abwies, gestüzt auf folgende Gründe: 1) Es besteht in unser m Bundesstaa tsrecht keine Bestimmung, wodurch den Kantonen untersagt wäre, ihre Zivilgeseze und die

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Jurisdiktionsbefugniss auch auf dis Nichtbürger, die im Lande wohnen, und auf ihre im Lande liegenden Vermögensobjekte auszudehnen ; somit ist den Kantonen auch nicht untersagt, die Frage über die Rechtsfähigkeit einer Person für die im Lande vorgenommenen Handlungen und in Beziehung auf die im Lande liegenden Güter nach den Gesezen des Wohnortes zu beurtheilen.

2) Es wird von den Rekurrenten die Rechtsfähigkeit des Erblassers zur Errichtung eines Testamentes nicht bestritten, wohl aber wird behauptet, er habe nicht die Fähigkeit besessen, testamentarisch mit Ausschluß von einzelnen natürlichen Erben seinen Neffen zum Universalerben einzusezen, weil das Gesez seines Heimatkantones dieses nicht gestatte.

3) Es ist richtig, daß über die Anwendung des Rechts bei Statusverhältnissen in einem großen Thei le-der Schweiz das privatrechtliche Prinzip herrscht, daß sie den Gesezen des Heimatkantones unterliegen. Hieraus läßt sich jedoch auf interkantonale und staatsrechtliche Verhältnisse kein Schluß ziehen, was am deutlichsten daraus hervorgeht, daß gerade in Bezug auf die Behandlung von Erbschaften ein Konkordat nöthig war, um die heimatliche!) Geseze auch auf einen außer dem B ürgerkantnto n liegenden Nachlaß anzuwenden, w a s nicht nöthig gewesen wäre, wenn die. v o n d e m 4) Da Freiburg diesem Konkordate vorn 15. Juli 1822 nicht beigetreten, so ist es vollkommen berechtigt, die Gültigkeit einer dort errichteten lezten Willensverordnung eines Niedergelassenen nach seinen eigenen Gesezen zu beurtheilen und den auf seinem Gebiete liegenden Nachlaß diesen Gesezen zu unterstellen. Ob der Richter dieses Gesez richtig angewendet habe, fällt nicht in bierseitige Beurtheilung, weil keine Bundesvorschriften verlezt worden sind.

5) Wenn die Rekurrenten schließlich glauben, die freiburgischen Gerichte seien nicht; befugt gewesen, dasTerritorialprinzipp anzuwenden, sondern hätten die Luzerner Erbgeseze anwenden müssen, weil die, konkordirenden Stände die Anwendung ihrer Geseze, d. h.

die Reziprozität gegenüber den nicht beigetretenen Ständenn vorbehalten haben, so ist dieses ein arger Fehlschluß, in Folge dessen ein Kanton, der geradedeßwegeni dem Konkordate nichtbeigetretenn ist, weil er sieh das Territorialprinzip wahren wollte, genöthigt würde, die Bestimmungen des Konkordates doch bei sich anzuwenden. Jene
Erklärung hat keinen andern Sinn, alsdaßß diekon-kordirenden Stände gegenüber den nichtkonkordirende sich vorbehalten, die auf ihrem Gebiete angefallenen Erbschaften auch

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nicht nach dein Heimatspriuzip, sondern nach den eigenen Landesgesezen zu behandeln.

31. Am 29. Dezember 1855 wurde J o h a n n Gander von Bekenried, Kantons Unterwaiden nid dem Wald, von dem Kriminalgericht dieses Kantons wegen schwerer Körperverlezung zu einer Zuchthausstrafe von mehreren Jahren und zu körperlicher Züchtigung verurtheilt. Nach Abbüßung dieser Strafen, ersuchte er den Landrath von Nidwaiden, ihn zu rehabilitiren, eventuell im Grundsaze sich darüber auszusprechen, ob die durch Kriminalurthcil Entehrten rehabilitirt werden können. Der Landrath verneinte mit Beschluß vom 8. Januar 1868 diese Frage, weil gemäß Art. 15, Ziff. 2 der kantonalen Verfassung die durch Krimirialurtheil Entehrten von der Stirnrnfähigkeit ausgeschlossen seien, ohae daß die Rehabilitation vorbehalten sei, wie dies in Ziff. l und 3 des gleichen Artikels der Verfassung für die Fa.lliten und für die im Aktivbürgerrecht Eingestellten geschehe. Dagegen erklärte der Landrath, daß nach dem Sinne dieses Art. 15, Ziff. 2 nur die durch Urtheil des Kr i min a 1g e r i c h t e s Entehrten nicht Rehabilitation erhalten können.

Gander ersuchte nun den Wochenrath um Akzeß an das Kriminalgericht, damit dasselbe sich darüber ausspreche, ob das gegen ihn erlassene Urtheil (in welchem der Verlust der bürgerlichen Ehrenfähigkeit nicht ausdrüklich ausgesprochen ist) diesen Verlust in sich schließe; bejahenden Falles werde er um Nachlaß einkommcu. Der Wochenrath verweigerte jedoch den Akzeß, weil diese Angelegenheit durch den Beschluß des Landrathes vom 8. Januar 1868 bereits definitiv erledigt sei, indem gemäß demselben alle vom Kriminalgericht Bestraften als entehrt zu betrachten seien, auch wenn diese Folge im Urtheile nicht ausdrüklich ausgesprochen werde. Eine Aenderung dieses Verhältnisses könne nur auf dem Wege der Verfassungsrevision erfolgen.

Gander beschwerte sich nun beim Bundesrath, und suchte /u beweisen, daß die vom Landrathe der Ziff. 2 von Art. 15 der Verfassung gegebene Inierprätation eine irrige und verfassungswidrige sei. Er hob namentlich hervor, daß aus der Praxis des Kriminalgerichtes selbst sich ergebe, daß dieses den Verlust der Ehrenfähigkeit nicht als regelmäßige Folee seiner Urtheile betrachte,' denn O O O O in denselben seien die verurtheilten Personen bald für immer, bald für eine begrenzte Zeit der
Ehre verlustig erklärt, bald sei über diesen Punkt in den Urtheilen gar nichts enthalten. Uebrigens sei die Stellung des Wochenrathes zur Strafjustiz mit dem Grundsaze der Trennung der Gewalten im Widerspruche. In Nidwaiden bestehen nämlich zwei Gerichte für Strafsachen, das Geschwomen-

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gericht und das Kriminalgericht, deren Kompetenz in der Verfassung nicht ausgeschieden sei. Vor dem Geschworenengerichte kommen so wichtige Straffülle zur Verhandlung, wie vor dem E s s e i aber nirgends gesagt, d a ß m i t einer Verurtheilung durch trete; zudem sei dieses Gericht, nach Art. 55 und folgende der Verfassung befugt, die von ihm in den bürgerlichen Ehren Eingestellten zu rehabilitiren. Nun habe der Wochenrath, der im Uebrigen eine administrative Behörde sei, die Straffälle den beiden Gerichten zuzuweisen. Wenn aber die Verurtheilung durch dasKriminalgerichtt immer den Verlust der bürgerlichen Ehre nach sich ziehe, so stehe es ganz in der Hand des Wochenrathes, durch die Verweisung einer Strafsache an dieses Gericht die Folge des Ehrenverlustes eintreten zu lassen. Er übe also auch eine strafrichterliche Kompetenz aus.

Der Bundesrath beschloß am 16. September 1872: es sei der Rekurs begründet und der Landrath von Nidwaiden eingeladen, sofern Gander mit einem daherigen Gesuche einkomme, demselben den Akzeß vor das Kriminalgericht zu gestatten, damit dieser Gerichtshof sich im Sinne von Erwägung 6 bestimmt aussprechen könne.

Dieser Entscheid stüzte sich auf folgende rechtliche Gesichtspunkte : 1) Die vom Rekurrenten angegriffenen Beschlüsse beruhen auf der Auslegung der Verfassung, daß die durch ein Kriminalurtheil Bestraften auf Lebenszeit der bürgerlichen Rechte und Ehren verlustig gehen, und dass eine Rehabilitation derselben selbst von dem Landrath ohne Verfassungsänderung nicht ausgesprochen werden könne.

2) Die Bundesbehörden haben zwar immer ein großes Gewicht auf die Interpellation gelegt, welche die oberste Behörde eines Kantons dessen Verfassung gegeben hat, ohne jedoch das Recht preiszugeben, in streitigen Fällen. auch gegen eine solche Auslegung zu entscheiden, von welchem Rechte indessen nur in solchen Fällen Gebrauch gemacht wurde, wo der natürliche Ausleger dadurch eine erweisliche Verlezung der Verfassung begangen hatte.

3) Es kann aber eine solche Verfassungsverlezung nicht behauptet werden, soweit es sich im vorliegenden Falle um die Interprätation des Art. 15, Ziff. 2 der Verfassung von Nidwalden handelt.

Eine andere Frage ist aber die, ob mit allen Strafurtheilen des Kriminalgerichtes nothwendig der Verlust der bürgerlichen Ehrenfähigkeit eo ipso verbunden sei
und verbunden sein müsse. Aus der Verfassung ist dieses nicht ersichtlich und es existirt auch kein Gesez, welches als gesezliche Folge eines jeden Kriminalurtheiles den

47

immerwährenden Verlust der bürgerlichen Ehrenfähigkeit vorschreibt.

