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Bundesrathslbeschluss in

Sachen des Rekurses der Herren Ferdinand Richard und Henri Jacottet für sich und Namens mehrerer Mitglieder des Grossen Rathes des Kantons Neuenburg, betreffend Verfassungsverlezung.

(Vom 7. Oktober 1873.)

,,Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h hat in Sachen der Herren F e r d i n a n d R i c h a r d und H e n r i J a c o t t e t für sich und Namens mehrerer Mitglieder des Großen Rathes das Kantons Neuenburg, betreffend Verfassungsverlezung; nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartements und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben : I. Der Artikel 71 der in Kraft bestehenden Verfassung des Kantons Neuenburg von 1858 lautet wie folgt; ,,La loi règle les rapports de l'Etat avec les cultes.

.,,Elle ne pourra jamais reconnaître ou constituer des corporations ecclésiastique indépendantes du pouvoir souverain.

,,Tout changement aux bases fondamentales de l'organisation ecclésiastique actuelle sera soumis à la ratification du Peuple."

668 II. In Folge einer langen Verhandlung über die Frage der Trennung zwischen Kirche und Staat erließ der Große Rath des Kantons Neuenburg am 19. Dezember 1872 an den Staatsrath die Einladung, ihm den Entwurf zu einer Revision des Kirchengesezes vom 10. Dezember 1848 vorzulegen, um den Bedürfnissen und Wünschen genügen zu können, welche sich im Schooße der Nationalkirche geltend machen.

Der Staatsrath genügte dieser Einladung in der Weise, daß er mit einem einläßlichen Berichte, vom 12. März 1873 dem Großen Rathe den Entwurf zu einem neuen Geseze über die Beziehungen zwischen dem Staate und den Kirchen (avec les cultus) vorlegte.

Nachdem über diesen Entwurf in der Märzsession des Großen Rathes eine allgemeine Berathung stattgefunden hatte, wurde derselbe an eine Spezialkommissiou des Großen Rathes, bestehend aus 9 Mitgliedern, gewiesen, welche Kommission im Mai 1873 einen Mei:rheitsantrag (5) und einen Minderheitsantrag (4) vorlegte.

Am 20. Mai 1873 erhob sodann der Große Rath von Neuenburg mit 47 gegen 40 Stimmen den von der Mehrheit seiner Kommission in einigen Punkten modiflzirten, aber in der Hauptsache empfohlenen Entwurf des Staatsrathes zum Gesez, worauf der Staatsrath am 23. Mai dieses Gesez vom gleichen Tage an vollziehbar erklärte und. dessen Publikation anordnete.

III. Während der Berathungen der Kommission des Großen Rathes (zwischen den Sizungen des lezteru vom März und Mai 1873) wurde unter dem Volke des Kantons Neuenburg eine Petition zur Unterzeichnung herumgeboten und mit 10,343 Unterschriften dem Großen Rathe präsentirt, dahin gehend, daß jedes neue kivchliche Gesez, welches in Abänderung des Gesezes von 1848 angenommen werden möchte, nach Vorschrift des 3. Alinea von Art. 71 der Verfassung dem Volke zur Genehmigung vorzulegen sei.

Nachdem der Große Rath von Neuenburg am 20. Mai 1873 das erwähnte Gesez erlassen hatte, schritt er am 21. gleichen Monates zur Berathung dieser Petition und erklärte mit 44 gegen 41 Stimmen dieselbe als unstatthaft und mit der Verfassung im Widerspruche stehend.

Dieser Entscheid stüzte sich auf folgende Erwägungen: ,,Considérant : .,,Que la disposition conslitutionelle invoquée par les pétitionnaires n'a pas la signification qu'ils lui attribuent, mais s'applique uniquement à la séparation de l'Eglise et de l'Etat, ainsi qu'il résulte des dèli-