4) Bei Abgang eines Strafgesezes ist es erklärlich, daß da» Kriminalgericht bezüglich der Folgen der Strafurtheile eine schwebende Praxis befolgt. Wenn man auch annehmen wollte, daß, obschon keine Bestimmung über den Verlust der bürgerlichen Ehrenl'ähigkeit im Urtheile aufgenommen ist, diese Strafzulage nach bestehender Praxis implicite Inbegriffen sei, so stellt doch andererseits fest, daß das Kriminalgericht bei ebenso schweren Verbrechen, wie dasjenige, dessen der Rekurrent sich schuldig gemacht, bloße Einstellung im Aktivbürgerrecht auf beschränkte Zeit ausgesprochen hat, ohne daß diese Urtheile als verfassungs oder gesezwidrig angegriffen wurden.

5) Es tritt noch der Umstand hinzu, daß das Geschwornengericht ebenso wichtige Strafklagen beurtheilt, wie die gegen den Rekurrenten gerichtete war, und Zuchthaus und Prangerstrafe verhängen kann, ohne daß die durch ein solches Urtheil Betroffenen lebenslänglich ehrlos bleiben. Es entspricht aber kaum den Grundsäzen einer gerechten Justizpflege, wenn es nicht von der Schwere des Verbrechens und von der Größe der ausgesprochenen Strafe abhängen soll, ob Rehabilitation möglich sei oder nicht, sondern wenn diese Möglichkeit einzig davon abhängen sollte, an welches Gericht die Administrativbehörde einen Straflall zu verweisen beliebt.

6) Unter solchen Umständen ist es ganz am Plaze, wenn wenigstens das Kriminalgericht Gelegenheit erhält, sich bestimmt darüber auszusprechen, welche Folgen in Bezug auf die. bürgerliche Ehrenfähigkeit es mit dem Strafurtheile vom 29. Dezember 1855 verbunden wissen wollte.

32. Die Gemeinden Morens und Bussy, Kantons Freiburg, bilden zusammen e i n e Pfarrei, jede dieser Gemeinden hat aber eine eigene Kirche. Bis in.die neueste Zeit wohnte der Pfarrer in Morens und die pfarramtlichen Funktionen wurden in der dortigen Kirche verrichtet. Im Jahr 1867 verfügte jedoch der Bischof von Lausanne und Genf zunächst provisorisch und sodann mit Sentenz vom 9. August 1869 definitiv die Verlegung des Pfarrsizes nach Bussy. In Folge dessen sah sich der Staatsrath von Freiburg, in der Absicht, die materiellen Folgen dieser Verfügung zu reguliren, veranlaßt, mit Beschluß vom 28. August 1869 zu verfügen, daß die Gemeinde Bussy ein neues Pfarrhaus bauen solle, daß ihr aber
als Entschädigung das alte Pfarrhaus in Morens eigenthümlich abzutreten sei, sofern die Gemeinde Morens nicht vorziehe, als Werth desselben eine gewisse Summe an Bussy zu bezahlen.

48 Die Gemeindewie Morens weigerte sich jedoch, das Pfarrhaus abzutreten, und widersezte sich überhaupt jeder Veränderung, indem sie behauptete, daß die Pfarrpfrü ide einzig ihr zustehe, und daß sie daher Eigenthümerinin des PfruVermögen sei.i. Die Gemeinde Bussy erhob deßhalb vor den freiburgischen Gerichten gegen die Gemeinde Morens Klage und verlangte, daß diese angehalten werde, ihr das Pfarrhaus in Morens abzutreten. Diesem Begehren wurde sowohl in der ersten als in der zweiten Instai z entsprochen.

Die Pfarrgenossen von Morens beschwerten sich nun bei dem Bundesrath, indem sie in der Sentenz des Bisehofs und in dem Beschlüsse des Staatsrathes einen Mißbrauch der Gewalt erblikten. Bei der Verlegung des Pfarrsizes habe es sieh um eine, privatrechtliche Frage gehandelt; über solche stehe aber nur dein Richter der Entscheid zu. Auch habe der freiburgische Richter sich lediglieh begnügt, die Vollziehung der Beschlüsse des Bischofs und des Staatsraths anzuordnen, ohne auf die streitige Eigenthumsfrage einzutreten; er habe sieh also an die Stelle der Exekutive gesezt.

Der Bundesrath verwies jedoch mit Beschluß vom 18. März 1872 die Rekurrenten zunächst an dun Großen Rath von Freiburg.

Gründe: · 1) Die Beschwerde der Gemeinde Morens, soweit sie der bundesräthlichen Prüfung zu unterstellen ist, lichtet sich fingen den Beschluß des Staatsrathes vom 28. August 1869, durch welchen die. Regierungsgewalt einen Uebergriff in die, Sphäre der richterlichen Gewalt sich erlaubt und dadurch die Kantonsverfassung verlezt haben soll.

2) Während nämlich der Staatsrath von der Ansicht ausgeht, das bisherige Pfarrhaus in Morens habe nie. ausschließlich der Gemeinde Morens angehört, sondern sei als Pfarrwohnung immer Eigenthum der ganzen Pfarrgemeinde Morens-Bussy gewesen, und es habe somit die Staatsgewalt bei Regulirung der neuen Verhältnisse dieser Pfarrgemeinde auch über dieses Vermögensobjekt eine sachlich nothwendige Verfügung treffen können, -- behauptet andererseits die Gemeinde Morens, privatrechtliches Eigenthum an diesem Gebäude zu besizen.

3) Pis liegt also in Frage, ob die Regierungsgewalt oder die richterliche Behörde über die Behauptungen und Ansprüche der Gemeinde Morens zu entscheiden habe. Während der Staatsrath die kompetenz für sieh in Anspruch nimmt erklärt das Kantonsgericht, es handle sich
liier nicht bios um die Regelung der materiellen Interessen der Pfarrgemeinde, sondern um spezielles Eigenthum der Pfarrgemeinde Morens; mit der Verfügung über dasselbe habe «1er

49 Staatsrath seine Kompetenz überschritten und in die Befugnisse der Gerichte eingegriffen.

4) Wenn auch schließlich das Kantonsgericht dem Entscheide des Staatsrathes sich nicht ferner widersezte und es nicht auf einen Kompetenzkonflikt beim Großen Rathe ankommen ließ, so bleibt doch die Beschwerde der Gemeinde Morens über die Verlezung der KantonsVerfassung D noch auszufragen.

J

5) Beschwerden über Verlezungen der Kantonsverfassungen können aber nicht direkt an die Bundesbehörden gebracht werden, sondern sind zuerst an den Großen Rath des betreffenden Kantons zu richten, welche Behörde in erster Linie berufen ist, über die Handhabung der kantonalen Verfassung zu wachen.

VI. Stimmrecht bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen.

33. Als der Tag der Abstimmung über die neue Bundesverfassung heranrükte (12. Mai 1872), kam eine große Anzahl von Reklamationen ein von Seite solcher Schweizerbürger, die nicht in ihrem Heimatskanton, sondern am Wohnorte ihr Votum abgeben wollten, aber hier durch ältere oder neuere Vorschriften ihr Stimmrecht beeinträchtigt glaubten. Der Bundesrath sah sich daher veranlaßt, um eine möglichst gleichmäßige Behandlung dieser Klasse von Bürgern zu erzielen, sämmtlichen Kantonen mittelst Kreisschreibens vom 19. April 1872 (Bundesbl. 1872, Bd. I, S. 833) den Sinu und die Tragweite der maßgebenden Bundesvorschriften vorzulegen und sowohl in diesem Kreisschreiben, als bei einigen spätem Reklamationen den Standpunkt festzuhalten, daß für eine eidgenössische Abstimmung die eidgenössischen Vorschriften maßgebend sein müssen.

In einem zweiten Kreisschreiben vom Ï. Mai 1872 (Bundesbl.

1872, Bd. H, S. 102) wurde den Kantoneu empfohlen, auch den Post-, Eisenbahn- und Dampfschiffangestelltou die Theilnahme an der Abstimmung vom 12. Mai möglichst zu erleichtern.

Da in dem seither erlassenen Bundesgesez, betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen, vom 19. lleumonat 1872, die früher bestandenen Luken ergänzt sind, so wird von einer nähern Darlegung der Grundsäze, welche in dun bezüglichen Entscheiden maßgebend waren, abstrahii-t, indem künftig lediglich das erwähnte Gesez Norm bildet.

Biindesblatt. Jahrg. XXV. Bd. II.

4

50

C. Polizei.

I. Auslieferung von Verbrechern und Angeschuldigten, 1 a. AI lge'm ein e s.

ö

Auch im Jahre 1872 haben sich die Verhandlungen betreffend Auslieferung von Verbrechern und Angeschuldigten ansehnlich vermehrt.

Die Zahl der von Seite der Schweiz bei auswärtigen Staaten nachgesuchten Auslieferungen stieg auf 41 (1871 betrug sie 32, -- 1870: 22). Die Zahl der Auslieferungen, welche auswärtige Regierungen von der Schweiz verlangten, ist dagegen auf 120 angestiegen, während sie 1871 nur 87 und 1870 bloß 69 betrug.

Mit der Vermehrung der Zahl derartiger Geschäfte haben sich auch die materiellen Verhandlungen vermehrt, aus denen unten einige Spezialfälle mitgetheilt werden.

Hier mag nur erwähnt werden, daß bei Anlaß der von Genf bewilligten Auslieferung des Russen S t ender, genannt Schoukine, wegen Betruges, von der russischen R e g i e r u n g die Beobachtung der Reziprozität für ähnliche Anklagen zugesichert wurde, und daß eine gleiche Zusicherung von Rußland gegeben wurde bei Anlaß der von Zürich wegen Mordes bewilligten Auslieferung des Serge Netchajew.