669 bérations de l'Assemblée constituante de 1858, et de l'interprétation constamment donnée à cet article; ,,Que la nouvelle loi ecclésiastique ne modifie pas les bases fondamentales de l'organisation actuelle, qui réside dans l'union de l'Eglise et de l'Etat, et dans la souveraineté de la Paroisse s'exerçant par le suffrage de ses membres; ,,Que les modifications indroduites ont exclusivement pour but de mettre la Loi en harmonie avec les dispositions constitutioneîles qui garantissent la liberté individuelle, la liberté de conscience, la liberté d'enseignement, l'admission de tous les citoyens suisses aux fonctions publiques; ,,Que le peuple neuchâtelois s'est librement donné une Constitution par laquelle il a délégué l'exercice de sa souveraineté aux représentants qu'il nomme tous les trois ans sans s'être réservé, comme dans d'antres cantons, le referendum ou droit de ratification sur toutes les lois décrétées par le Grand Conseil ; ,,Que le Grand Conseil a, de sa propre initiative, décidé le 19 novembre 1872 de demander au peuple s'il veut la révision de la Constitution, dans le sens de l'extension des droits du peuple; ,,Qu'aussi longtempts que cette votation n'a pas eu lieu et que la révision de la Constitution, si elle est admise dans le sens indiqué, n'aura pas été soumise de nouveau à la garantie fédérale, le peuple, aussi bien que le Grand Conseil, est tenu de respecter la Constitution actuelle; ,,Que le mandat impératif est prohibé par l'article 26 de la Constitution et que les députés au Grand Conseil, pendant la durée de leur mandat, relèvent de leui- conscience, sous le serment de fidélité qu'ils ont prêté à la Constitution.a IV. Mit Eingabe an den Bundesrath, datirt Neuenburg Juni 1873, erhoben 33 Mitglieder des Großen Rathes von Neuenburg Beschwerde sowohl gegen das Gesez vom 20. Mai 1873 als auch gegen den Beschluß vom 21. Mai 1873, und stellten das Gesuch, es sei zu entscheiden : ,,1. Que le Conseil d'Etat de Neuchâtel est invité à suspendre la promulgation de la nouvelle loi réglant les rapports de l'Etat avec les cultes et sa mise a exécution, jusqu'au moment où le présent recours aura été jugé par le Conseil fédéral et, cas échéant, par l'Assemblée fédérale.

,,2. Que le Grand Conseil est invité à soumettre à la votation populaire la susdite loi réglant les rapports de l'Etat avec les Cultes."

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V. Am 20. Juni 1873 beschloß der Bundesrath, es sei diese Beschwerde dem Staatsrathe des Kantons Neuenburg zur Beantwortung mitzutheilen und es sei derselbe einzuladen, vorher und getrennt von der Antwort über die Hauptsache speziell über die Frage der Suspension der Vollziehung des Gesezes sich auszusprechen und bis zum Entscheide des Bundesrathes über diese Vorfrage den status quo beizubehalten.

VI. Inzwischen wurde im Kanton Neuenburg eine neue Petition organisirt und von 5694 Unterzeichnern das Gesuch an den Großen Rath gestellt, es möchte der Art. 71 der Verfassung revidirt werden im Sinne der Trennung zwischen Kirche und Staat, oder im Sinne der Aufstellung analoger Vorschriften, welche den Bürgern gestatten würden, sich in religiöser Beziehung frei und auf Grundlage der Gleichberechtigung zu organisiren.

Nach Vorschrift von Art. 83 der neuenburgischen Verfassung, welcher vorschreibt, daß sobald 3000 Bürger eine theilweise oder gänzliche Revision derselben wünschen, diese Frage dem Volksentscheid unterstellt werden müsse, beschloß der Große Rath am 18. Juni, daß diese Volksabstimmung am 12., 13. und 14. September stattzufinden habe, und daß gleichzeitig über drei andere Verfassungsartikel, über deren Revision der Große Rath schon im November ,,1872 entschieden hatte, abgestimmt werden müsse.

Am gleichen Tage (18. Juni) verfügte der Große Rath von sich aus die Suspension -der Vollziehung des neuen Gesezes vom 20. Mai 1873 bis nach der Abstimmung des Volkes über die Frage, ob der Art. 71 der Verfassung zu revidiren sei oder nicht.

Der Staatsrath des Kantons Neuenburg gab mit Schreiben vom 2. Juli 1873 dem Bundesrathe von diesen beiden Beschlüssen des Großen Rathes Kenntniß, worauf der Bundesrath am 4. Juli den Rekurrenten eröffnete, daß er bei dieser Sachlage keinen Grund habe, auf ihren Rekurs näher einzutreten, weil er zur Zeit gegenstandslos geworden sei.

VII. Bei der Volksabstimmung vom 12., 13. und 14. September wurde die Revision von Art. 71 der Neuentmrgerverfassung abgelehnt, indem von 13,956 Votanten nur 6,867 für die Revison und 6883 gegen dieselbe stimmten.

Nach der Verifikation des Volksvotums beschloß der Große Rath am 16. September mit 40 gegen 27 Stimmen, es sei nunmehr das neue Kirchengesez in Vollziehung zu sezen.

In Folge dessen richteten die Herren Ferd. Richard und H.

Jacottet am 19. September a. c. ein Schreiben an den Bundesrath,

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worin sie diesem eröffneten, daß sie von der Mehrzahl der Unterzeichner des am 18. Juni eingereichten Rekurses den Auftrag erhalten haben, denselben wieder aufzunehmen und den Entscheid des Bundesrathes über die gestellten Schlüsse zu verlangen. Sie erklärten gleichzeitig, daß sie den in ihrem Mémoire entwikelten Gründen nichts weiter beizufügen haben und nur auf die unheilvollen Folgen aufmerksam machen, die unvermeidlich wären, wenn das Gesez vom 20. Mai in Vollziehung gesezt würde, ohne der Volksabstimmung unterworfen zu werden.

Vin. Die Rekurrenten begründen ihre Anträge in der oben sub IV erwähnten Eingabe im Wesentlichen wie folgt: Der Artikel 71 der Verfassung des Kantons Neuenburg beziehe sich, gemäß seiner ganz allgemein gehaltenen Redaktion, auf alle A en de r u n g en in den Grundlagen der kirchlichen Organisation und fordere deren Genehmigung durch das Volk. Die Ansicht des Staatsrathes und der Mehrheit des Großen Rathes, daß diese Genehmigung durch das Volk nur für einen einzigen Fall vorgeschrieben sei, nämlich nur für die Trennung zwischen Kirche und Staat, sei sowohl nach dem Wortlaute der Verfassung, wie nach allgemein geltenden Regeln der Interpretation, unrichtig. Die Verhandlungen des Verfassungsrathes, auf welche man sich berufe, seien nicht maßgebend, denn nur der Wortlaut des Art. 71 sei von dem Volke angenommen worden, nicht der Inhalt des Bulletins. Wenn auch ein Widerspruch wäre zwischen diesem Bulletin und dem Art. 71, so würde nicht das Bulletin, sondern die Verfassung prävaliren.

Es frage sich daher lediglich, ob das Gesez vom 20. Mai 1873 eine Aenderung in den Grundlagen der kirchlichen Organisation enthalte, wie sie bis anhin bestanden habe.

Der Staatsrath selbst habe in seinem Berichte zu dem Entwurfe des Gesezes nicht gewagt, diese Frage zu verneinen. Im Gegentheil, der ganze Bericht sei dazu benuzt, um die Tragweite der vorgeschlagenen Aenderungen darzulegen und um die Gründe zu erörtern, welche eine solch' tief eingreifende Aenderung in der kirchlichen Organisation nöthis~ machen.

O Allerdings habe die Mehrheit des Großen Rathes in dem Dekrete vom 21. Mai 1873 diese Thatsache negircn zu können geglaubt.

Allein die Vergleichung des gegenwärtigen Kirchengesezes vom 20.

November 1848 mit dem neuen Geseze bestätige sie vollkommen.

Zunächst sei zu bemerken, daß das Gesez von 1848 ausschließlich mit dem protestantischen Kultus sich beschäftige und daß bis

672 jezt für den katholischen Kultus kein Gesez, sondern lediglich eine Praxis bestanden habe.

Was den p r o t e s t a n t i s c h e n Cultus betreffe, so sei die im Gesez von 1848 aufgestellte Organisation desselben durch das Gesez von 1873 in allen ihren Grundlagen geändert, unter Anderm in folgenden Punkten: Die Synode, als Centralorgan der protestantischen Kirche und gewählt von den Angehörigen dieser Kirche, habe bis jezt sehr ausgedehnte Kompetenzen gehabt, gemäß Art. 11 des Gesezes von 1848, lautend: ,,L'administration de ..l'Eglise est, quant au spirituel, exclusivement conférée à un Synode." Das neue Gesez dagegen beraube die Synode jeder ernsten Befugniß. Art. 12 desselben bestimme nämlich: ,,La liberté de conscience de l'ecclésiastique est inviolable; elle ne peut être restreinte ni par des règlements, ni par des voeux ou engagements, ni par des peines disciplinaires, ni par des formules ou un credo, ni par aucune mesure quelconque.'1 Die innere Organisation der neuenburgischen Kirche sei somit total geändert. Die frühere Einheit in der Verwaltung in geistlichen Dingen (l'administration du spirituel) sei gebrochen und ersezt durch Befreiungo der Geistlichen von jeder Verpflichtung gegenüber der kirchlichen Gewalt. Eine gründlichere Aenderung könne man sich nicht vorstellen. Ob sie gut oder schlecht, sei nicht zu erörtern; nach Vorschrift der Verfassung habe das Volk darüber zu entscheiden.