Im Uebrigen machte die russische Gesandtschaft darauf aufmerksam, daß die Behörden im Innern von Rußland nur durch Vermittlung des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten mit Behörden anderer Länder korrespondiren dürfen, weßhalb solche in das Innere von Rußland bestimmte Korrespondenzen schweizerischer Behörden an die russische Gesandtschaft in der Schweiz gerichtet werden sollten, welche sie den richtigen Weg leiten werde.

Die mangelhafte Ausstellung von Verhaftsbefehlen, die zur Begründung von Auslieferungsgesuchen in das Ausland gehen sollen, veranlaßt noch immer vielfache Korrespondenzen, so daß, um diesen endlich abzuhelfen, die Aufstellung eines Formulars als nöthig erscheint.

Das weitere Detail ergibt sieh aus der folgenden Statistik : Die von Seite der S c h w e i z verlangten Auslieferungen betrafen :

51 3 Mord,

l l l 9 11 7

Körperverlezung, Nothzuchtsversuch, Kindesaussezung, Diebstahl, Betrug und Prellerei, Erpressung, Fälschung und Fabrikation falscher öffentlicher Werthpapiere.

7 bezüglichen Bankerott.

l Hehlerei.

41

Die Auslieferungsbegehren von auswärtigen Staaten bebetrafen : a. Frankreich: 6 Mord, 1 Körperverlezung, 2 Angriff auf die Schamhaftigkeit, 14 Diebstahl, 7 Betrug und Fälschung, 11 betrüglichen Bankerott, 10 Prellerei, Unterschlagung, Verausgabung falscher Bankbillets und Zutrauensmißbrauch, l Verlezung des Postgeheimnisses.

52 b. Italien.

6 Mord, 4 Mordversuch, l Straßenraub, 3 tödtliche Körperverlezung, 1 Nothzucht, 5 Diebstahl, 14 Unterschlagung, 7 Betrug und Fälschung, 6 bezüglichen Bankerott, 2 falsches Zeugniß.

Ì9

52

e. Oesterreich.

2 l l l l

Mord, Unterschlagung, Bigamie.

bezüglichen Bankerott.

Verausgabung falscher Banknoten,

d. Bayern.

1 Todschlag, 2 Fälschung, 2 qualifizirten Diebstahl, ~5 e. Baden.

l Betrug, l Diebstalü, f. Deutsches Reich.

l betrügerischen Bankerott, l Fälschung.

g. Rußland.

l Mord, l Diebstahl.

2 h. Belgien.

l Fälschung.

i. E n g l a n d .

l Diebstahl und Unterschlagung.

Das weitere Detail ist zu ersehen aus folgenden Tabellen

53

b. S t a t i s t i k .

A. Statistik der v o n der Schweiz bei auswärtigen Staaten n a c h g e s u c h t e n Auslieferungen.

Anzahl der Ausge- Unentr VerBeIndi- liefert. dekt. weigert. vozirt.

viduen.

Kantone.

Zürich . . .

Bern . . .

Luzern . . .

Uri Zug . . .

Freiburg . .

Solothurn . .

Basel-Stadt .

Schaff hausen .

Graubünden .

Thurgau . .

Tessin . . .

Waadt . . .

Wallis . . .

Neuen bürg Genf . . .

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

4

1

1

6 1 1 1 3 2 1 2 1 1 4 4 2 3 5

3

2

-- 1 3 2 _

--1

41

Staaten, bei denen diese Auslieferungen verlangt wurden : Baden . . . .

Deutsches Reich England . . .

Frankreich . .

Italien . . . .

Nordamerika . .

2 2 2 27 7 1

41

--

-- -- -- --

--

--2 4

--2

2 1 1 -- -- --1 2 -- -- 1 -- -- --

2 4

--1

20

9

--1

-- -- -- 7 2 --

--

9

8

-- 17 2 --

20

Pendent.

-- -- -- --

-- -- -- -- 1

1

1 --

j

--

--

-- --

8

2

2

2 1 2 2 1

-- -- --1

-- -- -- --2

--1 2

-- 2

54

B. Statistik der d u r c h die Schweiz an auswärtige Staaten bewilligten Auslieferungen.

Anzahl Staaten.

Baden . . . .

Bayern . . .

Belgien . . .

Deutsches Reich England . . .

Frankreich . .

Italien . . . .

Oesterreich . .

Rußland . . .

Ee- ' der Ausge- Unent- Verdekt. weigert. vozirt.

Indi- liefert.

viduen.

2 5 1 2 1 52 49 6 2

3 1 --

-- --

--2 1 34 20 2 2

-- 12 22 3 --

65

41

6 6 4 2 1 38 7 4 6 41

4 3 1 1 1 19 3 2 5 26

2 2 2 1 -- 14 2 2 1 11

-- -- -- -- -- 2 1 -- -- --

5

--

4

--

120

65

41

3

120

Kantone, bei denen diese Auslieferungen verlangt wurden : Zürich . . . .

Bern . . . .

Luzern . . . .

Basel-Stadt . .

St. Gallen . . .

Tessin . . . .

Waadt . . . .

Wallis . . . .

Neuenburg . .

Genf . . . .

Schweiz im Allgemeinen .

2 2

-- --1

2

' l

Pendent.

-- -- --

-- -- -- --3

--2

-- --

2 1 --

3 -- --

3

5

6

-- 1 1 -- -- 1 1

-- -- -- -- 2 -- --

-- -- 1

--3 1

--

6

5 i

55 c. Einzelne Fälle.

1. Der französische Militär D e vi g ne, welcher nach dem Kanton Genf desertirt war, wurde von zwei Franzosen, unter dem Verwände einer Vergnügungstour, auf französisches Gebiet zu gehen verleitet und dort arretirt. Es ergab sich, daß die leztern dieses absichtlich und mit Kenntniß der Grenzverhältnisse gethan hatten, und wurden deßhalb vor den Strafrichter verwiesen. Jener Deserteur dagegen wurde von der französischen Regierung zurükgefordert und von dieser wirklich wieder nach Genf zurükgeschikt.

2. Die Auslieferung des Gottfried M e y e r - H u g e n t o b l e r , welcher in Zürich wegen Diebshehlerei zu 1 1/22 Jahren Arbeitshaus verurtheilt worden war, wurde von der französischen Regierung nur bewilligt in der Meinung, daß die Schweiz in ähnlichen Fällen Gegenrecht halte, worüber sie Gewißheit zu haben wünschte, weil die Hehlerei zuweilen als ein besonderes Delikt betrachtet werde, und im Vertrag vom 9. Juli 1869 nicht vorgesehen sei. -- Da nach Art. l dieses Vertrages nicht bloß d i e Urheber d e r dort dern auch die Mitschuldigen, so wurde kein Anstand genommen, der französischen Regierung die Beobachtung der Reziprozität von Seite der Schweiz für analoge Fälle zuzusichern.

3. Der allgemein anerkannte Grundsaz, wonach kein Staat seine eigenen Angehörigen einem andern Staate zur Bestrafung ausliefert, hat zur Folge, daß der Heimatstaat die Bestrafuug eines Individuums übernehmen muß, das sich in einem fremden Staate einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat und in den Staat, dem es angehört, sich flüchten konnte. Früher wurden diese Fälle in den Auslieferungsverträgen vorgesehen, in den jezt bestehenden Verträgen ist jedoch keine solche Vorschrift mehr enthalten, weil in den neuem Strafgesezbüchern in der Regel die inländischen Gerichte auch als kompetent erklärt sind zur Bestrafung der eigenen Landesangehörigen, die in einem andern Staate ein Verbrechen oder Vergehen verübt und in die Heimat sich geflüchtet haben. Was speziell Frankreich betrifft, so sind die diesem Verfahren hinderlich gewesenen Art. 5, 6, 7 und 187 des Code d'Instruction criminelle durch ein spezielles Gesez vom 27. Juni 1866 in entsprechendem Sinne modifizirt worden. Für die Schweiz bieten diese Verhältnisse etwelche Schwierigkeiten, weil sie keine einheitliche Strafgesezgebung besizt und die kantonalen Geseze nicht überall zutreffende.

Vorschriften enthalten.

spezi

56

Im Jahr 1872 kamen folgende hieher gehörige Fälle vor: a. Ein Aargauer machte sich in Frankreich eines Diebstahlea schuldig und flüchtete nach dem Kanton Neuenburg, wo er arretirt wurde. Auf Ansuchen der französischen Regierung veranlaßte der Bundesrath dessen Bestrafung in seiner Heimat im Kanton Aargau.

b. Unter ähnlichen Umständen wurde auch ein Freiburger (Si mone t) wegen eines Diebstahles in Frankreich von den Gerichten des Kantons Freiburg bestraft. -- Bei Behandlung dieses Falles veranlasste der Bundesrath eine ausdrükliche Erklärung der französischen Regierung hinsichtlich der Beobachtung der Reziprozität.

Dieselbe ließ durch ihren Gesandten in der Schweiz mit Depesche vom I.September 1872 antworten, der Bundesrath dürfe versichert sein, daß die französische Justiz den Erlagen und Anzeigen, welche er an die französische Regierung richten sollte, Folge geben und nichts vernachlässigen werde, damit die von einem Franzosen auf schweizerischem Gebiete verübten Verbrechern und Vergehen bestraft werden.

c. Der Italiener Gallino, welcher in seiner Heimat angeklagt war, im Jahre 1866 eines Mordversuches gegen seine eigene Tochter sieh schuldig gemacht zu haben, kam mit einem italienischen Paß und andern Ausweisschriften nach dem Kanton Tessin, wo er im Jahre 1867 naturalisât wurde. Es konnte deßhalb die im Jahre 1872 von der italienischen Regierung verlangte Auslieferung nicht bewilligt werden, dagegen mußten die tessinischen Gerichte die Untersuchung und Beurtheilung jener Anklage übernehmen.

d. Ein Christian Koch aus dem Elsaß wurde wegen eines Diebstahls |in Basel verfolgt und in Frankreich arretirt. Die von dem Bundesrath verlangte Auslieferung wurde zuerst von der französischen Regierung bewilligt, dann aber abgelehnt, weil Koch sich beeilte, für Frankreich zu optiren. Er wurde daher dem kompetenten französischen Gerichte überwiesen und zu 101 Tagen Gefängnißstrafe verurtheilt.