Aehnliche radikale Aenderungen enthalte das neue Gesez bezüglich der Ordnung der Beziehungen der Kirche zum Staate.

Die frühere Unterscheidung zwischen Kirche und Staat, zwischen der kirchlichen Bevölkerung und der politischen Bevölkerung, sei versehwunden. -- Das Stimmrecht in kirchlichen Angelegenheiten sei nicht mehr verbunden mit der Angehörigkeit des Wählers zu einer bestimmten Kirche; es sei jezt ein bloß politisches Recht geworden. Der kirchlichen Behörde sei "die Kontrole über die Tüchtigkeit, die Sitten und den Charakter der anzustellenden Geistlichen entzogen worden. Die der Synode zugestandene Wahl der Professoren der Theologie und der Examinationskommission soll nun in die Funktionen des Staatsrathes übergehen. Bis jezt habe kein Geistlicher anders suspendirt oder abberufen werden können, als durch die Synode; künftig soll dieses Recht an die Staatsbehörden übergehen. -- In gleicher
Weise sei die Mitwirkung der kirchlichen Behörde bei der Wahl der Geistlichen aufgehoben worden etc. Ueberhaupt zerstöre das Gesez von 1873 die Unabhängigkeit der protestantischen Kirche und erseze sie durch die Suprematie des Staates in einer Weise, wie sie noch nie bestanden

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habe. Es stelle sich somit in direkten Widerspruch mit den Grundsäzen, welche die Verfassung von 1858 habe schüzen wollen, indem durch sie festgestellt worden, daß eine Aenderung der bestehenden Organisation nur mit Genehmigung des Volkes stattfinden könne.

Bezüglich des k a t h o l i s c h e n Kultus sei schon die Aufstellung eines Gesezes eine Aenderung in den Grundlagen der Organisation.

Der aus dem gemeinsamen Einverständniß zwischen dem Staate und dem Bischof hervorgegangene modus vivendi habe die Wahl der Geistlichen in der Weise geregelt, daß ihre Ernennung auf Präsentation des Bischofes durch den Staatsrath erfolgt sei. Das neue Gesez übertrage die Wahl den Pfarreien, d. h. den im Gebiete einer Pfarrei wohnhaften Bürgern, welche dem katholischen Kultus O i angehören, und zwar aus einem dreifachen Vorschlage, den der Bischof dem Staatsrathe zu machen und den der leztere zu genehmigen habe. Nur die Weltgeistlichen seien wählbar erklärt. Alle sechs Jahre seien auch durch die katholischen Priester einer Wiederwahl unterworfen, in gleicher Weise, wie die protestantischen Geistlichen. Die Abberufung sei dem Staatsra.the übertragen, ohne der kirchlichen Autorität irgend eine disziplinäre Gewalt zu überlassen.

Alle diese Vorschriften enthalten unzweifelhaft Aenderungen in den fundamentalen Grundsäzen der jezigen kirchlichen Organisation. In denjenigen Kantonen, wo ähnliche Vorschriften aufgestellt worden, wie in Solothurn und in Genf, sei es nicht geschehen, ohne sie der Genehmigung des Volkes zu unterstellen. Angesichts des Art. 71 der Verfassung könne im Kanton Neuenburg nicht weniger geschehen.

Man habe sich auch darauf berufen, daß seit 1858 Modifikationen des Kirchengesezes vorgenommen worden seien, ohne sie der Genehmigung des Volkes zu unterstellen. Solche Aenderungen haben 1862 (zwei) und 1867 stattgefunden ; allein keine derselben habe die Grundlagen der Organisation berührt; sie haben nur untergeordnete Details betroffen, und seien ohne Opposition durchgeführt worden.

IX. Der Staatsrath des Kantons Neuenburg beantwortete diese Beschwerde unterm 23. September 1873 wie folgt: Der sehr bestimmten und bündigen Begründung des Dekretes vom 21. Mai 1873 sei nur wenig beizufügen.

Der Verbalprozeß über die Verhandlungen des Verfassungsrathes von 1858 betreffend den Art. 71, Alinea 3 zeige zur absoluten Evidenz, daß diese Bestimmung ausschließlich auf die Trennung zwischen Kirche und Staat sich beziehe.

674 Noch besser werde dieses dadurch bewiesen, daß seit 1858 das Kirchengesez drei Mal mit Bezug auf wichtige Artikel revidirt worden sei, ohne daß irgend Jemandem die Idee gekommen, daß diese Modifikationen der Volksabstimmung unterstellt werden müssen, obschon dieselben so wichtig gewesen als die Modifikationen, welche das neue Gcsez zur Folge habe. In dieser Weise habe der Große Rath am 15. Dezember 1862 die Bschränkung des Alters für die Wählbarkeit der Geistlichen (25 Jahre) aufgehoben; am 1. Juli 1862 den deutschen Pfarreien das Recht zur Wahl ihrer Geistlichen verliehen, die vorher durch den Staatsrath ernannt worden, und am 17. Juni 1867 über die Verwaltung der Armengüter neue Vorschriften aufgestellt.

Die fundamentalen Grundlagen der gegenwärtigen Kirche des Kantons Neuenburg beruhen in der Vereinigung der Kirche mit dem Staate.

Nun sage mit Bezug auf die p r o t e s t a n t i s c h e Kirche das erste Alinea von Art. 71 der Verfassung: ,,La Loi règle les rapports de l'Etat avec les cultes.0' Es sei aber nirgends gesagt, daß jede Modifikation an diesem Gesez der Genehmigung des Volkes unterworfen werden müsse ; wohl aber müßte dieses geschehen, wenn man die Vereinigung zwischen Kirche und Staat opfern wollte.

Der Art. 71 der Verfassung sei immer in diesem Sinne interpretirt worden.

Die Souveränität der Pfarrei werde durch die Abstimmung ihrer Mitglieder ausgeübt. Nun werde dieses Stimmrecht durch das neue Gesez weder beschränkt, noch erweitert. Die von den Rekurrenten behauptete Abweichung von dem alten Geseze bestehe nicht. Die permanenten Stimmregister für kirchliche Angelegenheiten seien nie hergestellt worden ; man habe seit 1848 eingesehen, daß diese Arbeit unnöthig sei; auch habe man niemals nach dem Glaubensbekenntnisse der Protestanten gefragt. Für jede kirchliche Abstimmung sei ein Wahlbüreau aufgestellt und ein besonderes Register angelegt worden. Das neue Gesez genehmige einfach diese seit 1848 befolgte Praxis.

Die einzigen, etwas bedeutenderen Modifikationen des Gesezes von 1848 bestehen in der Unterdrükung einiger unnüzen und verjährten Hemmnisse, 'welche in diesem Gesez für die Wahl der Geistlichen in den protestantischen Pfarreien aufgestellt gewesen.

So seien die frühern Hemmnisse in dem Wahlrecht der Pfarreien jezt aufgehoben und leztere ermächtigt worden, denjenigen Geistlichen zu wählen, der ihnen beliebt, und das Wiederwahlrecht nach sechs Jahren sei von den Fesseln befreit und vereinfacht worden.

675 Diese Modifikationen ändern die Grundlagen des Gesezes von 1848 nicht, vielmehr bestätigen sie die leztern. Die allgemeine Regel jenes Gesezes gehe dahin, daß die Ernennung der Geistlichen den Pfarreien übertragen werden solle. Durch das neue Gesez werden jedoch die Ausnahmen von dieser Regel aufgehoben, also gerade das erreicht, was die Rekurrenten als ein Vortheil desjenigen Dekretes bezeichnen, wodurch den deutschen Gemeinden das Wahlrecht ihrer Geistlichen übertragen worden.