4. Die Großherzoglich Badische Regierung verlangte die Auslieferung des Grafen A l f r e d v o n O b e r n d o r f f aus Bayern, wohnhaft in Luzern, welcher im Jahre 1868 von dem Kreisgerichte Baden wegen Betruges zu einem Jahre Kreisgefängniß verurtheilt worden war. Oberndorff machte gegen seine Auslieferung die Einwendung, daß er als bayerscher Unterthan nicht ausgeliefert werden dürfe, und daß der Vertrag
zwischen der Schweiz und dem Großherzogthum Baden nur auf Verbrechen sich beziehe, nicht aber auch auf bloße Vergehen, während er nur wegen eines Vergehens verurtheilt worden sei.

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Der Bundesrath wies diese Einrede mit Beschluß vom 28. Februar 1872 als unbegründet ab und verfügte die Vollziehung der Auslieferung. Dieser Beschluß stüzte sich auf folgende rechtliche Gesichthpunkte : 1) Der Auslieferungsvertrag mit dem Großherzogthum Baden vom 29. Oktober 1864 verpflichtet die Schweiz, alle Individuen (mit Ausnahme der eigenen Angehörigen) an Baden auszuliefern, welche -wegen eines in Art. 2 aufgezählten Verbrechens verfolgt oder verurtheilt sind. Die Einwendung des Grafen Oberndorff, daß er als Angehöriger von Bayern nicht an Baden ausgeliefert werden dürfe, ist unbegründet, wenn die ihm zur Last gelegte Handlung unter jenen Art. 2 fällt, da auch dem Art. 6 jenes Vertrages genügt wurde, und die königlich bayernsche Regierung ihre Zustimmung zur Auslieferung an Baden gegeben hat.

2) Der Verfolgte, Graf Oberndorff, behauptet nun keineswegs, daß die ihm zur Last gelegte Handlung nicht strafbar sei, sondern bloß, daß sie nicht ein Verbrechen, wohl aber ein Vergehen involvire, und daß sie auch von dem urtheilenden Gerichte nur als Vergehen behandelt worden sei. Es hat daher die in Art. 9 des Vertrages mit Baden vorgesehene Untersuchung des Thatbestandes nicht weiter stattzufinden.

3) Die Großherzoglich Badische Regierung macht aber der erwähnten Einrede gegenüber mit Recht geltend, daß der Ausdruk ,,Verbrechen"- im Vertrage für Verlezungen des Strafgesezes überhaupt und ohne Rüksicht auf deren Schwere und Strafbarkeit gebraucht ist. Auch hat die genannte Regierung nachgewiesen, daß das badische Strafgesezbuch, welches zur Zeit des Vertragsabschlusses in Kraft war und bei der Fällung des fraglichen Urtheils in Berüksichtigung genommen wurde, die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen nicht kannte.

Das gegenwärtig auch im Großherzogthum Baden in Kraft stehende Strafgesezbuch für das Deutsche Reich macht zwar diese Unterscheidung, aber es geht von dem Grundsaze aus, daß auf bereits rechtskräftig feststehende, iudeß noch nicht verbüßte, Strafen die rükwirkende Kraft des mildern Gesezes nicht ausgedehnt werden dürfe.

4) Zur Erledigung der Frage, ob nach Art. 2 des Vertrages die Auslieferung des Oberndorff objektiv begründet sei, kann daher nur in Betracht kommen, ob die ihm zur Last gelegte Handlung den Thatbestand einer der in diesem Artikel aufgeführten Gesezesverlezungen bilde.

'58 Dieses ist nun wirklich der Fall, indem nach Ziff. 11 jenes Art. 2 ,,Betrug mit Einschluß des betrüglichen Bankerottes (boshafte Zanlungsflüchtigkeit)a zur Auslieferung verpflichtet.

5. Die französische Regierung verlangte die Auslieferung einer in Genf wohnhaften Frau B a u e r , welche vor dem in Versailles sizenden Kriegsgerichte der ersten Division wegen Diebstahls an Silberzeug aus dem Palaste der Ehrenlegion zur Zeit der Herrschaft der Commune in Paris angeklagt war.

Der Bundesrath eröffnete jedoch der französischen Regierung, daß er'dem Begehren um die Auslieferung an ein Kriegsgericht nicht entsprechen zu sollen glaube. Der Auslieferungsvertrag zwischen der Schweiz und Frankreich beruhe materiell bezüglich der Bestimmung der Verbrechen auf der b ü r g e r l i c h e n Strafgesezgebung. Infolge dessen und in Uebereinstimmung mit der konstanten Praxis und mit der Natur der Sache könne die Auslieferung auch nur von den ordentlichen bürgerlichen Strafgerichten verlangt werden. Der Auslieferungsvertrag beruhe lediglich auf dem ordentlichen und normalen Bestände der Strafgerichtsorganisation und schließe jede außerordentliche Gerichtsbarkeit aus. Wenn dies auch nicht ausdrüklich im Vertrage gesagt sei, so verstehe sich diese Interpretation von selbst und folge aus dem Vorbehalte, daß wegen politischen Verbrechen, oder wegen einer mit einem politischen Verbrechen oder Vergehen zusammenhängenden Handlung Niemand ausgeliefert, noch verfolgt oder bestraft werden dürfe, da die Einsezung von außerordentlichen Gerichten, resp. die Uebertragung der bürgerlichen Strafgerichtsbarkeit an Kriegsgerichte immer die Folge von politischen Ereignissen sein werde. Im vorliegenden Falle könne hierüber kein Zweifel walten, weßhalb der Bundesrath glaube, im Recht zu sein, wenn er der französischen Regierung bemerklich mache, daß von der Auslieferung der Frau Bauer nur dann die Rede sein könnte, wenn d'e Untersuchung und Beurtheilung gegen sie vor den ordentlichen Gerichten am Orte der That, d. h. nicht in Versailles, sondern in Paris, stattfände und im Weitern noch nähere Nachweise über die Anklage wegen Diebstahls gegeben würden.

Da es sich ergab, daß das im Besize der Frau Bauer gefundene Silberzeug nicht identisch sei mit demjenigen, das im Palaste der Ehrenlegion gestohlen worden war, so zog die französische
Regierung das Auslieferungsbegehren zurük.

II. Bundes- und kantonales Strafrecht.

1. Es wurden fünf neue Untersuchungen wegen Gefährdung des E i s e n b a h n b e t r i e b e s gemäß Art. 74 des Bundeastraf-

59 rechtes den Gerichten der betreffenden Kantone zur Beurtheilung überwiesen.

Vier andere Untersuchungen waren noch aus dem Jahr 1871 pendent.

In diesen neun Fällen waren 16 Personen betheiligt. Davon, wurden sechs entweder freigesprochen, oder von der Anklage entlassen. Eine Untersuchung, betreffend zwei Personen (Waadt), blieb pendent. Acht Personen wurden yerurtheilt wie folgt: a. Zwei Personen in Bern wegen fahrlässiger Gefährdung des Eisenbahnbetriebes, ohne Verursachung von Schaden (Art. 67, litt, b des Bundesstrafgesezes), je zu ein Tag Gefängniß und Fr. 10 Buße.

b. Eine Person in Zürich wegen der gleichen Anklage und ebenfalls ohne Verursachung von Schaden zu 7 Tagen Gefängniß und Fr. 30 Buße.

c. Zwei Personen in Frauenfeld wegen gleicher Ankluge ohne Schaden je zu ein Tag Gefängniß. In diesem Falle wurde die Regierung von Thurgau darauf aufmerksam gemacht, daß na «h Art. 67, litt, b des Bundesstrafrechtes mit der Gefängnißstrafe auch Buße hätte verbunden werden sollen, daß aber wegen der Geringfügigkeit der Sache von der Appellation abstrahirt werde.

d. Eine Person in Sargans wegen fahrlässiger Gefahrdung des Eisenbahnbetriebes, in deren Folge acht Personen Verwundungen erlitten und ein Schaden von über Fr. 20,000 verursacht wurde (Art. 67, litt, a des Bundesstrafgesezes), zu drei Monaten Gefäugniß und Fr. 300 Buße.

Die von dem Verurtheilten bei der Bundesversammlung nachgesuchte Begnadigung wurde abgelehnt (Bundesblatt 1872, Bd. II, S. 748 und 989 und Bd. III, S. 60).

Da der Verurtheilte seinen Wohnsiz aus dem Kanton St. Gallen in einen andern Kanton verlegt hatte, so entstand die Frage, wie nun die Gefängnißstrafe zu vollziehen sei. Der Buudesrath sprach sich dahin aus : die Bestimmung der Kompetenz durch den Bundesrath in den in Art. 74 des Bundesstrafrechtes vorgesehenen Fällen habe zur Folge, daß für die betreffende Untersuchung das Strafv e r f a h r e n des bezeichneten Kantons zur Anwendung komme, während das Straf r e c h t nach dem erwähnten Buudesgeseze sich richte. Daraus folge, daß auch die Vollziehung des Urtheils von den kompetenten Behörden des bezeichneten Kantons und in der gleichen Weise durchzuführen sei, wie es geschehen müßte, wenn

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es sich um ein Strafurtheil ganz gewöhnlicher Art handeln würde.

Der Art. 203 der Bundesstrafrechtspflege finde hier keine Anwendung, weil derselbe nur auf Strafurtheile sich beziehe, die von den Bundesassisen erlassen worden seien.

e. Eine Person in Boudry wegen Fahrlässigkeit, welche einen gewissen Schaden an .Material und die Verwundung von einer Person zur Folge hatte, in Anwendung von ausschließlich k a n t o nalen Gesezen zu Fr. 20 Buße und zur Bezahlung der Kosten.

Dieses Urtheil steht im Widerspruch mit Art. 74 und mit Art. 67, litt, b des Bundesstrafgesezes, wonach die Bestrafung nach den Vorschriften dieses B u n d e s g e s e z e s hätte erfolgen und die Strafe in Geldbuße v e r b u n d e n m i t Gefängniß hätte bestehen sollen.

Indeß wurde auch hier von einem weitern Rechtsmittel Umgang genommen. Dagegen erging aa die Regierung von Neuenburg die Einladung, dafür zu sorgen, daß künftig in allen derartigen Fällen das Bundesstrafrecht zur Anwendung komme.

Da der Verurtheilte seinen Wohnsiz ebenfalls in einen andern Kanton verlegt hatte, so wurde das im Falle litt, d erwähnte Verfahren bezüglich der Vollziehung der Strafen auch auf den Bezug der Kosten anwendbar erklärt.

f. Eine Person in Bern wegen Fahrlässigkeit, die einen Schaden von Fr. 211 zur Folge hatte, zu vier Monaten Gefängniß und Fr. 20 Buße.

2. Der oben sub l a erwähnte Fall bezog sich auf die Herren Büchsenmacher M ü l l e r in Bern und Käsehändler M a u e r h o f c r in Trubschaehen, welche während des Krieges zwischen Frankreich und Deutschland (Januar 1871) ungefähr 100 Zentner Pulver in Käsekübeln und als Käse deklarirl;, nach Frankreich spedirteli, indem sie das Pulver zwischen Käse verpakten. Sie wurden wegen leichtsinniger Gefährdung von Eisenbahnzügen den Gerichten des Kantons Bern zur Beurtheilung überwiesen. Der erstinstanzliche Richter sprach sie jedoch frei und übertrug die Kosten der Bundeskasse, weil in Art. 67 des Bundesstrafgesezes vom 4. Februar 1853 in Verbindung mit Art. 12 des nämlichen Gesezes zur Strafbarkeit einer fahrlässigen Handlung oder Unterlassung eine e n t s t a n d e n e S c h ä d i g u n g vorausgesezt werde, diese Bedingung aber hier nicht vorliege, weil kein Schaden entstanden sei.

Diese Theorie konnte jedoch nicht anerkannt werden, weßhalb unser Justiz- und Polizeidepartement ermächtigt wurde, alle Rechtsmittel zu ergreifen, um die Aufhebung jenes Urtheils zu erwirken.

61 Das genannte Departement erklärte nun die Appellation an die Polizeikammer des Kantons Bern, obschon das erstinstanzliche Urtheil vom 6. Juni 1872 erst am 7. August gleichen Jahres mitgetheilt worden, also die Appellationsfrist von 10 Tagen, welche nach Art. 452 des bernischen Strafprozesses den bei Ausfällung des Urtheils anwesenden Parteien eingeräumt ist, längst abgelaufen war.

Für die formelle Zulässigkeit der Appellation wurde geltend gemacht, daß dem eidg. Justiz- und Polizeidepartement, resp. dem Bundesrath, wenn eine Vorladung zur erstinstanzlichen Beurtheilung nicht erfolgt sei, jene Frist von 10 Tagen zur Appellation erst vom Tage der Mittheilung des Urtheils an zu laufen beginnen.

Die materielle Berechtigung zur Appellation wurde damit begründet, daß die Souveränetät und die Interessen des Bundes?

sowie die Vollziehung eines Bundesgesezes in Frage liegen. Nun haben nach Vorschrift von Art. 90, Ziff. 2 und 5 der Bundesverfassung und von Art. 25, Ziff. l des Bundesgesezes über die Organisation und den Geschäftsgang des Bundesrathes vom 16. Mai 1849 der Bundesrath und das Justiz- und Polizeidepartement nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht, über die Vollziehung der Bundesgeseze zu wachen. Dieser Pflicht können sie sich nicht entschlagen, und namentlich sei dieses auch im Spezialfalle nicht geschehen, denn die Delegation der Beurtheilung desselben an die Gerichte des Kantons Bern habe unter der Voraussezung stattgefunden, daß leztere die betreffenden Bundesgeseze richtig anwenden. So weit dieses aber nicht geschehen sei, so weit seien die Bundesbehörden an diese Delegation nicht gebunden und kein kantonales Prozeßgesez vermöge sie an der Verfolgung der bundesgemäßen Rechte zu hindern, namentlich also auch nicht daran, von sich aus diejenigen Rechtsmittel zu ergreifen, welche nöthig seien, um einem bestimmten Bundesgeseze die richtige Vollziehung zu verschaffen.

Wenn daher die bernischen Gerichte die Zulässigkeit der Appellation ablehnen sollten, so würde das Rechtsmittel der Kassation bei dem Bundesgerichte vorbehalten.

In der Hauptsache wurde die Appellation damit begründet, daß der Art. 67, litt, b des Bundesst rafgesezes unrichtig angewendet worden sei. Die Ansicht der ersten Instanz, daß zum Thatbestand der leichtsinnigem Gefährdung von Eisenbahnzügen stets ein e n t s
t a n d e n e r Schaden gefordert werde, sei irrig. Es werden nämlich in jener Gesezesstelle ganz deutlich zwei Fälle unterschieden: den einen, wo lediglich ,,eine solche erhebliche G e f a h r herbeigeführt", und der andere, wo ein Schaden wirklich

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veranlaßt worden sei. Diese beiden Fälle seien auch in der angedrohten Strafe unterschieden, indem für den erstem Fall das Maximum der Strafe ein Jahr, für den zweiten Fall drei Jahre Gefängniß und zwar immer v e r b u n d e n mit G e l d b u ß e angedroht seien. Der vom erstinstanzliehen Richter herbeigezogene Art. 12 des Bundesstrafrechtes komme hier nicht zur Anwendung, weil hier gerade ein Fall vorliege, in welchem der besondere Theil desselben Gesezbuches eine Strafe vorschreibe, obschon keine Schädigung entstanden sei.

Bei der bezüglichen Verhandlung vor der Polizeikammer des Kantons Bern, bei welcher das eidg. Justiz- und Polizeidepartement durch seinen Sekretär behufs Begründung der zur Wahrung des Gesezes erforderlichen Anträge sich vertreten ließ, warfen die Fürsprecher der Angeklagten zunächst zwei Vorfragen auf. Einerseits verlangten sie, daß Hr. Trachsler nicht zuzulassen sei, weder als Vertreter des Bundesrathes, noch als Staatsanwalt, noch als Zivilpartei ; andererseits beantragten sie, es sei die Appellation des Bundesrathes überhaupt nicht zuzulassen. Beide Anträge wurden jedoch von der Polizeikammer nacheinander abgewiesen.

In der Hauptsache wurde dann das oben erwähnte Urtheil ausgefällt, das in Betracht der politischen Verhältnisse zur Zeit der That als ein zu gelindes erscheint, allein jezt wenigstens formell dem bezüglichen Geseze entspricht und einer gesezwidrigen Praxis vorbeugt.

3. Das Urtheil der bürgerlichen Bundesassisen des III. Bezirkes über die t u m u l t u a r i s c h e . a V o r g ä n g e in der T o n h a l l e in Z ü r i c h vom 7. bis 11. März 1871 hat im Laufe des Jahres 1872 in allen Theilen seine Vollziehung gefunden. Die Gesammtkostcn dieses Prozesses betrugen Fr. 16,371. 82, woran von den Verurtheilten nur .Fr. 960. 51 erhältlich waren, so daß der Rest mit Fr. 15,411. 31 auf der Bundeskasse blieb.

4. Ueber die B e s c h i m p f u n g eines f r e m d e n K o n s u l s wurde in Lugano eine Untersuchung eröffnet. Der Bundesrath billigte dieses Vorgehen, verlangte aber vor der Ueberweisung an das kompetente Gericht sämmtliche Akten zur Einsicht zu erhalten, um nach Art. 44 und Art. 73 des ^Bundesstrafgesezes den ihm zustehenden Entscheid hinsichtlich des Gerichtsstandes geben zu können.

Die Gerichte des Kantons Tessin .traten jedoch in die Beurtheilung der
Anklage ein, ohne daß dieser Entscheid über den Gerichtsstand eingeholt worden wäre, indem der Angeklagte in Anwendung der tessinischen Gesezgebung in zweiter Instanz zu 3 Tagen Gefängniß und zur Bezahlung der Kosten vemrtheilt wurde. Unter diesen

63 Umständen wurde der nachträglich verlangte Entscheid über die Gerichtsbarkeit abgelehnt und wegen der Geringfügigkeit der Suche von weitern Maßnahmen abstrahirt.

5. Zwei andere Fälle wegen V e r l e z u n g des Postgeheimnisses wurden ebenfalls den kantonalen Gerichten überwiesen. Der eine wurde durch Freisprechung des Angeschuldigten erledigt ; der andere blieb pendent.