Durch die Einführung der theologischen Fakultät in der Akademie sei ebenfalls keine wesentliche Aenderung der Grundsäze von 1848 aufgestellt worden. Diese Fakultät werde durch Spczialfonds unterhalten, welche der Staat verwalte. Im Jahre 1848 habe er allerdings, weil damals eine höhere Lehranstalt nicht vorhanden gewesen, der Synode die Sorge für die theologischen Studien übertragen. Allein jezt, da der Kanton Neuenburg eine Akademie besize, sei es ganz natürlich, daß die theologische Fakultät derselben einverleibt und neben die andern Fakultäten eingereiht werde, wie dieses in andern Kantonen auch der Fall sei. Uebrigens sei dies in Uebereinstimmung mit Art. 74 und 76 der Kantonsverfassung, wodurch der öffentliche Unterricht in allen Graden in den Kreis und unter die Aufsicht des Staates gestellt worden. Hierauf beschränken sich die wesentlichen Aenderungen des neuen Gesezes.

Weit entfernt, daß der Staat die protestantische Kirche unterdrüken wolle, habe er im Gegentheil einige Prärogative aufgegeben, welche er noch gehabt habe, wie die Ernennung der Diakonen das Recht, in der Synode, sich repräsentiren zu lassen etc. Die Synode sei viel unabhängiger geworden, indem der Staat auf das Recht verzichtet habe, in lezter Linie über Beschlüsse der höhern Kirchenbehörden zu entscheiden. Es sei nun die Synode befugt, die Kirche mit einem allgemeinen Reglement zu organisiren, und sie sei es, welche über die geistigen und materiellen Interesse der Kirche O O wachen werde.

Betreffend die k a t h o l i s c h e Kirche, so überlasse es der Staat den Pfarreien,, ihre Pfarrer und Vikare entweder selbst zu wählen, oder deren 'Wahl auch fernerhin dem Staatsrathe zu überlassen.

X

Die Unterscheidung zwischen dem bürgerlichen Gebiete und dem kirchlichen sei also vollständiger als früher, sowohl für die protestantische als für die hatholiche Kirche. Die Herrschaft der Kulte sei in der vollständigsten Weise garantirt. Der Staat, welcher alle öffentlichen Kulte uiiterstüze, beschränke sich darauf, in dem neuen Geseze zu fordern, daß diese Kulte wahrhaft öffentliche und demokratisch organisirt seien, auf Grundlage des Wahlrechtes der

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Mitglieder einer jeden Partei. Es seien somit alle Vorwürfe, welche die Rekurrenten gegen das neue Gesez vorgebracht haben, unbegründet. Es sei dasselbe nur die logische Anwendung der Grundsäze, welche in der Bundesverfassung und in der Kantons Verfassung aufgestellt seien.

Die. Rekurrenten stellen sich, als glauben sie, die Abstimmung vom 12., 13. und 14. September bedeute nicht, daß das Volk gleichzeitig auch über das neue Kirchengesez sich ausgesprochen habe. Die Thatsachen beweisen aber das Gegentheil. Der Große Rath habe die Fragen an das Volk in folgender Weise gestellt: 1.

2 3. L'article 39 de la Constitution doit-il être révisé?

4. L'art. 71 de la Constitution doit-il être révisé?

5. Cette révision doit-elle avoir lieu : Par le Grand Conseil?

Par une Assemblée Constituante?

Bei der Verhandlung habe man verlangt, daß auf dem Stimmzettel gesagt werde, in welchem Sinne die Revision stattfinden würde; allein der Große Rath habe gefunden, es müsse den politischen Parteien überlassen werden, zu entwikeln, warum und in welchem Sinne die eine oder die andere Frage angenommen oder verworfen würde. Nun habe die konservative Partei in ihren Aufrufen an das Volk und in der Presse ihre Programme in folgender Weise dargelegt : In einem appel aux électeurs werde gesagt: ,,La révision et l'étude qui la précédera, ne sont nécessaires sur aucun point autant que sur l'article 71. Elles sont nécessaires pour empocher l'exécution de la loi ecclésiastique, adoptée par le Grand Conseil qui dissout et déchirerait l'Eglise. Elles sont nécessaires pour que le peuple ait le dernier mot, le mot souverain, dans ces questions d'Eglise que le Grand Conseil prétend trancher à lui tout seul." In gleichem Sinne spreche sich die Union évangélique neuchâteloise in einem besondern Erlasse an die Wähler aus, welcher von den Herren H. Jacottet und F. Richard unterzeichnet sei -- denselben zwei Herren, welche den gegenwärtigen Rekurs unterzeichnet haben. Die gleichen Gesichtspunkte seien in einer Menge anderer Artikel und in allen neuenburgischen Zeitungen der konservativen Partei aufgestellt worden, und noch am 13. September habe die Union libérale dahin sich ausgesprochen: ,,Si la révision de l'article 71 n'est pas votée, la loi du 20 mai