III. Politische Polizei, Flüchtlinge.

1. Um die Mitte des Monates April ist durch die Presse ein Schreiben des Sekretärs von Don Carlos, Herzog von Madrid, datirt Genf 20. April, publizirt worden, welches als das Programm des leztern gegen die bestehende politische Ordnung in Spanien erschien, indem der Herzog offen als Prätendent und als Chef der nach ihm genannten politischen Partei auftrat. In diesem Schreiben wurde unumwunden erklärt: ,,Es bleibt jezt dem Herzog von Madrid und der karlistischen Partei nur übrig, mit den Waffen die Ehre, Würde und Unabhängigkeit der Nation zu vertheidigen. Der Herzog von Madrid nimmt Angesichts der ganzen Welt für sich die Ehre in Anspruch, die Vorhut der grossen katholischen Armee zu befehligen'1 etc.

In der That brach fast gleichzeitig in Spanien ein Aufruhr aus und es wurde behauptet, daß Don Carlos von Genf aus auf den Schauplaz geeilt sei, um sich an die Spize der Revolution zu stellen.

Solche Vorgänge waren vollkommen geeignet, der Vermuthung Raum zu geben, daß von Genf aus der Aufruhr in Spanien eingeleitet worden sei, oder daß zum Mindesten von dort aus die Parteigänger des spanischen Kronprätendenten zur Eröffnung des offenen Kampfes angetrieben worden seien. Im einen wie im andern Falle mussten in Genf Handlungen vorgenommen worden sein, die mit dem Prinzipe der Neutralität der Schweiz im Allgemeinen nicht verträglich sind, und insbesondere einem Staate gegenüber, mit dem die Schweiz auf friedlichem und freundschaftlichem Fuße steht, nicht geduldet werden dürfen.

Die Regierung des Kantons Genf wurde deßhalb eingeladen, den Herzog von Madrid und dessen Sekretär auf das Unstatthafte ihrer Handlangen aufmerksam zu machen und sie zu ermähnen, fernere Aufmunterungen zum Aufruhr in Spanien vom Gebiete der Schweiz aus zu unterlassen, andernfalls ihnen die fernere Gestattung des Aufenthaltes entzogen werden müßte.

Es ergab sich indeß, daß die Genannten Genf verlassen hatten, bevor ihnen diese Mittheilung gemacht werden konnte.

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Später wurde ermittelt, daß ein anderer Spanier, angeblich im Auftrage der Königin und zu Gunsten des Königs Don Carlos Vu.

von Spanien, Anwerbungen auf Genfergebiet vornahm und die Angeworbenen mit,, einer Art Pass ve::sah, behufs ihrer Reise auf den Kampfplaz in Spanien. Es wurde unverzüglich eine Strafuntersuchung wegen Uebertretung des Werbverbotes im Sinne von Art. 3 des Bundesgesezes vom 30. Juli 1859 eingeleitet, allein der Beschuldigte entzog sich der Verurtheilung durch plözliche Flucht.

2. Im Anfange des Monats März wurde von Seite der italienischen Gesandtschaft dem Bundesrathe zur Kenntniß gebracht, daß in und bei Lugano wieder eine größere Zahl italienischer Flüchtlinge sich ansammle und daß ein neuer Einfall auf italienisches Gebiet in1 s Werk gesezt werden soll. Die italienische Regierung beschränkte sich zwar darauf, die Bundesbehörden auf dieses Treiben aufmerksam zu machen, ohne damit irgend welche weitere Zumuthung zu verbinden. Sie fügte jedoch bei, daß sie ihre Maßregeln treffen und sich nach dem Verhalten der schweizerischen Behörden richten werde.

Die von unserm Justiz- und Polizeideparteinent an Ort und Stelle angeordnete Untersuchung ergab indeß, daß nur ganz wenige italienische Flüchtlinge im Tessin sich aufhielten, und dass sich diese keinen politischen Umtrieben hingaben. Dagegen wurde die Anwesenheit eines Luigi Cecchini ermittelt, welcher im März 1870 als politischer Flüchtling nach Lugano gekommen war und im Mai darauf den bekannten bewaffneten Einfall in Italien unter Anführung von Joseph Nathan mitgemacht, sowie die Polizeibehörden wiederholt durch falsche Angaben getäuscht hatte. Er wurde daher gleich allen andern Theilnehmern au jenem Einfalle aus der Schweiz ausgewiesen.

3. Ein anderer Genösse Nathans, Aurelio Colombo, welcher wegen der gleichen Aktion im Juli 1870 auch aus der Schweiz ausgewiesen worden war, kehrte wieder mit gehörigem italienischen Passe nach dem Kanton Tessiu zurük. Es wurde jedoch nicht zugelassen, daß der Ausweisungsbeschluß des Bundesrathes in dieser Weise via facti unwirksam gemacht werde. Indeß konnte aus dem Umstände, daß die italienischen Behörden dem Colombo einen neuen Paß ausgestellt hatten, geschlossen werden, daß seine politische Thätigkeit nicht gefahrlicher Art sein müsse. Er wurde deßhalb aufgefordert, dem Bundesrathe eine
Bittschrift einzureichen, um die Aufhebung seiner Ausweisung aus der Schweiz zu erlangen. Nachdem diese Bittschrift, mit günstigen Zeugnissen begleitet, eingekommen war, wurde die Ausweisung des Colombo auf dessen Wohlverhalten hin aufgehoben.

65 4. Im Februar 1872 wurden von der französischen Polizei mehrere Communards (worunter auch Franzosen), welche von den Militärgerichten freigesprochen worden waren, auf die schweizerische Grenze in den Kanton Neuenburg gebracht und hier, ohne daß sie mit Legitimationspapieren versehen worden waren, freigelassen.

Gegen dieses Verfahren wurde bei der französischen Regierung reklamirt, weil die Schweiz nicht verpflichtet ist) ihr fremde Individuen, die aus politischen Gründen in Frankreich nicht geduldet werden wollen, bei sich aufzunehmen. Angehörige dritter Staaten mögen von Frankreich direkt ihren Heimatstaaten zugewiesen werden und was die Franzosen betrifft, so haben sie unter den erwähnten Verhältnissen keinen Anspruch auf das Niederlassungsrecht, zumal ihr Erscheinen auf dem schweizerischen Gebiete nicht auf ihrem freien Willen, sondern auf Zwang von Seite der französischen Polizei beruhte. Es dürfe aber kein Staat seine polizeilich verdächtigen Angehörigen einem andern Staate zuschieben. Jedenfalls werden keine Fremden aufgenommen, die nicht wieder daliin zurükkehren können, woher sie gekommen seien. Wenn auch Franzosen, die mit gehörigen Pässen versehen werden, nach Ablauf der Zeit ihrer Verbannung, weder nach Frankreich zurükkehren könnten, so verhalte es sich verschieden mit den Angehörigen anderer Staaten, deren Gesezgebungen über den Verlust des Heimatrechtes weniger klar seien.

5. Die Gemeinde Leuk, Kts. Wallis, wählte den J e s u i t e n Franz All et zu ihrem Pfarrer. Auf eine bezügliche Reklamation des Bundesrathes Übermächte die Regierung von Wallis eine Erklärung des Bischofs von Sitten, daß Hr. Allet nun in die Walliser Geistlichkeit und unter die -Botmässigkeit des Bischofs getreten sei.

Hierüber wurde unterm 1. November 1872, -- in Betracht : 1) daß der Art. 58 der Bundesverfassung dein Orden der Jesuiten in keinem Theile der Schweiz die Aufnahme ö»·estattet;' 2) daß der Bundesrath' und 'die Bundesversammlung diesem Artikel die Auslegung gegeben haben, daß auch den e i n z e l n e n Mitgliedern des Jesuitenordens jede Wirksamkeit in Kirche und Schule untersagt sei; 3) daß Hr. Allet, der seiner Zeit in den Jesuitenorden gdreten, gegenwärtig zwar wohl eine bischöfliche Erklärung beigebracht hat, daß er in den Diocesan-Klerus der Dioce.se Sitten aufgenommen worden sei und sich
einzig unter die bischöfliche Jurisdiktion gestellt habe, daß aber der Nachweis fehlt, es habe derselbe unbedingt aufgehört, dem Orden der Jesuiten überhaupt anzugehören; beschlossen: Bandesblatt. Jahrg. XXV. Bd. EL

5

66 Es sei der Staatsrath von "Wallis eingeladen, der Wahl des Hrn. Franz Allet zum Pfarrer in Leuk -- als dem Art. 58 der Bundesverfassung widersprechend -- die, Genehmigung- zu versagen und die nöthigen Vorkehren zu treffen, damit dieser Beschluss seine Vollziehung erhalte.

6. Bezüglich der p o l n i s c h e n F l ü c h t l i n g e sind auch im Jahr 1872 keine Veränderungen rüksichtlich ihrer polizeilichen Stellung getroffen worden. Es wurden 5 Passe an solche Polen ausgestellt, die in das Ausland verreisten. Die üblichen Unterstüzungen an einige Kranke und Altersschwache betrugen Fr. 1140. 80.

D. Heimatlosenwesen.

1 . T e s s i n. Die Einbürgerung der Heimatlosen dieses Kantones hat im Laufe des Jahres 1872 denjenigen Fortgang genommen, den man von der Art und Weise des Beginnes dieser wichtigen Arbeiten von Seite der tessinischen Behörden erwarten konnte.

Diese Arbeiten sind in der That mit dem größten Eifer gefördert worden, wovon sich auch der eidg. Untersuchungsbeamte an Ort und Stelle überzeugt hat.

Die Regierung von Tessin erstattet?, dein Großen Räthe unterm 21. Januar 1873 einen einläßlichen Bericht, den sie auch dem Bundesrathe mitlheilte. Aus diesem Berichte entheben wir folgende Details : Bis den 18. Januar 1873 erließ die Regierung 1064 auf die Heimatlosen bezügliche Dekrete. Mit 784 dieser Dekrete wurden 2552 Personen förmlich eingebürgert. Der Rest bezog sich einerseits auf Ablehnung der Einbürgerung (221), weil die Angehörigkeit in andern Staaten oder im Kanton Tessin selbst unzweifelhaft festgestellt werden konnte, und andererseits (23), auf die Unterlassung der Einbürgerung, weil die bei reffenden Personen wegen ihres Alters gemäß Art. 3 des Bundesgesezes nicht mehr eingebürgert werden müssen. Zwei weitere Dekrete bezogen sich auf Personen, die nicht als tessinische Heimatlose anerkannt werden konnten und darum ausgewiesen wurden. Endlich wurden 4 Fälle, dem Bundesrathe überwiesen, weil sie mit andern Kantonen streitig und daher auf dem bundesrechtlichen Wege zu erledigen sind.

Unter den Dekreten über Einbürgerung beziehen sich 84 auf Findelkinder, deren Mütter ermittelt wurden. Diese Kinder erhielten die Gemeindebürgerrechte ihrer Mütter. Die andern Findelkinder, deren Mütter nicht ermittelt werden konnten, wurden in denjenigen Gemeinden eingebürgert, gegen welche nach den Ergebnissen der Untersuchung am meisten Belastungsgründe vorlagen.

67 Endlich sind auch im Kanton Tessin Vorschriften erlassen worden welche die Entstellung neuer Findelkinder zu verhüten geeignet sind Kino aufallende Erscheinung welche die frühem polizeilichen Zustände des -Kantons Tessin in kinnern günstigen Lichte zeichnet ist die grosse Z a h l von Dekreten, wodurch der Staatsrathh die Einbürgerung ablehnen mkönneni glaubte-, indem sieh daraus ergibt, daß die,Polizeii i n d r GGestattungg desAufenthaltes zzuu nachsichtig war und oft keinen Nachweis über die Heimatverlangte,, s o d s s s î nach längerer Zeit die. Fremden m i t denEinheimiscnn» Von den 2 2 1 D e k r e n n n dieser Art beziehen s i c h n ä m l h 1«176i auf F a m i l i e n o r r r Personen, diealss Italiener, und 4 5 a u f F a m i l n n n s c h e i d i e Erstern hoffen,ffenn, a u f t e D a , - ; die:

Wege Tessiner zuerczu.u

d e n Lokalbehördendenbehördenden

d i e s e n A u f e n t h a l t gestattet durch zweifelhaft geworden, d den

a

h a t t e n t t e t . h a t t e n i ) , ohne (.livrauf

ß unterlassen wurde, heimatlichen Behörden mitzutheilen.itzutheilencn.

Der Staatsrath von Tessin hat sich desshalb veranlaßt gesehen, bei dem Gro .'km Räthe den Erlaß von Vorschriften anzuregen wodurch die Gemeindebehörden unter Androhung von Butten und éventuel! der Verantwortlichkeit (1er Gemeinden für die. Folgen angehalten werden sollen, dafür zu sorgen, daß die Ehe-, Taufund Todtenscheine unverzüglich den Heimatgemeinden zukommen.

Von den 176 Familien, welche der Staatsrath nicht a,ls tessinische Heimatlose anerkannt hat, sind 90 schon jezt iii Folge, ami licher Verwendung in ihrer ursprünglichen Heimat wieder anerkannt und mit neuen Legitimationspapieren versehen worden.

Bezüglich weiterer48 Familien sind dieUntersuchungen bei den betreffenden italienischenGeneralanwälten eingeleitet worden, aber dort nochpendent.Ueber 3 5 Familien werden v o n H e i m a u u u erlangen. Die übrigen U Fnmilieu sind in der ursprünglichen Heimat nicht mehr anerkannt und daher sofort im Kanton Tessin eingebürgert worden.

68 Die Eingebürgerten vertheilen sich auf die einzelnen Bezirke wie folgt: Bezirk ,, v ,, ,, ,, f l

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Mendrisio Lugano Locamo Vallemaggia Bellinzona Riviera Elenio Lcvenüna

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1158 Personen.

880 ,, 30!)

,, 84 ,, 5'2 ,, 26 ,, 2 2 ,, 21 ,,

Es gab also im Kanton Tessin längs der italieniselieu Grenze die meisten Heimatlosen, während ihre Zahl in den Bezirken nach den Alpen' hin sieh allmählig verminderte.

Ein glänzendes Keugniß für die Gerechtigkeit und Büligkeit der EinbürgCH'ungsbesf.hlüsse des Staatsrathes ergibt, sich aus der Thatsache, daß von der ganzen großen Zahl nur 16 an den Großen Rath rokurrirt wurden.

Das Departement des Innern des Kantons Tessin hat nicht erma.ngclt, auch der Vollziehung der Beschlüsse des Stautsrathes durch die Gemeinden seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Zwei Krekschreiben vom 17. Januar 1871 und 7. Oktober ",872 gaben den loztttm die nötbigen Instruktionen, dia nach dem Bericht«.1 der Ri'giemng im AI'gemeinen befriedigend beobachtet worden sind.

Die Regierung von Tessin erklärte in ihrem Berichte, an den Großen Rath und wiederholte es auch gegenüber dem Bundosrathc. daß mit Ausnahme weniger Rükstände die Einbiirgerung der UüimaUoscn im Kanton Tessili als vollzogen betrachtet worden könne. Die Feststellung dieser Thatsache wird indeß noch einer nähern Prüi'uug unterstellt werden müssen, zumal die Rükstiiiide der Art zu sein scheinen, daß sie noch einige Zeit in Anspruch uo'inittH werden. Immerhin ist anzuerkennen, daß diese AmjC'.h'frenïio.it von den Behörden des Kantons Tessili mit Umsi«ht iiud Eni'.rgu; betrieben worden ist, und daß ihre definitive fCrlwligung jedeni'nlls im Laufe des Jahres 1873 erfolgen wird.

' Der (li-oße Rnth hat den Bericht des Siaatsrathes vom 21.

' :uunr 1873 noc.h nicht behande.lt. Es schien ihm jedoch die ·;tho so -»vichtig, «laß er aus sainer Mitte eine Bpey.iaJkommission ,4;ì.'!fc, weìc5;;; vor der nächsten Sizung das Großen ':?ni'ica zuitis..n«i'oi-otüu, die ganze AugelegeHheit prüfen und übur «las Re,,l'hit l'oric.Ui erróaUen soll.

69 2. W a 11 i s. Auch in diesem Kanton ist die, Einbürgerung der Heimatlosen auf sehr anerkennenswerthe Weise befördert worden. Der eidg. Untersuchungsbeamte hat sich wich in Sitten überzeugt, daß die Behörden des Kantons Wallis im Laufe des Jahres 1872 und namentlich in der «weiten Hälfte dieses Jahres mit großem Eifer und in völligem Anschlüsse an dio von den Bundesbehörden aufgestellten Grundsäze die Vollziehung der Einbürgerung betrieben haben, so daß das Departement des Innern in seinem Berichte vom 22. Januar 1873 erklären und unter Vorlage einer nach den Bezirken und Gemeinden geordneten Generalübersicht nachweisen konnte, daß das Bundesgesez auch im Kauf on Wallis, mit Ausnahme einzelner weniger Fälle, seine Vollziehung erlangt, habe.

Aus der erwähnten Uebersicht, die, auf einer Revision der früheren Listen beruht, ergibt sich, daß eingebürgert wurden : 134 Heimatlos);, welche zugleich die Naturalisation erhielten, 3386 Ewige Einwohner, 1391 Uneheliche Kinder, 9 Fremde, deren Herkunft unbekannt war.

4920.

Wegen Alters oder wegen krimineller Bestrafung wurden in Anwendung von Art. 3 des Bundesgesezes von der Einbürgerung ausgenommen 33ß Personen.

Es bleiben noch einzubürgern 9 Findelkinder und 5 Familien, die dem Kanton Wallis zugesprochen worden sind.

9 Familien und 2 einzelne Personen sind streitig mit andern Kantonen, und 3 andere Familien mit andern Staaten. Ebenso bestehen Streitigkeiten zwischen Gemeinden des Kantons Wallis über die Angehörigkeit von 4 Familien.

Die Erledigung dieser Rükstände ist eingeleitet und wird nach Möglichkeit befördert.

Der zähe Widerstand, den einzelne. Gemeinden des Unter wallis der Einbürgerung der Heimathlosen entgegenstellten, veranlaßte auch im Berichtsjahre mehrere Reklamationen und spezielle.

Entscheide der Bundesbehörden.

Eine der wichtigsten Reklamationen, jene der ewigen Einwohner, welche von den Gemeinden St. Maurice, Port Valais, Vouvry, Vionnaz, Mouthey, Evionniaz,Martigny und Massongex in entlegenenBerggemeindenn eingebürgert worden waren, veranlagte, unterm 2,3. Februar 1872 einen Spezialbericht an die Bundesversammlung, auf welchen hiermit verwiesen wird. DerBescheidd

70 der Bundesversammlung vom 4. März 1872 fiel bekanntlich zu Gunsten der Reklamanten aus, so daß sie gegen ihren Willen nicht in einer andern Gemeinde eingebürgert werden dürfen, als in derjenigen , in welcher sie das ewige Einwohnerrecht (droit de manence) erworben haben.