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entrera en vigueur immédiatement, et sans subir aucune modification quelconque.a Umgekehrt habe die radikale Partei das neue kirchliche G-esez vertheidigt, und indem sie in der Volksahstimmung mit Mehrheigegen die Revision von Art. 71 sich ausgesprochen, habe sie thatt sächlich auch dafür sich ausgesprochen, daß das Kirchengesez unverzüglich und ohne eine Aenderung in Vollziehung gesezt werde.

Was die Revision von Art. 39 der Verfassung (Referendum) betreffe, so habe die konservative Partei ernstlich für die Revision im Sinne der Einführung des Referendums sich verwendet. Indem das Neuenburgervolk die Revision dieses Art. 39 verworfen, habe es gleichzeitig dahin sich ausgesprochen, daß es keine Volksabstimmung verlange weder über das Kirchcngesez noch über ein anderes G-esez. Wenn das Votum des Volkes vom 12., 13. und 14. September anders ausgelegt würde, so würde damit eine peinliche Agitation in den Kanton Neuenburg geworfen und dem Volkswillen Gewalt angethan. Der Umstand, daß die 33 Großrathsmitglieder, welche den ersten Rekurs unterzeichnet haben r den zwei Kollegen, von welchen der zweite Rekurs ausgehe, nicht beigetreten seien, zeige, daß eine große Anzahl ernster Männer nicht in einer fortwährenden Agitation leben wolle und daß die Volksabstimmung unzweifelhaft die oben erwähnte Bedeutung habe.

Ö Der Staatsrath schloß seine Antwort mit dem Antrage auf Abweisung des Rekurses und mit dem Gesuche um möglichst beförderlichen Entscheid.

In E r w ä g u n g .

1) Die Regelung der kirchlichen Verhältnisse im Kanton steht vermöge der Kantonalsouveränität der obersten Kantonsbehörde zu.

Eine Intervention der Bundesbehörden würde sich nur in dem Fall rechtfertigen, wenn durch die Beschlüsse des Großen Käthes entweder Vorschriften der Bundes- oder der Kantonsverfassung verlezt würden. Eine Mißachtung der erstem wird nicht behauptet, wohl aber eine Verlezung des Art. 71 des kantonalen Grundgesezes.

2) Es liegt aber keine erweisliche Verlezung der Verfassung durch Gewalt, List oder irgend eine unerlaubte Absicht vor, sondern zwei Auslegungen des Art. 71, die beide mehr oder minder Berechtigung haben. Es entsteht deßhalb die natürliche Frage, wer ist der Ausleger der Verfassung von Neuenburg? Sind es die Bundesbehörden, und liegt es in ihrer Stellung, dem Kanton eine Auslegung zu geben, und zwar gegenüber der obersten Behörde?

678 3) Die Bundeshehörden haben sich immer das Recht gewahrt,, in solchen Fällen eine Entscheidung zu .geben ; sie haben aber in einer Reihe von Fällen immer ein wesentliches Gewicht auf diejenige Interpretation gelegt, welche der Kanton selbst seiner Verfassung gibt, und haben nur dann ihre Intervention eintreten lassen, wenn in dieser Auslegung Unbill, Gefährde oder Unterdrükung liegt (vide Ullrner Bd. I, No. 34).

4) Es läßt sich nicht verkennen, daß durch das neue kirchliche Gesez vom 20. Mai 1873 wichtige Veränderungen in der kirchlichen Organisation eingeführt werden, und es ist also zu prüfen, ob deswegen das Gesez nicht der Volhsabstimmung hätte unterworfen werden sollen, wie die Rekurrenten in Abweichung von der Auslegung der Verfassung durch den Großen Rath behaupten.