Die Mehrzahl dei- erwähnten Gemeinden fügte sich diesem Entscheide der höchsten Bundesgewalt nur die Gemeinde Monthey leistete unter allen möglichen Einwänden Widerstand, so dass im November eine nähere Untersuchung der Verhältnisse durch den eidg. Untersuchungsbeamten an Ort und Stelle nöthig wurde. Es wurde Imuptsächlich eingewendet, dass die Cummuniers und Ressortissants nicht im Beschlüsse der Bundesversammlung inbegriffen seien, Hierüber faßte der Bundesrat}) um 22. November 1872 folgenden Beschluß: ,,D e r s c h w e i z e r i s u h e. B u n d e s r a t h hat,

,,Da sich ergeben, daß einzelne. Burgschaften des Kantons Wallis) ihre Angehörigen (ressortissants) und Gemeindegenossen (communiers) nicht in der eigenen Gemeinde einbürgern zu müssen glauben ; in Betracht ,,1) Daß die schweizerische Bundesversammlung, in Erledigung bezüglicher Beschwerden von ewigen Einwohnern (habitants perpétuels) des Kantons Wallis, unterm 4. März 1872, in näherer Auslegung des Art. 2. Ziff. 1. und Art. 17 des Bundesgesezes über die Heimatlosigkeit vom 3. Dezember 1850, beschlossen hat, es können diejenigen ewigen Einwohner, welche bestimmten Gemeinden angehören, ohne ihre Einwilligung nicht andern Gemeinden bürgerrechtlich zugetheilt werden; ,,2) Daß «1er Sinn dieses Beschlusses kein anderer sein kann, als daß «lie Personen, welche in. irgend einer Form und unter welchem Kamen es sein mag, bereits Angehörige bestimmter Gemeinden geworden, oder in einer Gemeinde als solche behandelt und geduldet worden sind, in eben dieser Gemeinde eingebürgert werden müssen und gegen ihren Willen nicht in andern Gemeinden eingekauft werden dürfen; immerhin unter Vorbehalt des in Art. 5 des Bundesgesezes vorgesehenen Einkaufes in den Burgernuzen;

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,,3) Daß die Frag?,, wer in dieser Weise Anspruch auf ein bestimmtes Gemeindebürgerrecht habe, nach Art. 12 des Walliser Gesezes über die Heimatlosigkeit nicht zum Gegenstand eines Prozesses vor de.m Verwaltungsgericht gemacht werden darf, weil liier keiner der dort vorgesehenen Fälle vorliegt,, und daß mich das Gesez über Verwaltungsstreitigkeilen vom 24. Mai 1855 auf Einbürgerungen gemäß den Vorschriften des Gesezes über die Heimatlosigkeit keine Anwendung finden darf; beschlossen : ,,1. Es sei der Staatsrath des Kantons Waliis eingeladen, dafür besorgt zu sein, daß die Einbürgerung von Personen, die in bestimmten Gemeinden, unter welcher Bezeichnung es sein mag, anerkannt waren, nur im Sinne obiger Erwägungen ihre Vollziehung erhalte, und daß entgegenstehende Verfügungen rükgängig gemacht werden.

,,2. Sei dieser Beschluß dem Staatsrath von Wallis mit-zutheilen, mil der Einladung, denselben im Amtsblatt zu publiziren und den Gemeinden, wie allen Betheiligten, Mir Kenntniß zu bringen. " Eine andere Reklamation ging von einigen Unehelichen des Kantons Wallis aus und bezog sieh auf die Frage,, ob sie gehalten seien, wie andere Heimatlose, die entsprechende Einkaufssumme au bezahlen, wenn sie Anspruch auf die Burgernuzungen machen wollen. Dar Bundesrath verneinte diese Frage und faßte am 27. November 1872 folgenden Beschluss: ,, D e r s ch w e i z e r i s e h e B u n d e s r a t h hat ,,über die Frage, ob diejenigen unehelichen Kinder, welche, von Burgern oder Bürgerinnen des Kantons Wal Ms abstammen und die Nachkommen solcher Unehelichen durch ihre Einbürgerung in der Heimatgemeinde ihrer Eltern auch zugleich unentgeltlich die Nuznießung der Burgergüter erwerben, oder o'.' hie sich nach Vorschrift von Art. 5 des Gesezes vom 3. Juni 1870 einkaufen müssen.

"folgende Gesichtspunkte in Betracht gezogen: ,,1) Die Artikel 157, 159 160 und 1(51 des Ins 1855 in Kraft gewesenen bürgerlichen Gesezbuches des Kantons Wallis und die daraus entsprungenen Artikel 151, '154 und f.55 des neuen bürgerlichen Gesezbuehes dieses Kantons (in Kraft seit 1. Januar 1855), wonach die. Unehelichen von Walliser Burgern nicht Burger, sondern bloß Angehörige der Heimatgemeinde des Vaters oder der

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Mutter wurden, standen von Anfang an mit den allgemein an- · erkannten Grundsäzen des Familienrechtes im Widerspruch, wonach die ehelichen und unehelichen Kinder überall durch die Geburt alle politischen und bürgerlichen Kochte ihrer Eltern erwerben ; ,,2) auch das Bundesgesez über die Heimatlosigkeit vom 3. Dezember 1850 hat dieses leztere Prinzip anerkannt, indem es in Art. 11 die eheliche oder außereheliche Abstammung von Eltern, die schon Bürger eines Kantons sind, au die Spize aller Thatsachen stellt, welche für die Einbürgerung maßgebend sein sollen, und in Art. 12, Ziff. 2 vorschreibt, daß außereheliche Kinder dem Bürgerrechte der Mutter folgen. Wenn nun auch das Bundesgesez keine Bestimmung enthält, wodurch die Kantone gehindert wären, unter gewissen Umständen das uneheliche Kind dem Burgerrechte des Vaters folgen zu lassen, so ist es doch jedenfalls weil, davon entfernt, anzuerkennen, daß ein uneheliches Kind innerhalb der Gemeinde weniger Rechte genießen dürfe, als die Mutter,l oder im leztern Falle, der Vater, ihrerseits durch die Geburt erworben haben; ,,3} dus Gesez des Kantons Wallis über die Heimatlosigkeit vom 3. Juni 1870 darf deßhalb nicht in einer Weise angewendet werden, die mit den erwähnten Vorschriften und mit der Tendenz des Bundesgesezes im Widerspruche wäre; ,,4) der zweite Saz von Art. 3 dieses Gesezes des Kautons Wallis, welcher die Bestimmung enthält, daß die unehelichen Kinder von Burgern in jener Gemeinde; eingebürgert werden müssen, in der ihre Eitern das Gemeindebürgerrecht genießen, kann in Folge dessen nicht einen bloß formellen Sinn haben, sondern muß nothwendig zugleich den materiellen Werth dieser Einbürgerung bestimmen, in dem Sinne, daß dio Unehelichen jenes Gemeindebürgerrecht mit allen ihm inhärirenden Rechten erhalten; ,,5) der Bundesrath hat auch schon v o r Erlaß des erwähnten Walliser Gesezes der Regierung von Wallis gegenüber wiederholt und zwar mit Schreiben vom 29. Januar 1869 und 13. Mai 1870 darauf gedrungen, daß die Unehelichen von Wal Usern und deren Nachkommen sofort mit der Einbürgerung und ohne beaondern Einkauf die Nuzungen der Güter ihrer Burgergemeinden erhalten möchten, wie die andern Burger, ein Standpunkt, den er auch gegenüber andern Kantonen, in denen ähnliche Verhältnisse bestanden, /,. B. Neuenburg, mit Erfolg festgehalten und durchgeführt hat, und beschlossen: ,,1. Die Regierung des Kantons Wallis wird eingeladen, die Einbürgerung der Unehelichen von Walliser Burgern und BürgeO

O

,

73 rinnen, sowie der Nachkommen von solchen Unehelichen in der Weise zu vollziehen, daß alle diese Personen sofort, und ohne besondern Einkauf die gleichen Nuzungen der Güter ihrer Burgergemeinden erhalten, wie die andern Burger.

,,2. Dieser Beschluß wird der Regierung von Wallis zur Vollziehung und Bekanntmachung mitgetheilt."

Diese Rechtsstellung der Unehelichen wurde schon früher vertheidigt; dennoch konnte sich der Große Rath des Kantons Wallis nicht entschließen, eine entsprechende Vorschrift in das Gesez vom 3. Juni 1870 aufzunehmen. Erst in Folge des erwähnten Beschlusses vom 27. November trat der Große Rath des Kantons Wallis in ein Nachtragsgesez ein, das in erster Debatte angenommen ist, aber in der Maisizung nächsthin die zweite Lesung bestehen und das zitirte Gesez soweit als erforderlich ergänzen wird.

Einige andere Punkte, mehr untergeordneter Natur, werden übergangen. Es bleibt nur noch die allgemeine Bemerkung übrig, daß in beiden Kantonen Tessin und Wallis, den einzigen, die noch rükständig sind, die Einbürgerung der Heimatlosen beinahe vollzogen ist. Die noch vorhandenen Rükstände, welche im Verhältniß zu den ganz ausnahmsweisen Schwierigkeiten, die in beiden Kantonen walteten, als sehr unbedeutend bezeichnet werden können, finden jedenfalls in kürzester Zeit ihre Erledigung.

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Bericht des schweizerischen Bundesrathes an die h. Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahr 1872.

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1873

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12.04.1873

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