5) Wenn auch die Einholung der Ratifikation durch das Volk nach der Verfassung nicht ausgeschlossen gewesen wäre, so liegt doch keine Verlezung derselben vor, wenn dieses auch nicht geschehen ist. Der Wortlaut und die Entstehung der fraglichen Verfassungsbestimmung sprechen für die Ansicht des Großen Rathes, daß unter dem Ausdruk flaux bases fondamentales de l'organisation ecclésiastique11 nur eine wesentlich andere Gestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche oder mit andern Worten, die bisher nicht bestandene Trennung zwischen Kirche und Staat verstanden sei.

6) Daß dem also ist, ergibt sich aus dem Wortlaut und aus.

der Entstehungsgeschichte der fraglichen Bestimmung. An der Spize des Art. 71 steht der Grundsaz der Vereinigung des Staates und der Kirche, welcher im zweiten Absaz noch näher dahin präzisirt wird, daß es keine von der Staatsgewalt unabhängige kirchliche Genossenschaften geben soll. Um diese Frage, nämlich, ob Trennung von Staat und Kirche oder Verbindung beider Gewalten bestehen soll, dreht sich der Streit, der im Kanton Neuenburg nicht neu ist und schon zur Zeit der Berathung der jezigen Verfassung an der Tagesordnung war. Obwohl die Verhandlungen des Verfassungsrathes als solche keine gesezliche Kraft haben, so bilden sie doch einen Commentar, wie einzelne Artikel entstanden sind und welchen Sinn sie haben. Diese Verhandlungen geben Zeuguiß dafür, daß die in Frage liegende Bestimmung ganz wesentlich mit Rüksicht.

auf die angezeigte Streitfrage so gefaßt wurde.

7) Wenn auch die im September
abbin stattgehabte Volksabstimmung sich nicht direkt über das Kirchengesez auszusprechen hatte, so ist doch wenigstens indirekt über die Existenz oder den Fall des Gesezes abgestimmt worden, weil in dem Festhalten des

679 Art, 71 implizite auch der nicht zu verkennende Aussprach liegt, daß die Mehrheit nicht gegen das Gesez gestimmt ist. Der Ursprung und die ganze, der Abstimmung vorausgegangene Bewegung rechtfertigen diese Annahme vollkommen. Es ist also anzunehmen, daß sich dei- Große Rath in dieser Frage nicht nur mit der Verfassung, sondern auch mit der Mehrheit der stimmfähigen Bürger im Einklang befinde; b e s c h l o s sen: 1. Es sei der Rekurs als unbegründet abgewiesen.

2. Sei dieser Beschluß dem Staatsrathe des Kantons Neuenburg, sowie dem Herrn Großrath Ferd. Richard, in Locle für sich und zuhanden der übrigen Rekurrenten, unter Rüksendung der Akten mitzutheilen.

B e r n , den 7. Oktober 1873.

Im Namen der Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Ceresole.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: ScMess.

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# S T #

Bericht der

ständeräthlichen Kommission, über den Recurs des Gemeinderathes von Murten.

(Vom 12. November 1873.)

Tit.!

Der Kanton Freiburg besaß bis zum 30. November 1872 ein vom 7. Mai 1864 datirtes Gemeindegesez, welches die niedergelassenen Kantonsbürger bereits vollständig, die niedergelassenen Schweizerbürger gänzlich von jeder Theilnahme an der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten ausschloß.

Die letzteren hatten auch in Fragen der Steuererhebung und daheriger Rechnungsablage gar keine, die ersteren nur berathende Stimme.

Eine Ausnahme hievon bestand thatsächlich nur in der Stadt Freiburg, in welcher ein von den eingesessenen Bürgern und den steuerpflichtigen Kantonsbürgern gewählter G e n e r a l r a t h bestand und die Interessen der Einwohnerschaft besorgte.

Am 30. November 1872 entschloß sich der Große Rath, den durch die Bundesrevision wachgerufenen treibenden Ideen "*RechnungO O tragend, an das Prinzip der Einwohnergemeinde einige Concessionen zu machen, indem er durch Gesez vom genannten Tage den niedergelassenen Kantons- und Schweizerbürgern das aktive Stimmrecht

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Bundesrathsbeschluss in Sachen des Rekurses der Herren Ferdinand Richard und Henri Jacottet für sich und Namens mehrerer Mitglieder des Grossen Rathes des Kantons Neuenburg, betreffend Verfassungsverlezung. (Vom 7. Oktober 1873.)

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27.12.1873

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